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Full text of "Arch Psychiatr Nervenkrankh 68.1923"

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ARCHIY 

FOR 


PSYCHIATKIE 

UND 

NERYENKRANKHEITEN 


HERAUSGEGEBEN VON 


G. ANTON 

HALLE 

K. BONHOEFFER 

BERLIN 

J. RAECKE 

FRANKFURT A. M. 


H. BERGER 

JENA 

A. HO CHE 

FREIBURG L B. 

E. SCHULTZE 

GOTTINGEN 


0. BINSWANGER 

JENA 

E. MEYER 

K0NIU6BERG 

E. SIEMERLING 

KIEL 


A. WESTPHAL R. WOLLENBERG 

BONN BRESLAU 


REDIGIERT VON 

E. SIEMERLING 


ACHTUNDSECHZIGSTER BAND 

MIT 34 TEXTABBILDUNGEN 



BERLIN 

VERLAG VON JULIUS SPRINGER 

1923 


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Druck roil Oscar BnmdsteUer in Leipzig. 


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Inhalts verzeichn is. 


Seite 


Rosenthal, Curt. Torsionsdystonie und Athetose double. 1 

Hoffmann. E. C. Das L6rische Phanomen und der Grundgelenkreflex von 

C. Mayer. Mit 4 Textabbildungen.40 

Leyser, E. Klinische Bemerkungen zur Frage nach der Rolle der Leber 

bei Geistes- und Nervenkrankheiten. Mit 1 Textabbildung.58 

Bruchansky, N. Das reaktive psychotische Syndrom und sein klinisches 

Bild bei Untersucbungshaft.74 

Bechterew, W. Die Perversitiiten und Inversitiiten vom Standpunkt der 

Reflexologie.100 

Biicherbesprechungen .214 


Festschrift fur Alexander Westphal: 

Siemerling, E. und H. G. Creutzfeldt. Bronzekrankheit und sklerosierende 

Encephalomyelitis. (Diffuse Sklerose.) Mit 10 Textabbildungen . . 217 
Wollenberg, R. Drucksteigerung in der Schadelriickgratshohle und Sehnen- 


reflexe.245 

Meyer, E. Empfindungstauschungen im Bereicbe amputierter Glieder . . 251 
Hlibner, A. H. Untersuchungen an sexuell Abnormen. (Klinisches und 

Forensischos).278 

Raeeke. Psychopathien und Defektprozesse.303 

Sloli, F. Vier Jabre Paralysebehandlung mit Silbersalvarsan und Sulfoxylat 321 

Konig. Erfahrungen iiber den EinHuB der intravenosen Salvarsanbehand- 

lung auf den Verlauf der progrcssiven Paralyse.350 

Lowenstein, O. Schwierigere Fragen aus dem Gebiete der experimentellen 
Horfiihigkeitsbestimmung bei psychogener Schwerhorigkeit und 

Taubheit. Mit 10 Textabbildungen.363 

Riilf. Das Problem des UnbewuBten. 379 

Runge. Psychopathie und chronische Encephalitis epidemica mit eigen- 

artiger Symptomatologie. ( r Larvierte Onanie“). 429 

Hanse, A. tjber Amenorrhoe bei Nerven- und Geisteskrankheiten und 

ihre Behandlung mit Menolysin.'.463 

Creutzfeldt, H. G. Zur Frage der sogenannten akuten multiplen Sklerose 
(Encephalomyelitis disseminata non purulenta scleroticans [sub]acuta). 
Zugleich Mitteilung einer besonderen Entstehungsart von Riesenzellen. 

Mit 9 Textabbildungen.485 

Liickeratb. t)ber Psychiatrie und Jugendfiirsorge.518 

Meyer, A. Uber das A. Westphalscho Pupillenphanomen bei Encephalitis 

epidemica.525 


Stertz, G. Lber psychomotorische AphaBie und Apraxie. Beziehungen 
psychomotoriseher, aphasischer, apraktischer und extrapyramidaler 
Storungen, dargestellt an einem Fall von Encephalitis epidemica . . 539 
Schultze, E. Vergleichende psychiatrische Kritik neuzeitlicher in- und 


auslandischer Entwurfe zu einem Strafgesetzbuch.568 

Bucherbes/^rechungen .633 

Autorenverzeiclinia .635 


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(Aus der Psychiatrischen und Nervenldinik der Universit&t Breslau [Direktor: 

Geheimrat Prof. Dr. Wollenberg].) 

Torsionsdystonie und Athetose double. 

Von 

Curt Rosenthal, 

Aasistenzarzt der Klinik. 

(Eingegangen am 19. Dezember 1922.) 

Eine in Band 66, Heft 3/4 des Archivs fiir Psychiatrie unter dem 
Titel „Die dysbatisch-dystatische Form der Torsionsdystonie“ erschie- 
nene Arbeit hatte sich mit den verschiedenen For men, unter denen 
das als Torsionsdystonie beschriebene Leiden auftritt, beschaftigt. Es 
wurde dort festgestellt, daB sich innerhalb der Torsionsdystonie zwei 
Gruppen unterscheiden lassen. Mit der ersten Gruppe, die als dysbatisch- 
dystatische Form des Leidens bezeichnet wurde, hat sich die friihere 
Arbeit eingehend beschaftigt. Es handelt sich dabei um extrapyramidale 
Bewegungsstorungen, die sich fast ausschlieBlich beim Gehen und 
Stehen der Kranken zeigen. Es kommt dann zu den verschiedensten 
abnormen Drehstellungen und Haltungen des Kopfes, Rumpfes und 
der Extremitaten; unwillkiirliche Bewegungen aller Art treten gegen- 
iiber diesen vollig in den Hintergrund, sind aber in vielen Fallen 
doch vorhanden. Die Bezeichnung ,,dysbatisch-dystatische Form der 
Torsionsdystonie“ hat ihre Berechtigung darin, daB die genannten 
Krankheitserscheinungen fast ausschlieBlich beim Gehen und Stehen 
auftreten, und daB es sich dabei im wesentlichen um Drehstellungen 
handelt, die durch Storungen des normalen Muskeltonus bedingt sind. 
Da in der genannten Arbeit die differentialdiagnostische Abgrenzung 
durchgefiihrt worden ist, braucht hier auf dieselbe nicht weiter ein¬ 
gegangen zu werden. 

Es wurde bereits damals darauf hingewiesen, daB sich eine weitere 
Arbeit besonders mit der zweiten Gruppe der Torsionsdystonie zu be- 
schaftigen haben wird, namlich derjenigen, deren enge Beziehungen 
zur Athetose double von den Autoren immer wieder betont wird. Bei 
dieser Krankheitsgruppe, die klinisch schon fiir die oberflachliche Be- 
trachtung ein von der ersten Gruppe vollig abweichendes Bild darstellt, 
steht eine allgemeine Bewegungsunruhe der gesamten Korpermuskula- 
tur, mit oder ohne Beteiligung der Gesichtsmuskulatur, beherrschend 

Archlv fflr Psychiatrie. Bil. 68. 1 


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C. Rosenthal: 


im Vordergrunde des Krankheitsbildes. Dali es zwischen den beiden 
Gruppen "Obergangsfalle gibt, muli zugegeben werden, es sollen aber 
der klaren klinischen Gruppierung wegen hier nur die ausgesprochen 
Athetose-double-ahnlichen Falle der Torsionsdystonie Beriicksichtigung 
finden. Das beide Krankheitsgruppen verbindende Moment liegt vor 
alien Dingen in der Entstehungsweise des Leidens. Die Torsions¬ 
dystonie beginnt zwischen dem 5. und 15. Lebensjahre ohne sonstige 
Krankheitserscheinungen, breitet sich in langsamer stetiger Progression 
von einer Extremitlit iiber den ganzen Korper aus, ohne dali Pvramiden- 
bahn und Intelligenz Schaden erleiden. 

Die ersten Falle von Torsionsdystonie, die von Schwalbe 66 ) be- 
schrieben sind, haben weitgehendste Ahnliehkeit in it der Athetose 
double; Oppenheim s2 ) rechnet sie aueh dieser Erkrankung zu. Als 
Unterscheidungsmerkmal gegeniiber der A. d. fiihrt Schwalbe das Auf- 
horen der Bewegungsunruhe bei Nacht an; ferner will er nur diejenigen 
Falle zur A. d. gerechnet wissen, die athetotische Finger- und Zehen- 
bewegungen zeigen. — Es soli hier zu den differentialdiagnostisehen 
AuBerungen der einzelnen Autoren nicht Stellung genommen werden, 
sondern die Betrachtungen dariiber werden spater gemeinsam erfolgen. 

Im Fall 1 von Bregman 3 ) wird angegeben, daB der Kranke in Riickenlage 
nicht einen Augenblick ruhig bleibt. Als Unterschied gegeniiber der A. d. wird 
das Fehlen athetotischer Bewegungen und des Spasmus mobilis angegeben; ferner 
fehlen: Beteiligung des Gesichts, BeeinfluBbarkeit durch leichte psychische Er- 
regungen, Unfahigkeit isolierter Innervationen, Sprachstorung, Zeichen oder we- 
nigstens Andeutung cerebraler Hemi- oder Diplegie, auBerdem sei das Leiden 
viel spfiter aufgetreten als es gewohnlich bei A. d. der Fall ist. 

Der erste der von Flatau-Sterling 28 ) mitgeteilten Falle, bei dem die un- 
willkiirlichen Bewegungen auch bei sclieinbarer Ruhe im Sitzen vorhanden sind, 
und der auch im Liegen die bizarrsten Positionen einnimmt, zeigt eine fortwah- 
rende Agitation des ganzen Korpers, an der auch das Gesicht nicht unbeteiligt 
ist; es ist daher schwer, diesen Fall von der Athetose double abzugrenzen. Flatau- 
Sterling wenden der Differentialdiagnose daher besondere Aufmerksamkeit zu. 
Sie geben als typisch fiir die Torsionsdystonie gegeniiber der A. d. an: 1. Beginn 
der Erkrankung in einer Extremitat, 2. Typus der Bewegungen hypertonisch- 
spasmodisch, 3. Auftreten von Hilfsbewegungen, 4. bei der Torsionsdystonie die 
proximalen, bei der A. d. vorwiegend die distalen Extremitatenabschnitte betei- 
ligt; bei ersterer ist das Gesicht nicht mitbetroffen, 5. bei To. Intelligenz intakt, 
bei A. d. nicht, 6. bei To. fehlen die Zeichen einer Diplegie. 

Im Falle Bernstein' 1 ) hdren wir von einem kontinuierlichen Muskelspiel, das 
im Liegen abnimmt,| im Gehen und Stehen zunimmt, an dem .auch das Gesicht 
etwas beteiligt ist; die Sprache ist dysarthrisch. Dieser Kranke wurde einige 
Jahre vorher in der Warschauer Arztegesellschaft mit der Diagnose A. d. de- 
monstriert. 

Der Fall, den Belong 3 ) mitteilt und den er der To. zurechnet, wurde eben- 
falls anfangs als bilaterale Athetose diagnostiziert; Belong rechnet ihn aber der 
To. zu, weil die Gesiehtsmuskulatur an dem KrankheitsprozeB nicht beteiligt ist. 

Seelert 3 ) sah bei seinem Patienten unwillkiirliche Bewegungen im ganzen 
K6rj>er, die auch bei Riickenlage bestanden; die Gesiehtsmuskulatur beteiligte 


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Torsionsdystonie und Athetose double. 


3 


sich nicht daran, nur einmal beobachtete er im Schlafe Kontraktionen der Ge- 
aichtsmuskulatur links. Auch dieser Fall erinnert infolge der allgemeinen Korper- 
unruhe weitgehendst an die Athetose double. 

Der erst kiirzlich mitgeteilte Fall Ewald 22 ) begann im 9. Lebensjahre mit 
einer Bewegungsstorung der rechten Hand und breitete sich in etwa 20jahrigem 
Verlaufe liber den ganzen Korper aus. Der Kranke befindet sich jetzt in fast 
ununterbrochener unwillkiirlicher Bewegung, an der auch das Gesicht teilnimmt. 
Die Tatsache, daB die Bewegungen im Schlafe aufhoren, bestimmt Ewald, das 
Leiden nicht als A. d., sondern als To. anzusprechen. 

Es wurden hier einige Fiille der Athetose-double-ahnlichen Form 
der To. mitgeteilt. Da von den Autoren die engen Beziehungen der 
beiden in Frage kommenden Leiden iraraer wieder betont werden, 
wiederholt bei demselben Fall erst die eine, dann die andere Diagnose 
gestellt wurde, erschien eine eingehendere Beschiiftigung mit der A. d. 
zur Aufstellung klarer differentialdiagnostischer Gesichtspunkte von 
Interesse. Dieses wurde noch durch den Umstand verstarkt, daB die 
Diagnose A. d. meist bei kongenitalen oder im Gefolge von fruh-infan- 
tilen cerebralen Erkrankungen sich entwickelnden Bewegungsstorungen 
gestellt ward, also bei solchen Zustanden, die schon durch dieZeit und 
die Art des Beginns eine klare Unterscheidung von der To. zu sichern 
scheinen. Es muBte demnach noch andere, diesen Fallen zwar sympto- 
matologisch ahnliche, in ihrer Entwicklung aber abweichende Krank- 
heitsbilder geben, bei denen ebenfalls die Diagnose A. d. gestellt wird. 
Im folgenden wird liber das Ergebnis des zu dem genannten Zwecke 
angestellten Studiums der zuganglichen Literatur zu berichten sein. 

Das Krankheitsbild der Athetose double wurde von Oulmont 66 ) 
im Jahre 1878 aufgestellt. 7 Falle dieses Leidens waren bereits friiher 
von Shmv 6S ) unter dem Titel „On Athetosis or Imbecillity with 
Ataxia“ mitgeteilt w'orden. Oulmont trennte als erster die Athetose 
double von der Hemiathetose ab, die er in eine symptomatische und 
eine idiopathisehe oder primitive Form einteilt. Die primitive Hemiathe¬ 
tose stellt fiir ihn den Ubergang zwischen der symptomatischen Hemi¬ 
athetose zur Athetose double dar. Fiir dieses Leiden gibt er folgende 
Grundsymptome an: Es entsteht gewohnlich ohne anderw'eitige Krank- 
heitserscheinungen (,,une affection habituellement primitive 11 ), es zeigt 
sich in unwillkurlichen Bewegungen der beiden Hande oder der Hande 
und FiiBe und bisw'eilen beider Gesichtsseiten (,,et parfois les deux 
cotes de la face“). Gegeniiber den anderen Formen der Athetose (,,1’autre 
athetose 11 ) unterscheidet es sich 1. dadurch. daB es angeboren ist oder 
in friihester Kindheit auftritt, 2. durch die Lokalisation an beiden 
Korperhalften und im Gesicht, 3. dadurch, daB die Bewegungen viel 
schwacher sind als bei der Hemiathetose und nur bei Gelegenheit von 
Willkiirbewegungen auftreten. Oulmont hebt ferner die Beziehungen 
dieses Leidens zur cerebralen Kinderlahmung hervor. 

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C. Rosenthal: 


In der Literatur der A. d. sind die Ansichten iiber ihre Beziehungen 
zur cerebralen Kinderlahmung bisher immer schwankend gewesen. 
Die alteren Autoren, so Krafft-Ebing 38 ), Michailowski 51 ), Audry 2 ) u. a. 
faBten sie als selbstandiges Krankheitsbild auf. Es soil bei dieser 
Gelegenheit nicht unerwahnt bleiben, daB die ersten zusammenfassen- 
den Darstellungen iiber die Athetose zu der Ansicht fiihrten, daB 
diese ein Leiden des hoheren Lebensalters sei; so sagt Bernhard 8 ), 
der iiber die bis dahin beobachteten 10 Falle zusammenfassend be- 
richtet, daB die Athetose eine Krankheit des hoheren Alters sei, ,,jeden- 
falls gehort das friihe Auftreten zu den groBten Seltenheiten“. C. 
WestpkaF 1 ) hebt in seinem Referat aus dem Jahre 1873 besonders den 
Fall Oairdner hervor, weil er einen Knaben betraf, wahrend das Leiden 
sonst bei bejahrten Leuten auftrat, die noch anderweitige Storungen 
des Nervensystems aufwiesen. Die bisher angefiihrten Veroffent- 
lichungen stammen aus dem Jahre 1875—1895. Aus dieser Zeit riihren 
auch die Arbeiten von Charcot 2 ), Bernhard 8 ), Freud*) und Rie her, die 
auf die engen Beziehungen zur Chorea hinwiesen. So sagen Freud-Rie, 
daB die Athetose nur eine besondere Auspragung der choreatischen Be- 
wegungsstorungen am Endglied der Extremitaten ist. Charcot ist der 
Meinung, daB die Athetose eine klinische Varietat der Hemichorea 
darstellt. Die im Jahre 1897 erschienene Monographie von Freud 28 ) 
iiber ,,Die infantile Cerebrallahmung“ spricht sich fiir eine Trennung 
der Chorea von der Athetose aus, wenn auch der Ansicht Ausdruck 
gegeben wird, daB Ubergangsfalle vorhanden sind; als solche werden 
dort angefiihrt der Fall Leube 2 ), in dem eine Athetose in Chorea, und 
der Fall Goldstein 2 ), in dem eine Chorea in Athetose iiberging. Freud 
rechnete in dieser Arbeit die Athetose double der infantilen Cerebral- 
lahmung zu, sagt aber doch, daB es Falle gibt, die erst in spaterer 
Lebenszeit bis zum 40. Lebensjahre beginnen konnen. Dabei auBert 
er: ,,Es ist wirklich miBlich, diese Reihe fiir die Zweeke der Klassifika- 
tion auseinanderzureiBen. Andererseits hat sich der Gedanke der Zu- 
sammengehorigkeit der bilateralen Athetose mit den anderen Typen 
der Diplegien so unabweisbar gezeigt“, daB eine Trennung nicht durch- 
fiihrbar erscheint. Audry weist darauf hin, daB die bilatcrale Athetose 
primar sein oder einem Stadium allgemeiner schlaffer Lahmung nach- 
folgen kann. Er sagt auBerdem, daB das Leiden selten mit einem 
Schlage einsetzt, sondern gewohnlich zuerst ein bestimmtes Korper- 
gebiet ergriffen wird, von dem aus es oftmals in Schiiben weiterschreitet. 
Es wird also bei diesen Autoren von der Athetose double als selbstan- 
digem Leiden gesprochen, es wird aber doch, trotzdem zugegeben wird, 
daB es primar und bis ins 40. Lebensjahr hinein auftreten kann, der 
cerebralen Kinderlahmung zugerechnet. Diese Anschauungen konnen 
in ihrer Ungekliirtheit nicht befriedigen. 


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Torsionsdystonie und Athetose double. 


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Im Handbuch von Leivandowsky wird gesagt, daB bei der Athetose 
double meist hochgradige Erscheinungen einer infantilen cerebralen 
Lahmung nachweisbar sind. Ein groBer Teil der Kranken soil diple- 
gisch, contracturiert, mit Dauerspasmen behaftet sein, meist Intelligenz- 
defekte, haufig Epilepsie, bestehen. Die Grundlagen der Athetose 
double seien doppelseitige cerebrale Erkrankungen, die wohl immer 
,,durch cerebrale Paresen kompliziert“ seien. In einer besonderen 
Arbeit hat sich darni noch Leivandowsky 45 ) mit der doppelseitigen 
Athetose beschaftigt; er will diese Bezeichnung fiir diejenigen Erkran¬ 
kungen reserviert wissen, in denen generalisierte Mitbewegungen, die 
in Spasmus mobilis iibergehen, und Gberempfindlichkeit gegen sen- 
sorische Reize im Vordergrunde des Krankheitsbildes stehen. Er sagt 
dort, daB die Athetose double nicht einfach als posthemiplegische 
Athetose aufzufassen ist, die beide Korperhalften ergriffen hat, also 
als Nachkrankheit der Diplegia spastica infantilis, sondern daB es eine 
selbstandige eigenartige Krankheit mit unbekannter anatomischer Ur- 
sache ist, wahrscheinlich eine doppelseitige cerebrale Erkrankung. Es 
geht auch aus diesen Darstellungen nicht eindeutig hervor, ob Le- 
wandowsky dieses Leiden den infantilen cerebralen Erkrankungen zu- 
rechnen will oder nicht. Oppenheim formuliert in seinem Lehrbuch 
seinen Standpunkt dahin, daB er mit Oulmont von einer ,,idiopathischen 
oder primitiven Athetose (Athetose double)' 1 spricht, die scheinbar 
spontan entsteht und keine Beziehungen zur Hemiplegie hat. Auch 
er hebt das Vorhandensein generalisierter Mitbewegungen hervor und 
spricht von einem ,,Grimassieren des ganzen Korpers". Er gibt an, 
daB das Leiden in der Kindheit oder im spateren Leben entsteht. Eine 
sichere Entscheidung dariiber, ob es sich bei dem Leiden um eine 
affectio sui generis handelt, oder ob es in die Gruppe der infantilen 
cerebralen Diplegien gehort, kann Oppenheim auch nicht fallen. Er 
sagt ausdriicklich, daB dieser Punkt unklar ist. Er erwahnt hier auch, 
daB die Athetose double der Torsionsdystonie nahe steht. 

Im allgemeinen ist zu den zuletzt angefiihrten Anschauungen zu 
sagen, daB man ein Leiden wohl nicht als ,,idiopathisch“ oder ,,pri- 
mitiv" bezeichnen kann, bei dem man Beziehungen zu vorangegan- 
genen cerebralen Affektionen nicht mit Sicherheit ausschlieBen kann. 

Sieht man die Literatur hinsichtlich der mitgeteilten Falle von 
Athetose double an, so ist bei der ganz iiberwiegenden Mehrzahl aller 
Falle eine vorangegangene cerebrale Affektion, und zwar meist der 
allerersten Lebenszeit, nachweisbar. Bei diesen Fallen sind es Erschei¬ 
nungen wie Konvulsionen, plotzliche Erschlaffungen des ganzen Korpers, 
vollige Bewegungslosigkeit u. a., die das Leiden einleiten. Diesen Fallen 
an die Seite zu stellen sind solche, die durch intrauterine oder Geburts- 
schadigungen verursacht sind, und bei denen ein abnormes Verhalten 


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C. Rosenthal: 


der Motilitat, sei es als Hyper- oder Akinese, bereits von Geburt an 
besteht. Bei diesen kongenitalen und friihinfantilen Fallen sind auBer- 
ordentlich haufig aueh spaterhin Diplegien und andere Schadigungen 
der Pyramidenbahn, schwere Intelligenzdefekte, Epilepsie u. a. nach- 
weisbar. Diese Erkrankungsform, die, vie gesagt, den groBten Teil 
der als Athetose double beschriebenen Falle liefert, ist sicherlich den 
infantilen Cerebrallahmungen zuzurechnen; man kann sie, da sie von 
Geburt an besteht oder sich unmittelbar an eine meist fruh-infantile 
cerebrale Affektion anschlieBt, als ,,Friihform der symptomatischen 
Athetose double “ bezeichnen. 

Aueh eine andere, wesentlich seltenere Form dieses Leidens gehort 
hierher. Es sind diejenigen Falle, von denen bereits Audry sagte, daB 
sich die allgemeine Bewegungsunruhe bei ihnen im AnschluB an ein 
Stadium allgemeiner sehlaffer Lahmung anschlieBt, und zwar sind es, 
allgemeiner gesagt, diejenigen Erkrankungsformen, bei denen auf dem 
Boden angeborener Hirnschadigung oder infantiler Cerebrallahmung 
sich erst nach Jahren allmahlich das Bild einer Athetose double ent- 
wickelt. Der spjiter beschriebene Fall Michel R., bei dem das Leiden am 
dritten Lebenstage mit sehlaffer Akinese begann, sich dann so weit 
besserte, daB er im Alter von 9—10 Jahren ohne Unterstiitzung laufen 
konnte und bei dem im 13. Lebensjahre erstmalig die unwillkiir- 
lichen Bewegungen auftraten, gehort in diese Gruppe. Sonst sind die 
in der Literatur mitgeteilten Falle dieser Gruppe wenig zahlreich. 

Der 46jahrige Kranke Krafft-Ebings 38 ) erkrankte im Alter von 6 Monaten; 
er habe damals plotzlich eine Stunde lang „wie tot“ dagelegen; das Leiden ent- 
wickelte sich im Laufe des ersten Lebensjahres. Wenn dann weiterhin gesagt 
wird, daB es jetzt seit mindestens 20 Jahren unverandert geblieben ist, so spricht 
das wohl dafiir, daB die endgiiltige Entwicklung dieses Leidens sich bis ins 3. Le- 
bensjahrzelmt hinein erstreckt haben muB. 

Lomh 48 ) berichtet iiber eine Kranke, die mit 6 Monaten erkrankte; bis 
zum Alter von 3 Jahren blieben Arme und Beine unbeweglieh. Mit 4 Jahren 
begann die Pat. zu laufen. und zu dieser Zeit traten erstmalig die umvillkurlichen 
Bewegungen in Gesicht, Schultern und Handen auf. 

Ein 25jahriger Kranker Plata ua is ) hat erst im 3. Lebensjahre laufen gelernt. 
Das Laufen blieb bei ihm immer ungeschickt. Wahrend des Militiirdienstes fiel 
er durch die Langsamkeit und Ungeschicklicbkeit seiner Bewegungen auf. Bei 
der daraufhin erfolgenden Beobaehtung im Lazarett wurden Sprachstorung und 
unwillkiirliche Bewegungen der Halsmuskulatur festgestellt; das Gehen war von 
eigentiimlichen Rumpfdrehungen begleitet. Platan stellt die Diagnose „Atypische 
Athetose 11 . 

Lewandoivsky hiilt diesen Fall wegen der Mitbewegungen fiir eine 
typische A. d. Es muB gesagt werden, daB, abgesehen von der bestehen- 
den Sprachstorung, das Krankheitsbild stark an Torsionsdystonie er- 
innert. Tritt man aber der Anschauung Lewandowskys bei, so liegt der 
Verdacht nahe, daB es sich bier um einen Fall von symptomatischer 


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Torsionsdystonie und Athetose double. 


7 


Athetose handelt. die erst lange Zeit nach einem cerebralen Insult 
manifest wurde. Die verspatete Erlernung des Laufens sowie der Um- 
stand, daB dieses immer ungeschickt blieb, weisen, da von Rachitis 
oder sonstigen Erkrankungen nichts berichtet wird, wohl auf eine kon- 
genitale oder in der ersten Lebenszeit erlittene Hirnschadigung hin; 
das Leiden selbst wurde erst wahrend der Militarzeit, moglicherweise 
infolge der erhohten kdrperlichen Anforderungen, manifest. 

PoMafc 5 ®) berichtet iiber einen 12jahrigen Knaben, der eine angeborene 
progressive Parese bzw. Paralyse des Rumpfes und der Extremit&ten hatte. Seit 
dem 2. Lebensjahre traten bei ihm an Intensitat allmahlich zunehmende Spasmen 
jn den Beinen auf, die spater auch auf die Arme iibergriffen. 

Auch hier entwickelten sich (lie unwillkiirlichen Bewegungen erst 
nach jahrelang bestehender Lahmung. 

Rothmann 61 ) sah einen ganz iihnliclien Fall. Ein zur Zeit der Beobachtung 
7jahriges Kind, das von Geburt an vollig schlaff und haltlos war, zeigte vom 
2. Lebensjahre an zugleich mit der Besserung des Muskeltonus starke Zwangs- 
bewegungen. In einem zweiten Falle, iiber den derselbe Autor berichtet, han- 
delte es sich um ein Madchen, das nur langsam sprechen und laufen lernte, und 
bei dem vom 6. Lebensjahre ab spastische Zust&nde mit choreatisch-athetotischen 
Bewegungen an den Extremitaten auftraten; vom 10. Lebensjahre ab zeigte 
sich eine dauernde Verschlechterung des Zustandes infolge der starken Zunahme 
der Zwangsbewegungen. 

Auch diese beiden Falle — der zweite Fall wegen der spaten Er¬ 
lernung von Sprechen und Laufen — diirften in jene Gruppe der sym- 
ptomatischen Athetose double gehoren, die sich bei bestehender cere- 
braler Affektion erst spaterhin entwickelt. 

Aus der jiingsten Literatur ist die Arbeit Filimonoffs 22 ) zu er- 
wahnen. 

Bei einem jetzt 28jahrigen Kranken, der 8-Monatskind ist, sich psychisch 
langsam entwickelte, erst mit 4 Jahren stehen, mit 5 Jahren gehen lernte und 
dessen Gang immer eigentiimlich blieb — er klebte am Boden und schwankte —, 
sind bestandige unwillkurliche Bewegungen vorhanden, die in den letzten 
Monaten vor der Beobachtung stark zugenommen haben. 

Der Autor halt diesen Fall fiir eine idiopathische A. d. und glaubt, 
ihn durch das Vorhandensein generalisierter Mit bewegungen von 
der symptomatischen A. d. bei cerebraler Kinderlahmung und von 
dem Fo^fschen Syndrom des Corpus striatum abgrenzen zu konnen. 
Dagcgen laBt sich anfiihren, daB die Tatsache, daB der Kranke so 
auffallig spat stehen und gehen lernte, sein Gang immer abnorm blieb 
und er sich psychisch langsam entwickelte, fiir eine angeborene oder 
friih-infantile Cerebralschiidigung spricht. Auf dem Boden derselben 
entwickelte sich dann spaterhin die A. d. Es erscheint daher ange- 
bracht, diesen Fall der symptomatischen Form'dieses Leidens zuzu- 
rechnen. 


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8 


C. Rosenthal: 


Einen weiteren interessanten Beitrag einer sich in Jahren allmah- 
lich ausbreitenden A. d. liefert Thomas' 12 ). 

Sein jetzt 13jahriger Kranker zeigte im Alter von einem halben Jahre 
Schlaffheit des Nackens und anderer Korperteile. Bereits im Sauglingsalter 
wurden zuckende Bewegungen im Gesicht beobachtet; aber erst im 5. oder 6. Le- 
bensjahre zeigte sich eine Unruhe des Korpers und der GliedmaBen, die dann 
best&ndig zunahm. 

Also auch hier entwickelte sich nach einem friihinfantilen cere- 
bralen Insulte im Laufe mehrerer Jahre eine ausgesprochene A. d. 

Das alle diese Falle verbindende Moment liegt. darin, daB kon- 
genitale oder friihinfantile Hirnschadigungen vorliegen oder als wahr- 
scheinlich angenommen werden miissen, und daB sich erst spater, meist 
nach mehreren Jahren, allmahlich das Zustandsbild einer typischen 
A. d. entwickelt. Diese Gruppe soli zum Unterschiede gegeniiber der 
Friihform der symptomatischen A. d., die angeboren ist oder sich un- 
mittelbar im AnschluB an eine Hirnschadigung zeigt, als Spdiform der 
symptomatischen Athetose double abgesondert werden. 

Sie stellt den Dbergang dar zu der dritten, fiir diese Betrachtungen 
wichtigsten Gruppe der Athetose double, namlich zu den Fallen echter 
idiopathischer A. d. Es handelt sich dabei um diejenige Erkrankungs- 
form, die bei vollig gesunden Individuen in der Kindheit oder im spa- 
teren Leben bei Fehlen aller sonstigen begleitenden Krankheitserschei- 
nungen auftritt und sich in ganz langsamer, iiber Jahre sich erstrecken- 
der Progression iiber den ganzen Korper ausbreitet und zum Bilde 
einer ausgesprochenen A. d. fiihrt. Bei der Durchsicht der Literatur 
fanden sich im ganzen 17 Falle, die hierher gehorig erschienen. Sie 
sollen im folgenden angefiihrt werden. 

Oulmont, der als erster nicht nur die Hemiathetose von der A. d., sondern 
auch eine symptomatische von einer primitiven, also ohne vorangegangene cere- 
brale Erkrankung auftretenden Form des Leidens unterschied, teilt zwei Fiille 
primitiver Hemiathetose und einen Fall primitiver Athetose double mit. Das 
Leiden habe sich allmahlich ausgebreitet, die Bewegungen batten des Nachts 
aufgehort. Mehr kann iiber diesen Fall nicht gesagt werden, da die Original- 
arbeit nicht zuganglich war. 

Eulenburg 21 ) teilt in seinem Lehrbuch fiir Nervenkrankheiten eine Beobach- 
tung bei einem jetzt 38jtihrigen Manne mit, dessen Leiden 7 Jahre vorher an- 
geblich im AnschluB an eine Erkiiltung, jedoch ohne sonstige ernstere Erschei- 
nungen, aufgetreten war. Es bestand eine fast dauernde Muskelunruhe in Handen, 
FiiBen und Gesicht; die Zuckungen sollen nachts nicht ganz aufgehort haben. 

Leivandowsky fiihrt in seiner Arbeit neben den vier eigentlichen Fallen noch 
kurz einen fiinften an, wo bei einem bis dahin gesunden 16jahrigen jungen Manne 
eine sich entwickelnde A. d. bestand, die erst in den Beinen manifest war. 

Lukacs 47 ) beobachtete ein bis zum 20. Jahre vollig gesundes Madchen, bei 
dem zu dieser Zeit die Zunge beim Sprechen sich schlecht zu bewegen begann; 
mit 22 Jahren zeigten sich im 1. Arm und in der 1. Hand, mit 25 Jahren im 1. FuB, 
mit 27 Jahren im r. Arln und in der r. Hand unwillkiirliche Bewegungen. Die 
Sprache verschlechterte sich ebenfalls allmahlich. Ferner spricht Lukacs weiter 


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Torsionsdystonie und Athetose double. 


9 


liber ein 19jahiiges Miidchen, das spat sprechen lernte, bei dem sich die Sprache 
ebenfalls allmahlieh verschlechterte, bei der mit 15 Jahren der Full, mit 18 Jahren 
die Hand ungeschickter wurde. Es zeigten sich im Gesicht, Zunge und Hals- 
muskeln zeitweise langsame krampfhafte Kontraktionen. Lukacs betont bei 
seinen Fallen das Freibleiben der Pyramidenbahn. Bei dem 2. von Lukacs mit- 
geteilten Falle ist die Zugehorigkeit zur idiopathischen Form der A. d. wegen 
der spftten Erlernung des Sprechens ungewiB; es handelt sicli dabei moglicher- 
weise um eine Spatform der symptomatischen A. d. 

Remak 58 ) stellte 1891 einen 11 x / 2 jahrigen Knaben vor, der bis zum Alter 
von 8 Jahren vollig gesund war, bei dem sich dann Zuckungen im rechten Bein, 
Bewegungen in FuB und Zehen rechts, 1 Jahr spater im 1. Bein und weiterhin 
Spasmen in der Bauchmuskulatur einstellten. Remak stellt die Diagnose: pro¬ 
gressive doppelseitige Athetose. Da aber bei der Mutter des Knaben eine Schwache 
der rechten Korperseite und zuckende Bewegungen im rechten Arm bestehen, 
ist es unsicher, ob es sich hier nicht um eine beginnende chronische Chorea handelt. 

Uigier 3 *) demonstrierte im VVarschauer Arzteverein, wie Lukacs berichtet, 
einen Mann von 28 Jahren, bei dem sich vom 16. Lebensjahre an in sehr lang- 
samer Progression eine doppelseitige Athetose mit Sprachstorungen entwickelte. 
Als zweiter hierher gehoriger Fall wird ein Mann von 35 Jahren vorgestellt, 
bei dem sich das Leiden vom 13. Lebensjahre an allmahlieh herausgebildet hatte; 
jetzt sind H&nde, Schulter-, Nackenmuskulatur und FiiBe ergriffen; die Sprache 
ist gestort. Auch hier wird das Erhaltenbleiben der Intelligenz, das Freibleiben 
der Pyramidenbahn betont. Es wird dabei berichtet, daB bei einem 23j&hrigen 
Bruder dieses Kranken dasselbe Leiden ebenfalls im Alter von 13 Jahren begann. 
Anamnestisch war von sonstigen Erkrankungen in beiden Fallen nichts fest- 
zustellen; es bestand „neuropathische Belastung“. Higier beschreibt diese Falle 
als A. d. fainiliale. 

Oppenheim 62 ) erwahnt in seiner Arbeit iiber die Dystonia musculorum 
deformans neben den eigentlichen Fallen dieses Leidens zwei andere, die hierher 
gehoren. Im ersten Falle, der bis zum 9. Lebensjahr vollig gesund war, stellte 
sich Zittem im rechten Arm ein, der linke Arm und die Beine wurden spater 
ergriffen. Oppenheim stellt die Diagnose „schwere idiopathische Athetose 1 *, be- 
sonders in den Armen, Becken und Rumpfmuskeln, sagt aber, daB noch ein un- 
klarer Faktor dabei sei. Ein iilterer Bruder dieses Patienten erkrankte im 8. Le¬ 
bensjahre ebenfalls mit Zuckungen im rechten Arm, allmahlieh bildete sich eine 
schwere Athetose der Hande aus, im rechten FuB zeigte sich eine Andeutung 
derselben Storungen. 

Adsersen 1 ) berichtet von einem Kinde, das bis zu 3 1 / 2 Jahren ganz gesund 
war, bei dem sich dann eine Flexionscontractur des linken Kniegelenks ent¬ 
wickelte, im Laufe von 9 Monaten entstand eine iiber alle Muskeln ausgebreitete 
Athetose, von der nur Zunge und mimische Muskulatur frei blieben; Contrac- 
turen und Muskelatrophien bestanden nicht. 

0. Fischer 2 *) teilt einen Fall mit, bei dem sich bei einem 17 jahrigen jungen 
Manne, der sich bis zum 14./15. Lebensjahr vollkommen normal entwickelt hatte, 
nach diesem Zeitpunkt eine Bewegungsunruhe der gesamten Korpermuskulatur 
herausgebildet hatte: langsame steife Bewegungen, oft ganz bizarre Verdrehungen 
und Verrenkungen der GliedmaBen und des ganzen Korpers, auch des Gesichts 
und der Sprache. Es besteht starkster EinfluB von Geriiuschen und Bewegungs- 
intentionen auf die Muskelunruhe. 

Oreidenberg 31 ) hat einen 36jtihrigen Mann beobachtet, bei dem sich 
im 8., 14., 18. Lebensjahre der Reihe nach folgende Storungen entwickelten: 
Contractur des 4. und 5. Fingers rechts, Abduktionscontractur des linken Arms, 


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10 


C. Rosenthal: 


unwillkiirliche Flexions- und Extensionsbewegungen der rechten Finger, Neigung 
des Kopfes nach der rechten Schulter, Zunahme der unwillkiirlichen Fingerbewe- 
gungen, Ausbreitung derselben auf Hande, Unter- und Oberarra. Es bestehen 
schlieBlich abnonne Haltungen des Kopfes, Grimassieren, abnorme Haltung der 
Wirbelsaule, des Schultergiirtels, der Arme; am wenigsten sind die Beine am 
KrankheitsprozeB beteiligt. Bei einem zweiten Kranken, einem 24jahrigen, bis 
dahin gesunden Manne, beobachtete Oreidenberg eine allmahliche Ausbreitung 
unwillkurlicher Bewegungen von einem FuB aus auf Unter-, Oberschenkel, Rumpf, 
Arme, Kopf. 

Michailowski 61 ) sah bei einem 48jahrigen Mann eine ausgesprochene Athe- 
tose double, die im 7. Lebensjahre mit einer Unruhe der Gesichts- und Extre- 
mitatenmuskulatur begonnen hatte. 

Brismud und Hallion 13 ) berichten dariiber, daB ein gesundes M&dchen 
im 13. Lebensjahre an einer sich ganz allmfihlich ausbreitenden Athetose double 
erkrankt. Die Unruhe in der mimischen Muskulatur, die zur Zeit der Beobach- 
tung, als Pat. 29 Jahr alt ist, sehr ausgesprochen ist, hat sich erst im Alter von 
28 Jahren erstinalig bemerkbar gemacht. Da eine Kusine dieser Patientin seit 
dem 6. Lebensjahre an chronischer Chorea leidet, weisen die Autoren auf die 
engen Beziehungen des hier besprochenen Leidens zu jenem hin. 

Von Solder 69 ) sah ein 9 jaliriges Made hen, bei der keine hereditiire Belastung 
bestand, deren Geburt normal verlief und die sich bis zum 5. Lebensjahre normal 
entwickelt hatte; vom 6. Lebensjahre an bildete sich ohne anderweitige krank- 
liafte Begleiterscheinung der jetzige Zustand aus; zuerst traten Verschlechterung 
der Sprache und Bewegungsstorungen im rechten Bein, etwas spater im rechten 
Arm, ein weiteres Jahr spater Storungen in dem linken Bein und beim Kauen auf. 
Zuletzt wurden der linke Arm und der Schlingakt von dem Leiden ergriffen. 

Clifford-AlbutC) und Pur don 67 ) sahen eine langsame Entwicklung einer 
Athetose double ohne bekannte Ursache; die Intelligenz blieb intakt. N&heres 
war liber diese Ffille nicht zu erfahren. 

Kurella* 0 ) beobachtete einen Patienten, dessen Vater an einer choreaahn- 
lichen Krankheit litt. Bis zum 12. Lebensjahre war er vollig gesund, dann er- 
krankte er an „krampfahnlichen“ Anfallen, die ihn zeitweise zum Vers&umen der 
Schule zwangen. „Doch war er haufig so weit Herr seiner Bewegungen, daB er 
Schriftsetzer werden konnte und sein Brot vercliente.“ Mit 22 Jahren war er so 
weit frei von „Krftmpfen“, daB er Soldat wurde und 2 1 / 2 Jahr diente. Er blieb 
dann etwa 10 Jahre verschollen und tauchte dann plotzlich wieder zu Hause 
auf, „fortwahrend von den bizarrsten Bewegungen geschiittelt und hochgradig 
schwachsinnig 11 . Die Diagnose dieses Falles erscheint bei der hereditaren Be¬ 
lastung und der eingetretenen hochgradigen Intelligenzstorung zweifelhaft; es 
ist hier wohl eher an eine chronische Chorea zu denken. 

Pollak S6 ) berichtet iiber einen 23jiihrigen, „ziemlich bloden“ Mann aus 
epileptischer Familie, bei dem das Leiden mit 18 Jahren nach Sturz und Schreck 
mit Zuckungen an beiden FiiBen und Zittern in den Zehen begann. Es breitete 
sich alimahlich aus. Jetzt bestehen in alien Kbrjx'rlagen langsame Bewegungen 
an Armen und Beinen, auch im Schlafe; sonst besteht neurologisch kein krank- 
hafter Befund. 

Klempner 36 ) sah eine Kranke, bei der eine vollig normale Entwicklung vor- 
lag. die friihzeitig sprechen und laufen lernte, bei der nie Lahmungen oder Spasnien 
auftraten. Mit 6 1 / 2 Jahren stellte sich Grimassieren, danach athetoide Bewe¬ 
gungen in den Hiinden ein. In einem 2. Fallc bemerkte man bei einem jetzt 
Ojiihrigen Madchen, bei dem hereditare Belastung nicht vorliegt, dessen Geburt 
normal verlief und das friihzeitig laufen und sprechen lernte, erstinalig im Alter 


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Torsionsdystonie und Athetose double. 


11 


von 3 Jahren unwillkiirliche Bewegungen an Hiinden und FiiBen sowie Verschlech- 
terung der Sprache. In beiden Fallen Klempners war die Intelligenz nicht ge- 
stort. Klempner bezeichnet diese Falle vor allem wegen des Fehlens spastischer 
Zustande als „formes frustes“ der A. d. 

Ein Kranker, den Haupt 3 *) beobachtete, zeigte eine langsame Entwicklung 
in den ersten 2 Lebensjahren, lernte infolge Rachitis auch erst mit 2 Jahren laufen, 
soli jedoch im Alter von 3 Jahren korperlich und geistig durchaus einem Kinde 
dieses Alters entsprochen haben. Zu dieser Zeit machte er eine Diphtherie durch, 
nach der Schwache in den Beinen, Unbeholfenheit beim Gehen im Dunkeln und 
Herabsetzung des Sehvermogens auftrat; diese Erscheinungen bildeten sich bis 
auf eine SpitzfuBstellung zuriick. Es setzte bald darauf eine Verlangsainung 
der geistigen Entwicklung ein, der korperliche Zustand verschlechterte sich all- 
mahlich so, daB er mit 6 Jahren nicht mehr laufen konnte; mit 11 Jahren hatte 
sich eine ausgesprochene A. d. ausgebildet. Haupt faBt diese als idiopathisch 
auf, da der neurologische Befund am Bein dem Bilde einer postdiphtherischen 
Lahmung durchaus entspricht, wahrend alle Erscheinungen von Diplegie oder 
Hemiplegie fehlen. 

Es wurden hier aus der Literatur der letzten 40—50 Jahre 25 Falle 
von idiopathischer A. d. zusammengestellt, jedoch scheint bei einigen 
die Diagnose nicht absolut gesichert. In den 3 Fallen von Oulmoni, 
Clifjord-Albutt und Purdon ist liber die Zugehorigkeit zur echten ldio- 
pathischen A. d. darum nichts Sicheres zu sagen, weil aus den Mit- 
teilungen nicht mit Deutlichkeit hervorgeht, dad die Kranken bis zum 
Auftreten der ersten Erscheinungen sich vollig normal entwickelt 
haben. — 4 weitere Falle verdienen deshalb besondere Erwahnung, weil 
bei ihnen gewisse anamnestische Angaben Zweifel an der Diagnose 
,,idiopathische A. d.“ aufkommen lassen. Der 2. Kranke von Lukacs 
hat spater sprechen gelernt; da dieser Storung mbglicherweise eine cere- 
brale Affektion zugrunde liegt, erscheint die Zugehorigkeit dieses 
Falles zu der hier besprochenen Gruppe des Leidens ungewiB. Auch 
der Fall Eulenburg, bei dem sich die Erkrankung an eine Erkaltung 
anschloB, muB ausgesondert werden. Wenn Poliak von seinem Kranken 
sagt, daB er aus epileptischer Familie stammt und ,,ziemlich blode“ 
ist, so liegt der Verdacht auf angeborene cerebrale Minderwertigkeit 
oder eine sonstige Cerebralschadigung doch so nahe, daB auch hier die 
Diagnose ,,idiopathische A. d.“ fraghch ist. Anders liegen die Ver- 
haltnisse im Fall Haupt, bei dem eine Diphtherie dem Beginne 
des Leidens vorausging; die damals beobachtete Schwache beim 
Laufen findet ihre Erklarung in der noch nach mehreren Jahren deut- 
lich nachweisbaren Parese und Atrophic der Peronealmuskulatur, die 
sich zwanglos als postdiphtherische Lahmung erklaren laBt. Es scheint 
danach kein geniigender Grund vorhanden zu sein, der Anschauung 
Haupts, daB es sich um echte idiopathische A. d. handele, nicht beizu- 
treten. — In den Fallen von Kurella und Rcmak ist die Moglichkeit vor¬ 
handen, daB die Autoren nicht eine A. d. : sondern chronische Chorea be- 


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12 


C. Rosenthal: 


schrieben haben, da im Falle Kurella der Vater des Patienten an einer 
,,choreaahnlichen Erkrankung“ und die Mutter des Kranken Remaks 
an Zuckungen litt. Auch diese beiden Falle konnen nicht als geniigend 
diagnostisch gesichert angesehen werden. 

Von den 25 mitgeteilten Fallen bleiben dann nur 17 iibrig, bei 
denen die Diagnose ,,idiopathische Athetose double 41 sicher zu Recht be- 
steht, bei denen sich also bei vollkommen normal entwickelten Individuen 
in der Kindheit oder im spateren Lebensalter ohne sonstige Krank- 
heitserscheinungen allmahlich das Krankheitsbild einer Athetose double 
ausgebildet hat. 

Es eriibrigt noch, auf einige Punkte aus diesem Material besonders 
hinzuweisen. Zweimal, namlich bei Oppenheim und Higier, erfahren wir, 
daB 2 Briider von dem Leiden ergriffen wurden. Higier spricht daher 
von ,,familiarer Athetose double”. Da diese beiden Falle vereinzelt 
dastehen, wird man irgendwelche allgemeinere Folgerungen aus diesem 
Befunde nicht ziehen diirfen. 

In einer verhaltnismaBig groBen Zahl von Fallen bleibt die In- 
telligenz erhalten und psychisehe Veranderungen fehlen, so in den 
Fallen von Lukacs, Higier, Oppenheim , Brissaud-Hallion, Klempner. 

Femer ist hervorzuheben, daB wiederholt die mimische Muskulatur 
an der allgemeinen Bewegungsunruhe nicht beteiligt ist, so bei Higier, 
Adsersen, Oppenheim, Leivandowsky ; in letzterem Falle ist die Ver- 
wertbarkeit dieser Erscheinung unsicher, da es sich dabei urn einen 
erst in der Entwicklung befindlichen Fall handeln diirfte. In einem 
Falle Klempners zeigt die mimische Muskulatur auch keine Bewegungs¬ 
unruhe, nur die Zunge macht ,,choreatische Bewegungen”. 

Wenn auch diese Literaturiibersicht, die im ganzen 17 sichere 
Falle echter idiopathischer A. d. ergeben hat, nicht den Anspruch der 
Vollstandigkeit erheben kann und will, so geht doch zum mindesten 
aus ihr hervor, daB das zuletzt besprochene Leiden im Verhaltnis zur 
Friihform der symptomatischen A. d. auBerordentlich selten ist, konnte 
doch Seeligmuller 87 ) in seiner monographischen Bearbeitung der Athetose 
im .Jahre 1881, zu einer Zeit also, als der Begriff A. d. erst wenige 
Jahre bekannt war, in Schmidts Jahrbiichern schon iiber etwa 20 Falle 
der genannten Form des Leidens berichten. 

Zusammenfassend ware dann zu sagen, daB sich innerhalb der A. d. 
folgende Gruppen unterscheiden lassen: 

A. symptomatische Athetose double. 

1. eine Friih-Form, die kongenital oder in unmittelbarem AnschluB 
an einen friihinfantilen cerebralen Insult auftritt, 

2. eine Spat-Form, the sich nach angeborener oder friihinfantiler 
Cerebralschadigung erst nach Jahren allmahlich ausbildet. 


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Torsionsdystonie und Athetose double. 


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B. echte idiopathische A. d., die in der Kindheit oder im spateren 
Lebensalter ohne sonstige Cerebralerscheinungen beginnt und sich 
ganz allmahlich, bisweilen in jahre- bis jahrzehntelangem Verlaufe 
iiber den Korper ausbreitet. 

Die Beziehungen der A. d. zur cerebralen Kinderlahmung stellen 
sich dann so dar, daB die symptomatischen Formen der cerebralen 
Kinderlahmung zuzurechnen sind, wahrend fiir die echte idiopathische 
Form ein solcher Zusammenhang nicht nachzuweisen ist. Jene Erkran- 
kungen, bei denen irgendwelche auffalligen Verzogerungen korperlicher 
oder psychischer Entwicklung, wie z. B. im Falle Filimonoff, vorhan- 
den sind, sollen, auch wenn sie sonst keine ausgesprochenen Lahmungs- 
erscheinungen u. a. haben, im Interesse klarer Klassifikation der Spat- 
Form der symptomatischen A. d. zugerechnet werden. 

Ehe der differentialdiagnostischen Abgrenzung derAthetose-double- 
ahnlichen Gruppe der Torsionsdystonie von der echten idiopathischen 
A. d. im einzelnen nahergetreten wird, soil die Mitteilung zweier in 
dieses Gebiet gehoriger Krankengeschichten erfolgen; die Patienten 
wurden in den Jahren 1920 und 1921 in der hiesigen Klinik beobachtet. 

Fall I: Michel R., 17 jahriger katholischer Auslander. 

Vorgetchichle, von der Mutter und einem Bruder des Kranken erhoben: 
Eltern gesund. In der Familie keine Nerven- oder Geisteskrankheiten. Mutter 
hat drei Geburten durchgemacht. Alle drei Kinder leben. Pat. ist Zweitgeborener. 
Die beiden andem Kinder sind gesund. 

Keine Erkrankung der Mutter wahrend der Schwangerschaft; die Geburt 
erfolgte rechtzeitig. Die Entbindung verlief normal. Wahrend der ersten zwei 
Lebenstage nor males Verhalten des Xeugeborenen. Am dritten Tage trat eine 
schwere Gelbsucht auf, die etwa 2 Monate anhielt. Der herbeigeholte Arzt stellte 
Pharyngitis und vergroBerte Gaumenmandeln fest. Der Saugling konnte sehr 
schlecht atmen, die Atraung war stohnend. In diesen Tagen bis 39° Fieber, dann 
normale Temperatur. Die Behinderung der Atmung und die damit zusammen- 
liangenden Erscheimmgen hielten etwa 25 Tage an. 

An dem Tage, an dem die schwere Gelbsucht auftrat, also am dritten Le¬ 
benstage, fiel der Mutter, als sie das Kind baden wollte, auf, daB es in sich zu- 
sammenfiel und der Kopf nach vorn sank. Seit diesem Tage ist das Kind nie- 
mals mehr normal beweglich gewesen. In den nachsten 3 Jahren blieb der Kopf 
schlaff seitlich zur Schulter geneigt, die Arme im Ellenbogen gebeugt an den 
Rumpf gehalten. Das Kind machte keine Spontanbewegungen, muBte daher 
immer gefiittert werden. Es zeigte normales Interesse fiir die Umgebung. Mit 
3 Jahren begann es zu verstehen, was man zu ihm sagte und fiihrte kleine Auf- 
tr&ge richtig aus. Vom 3. bis 5. Lebensjahre besserte sich der Zustand allmahlich. 
Im 5. Jahre fing es an, sich zu bewegen, stellte sich auf und machte Gehversuche. 
Anfangs setzte es immer nur die FuBspitzen auf den Boden auf, erst spater trat 
es mit ganzer Sohle auf, konnte aber beim Laufen nicht die Beine im Knie durch- 
drucken und schleifte mit den Sohlen am Boden. Bei den ersten Gehversuchen 
fiel er oft liin, und zwar stets nach hinten, sodaB er haufig kleine Verwundungen 
am Hinterkopf davontrug. Erst im Alter von 9—10 Jahren konnte er ohne 
Unterstiitzung laufen. In dieser Zeit konnte er sich nicht allein an- und aus- 
ziehen, essen usw., weil seine Finger dazu zu ungescliickt waren. Naheres iiber 


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14 


C'. Rosenthal: 


die Ursache dieser Ungeschicklichkeit ist von Ref. nicht zu erfahren. Mit 5 Jahren 
begann er zu sprechen, aber die Sprache war nie gut verst&ndlich. Mit 8 Jahren 
bekam er Unterricht in seiner Muttersprache, zeigte dafiir Interesse. Spater 
erhielt er nocli Unterricht im Franzosischen, Mathematik, Rechnen usw. Nach 
Angabe der Ref. besteht kein grober Intelligenzdefekt, aber „er scheint doch 
geistig etwas zuriickgeblieben zu sein“. In seinem psychischen Verhalten soil 
er nie etwas Auffiilliges geboten haben, nur litt er in den letzten Jahren seelisch 
sehr unter seiner Kranklieit. 

Im Alter von 10 bis 12 Jahren traten etwa ein- bis zweimal im Monat kurz 
voriibergehende Anfalle auf, angeblich mit BewmBtseinsverlust; es soil sich „alles 
mit ihm gedreht“ haben. Er sei aber nie dabei umgefallen. Sonst haben sich 
nie irgendwelche Erscheinungen gezeigt, die auf Epilepsie hinwiesen. 

Die ersten unwillkiirlichen Bewegungen traten im Alter von 13 bis 14 Jahren 
auf, und zwar besonders in den Armen und im Gesicht. Es bildete sich allmahlich 
das jetzige Zustandsbild aus, das seit etwa 3 Jahren in unveriinderter Weise be¬ 
steht. Die unwillkiirlichen Bewegungen Bind bei psychischen Einfliissen am deut- 
lichsten, so z. B. wenn er mit Freunden zusammenkommt usw.; wenn er allein 
ist und im Schlafe horen sie vollig auf. Der Kranke iflt sehr langsain; beim 
Trinken laute glucksende Geriiusche. Kein SpeichelfluB. 

Schlaft leidlich gut, wacht aber manchmal ganz plotzlich auf. 

Bis zum Alter von 3 Jahren war er unsauber mit Stuhl und Urin, seitdem 
sauljer. Stuhlgang und Wasserlassen intakt. 

An korperlichen Krankheiten hat er im Alter von 5 Jahren Dysenterie 
durchgemacht, etwa 15 Tage Kranklieitsdauer; sein allgemeines Befinden wurde 
davon nicht wesentlich gestort, auch seine Bewegungsstorung blieb unbeeinfluBt. 
Er soli sonst nie ernstlich krank gewesen sein. 

Befuvd. Allgeineine kbrperliclie Entwicklung etwa dem Alter entsprechend. 
Mittlerer Ern&hrungszustand; ziemlich blasse Gesichtsfarbe. Starkes Schwitzen 
der Hiinde und Achselhohlen. Starke Behaarung an Unterschenkeln und Unter- 
armen. Xormale Scham- und Achselhohlen behaarung. Die Untersuchung der 
inneren Organe ergibt keinen krankhaften Befund. Der Kopf erscheint im Ver- 
hliltnis zur Korperlange auffallend groB; Korperlange 155 cm, Schiidelumfang 
57,5 cm. Die untere Kbrperhalfte scheint im Verhaltnis zur oberen im Wachs- 
tum im ganzen etwas zuriickgeblieben zu sein. Es fallt die starke Entwicklung 
des Schultergiirtels im Vergleich zu dem schmalen Abdomen auf. Der Umfang 
des Schultergiirtels betriigt 95 cm, der des Beckengiirtels nur 74 cm. Die Mus- 
kulatur des Schultergiirtels sowie der Ober- und Unterarme ist etwas liyper- 
trophiert, besonders deutlicli springen am Oberarm Biceps und Deltoideus hervor. 

Haltiuig im Liegen: Der Kopf macht bestandig zuckende Drehbewegungen 
von geringer Exkursion, meist im Sinne einer seitlichen Drehung, bald nach 
rechts, bald nach links; seltener dabei eine kurze Nackenbeugung. In der ?ni- 
mi8chen Muskulatur ebenfalls fast stiindig irgendwelche unwiUkiirlichen Be- 
w'egungen, bald im Sinne einer Verbrciterung des Mundes, besonders nach rechts, 
bald als kurzes Stirnrunzeln. Neben diesen Bewegungen treten im Gebiete der 
mimischen Muskulatur auch andere auf, aber nur selten und ganz vereinzclt. 
Die geschilderten unwillkiirlichen Bewegungen sind bei Beginn der Ruhelage 
ziemlich lebhaft, klingen allmahlich ab, sistieren dann vollig, aber nur fur ganz 
kurze Zeit. Zeitweise gibt der Kranke kurze, teils sehnalzende, toils an Lachen 
erinnernde unartikulierte Laute von sich, an die sich dann eine Zunahme der 
unwillkiirlichen mimischen Bewegungen anschlieBt, die jedoch nach kurzer Zeit 
wieder verebbt. Die Arme zeigen beim Liegen verhiiltnismaBig wenig unwill- 
kiirliche Bewegungen. Sie bleiben etwa bis zu einer halben Minute ruhig in der 


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Torsionsdystonie und Athetose double. 


15 


i 


Lage, die ihnen der Kranke gibt. Sonst sieht man in alien Muskelgruppen der 
Arme, ohne irgendwelche Pradilektion, kurze Kontraktionen, denen meist ein 
Bewegungseffekt nicht entspricht; insofern erinnern sie an myoklonische Zuckun- 
gen, erfolgen jedoch langsamer als diese. Die Finger der rechten Hand sowie diese 
selbst zeigen keine umvillkiirlichen Bewegungen. Die Hand wird in Mittelstel- 
lung, die Finger gebeugt, der Daumen etwas abduziert und leicht gebeugt gehalten. 
Wenn man die Hand passiv offnet, was ohne Schwierigkeiten gelingt, tritt eine 
kurze starke Hj r perextension im ersten Interphalangealgelenk des 2. bis 4. Fin¬ 
gers ein; dann werden in alien Fingern noch einige leichte Ab- und Adduktions- 
bewegungen gemacht, bis die Hand wieder vollkommen ruhig liegt. Hand und 
Finger links zeigen bisweilen unwillkiirliche Bewegungen, vorwiegend im Sinne 
der ulnaren Abduction. Der 2. bis 4. Finger wird gebeugt gehalten, der leicht 
abduzierte Daumen steht in Mittelstellung. 

Diese Schilderung gilt nur fiir den Zustand absoluter korperlicher und psy- 
chischer Ruhe. .Sobald der Kranke spontan oder auf Aufforderung Bewegungen 
mit den Armen ausfiihrt, treten in beiden Hiinden und in alien Fingern lebhafte 
unwillkiirliche Bewegungen auf; es zeigen sich dann in den Fingern bds. aus- 
gesprochen athetotische Beuge- und Hyperextensionsbewegungen; in den Hiin- 
den werden ebenfalls allerhand langsame Bewegungen in den verschiedensten 
Richtungen ausgefiihrt: Beugung, Streckung, Radial-, Ulnarabduction. 

Die Bciuchmuskulatur ist meist stark angespannt; der rechte M. rectus 
spring! etwas starker hervor als der linke. 

Die Berne zeigen verhaltnisnmQig wenig unwillkiirliche Bewegungen; im 
linken Bein, seltener im rechten, treten schnelle, fast blitzartige Ad-, Abductions- 
und Flexionsbewegungen auf, jedoch meist liegen die Beine vollig ruhig. In den 
FiiLSen, links mehr als rechts, zeigen sich bds. langsame Hebungen des iiuBeren 
FuBrandes. Die Zehen beider FiiBe stehen fast keinen Augenblick still: starke 
Extensionen der GroBzehe, selir starke Spreiz- und Extensionsbewegungen der 
iibrigen Zehen von ausgesprochen athetotischem Charakter werden von selteneren, 
schneller ablaufenden Bewegungen in demselben Sinne unterbrochen; der linke 
FuB beteiligt sich an der Bewegungsunruhe starker als der rechte. 

Wenn die allgemeine Bewegungsunruhe nach liingerer korperlicher und 
psychischer Ruhe ihren geringsten Grad erreicht hat bzw. fast vollig abgeklungen 
ist, wenn dann in der miinischen Muskulatur nur noch ganz vereinzelte unwill- 
kiirliche Bewegungen auftreten, stehen die Zehen beider FiiBe kaum einen Augen¬ 
blick still. 

Haltung im Silzen: Im Sitzen ist die Bewegungsunruhe starker als im Liegen. 
Im Kopf zahlreiche zuckende Dreh-, Beuge- und Streckbewegungen; die seitliche 
Drehung nimmt bisweilen einen extremen Grad an; eine besonders hiiufig auf- 
tretende Bewegungskombination ist nicht vorhanden. Der Kopf steht jedenfalls 
kaum einen Augenblick still. Audi in der mimischen Muskulatur mehr unwill¬ 
kiirliche Bewegungen, hier besonders Stirnrunzeln und bds. Verbreiterung des 
Mundes immer wiederkehrend; seltener ist die Andeutung von Riisselstellung, 
dann werden die Lippen fiir einen Augenblick fest zusammengepreBt. Alle diese 
Bewegungen verlaufen nicht blitzartig, aber auch nicht ausgesprochen langsam. 

Wahrend des Sitzens wird die linke Schulter meist etwas gehoben und nach 
vorn gedreht, so daB die ganze linke Rumpfhalfte etwas vor der rechten steht. 

Die Arme werden meist ruhig im Ellbogengelenk gebeugt gehalten. Femer 
vereinzelte leichte seitliche Hebungen des Oberarms sowie geringe Verstiirkung 
der bestehenden Beugungen im Ellbogengelenk. In den Handen bds. anfangs 
einige ziemlich schnell ablaufende Pro-, Supinations-, Flexions-, Extensionsbewe¬ 
gungen, die jedoch nach langerem Sitzen nachlassen. In den Fingern ganz ver- 


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16 


C. Rosenthal: 


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einzelte, wurmformige Streckbewegungen einzelner Finger und Abductions- so- 
wie Extensionsbewegungen im Daumen; im allgemeinen werden die Finger in 
derselben Stellung wie im Liegen gehalten. 

Fiir das Verhalten der Beine, Fufie und Zehen gilt dasselbe wie fiir das 
Liegen beschrieben wurde. 

Hallung beim Qehen: Am st&rksten tritt die allgemeine Bewegungsunruhe 
beim Gehen auf. Im allgemeinen ist zu sagen: der Kranke ist fahig, ohne Unter- 
stiitzung zu laufen; er geht mit kurzen stampfenden Schritten, setzt die FiiBe 
sehr hart auf den Boden, kommt nur langsam vorwarts; er ermiidet sehr schnell, 
dann werden die unwillkurlichen Bewegungen lebhafter, ganz besonders im Ge- 
biete der mimischen Muskulatur. 

Im Kopf zeigen sich Bewegungen nach alien Richtungen, am haufigsten 
mittelschnelle, manchmal ruckartige Drehbewegungen nach links, so daB zeit- 
weise der Kopf parallel zur linken Schulter steht. Bei den iibrigen Bewegungen 
herrscht der ruckartige Charakter vor. Relativ haufig sind kurze Nickbewegungen; 
manchmal werden Hals und Kopf gerade vorgestreckt, was stark an entsprechende 
tierische Bewegungen erinnert. Die mimische Muskulatur ist fast in bestandiger 
Bewegung; sie entspricht im allgemeinen dem fiir das Sitzen beschriebenen Bilde. 

Im Rumpf ebenfalls zahlreiche Bewegungen: bald wird die linke, bald die 
rechte Schulter mittelschnell gehoben, urn dann einige Zeit in der Stellung zu 
verharren. Die rechte Schulter und damit die rechte Rumpfpartie wird in einer 
langsamen Bewegung etwas nach vorn gedreht. Dabei biegt sich der Rumpf kurze 
Zeit nach rechts, dann auch wieder nach links. Keine ausgesprochene Lordose. 

Bei Beginn des Laufens niachen die Arms allerlei ausfahrende Bewegungen, 
teils torquierenden, teils choreatischen, teils, und das am haufigsten, zwischen 
diesen beiden liegenden Charakters. Nach einiger Zeit lassen diese Bewegungen 
nach; die Arme werden dann im Schultergelenk etwas adduziert, im Ellbogen 
um 90° flektiert gehalten. Die Arme beteiligen sich in gar keiner Weise mit den 
normalen Mitbewegungen am Gange. In Handen und Fingem unaufhorliche 
unwillkiirliche Bewegungen athetotischen Charakters, wie sie im einzelnen fiir 
das Sitzen beschrieben worden sind. Diese lassen auch bald nach; die Hande 
werden dann meist in den Handgelenken bis auf 90° hyperextendiert gehalten, 
die stark gebeugten Finger in die Hohlhand eingeschlagen, der Daumen stark 
abduziert und leicht extendiert. 

Am Verhalten der Beine beim Laufen ist am auffalligstcn, daB diese auto- 
matenhaft und unelastisch vorwarts gebracht werden. Man gewinnt den Ein- 
druck, daB sie nicht unwillkiirlich in einer gewissermaBen automatisch ablaufen- 
den Massenbewegung vorwarts bewegt werden, sondern daB der Kranke die zum 
Vorw&rtsbewegen der Beine notwendigen innervatorischen Impulse nach einem 
miihsam erlernten Schema immer wieder erteilen muB, ohne daB dieser Mechanis- 
mus, wie beim Normalen, je zum unwillkurlichen Ablauf kommt. Die Beine 
werden leicht im Hiiftgelenk gebeugt, mit stark gebeugtem Knie vorwarts ge¬ 
bracht, sehr hart, erst mit den FuBspitzen, dann mit den ganzen Sohlen aufgesetzt. 
Die Bewegungsfolge entspricht der des normalen Ganges, aber es fehlt vollkommen 
der normale Vorwiirtsschwung, der den Gang des Gesunden zu einer kontinuier- 
lichen Bewegungsfolge macht, wahrend hier haufig ganz kurze Pausen in der 
Bewegungsfolge eintreten. Die zweckentsprechende Bewegungsfolge der Bein- 
muskulatur beim Gehen wird nur selten von seitlich schleudernden Bewegungen 
der Beine unterbrochen; dadurch, sowie durch zahlreiche Rumpf- und Kopf- 
bewegungen behiilt der Gang immer etwas Unsicheres. Es fallt dem Kranken auch 
sichtlich schwer, die gerade Richtung beizuhalten. In den Fiifien zeigen sich keine 
unwillkurlichen Bewegungen, dagegen in den Zehen bald links, bald rechts, aber 


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Torsionsdystonie und Athetose double. 17 

i miner nur fiir Augenblicke, die geschilderten athetotischen St reek- uud Spreiz- 
bewegungen. 

Im allgemeinen ist iiber die unwillkiirlichen Bewegungen zu Hagen: In voll- 
kommener korperlicher und psychischer Ruhe horen die Bewegungen fast vollig 
auf, treten jedoch bei jeder willkiirlichen Bewegung sofort auf. AuBerordentlich 
groB ist der psychische EinfluB auf die unwillkiirlichen Bewegungen: z. B. liegt 
der Kranke unbeobachtet auf dem Sofa, so sistieren die Bewegungen bis auf 
eine zeitweilige geringe Unruhe der Zehen, betritt aber jemand das Zimmer und 
sieht ihn dabei an, sofort setzt lebhaftes Grimassieren. Dreh- und Beugebewe- 
gungen des Kopfes usw. ein; erst allmfthlich klingt diese Unruhe wieder ab. 
Schon das leisteste Gerausch auBerhalb des Zimmers geniigt zur Auslosung der 
motorischen Unruhe. 

Im Schlafe sistieren die Bewegungen vollig. 

Neurologische Vntersuchutig: 

Kopf: Alle aufgetragenen Bewegungen konnen nach einigen vergeblichen 
Versuchen, wobei unwillkiirliche Bewegungen die willkiirlichen durchkreuzen 
und hemmen, ausgefiihrt werden. Keine Klopfenipfindlichkeit des Schadels. 
Stirnrunzeln gelingt nur ganz unvollkommen. Es tritt hier wie bei alien Inner- 
vationsversuchen im Gebiete der mimischen Muskulatur wildes Grimassieren auf; 
unter der Menge der Bewegungen zeigt sich auch einmal voriibergehend die rich- 
tige. Beiderseitiger LidschluB gelingt, doch bereitet es ihm auBerordentliche 
Schwierigkeiten, die Stellung beizubehalten. er rnacht dazu allerhand Hilfsbewe- 
gungen. Isolierter AugenschluB gelingt nicht. Mundbewegungen leidlich gut. 
Bei gewissen willkiirlichen Bewegungen scheint der linke Facialis etwas schwacher 
innerviert zu werden, was bei den unwillkiirlichen Bewegungen jedoch nicht der 
Fall ist. Am leichtesten und stets auf ersten Anhieb gelingt die vertikale Mund- 
offnung. 

Die Zunge kann gut bewegt werden, nur bereitet es Schwierigkeiten, die 
Zungenspitze auBerhalb des Mundes nach oben und unten zu bewegen. Die will¬ 
kiirlichen Zungenbewegungen werden jedoch auch von dazwischenfahrenden un¬ 
willkiirlichen gestdrt; es kommen hier dadurch keine direkt falschcn Bewegungen 
zustande, sondern die gewollte Bewegung wird nur fiir Sekunden-Bruchteile 
aufgehalten. 

Druckempfindlichkeit des Xervus trigeminus I bds. in gleicher Starke; sonst 
Nervus V motorisch und sensibel intakt. 

Augenbewegungen: Bewegungen nach den Seiten sehr erschwert. Gibt sich 
groBe Miihe, die aufgetragenen Bewegungen auszufiihren, jedoch nur mit dem 
Erfolge, daB sein Gesicht in wildes Grimassieren gerat, wobei die Augen anfangs 
ganz unbewegt geradeaus gerichtet bleiben, dann gehen sie schnell fiir einen 
Augenblick in die gewiinschte seitliche Endstellung, urn jedoch sofort wieder in 
Mittellage zuruckzuspringen; es gelingt dem Kranken trotz aller Bemiihungen 
nicht, die seitlichen Endstellungen der Augen beizubehalten. Leichter gelingt die 
Bewegung der Augapfel nach oben und unten, wo er auch die Endstellung we- 
nigstens einige Sekunden lang beibehalten kann. 

Der Versuch, die Pupillen zu priifen, stoBt auf fast uniiberwindliche Schwie¬ 
rigkeiten. Anfangs fahrt er jedesmal beim Aufleuchten der Taschenlaterne schreck- 
haft zusammen, auch wenn diese mehr als 1 in von seineni Gesicht entfemt auf- 
leuchtet. Nuchdem er sich daran gewohnt hat, schlieBen sich bei jedern Prii- 
fungsversuch jedesmal unwillkiirlich die Augenlider. Als versucht wird, nachdem 
er zueret selbst dadurch, daB er mit seinem Zeigefinger das untere Augenlid 
herunter zog, den AugenschluB zu verhindern gesucht hat, die Lider passiv ge- 
offnet zu halten, krampfen sich diese bei jeder Beleuchtung mit groBer Kraft 
Archlv ftlr P.sychlatrie. Bd. 68. 2 


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C. Rosenthal: 


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zusammen. Es gelingt erst bei einer einige Tage spater vorgenonnuenen Priifung, 
einwandfrei eine gute Pupillenlichtreaktion festzustellen. 

Arme: Bei Beginn der Priifung des Muskeltonus anfangs starke Hypertonie 
bds., dann Nachlassen der Spas men links, sodaB dort fiir Augenblicke normaler 
Tonus besteht, rechts bleibt kurze Zeit eine iiber Agonisten und Antagonisten 
gleichmaBig verteilte Hypertonie bestehen, die dann ebenfalls einem normalen 
Tonus weicht. Die Beweglichkeit der Arme ist wegen der dazwischenfahrenden 
Spasmen und unwillkiirliehen Bewegungen nicht im einzelnen priifbar. jedoch 
bestehen sicher keine deutlichen Lahmungen oder Paresen. Einfachere Verrich- 
tungen, wie Schlagen mit einem Hammer, Papierschneiden u. ii. kann der Kranke 
ausfiihren, nur wird er auch hierbei durch die dazwischenfahrenden unwillkiirliehen 
Bewegungen und Spasmen, die bei alien intendierten Bewegungen in verstarktem 
MaBe auftreten, gestbrt. Der Fingernasenversuch wird leidlich gut ausgefiihrt, 
es zeigt sich dabei keine ataktische Stoning. Die Priifung der groben Kraft stbBt 
auf dieselben Schwierigkeiten wie die der Motilitat. Es gelingt nur eine ein- 
wandfreie Priifung des Hiindedruckes, der mit leidlich guter grober Kraft aus- 
gefiihrt wird, rechts etwas kraftiger als links, was aber durch Zufalligkeiten der 
unwillkiirliehen Bewegungen bedingt zu sein scheint. 

Eine Priifung der Armreflexe gelingt nicht, weil bei jedem derartigen Ver- 
suche sofort auBerordentlich starke Spasmen in den Armen auftreten. 

Der Schultergiirtel ist auffallend kraftig entwickelt und muskulos (s. oben 
angegebene MaBe). 

Bauchdecken: befinden sich fast dauernd in starker Anspannung. die rechts 
meist etwas starker ist als links. 

Die Bauchdeckenreflexe sind links vorhanden, rechts ist der obere schwach. 
der untere und mittlere nur sehr schwach auslosbar. 

Hodenreflex rechts lebhafter als links. 

Beine: An beiden Beinen dauemder Wechsel zwischen normalem Tonus und 
Spasmen der verschiedensten Muskeln. 

Bds. SpitzfuBstellung. 

Eine Storung der Motilitat besteht nur in dem Sinne, wie sie fiir die Arme 
beschrieben ist; im Liegen gelingt dem Kranken nie eine vbllige Streckung im 
rechten Kniegelenk. 

Priifung der Sehnenreflexe wegen der intermittierenden Spasmen zeitweise 
unmoglich; in den spasmenfreien Intervallen Kniesehnenreflexe sehr lebhaft. 
Achillesreflexe wegen der starken SpitzfuBstellung bds. nicht auslosbar. 

Babinski, Oppenheim, Rossolimo negativ. 

Beim Kniehackenversuch auBer einigen durch die Bewegungsunruhe be- 
dingten ausfahrenden Bewegungen nichts Abweichendcs. 

Kein Schwanken beim Stehen mit geschlossenen Augen. 

Sensibilitat normal. 

Pat. kann schreiben, wird aber durch unwillkiirliche Bewegungen dal>ei 
auBerordentlich gestbrt. Die Schrift wird dadurch sehr undeutlich, kaum leserlich. 

Es besteht voiles Sprachverstandnis. Fiihrt alle ihm gegel>enen Auftruge 
nach bester Kraft aus. Die Sprache ist undeutlich. bisweilen unverst&ndlich; das 
erklart sich aus dem bei jedem Sprechversuche einsetzenden sehr lebhaften Grimas- 
sieren und der bestehenden Zungcnunruhe. 

Psychisch bietet der Kranke im Verlaufe der Untersuchung nichts Auf- 
falliges. Es besteht eine ganz leicht deprimierte Stimmung, die durch die bei 
der Untersuchung deutlich werdende motorische Insuffizienz bedingt zu sein 
scheint. Eine Storung der Auffassung besteht, wie bereits angegeben, nicht. 
Zeigt fiir jeden kleinen Scherz Verstftndnis, indem er stets mit einem Dacheln quit- 


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Torsionsdystonie und Athetose double. 


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tiert. Sehr bescheiden und dankbar. 1st sehr schreckhaft, falirt bei dem lei- 
sesten Gerausch zusammen, sonst affektiv unauffallig. Wahrend der Unter- 
suchung bietet er in intellektueller Beziehung keine Anzeichen eines groberen 
Intelligenzdefektes, zeigt in etwas kindlich-neugieriger Weise Interesse fiir seine 
Umgebung, will den elektrischen Apparat erklart haben u. ahnl. 

Eine genaue Intelligenzpriifung scheitert an der erschwerten Verstandigungs- 
moglichkeit, da der Kranke nur neugriechisch und etwas franzosisch spricht. 
Es werden leiehtere Rechenaufgaben richtig gelost. Es besteht eine geringe Merk- 
fahigkeitsschwache. 

Wassermann in Blut und Liquor negativ, in letzterem keine EiweiU- oder 
Zellvermehrung. 

Der Kranke befand sich einige Wochen in klinischer Beobachtung. 
Behandlung mit Hyoscin, Elektrizitat, Roboiantien blieb ohne EinfluB 
auf den Zustand. Beschaftigt sich, wenn er sich selbst iiberlassen ist, 
mit dem Studium der deutschen Sprache. Ohne dab ein ausgesprochener 
Intelligenzdefekt bei dem Kranken vorhanden 1st, trat doch wahrend 
der Beobachtung immer deutlicher eine gewisse Kindlichkeit in seinem 
Wesen hervor, die seinem wirklichen Alter nicht entspricht: er zeigt 
eine knabenhafte WiBbegier, foppt seine Umgebung gem in kindlicher 
Weise. Affektiv bietet er im allgemeinen nichts Auffalliges. nur be¬ 
steht bei ihm zeitweise leichte Gedriicktheit; dann sind auch seine 
unwillkiirlichen Bewegungen starker. Immer deutlicher wurde im 
Verlaufe der Beobachtung der auBerordentlich starke EinfluB, den alle 
8innes- und psychischen Reize auf die unwillkiirlichen Bewegungen 
ausiibten: Nachdenken iiber eine an ihn gerichtete Frage, leiseste Ein- 
driicke freudiger oder trauriger Art, das geringste Gerausch vor der 
Zimmertiir, der beobachtende Blick einer im Zimmer anwesenden 
Person lieBen sofort die unwillkiirlichen Bewegungen und Spasmen 
intensiver und zahlreicher werden. 

Es wurden mit dem Kranken Sprach- und Bewegungsiibungen 
angestellt, vor allem wurde das Laufen geiibt. Der Kranke wurde an- 
gehalten, langsam und gleichmaBig zu laufen und die Arme in ent- 
sprechendem Rhythmus dabei zu bewegen. Sobald er infolge der ein- 
setzenden unwillkiirlichen Bewegungen die Herrschaft iiber seine Mus- 
kulatur verlor, wurden die Ubungen sofort unterbrochen. Ferner 
muBte er mit den Fingerspitzen bestimmte, auf einer Karte aufgezeich- 
nete Punkte beriihren und sich bemiihen, diese Bewegungen ohne Ab- 
weichungen von der angestrebten Richtung durchzufiihren. Fiir die 
angestellten Ubungen zeigte er voiles Verstandnis. Man hatte an man- 
chen Tagen den Eindruck, daB er durch fleiBiges Uben diese Bewegungen 
liesser ausfiihren konnte, an anderen Tagen dagegen, besonders dann, 
wenn man seinem Gesichtsausdruek schon eine etwas deprimierta 
Stimmung ansehen konnte, loste wieder jeder Bewegungsversuch all- 
gemeine motorische Unruhe aus. Irgendein wesentlicher Fortschritt 
wurde durch die systematisehen Ubungen nicht erzielt. 

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C. Rosenthal: 


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Zusammenfassung: 

Vorgeschichte: 17jahriger junger Mann, Auslander. In der Familie 
keine Nerven- oder Geisteskrankheiten. 2 gesunde Briider. Normale 
Entbindung. Bei der Geburt und wahrend der zwei ersten Lebenstage 
normales Verhalten. Am 3. Lebenstage beim Baden plotzliches Zu- 
sammensinken, dabei fiel der Kopf nach vorn. Am selben Tage trat 
eine schwere Gelbsucht auf. die 2 Monate anhielt. Es bestand Fieber, 
auBerdem wurde eine erschwerte Atmung bemerkt. arztlich VergroBe- 
rung der Gaumenmandeln und Pharyngitis festgestellt. Das Fieber 
hielt etwa 3 Wochen lang an. Wahrend der ersten 3 Lebensjahre keine 
Spontanbewegungen. Zeigte dabei Interesse fur die Umgebung. Erste 
Spontanbewegungen etwa im Alter von 5 Jahren. Versuchte zu laufen, 
konnte aber erst vom 9.—10. Jahre an ohne Unterstiitzung gehen. Die 
unwillkurlichen Bewegungen begannen im Alter von 13 bis 14 Jahren 
in den Armen und im Gesicht. In den letzten Jahren blieb der Zu- 
stand im wesentlichen unverandert. Mit 3 Jahren verstand er, was 
man zu ihm sprach, mit 5 Jahren begann er zu spree hen, sprach aber 
nie gut. Seit 8 Jahren hat er Unterricht in seiner Muttersprache, spater 
auch im Franzosischen, Deutschen, Mathematik und Rechnen: folgt 
dem Unterricht mit Interesse, scheint aber doch geistig etwas zuriick- 
geblieben zu sein. Psychisch unauffallig. 

Im Alter von 10 bis 12 Jahren ein- bis zweimal im Monat kurz 
voriibergehende Anfalle, angeblich mit BetvuBtseinsverlust; ist dabei 
nie umgefallen. Von ausgesprochen cpileptischen Krampfen nichts 
bekannt. 

Befund: Allgemeine korperliche Entwicklung etwa dem Alter ent- 
sprechend. Schultergiirtel weit kraftiger entwickelt als Beckengiirtel, 
Umfang des Schultergiirtels 95 cm, des Beckengiirtels 74 cm. Musku- 
latur der Ober- und Unterarme hypertrophiert. An den inneren Or- 
ganen kein krankhafter Befund. Wassermann in Blut und Liquor 
negativ; in letzterem keine EiweiB- oder Zellvermehrung. Fast dauernde 
Bewegungsunruhe des ganzen Korpers, die in auBerordentlich hohem 
MaBe von Sinnesreizen, besonders solchen akustischer Art, von psy- 
chischen Einfliissen und von seinem Gemiitszustande abhangig ist. 
Bei alien Bewegungsintentionen Zunahme der Bewegungsunruhe. Aus¬ 
gesprochen athetotische Bewegungen in Fingern und Zehen, Dreh- 
bewegungen des Kopfes, des Rumpfes und der Extremitaten, an Myo- 
klonie erinnernde Zuckungen einzelner Muskeln. Spasmus mobilis. Bei 
volliger kbrperlichcr und psychischer Ruhe fast volliges Aufhoren 
der unwillkurlichen Bewegungen, ebenso im Schlaf. Neurologisch 
auBer bds. SpitzfuBstellung kein abweichender Befund, im besonderen 
keine Lahmungen. Paresen oder sonstige Anzeichen einer Pyramiden- 


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Torsionsdystonie und Athetose double. 


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bahnerkrankung. Psychisch etwas knabenhaft-infantil, kein groberer 
Intelligenzdefekt. 

Es handelt sich in diesem Falle offenbar um eine cerebrale Affek- 
tion der ersten Lebenszeit, auf deren Grunde sich spaterhin eine aus¬ 
gesprochene Athetose double ohne Beteiligung der Pyramidenbahn ent- 
wickelt hat. Es sind in diesem Falle alle Bedingungen erfiillt, die an 
eine typische Athetose double gestellt werden: es bestehen generali- 
sierte, nicht identische Mitbewegungen, intermittierende Spasmen, eine 
hochstgradige Beeinflulibarkeit der allgemeinen Bewegungsunruhe durch 
psychische und sensorische Reize, besonders solche akustischer Art; 
Gesicht, Hals und obere Extremitaten starker, die Beine weniger be- 
teiligt ; Dissoziation der nervosen Impulse hochstgradig gestort; Lah- 
mungen, ausgesprochene Paresen oder Erscheinungen einer Pyramiden- 
bahnerkrankungsind nicht nachweisbar. Es handelt sich also um einen 
reinen Fad von Athetose double. 

Da bei dem Kranken die ersten Erscheinungen des Cerebralleidens 
bereits am 3. Lebenstage auftraten, die unwillkurlichen Bewegungen 
sich aber erst im 13. bis 14. Lebensjahre einstellten. so handelt es sich 
hier um eine ganz ausgesprochene Spatform der symptomatischen 
A. d. Differentialdiagnostisch kommt irgendein anderes Leiden nicht 
ernstlich in Frage. 

Fall II. Maria M., 18 Jahre alt, kath. 

Vorgeschxchte, von der Mutter erhoben: In der Familie keine Nerven- oder 
Geisteskrankheiten. Vater ini zweiten Monat der Schwangerschaft der Referentin 
todlich verungliickt, Rf. habe vor Aufregung stark gezittert, habe „uber 1 Monat 
nichts gegessen' 1 ; die Geburt erfolgte zur rechten Zeit; sehr langwieriger, aber 
normaler Geburtsverlauf. Patientin hat nie an Krampfen oder Bettnftssen ge- 
litten. Lernte zur rechten Zeit Laufen und Sprechen, war ein stides und artiges 
Kind. Im 7. Lebensjahre begann sie mit dem linken Full schief aufzutreten. 
Es wurde damals in einem Lazarett in Oberschlesien die linke Achillessehne 
durchschnitten; irgendeine fieberhafte Erkrankung hat Pat. weder in dieser 
Zeit noch vorher durchgemacht. Die Bewegungsstorung hat sich angeblich all- 
m&hlich herausgebildet. Etwa im 12. Lebensjahre begannen die Zuckungen in 
der rechten Hand, die allmahlich an Intensitat zunahmen, sodaB Pat. in der 
Schule nicht mehr mittumen konnte. Zur Zeit ihrer Schulentlassung mit 14 Jahren 
konnte sie aus demselben Grunde nicht mehr schreiben. Allmahlich verschlech- 
terte sich die Sprache; spa ter traten auch Zuckungen in der linken Hand und 
danach im Kopfe auf. Jetzt ist die Kranke zur hauslichen Arbeit unfahig. Sie 
sitzt unbeschaftigt im Zimmer herum und beobachtet die kleineren Stiefge- 
schwister. Anziehen und VVaschen kann sie sich allein, jedoch muB ihr zuweilen 
beim Zumachen der Knbpfe geholfen werden. Psychisch ist sie durchaus un- 
auff&llig. Stuhlgang und Wfisserlassen intakt. Der Schlaf ist leidlich gut, jedoch 
horen die Bewegungen im Schlafe nicht vollig auf. Die Periode ist bisher auf 
eine Medizin hin einmal aufgetreten, dann wieder ausgeblieben. 

Ref. hat keine Fehlgeburt durchgemacht, hat aus zweiter Ehe 4 gesunde 
Kinder. 


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C. Rosenthal: 


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Be/und: UntermittelgroBes, schwachlich gebautes Madchen in diiiftigen 
Ernahrungsverhaltnissen; Haut und sichtbare Schleimhaute leidlich durchblutet. 
Mammae ziemlich gut entwickelt, Schamgegend leidlich, Achselhohlen diirftig 
behaart. Auffallend lange Finger und Zehen. 

An den innern Organen kein krankhafter Befund. 

Im Urin kein freies Urobilin; Urobilinogen in geringer Menge vorhanden. 
Kein EiweiB und kein Zucker im Urin, letzterer auch nicht nach GenuB von 100 g 
Traubenzucker bei mehrstiindiger Kontrolle. 

Neurologisch: Kopf nicht klopf- oder druckempfindlich, Pupillenreaktion 
und Augenbewegungen intakt; kein Nystagmus. Auch sonst an den Hirnnerven 
nichts Krankhaftes. Tonus der Arme wechselnd, zwischen meist bestehender 
Hypertonie und etwa normalem Tonus. Sehr krfiftig entwickelte Unterarm- 
muskulatur. Reflexe der Arme nicht auslosbar. 

Bauchdeckenreflexe vorhanden. 

Tonus der Beine ebenfalls wechselnd zwischen Hypertonie und normalem 
Tonus. 

Knie- und Achillessehnenreflexe beiderseits lebhaft, ohne Differenz. 

FuBsohlenreflexe vorhanden. Beim Bestreichen der linken FuBsohle Dorsal- 
flexion der zweiten bis fiinften Zehe. Babinski negativ; paradoxes Phfinomen 
ebenfalls negativ. Die grobe Kraft an Armen und Beinen ist nirgends deutlich 
herabgesetzt. 

Die elektrisehe Untersuchung ergibt normale Verhaltnis.se. 

Die Sensibilitat ist, soweit priifbar, nicht gestort. 

Psychisch: Freundliches, gutartiges Verhalten, affektiv unauffallig. Eine 
deutliche Intelligenzstorung ist nicht nachweisbar; wegen der bestehenden Sprach- 
stdrung ist eine Intelligenzpriifung nicht durchfiihrbar. Das Sprachverstandnis 
ist ungestort. Pat. befolgt alle an sie gerichteten Aufforderungen. Fragen beant- 
wortet sie sinngemaB, mit einem leisen ,,Ja“ oder ,,Nein“; andere einfache Fragen, 
wie nach dem Geburtsort, Befinden usw. beantwortet sie stets nur in einzelnen 
schlecht artikulierten und dadurch schwer verstandlichen Worten. Wahrend der 
etwa zehntagigen Beobachtungszeit, bei der sich die Kranke offenbar sehr nach 
Hause sehnte, antwortete sie schlieBlich auf Fragen gar nicht mehr, obwohl man 
ihrem Gesichtsausdruck entnehmen konnte, daB sie ihren Sinn verstanden 
hatte und sie Aufforderungen prompt nachkam. 

Haltung im Liegtn: Im Liegen besteht meist eine nach rechts offene Skoliose 
der Lendenwiibehaule. Der Kopf sieht meist nach rechts, dabei bestehen leichte 
Zuckungen im linken Steinocleidomastoideus von w'echselnder Starke, nicht aus- 
gesprochen langsam, aber auch nicht blitzartig. 

Wenn die Pat. in Rulie und sich selbst iiberlassen ist, so zeigen sich im 
Gebiete der mimischen Muskulatur nur vereinzelte unwillkiirliche Bewegungen; 
sobald man sich jedoch mit ihr unterhalt, sie Bewegungen ausfiihren liiBt, treten 
dort lebhafte Bewegungen auf: der Mund wird krampfhaft in die Breite gezogen, 
sodaB sich die Nasolabialfalten beiderseits vertiefen, meist die linke mehr als 
die rechte; die Lippen werden eingekniffen, seltener riisselformig vorgestreckt 
und zugleich etwas nach auBen gerollt, dabei w’ird die Zunge augenblicksweise 
zw'ischen den Lippen sichtbar. Oder die Lippen werden weit geoffnet, und die 
etwas eingerollte Zunge tritt zwischen ihnen hervor. Man sieht ferner einzelne 
Zuckungen im Gebiete beider Mm. triangulares. Alle diese Bewegungen, deren 
Intensitat mit der Inanspruchnahme der Kranken zu- oder abnimmt, treten in 
dauerndem Wechsel sekundenweise bald hier. bald dort auf; niemals wird eine 
Bewegung lfinger als eine luilbe bis eine Minute fixiert. 


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Torsionsdystonie und Athetose double. 


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Die rechte Schulter beteiligt sich bei der Riickenlage kaum an der motori¬ 
se hen Unruhe. wtihrend die linke Schulter fast bestandig gehoben und gesenkt 
wird, und zwar genau in demselben Rhythmus wie die seitlichen Kopfbewe- 
gungen. Infolge der Hebung und Senkung der linken Schulter entstehen ent- 
sprechende leichte stoBende Bewegungen des ganzen linken Armes. 

Die Anne liegen fast dauernd in leichter Abduction, im Ellenbogen leicht 
gebeugt. die Unterarme stiindig in Pronation, und zwar rechts weit starker als 
links; die Hande sind volarflektiert, und zwar wieder die rechte Hand weit starker 
als die linke. haufig bis zu einem Winkel von 90 Grad. Die Finger beider Hiinde 
sind stark gestreckt, nur der rechte Dauinen steht fast stets in Opposition, Ad¬ 
duction und Flexion, sodaB er meist eingeschlagen ist. Im linken Arm sind 
auBerdem stiindig leichte oscillatorische Dreh bewegungen uni eine Achse vor- 
handen, die etwa mit der Achse des Armes zusammenfiillt. Ferner zeigen sich 
im linken Arm zeitweise athetoide Radial- und Ulnarflexionsbewegungen der 
Hand sowie einzelne langsame Beuge- und St reck bewegungen der Finger. 

Die fiir den linken Arm beschriebenen Bewegungen sind auch rechts an- 
gedeutet, jedoch viel seltener walirzunehmen. 

In Riickenlage sind die Nackenmuskeln stark kontrahiert, ferner fiihlen 
sich der linke M. pectoralis major, die Beuger und Pronatoren am 1. Unterarm 
hart an, sonst alle Muskeln weich. Passiven Bewegungen wird in den Armen 
nirgends Widerstand entgegengesetzt, nur wenn zufiillig eine Zuckung auftritt, 
besteht eine voriibergehende Erhohung des Tonus. Wahrend des Vornehmens 
passiver Bewegungen scheinen die unwillkiirlichen Bewegungen nachzulassen. 

Die phvsiologische Lordose ist im Liegen soweit vorhanden, daB man eben 
eine Hand unter die Lendenwirbelsfiule schieben kann. Der I^eib ist weich und 
eindriickbar. Die Beine sind in Riickenlage an der Bewegungsunruhe nicht be¬ 
teiligt, zeigen auch keine Haltungsanomalien. An den FiiBen, und zwar an der 
zweiten bis fiinften Zehe rechts treten zeitweise teils klonisch, teils athetoid 
verlaufende Streck- und Beugebewegungen auf, in der rechten groBen Zehe er- 
folgen dieselben Bewegungen, aber unabhiingig von denen der anderen Zehen 
und seltener. Am linken FuB zeigen sich ahnliche Bewegungen nur in der GroB- 
zehe bei volliger Ruhe der iibrigen. Am rechten FuB steht die zweite bis fiinfte 
Zehe standig in den Grundphalangen stark gestreckt, in den Interphalangeal- 
gelenken stark gebeugt, sodaB sich hier ein Bild ergibt, das an die Zehenstellung 
beim Friedreichschen FuBe erinnert. Es besteht beiderseits Hallux valgus, die 
linke GroBzehe ist unter die anderen Zehen geschoben. Links HohlfuB; hier sieht 
man an der Achillessehne den Rest einer alten Operationsnarbe. 

Haltung im Sitzen und Stehen: Der Kopf wird durch Anspannung der hin- 
teren Nackenmuskulatur so weit in den Nacken gelegt. daB zwischen hinterer 
Kopflinie und Riicken etwa ein Winkel von 90 Grad entsteht; dabei ist der Kopf 
nach rechts gedreht und etwas nach rechts geneigt. Die vorderen Halsmuskeln 
treten namentlich an beiden Seiten wulstartig hervor; dazwischen treten wieder 
ticartige Zuckungen im linkeii .Sternocleidomastoideus auf, die manchmal von 
einem leichten Bewegungseffekt begleitet sind. 

Die Wirbelsaule bildet eine gerade Linie bis zum Ansatz der Rima ani. 
Es besteht keine Lordose, eher ist die physiologische Lordose abgeflacht. Der 
Rumpf ist dagegen im Hiiftgelenk leicht nach vorn gebeugt, sodaB zwischen 
Oberschenkel und Rumpf ein Winkel von etwa 170 Grad besteht. Dadurch, daB 
die linke Hiifte hoher steht als die rechte, entsteht eine leichte Neigung des Rump- 
fes nach rechts. 

Die Schultern sind nach vorn gezogen, die Arme hiingen gerade herunter, 
sodaB sie sich infolge der vorgebeugten Rumpfhaltung vor dem Bauch pendelnd 


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C. Rosenthal: 


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bewegen konnen. Die charakteristische Haltung der Arrne ist folgende: Streckung 
im Ellenbogen, starke Innenrollung, sodaB die Kleinfinger nach vorn sehen; 
die Innenrollung ist links starker als rechts. Die im Liegen vorhandene Beuge- 
haltung der rechten Hand wird auch im Stehen beibehnlten. An den Beinen 
keine Haltungsanomalien beim Stehen. 

An unwillkiirlichen Bewegungen beim Stehen zeigt sich folgendes: Die 
Arme schwingen leicht von links nach rechts. Vereinzelte etwas raschere Zuckungen 
im Sinne einer Dorsalflexion der linken Hand, die aber keineswegs blitzartig 
sind. Die Kopfbewegungen entsprechen den fiir das Liegen beschriebenen. Ab 
und zu greift die Kranke mit dem rechten Arm nach dem Hinterkopf; sie bring! 
den Arm mit einem Schwung nach hinten und legt dabei gleichzeitig den Kopf 
nach vorn. In dieser Haltung bleibt der Kopf gerade, d. h. die Kontraktionen 
der Nackenmuskulatur sind nicht vorhanden, jedoch werden die unwillkiirlichen 
Drehbewegungen des Kopfes dadurch nicht sistiert. Beim Sitzen bleibt der Kopf 
ohne den beschriebenen Handgriff nur voriibergehend nach vorn geneigt. Im 
linken Bein sieht man ganz vereinzelte unwillkiirliche Bewegungen im Sinne 
der Hebung des inneren FuBrandes. 

Laufen: Beim Laufen zeigt sich folgendes Bild: Der Kopf steht maximal 
nach hinten und leicht nach rechts gedreht. Da die Kranke infolge dieser Kopf- 
haltung im Gehen stark behindert ist, halt sie ihn mit der oben beschriebenen 
Bewegung, durch die sie den rechten Unterarm unter das Hinterhaupt schiebt, 
in aufrechter Lage fest; es bestehen dann nur die beschriebenen leichten Dreh¬ 
bewegungen. Es ist bemerkenswert, daB es der Kranken so mit relativ geringer 
Anstrengung gelingt, den Kopf in dieser Lage festzuhalten, with rend sonst die 
passive Ruhigstellung des Kopfes, insbesondere die Cberwindung der Riick- 
wartsbeugung nur mit groBter Anstrengung, zeitweise iiberhaupt nicht gebngt. 
Wahrend des Laufens nimmt die motorische Unruhe der mimischen Muskulatur 
stark zu, ebenso die beschriebenen unwillkiirlichen Bewegungen in den Armen. 
Die Arme werden auch im Laufen in der oben beschriebenen Abductions- und 
Pronationsstellung steif und gerade nach abwarts gehalten, nur wenn die Kranke 
mit dem rechten Arm den Kopf stiitzt, gilt die starre Abwartshaltung lediglich 
fiir den linken Arm. Die Zehen des linken FuBes werden beim Laufen dauemd 
krampfhaft gebeugt gehalten. Eine Behinderung des Ganges seitens der Beine 
besteht nicht. 

Charakter der Bewegungsstorung: Ein Rhythmus in den Bewegungen ist 
nicht oder nur ganz voriibergehend zu beobachten. Im allgemeinen sind die un¬ 
willkiirlichen Bewegungen langsam, nur ab und zu treten vereinzelte etwas 
raschere Zuckungen im Sinne einer Streckung in der linken Hand auf. Auch 
die Bewegungen im 1. Sternocleidomastoideus sind im Tempo etw'as rascher als 
die iibrigen unwillkiirlichen Bewegungen. Alle anderen sind in ihrem Ablauf 
langsam und erinnern durch Bewegungskombinationen an schraubende oder 
drehende Bewegungen; namentlich gilt das von den Bewegungen der Arme, bei 
denen immer die Tendenz der Innenrotation vorhanden ist; Oberstreckungen der 
Gelenke sind nirgends vorhanden. Das rechte Handgelenk wird in seiner recht- 
winkligen Beugung fast dauemd festgehalten, dabei sind die entsprechenden 
Muskeln kontrahiert; diese Stellung ist jedoch passiv ohne Schwierigkeit aus- 
gleichbar. 

Im Gesicht sind aktive Bewegungen schwer zu erzielen. Im allgemeinen 
sind die Lippen eingekniffen, dabei wird der linke Mundwinkel starker inner- 
viert als der rechte, jedoch besteht keine ausgesproehene Facialisparese; die 
Kranke gahnt haufig, auch dabei wird der Mund nur etwa fingerbreit geoffnet, 
und die Lippen bleiben dabei eingezogen. 


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Torsionsdystonie und Athetose double. 


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Bei Erregung nehmen die Bewegungen zu. Ein bunter Wechsel der Bewe- 
gungen ist nicht nachweisbar. Zuckungen einzehier Muskeln sind selten, eigentlich 
nur 1 m Sternocleidomastoideus. 

Keine Koordinationsstorung. Die Zielbewegungen werden nur durch die 
dazwischen kommenden unwillkurlichen Bewegungen gestort; die Kranke kann 
z. B. Sicherheitsnadeln offnen, Tur aufschlieBen, Knopfe aufmachen, schneiden 
mit der Schere nur dann, wenn man ihr die Finger in die Handgriffe der Schere 
steckt, jedoch wird auch dami der Schnitt infolge der dazwischen fahrenden un¬ 
willkurlichen Bewegungen unsicher, Schlagen mit dem Hammer steif, ohne Aus- 
nutzung des Handgelenks. 

Wahrend der etwa zehntagigen Beobachtung blieb der Zustand unverftndert. 
Sie vrurde mit Hyoscin-Injektionen tgl. 2 X 0,0003 behandelt, worauf ein Nach- 
lassen der motorischen Unruhe etwa fur die Dauer von einer halben bis einer 
Stunde eintrat. 

Sprache: Bei jedem Versuche zu sprechen verstarkt sich die motorische Un¬ 
ruhe der Gesichtsmuskulatur, besonders tritt ein Krampf der Orbiculares oris 
auf, erst wenn dieser nachlaBt, gelingt es der Kranken, einzelne schlecht artiku- 
lierte Laute auszustoBen; man hat den Eindruck, dab die Undeutlichkeit der 
Sprache durch die unwillkurlichen Bewegungen der Zunge bewirkt wird. 

Bei einer ein Vierteljahr spiiter vorgenommenen Nacliuntersuchung zeigte 
sich ein in den wesentlichen Punkten giinzlich unveriinderter Befund. 

Zusammenfassung. 

Vorgeschichte: Ein jetzt lSjahriges kath. Madchen aus gesunder 
Familie, das sich bis zum 7. Lebensjahre vollkommen normal ent- 
wickelte. erkrankt zu diesem Zeitpunkt damit, dab es beim Gehen 
mit dem linken FuB schief auftritt; einc fieberhafte Erkrankung be- 
stand weder zu dieser Zeit noch vorher. Im 12. Lebensjahre traten 
Zuckungen in der rechten Hand auf, die sich allmahlich so weit ver- 
starkten, daB sie im Alter von 14 Jahren nicht mehr schreiben konnte; 
spater zeigten sich die Zuckungen auch in der Unken Hand, noch spater 
im Kopfe. In dieser Zeit verschlechterte sich allmahlich auch die 
Sprache. Psychisch und intellektuell zeigten sich keine Besonderheiten. 
Jetzt ist die Kranke zur hauslichen Arbeit unfahig, kann nur zur Not 
sich selbst versorgen. Periode bisher nur einmal aufgetreten. 

■fetziger Befund: Bei dem im maBigen Ernahrungszustande befind- 
lichen, korperlich normal entwickelten Madchen zeigt der Befund der 
inneren Organe keine Abweichungcn. Es besteht eine fortwahrende 
aUgemeine Bewegungsunruhe, an der Kopf- und Nackenmuskulatur, 
Gesichtsmuskeln, Schult«rn, Rumpf, Arme und am wenigsten Beine 
und Zehen beteiligt sind. Die unwillkurlichen Bewegungen sind im 
allgemeinen langsam, haufig drehend und schraubend; nur in ein- 
zelnen Muskeln treten vereinzelte raschere Zuckungen auf. Die Be¬ 
wegungen sind in Ruckenlage vorhanden, verstarken sich beim Sit- 
zen, Stehen und Gehen, nehmen bei Erregungen zu. Voiles Sprach- 
verstandnis; Sprache durch Bewegung der mimischen Muskulatur 
schlecht artikuhert, schw'er verstandlich. Psychisch, abgesehen von ver- 


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C. Rosenthal: 


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standlicher leichter Verstimmtheit unauffiillig. Gang nicht durch un 
willkiirliche Bewegungen der Beine, sondern vor allem durch die Dreh- 
bewegungen des Kopfes gestort, die sie durch cine Hilfsbewegung des 
1. Armes beheben kann; nach Angaben der Mutter kann sie mit dieser 
Hilfsstellung stundenlang laufen. Nach den anamnestischen Angaben 
horen die Bewegungen im Schlafe nicht vollig auf; in der Klinik wurden 
dagegen wahrend des Schlafes unwillkurliche Bewegungen nicht be- 
merkt. Storungen der Pyramidenbahn sind nicht vorhanden; es be- 
stehen nirgends ausgesprochene Lahraungen oder Paresen. Konvul- 
sionen, epileptische Zustande sind nie aufgetreten. Keine Sensibilitiits- 
storungen. 

Die Erorterung der Diagnose des mitgeteilten Falles soil vorlaufig 
unterbleiben, denn es soli der Vergleich der beiden beschriebenen Zu- 
standsbilder vorweggenommen werden. 

Auf den ersten Blick hat man den Eindruck, dab bei beiden Kran- 
ken dasselbe Leiden vorliegt, denn das am deutlichsten in Erscheinung 
tretende Symptom, die hochgradige allgemeine Bewegungsunruhe, ist 
beiden gemeinsam, ebenso wie der Charakter der Bewegungen, von 
Einzelheiten abgesehen, derselbe ist. Auch die Verteilung der unwill- 
kiirlichen Bewegungen liber die einzelnen Korperabschnitte ist im 
wesentlichen gleich: Kopf und Gesicht sind am starksten, Rumpf und 
Arme weniger, Beine am geringsten an der Bewegungsunruhe beteiligt. 
Beim Gehen zeigen sich in beiden Fallen die bizarrsten Stellungen. 
Ferner weist die neurologische Untersuchung bei beiden Patienten 
weder Lahmungen noch Paresen noch deutliche Pyramidenbahnstorun- 
gen auf. Soweit besteht weitgehendste Ubereinstimmung; die Unter- 
schiede ergeben sich erst bei der genaueren Beobachtung der Kranken. 

Finden sich in beiden Fallen auch die verschiedensten Formen un- 
willkiirlicher Bewegungen nebeneinander, so ist doch dadurch ein deut- 
licher Unterschied gegeben, dab bei dem jungen Manne ausgesprochene, 
lebhafte athetotische Bewegungen an Fingern und Zehen bestehen. 
Diese auberordentlich charakteristischen langsamen, wurmfbrmigen 
Flexions-, Ad-, Abductions- und Hyperextensionsbewegungen der Ex- 
tremitatenenden fehlen bei dem Madchen. 

Als weiterer Unterschied ergibt sich die weit starkere Entwicklung 
des Schultergiirtels ira Vergleich zum Beckengiirtel, sowie die damit 
wohl im Zusammenhang stehende Hypertrophic der Schultergiirtel- 
und Armmuskulatur bei dem jungen Manne. Bei dem Madchen be¬ 
stehen solche starken Abweichungen der Knochen- und Muskelentwick- 
lung nicht, es ist nur eine kraftige Entwicklung der Vorderarmmuskula- 
tur zu bemerken. 

Der bei langerer Beobachtung am starksten in die Augen sprin- 
gende Unterschied liegt in der hochgradigen psychischen Beeinflubbarkeit 


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Torsionsdvstonie und Athetose double. 


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tier Bewegungsunruhe (>ei dem jungen Mann. Alle seells.chen Erlebnisse, 
angefangen bei dem geringsten sensorischen Reiz bis zu den feinsten 
affektiven und intellektuellen Erlebnissen pragt sich in der Zahl und 
I ntensitiit seiner unwillkiirlichen Bewegungen aus. Es ist wirklich eine 
Erkrankung der generalisierten Mitbewegungen, nieht nur insofern, als 
jede Bewegungsintention Mitbewegungen auslost, sondern auch jedes 
seelische Erlebnis sich in seiner Motilitat widerspiegelt. Jeder Bewe- 
gungsimpuls. der an die Korpennuskulatur geht, irradiiert und lost die 
motorische Unruhe aus. Der geringste Laut vor der Tiir, das Nach- 
denken iiber eine Frage, der vorwurfsvolle Blick eines Anwesenden 
steigert seine Unruhe, die auch dann am stfirksten ist. wenn man seinem 
Gesichtsausdruck schon eine etwas gedriickte Stimmung ansieht. Aber 
auch, wenn er. wie er es bisweilen tut, irgend jemanden neckt, und ihm 
sein Scherz gelungen ist, la (it die Freude dariiber sein Motorium keinen 
Augenblick ruhen. Sitzt er ruhig da und intendiert er keine Bewegung, 
so laBt das Eintreten der Bewegungsunruhe sofort darauf schlie- 
Ben, daB er psychisch irgend etwas erlebt. Ferner ist noch seine ver- 
mehrte Schreckhaftigkeit hervorzuheben; bei einem leisen Gerausch 
vor der Tiir zuckt er bisweilen am ganzen Korper zusammen, w'orauf 
dann eine heftige, nur langsam verebbende Bewegungsunruhe einsetzt. 
Es besteht. wie sich Oppenheim ausdriickt, in der Tat eine gesteigerte 
akusto-motorische Reaktion und abnorme Schreckhaftigkeit; es erklart 
sich das nach Oppenheim damit, daB die mit den Sinnesnerven ins Ge- 
hirn dringenden Erregungen infolge der Ausschaltung eines groBen 
Teiles des Cortex mit um so grolierer Wucht auf die subcorticalen bul- 
baren Zentren einwirken. Bei der Patientin besteht zwar auch ein 
EinfluB psychischer Reize und von Bewegungsintentionen auf die Be¬ 
wegungsunruhe, aber im Vergleich zu der enormen BeeinfluBbarkeit deS 
Mannes ist er verschwindend gering. 

Es haben sich somit zwischen Fall I, der fiir einen typischen Fall 
der Spatform der symptomatischen Athetose double gehalten wurde, 
und Fall II klinisch-symptomatologisch deutliche Unterschiede ergebcn. 
Es wiirde also auch bei Unkenntnis der Vorgeschichte gelingen, die 
beiden Erkrankungen diagnostisch auseinanderzuhalten. Ist die Vor¬ 
geschichte jedoch bekannt, die im ersten Fall einen sicheren friihinfantilen 
cerebralen Insult mit darauf folgender schwerer Bewegungsstbrung 
ergibt, wahrend bei dem Miidchen nichts derartiges vorliegt. so ist es 
von vornherein klar, daB hier zwei verschiedene Erkrankungen vorliegen. 

Sieht man von den Unterschieden ab, die sich fur die speziellen 
Falle ergeben haben, und geht man auf die Unterschiede im allge- 
meinen ein, die zwischen der Athetose double und der Torsionsdvstonie, 
denn an dieses Leiden muB man neben der A. d. bei der Patientin vor 
allem denken. bestehen, so wird in erster Linie auf das Vorhandensein 


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C. Rosenthal: 


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anderer Erscheinungen eines Cerebralleidens, wie spastische Diplegien, 
Pyramidensymptome u. a. hingewiesen. Hierzu ist zu sagen, daB das 
Vorhandensein derartiger Erscheinungen wohl in sehr vielen Fallen 
eine Unterscheidung der symptomatischen, aber nicht der idiopathischen 
A. d. von der To. gestattet. 

Ebenso ist es mit dem Intelligenzdefekt, der tvpisch fur die A. d. 
sein soil. Hierin weichen aus verstandlichen Griinden die Ansichten 
der Autoren stark voneinander ab. Wahrend ein Teil schwere Intel - 
ligenzdefekte als zum Bilde der A. d. gehorig ansieht, findet z. B. 
Michailou'slci in einem Drittel, Audry in einera Viertel seiner Falle eine 
sicher normale Intelligenz, wahrend Marie , wie Klempner angibt, es 
sogar fur gesetzmaBig halt, daB die Intelligenz fast imraer normal 
bleibt. Diese Divergenz der Anschauungen ergibt sich zwanglos daraus, 
daB unter der Diagnose A. d. verschiedenartige Erkrankungen 
beschrieben werden. Die Intelligenz eines Kindes mit kongenitaler oder 
friihinfantiler Cerebralschadigung, wie sie bei der symptomatischen 
A. d. vorliegt, muB sich ganz anders und viel schlechter entwickeln 
als dann, wenn ein bis in die spate Kindheit oder in hoheres Lebensalter 
hinein korperlich und psychisch normal entwickeltes Individuum 
ganz allmahlich von dem Leiden befallen wird. Dies ist meist bei der 
echten idiopathischen Athetose double der Fall, und darum ist es 
verstandlich, daB bei dieser Form des Leidens Intel ligenzdefekte meist 
nicht vorhanden sind, wahrend sie bei der symptomatischen Form 
selten fehlen werden. 

Ein weiterer umstrittener, abcr immer wieder zur Differential- 
diagnose herangezogener Punkt ist das Fortbestehen unwillkiirlicher 
Bewegungen im Schlaf bei der A. d. Eine ausschlaggebende Bedeutung 
kann aber diesem Punkte schon deshalb nicht beigemessen werden, 
weil ein Teil der Autoren berichtet, daB auch bei diesem Leiden die 
Bewegungsunruhe. im Schlafe aufhort. Bei der BeeinfluBbarkeit der 
motorischen Unruhe durch psychische Einfliisse ist es verstandlich. 
daB sich bei den Kranken, wenn sie im leichten Schlaf liegend traumen, 
die Traumerlebnisse in irgendwelchen unwillkiirlichen Bewegungen 
widerspiegeln. daB sie dagegen dann, wenn sie tief und traumlos schla- 
fen, ruhig daliegen. Bei der abnormen Schreckhaftigkeit, die bei den 
Kranken besteht, ist es auBerdem durchaus moglich, daB sie, wenn 
der Beobachter ohne besondere VorsichtsmaBregeln an ihr Bett tritt, 
aus tiefem Schlafe in einen dem Wachen naheren Zustand kommen und 
dabei Unruhe zeigen, daB sie dagegen bei vorsichtigster, jedes Gerausch 
vermeidender Beobachtung im Tiefschlafe verharren und vollig ruhig 
sind. Es diirfte demnach fiir einen Teil der Falle beides richtig sein, 
sowohl daB die Kranken wahrend des Schlafes Unruhe zeigen, wie, 
daB sie unbewegt bleiben; in dem mitgeteilten Falle Maria M. verhielt 


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Torsionsdystonie und Athetose double. 


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es sich so; wahrend die Mutter der Kranken angab, daB die Bewe- 
gungen im Schlafe nicht vollig sistieren, wurden wahrend des Aufent- 
haltes in der Klinik niernals unwillkiirliche Bewegungen im Schlafe 
bemerkt. Von Interesse ist hier eine Mitteilung Landouzys 43 ). Er hatte 
bei einer Patientin mit A. d. volliges Aufhoren der unwillkurlichen Be¬ 
wegungen im Schlafe beobachtet. Einmal aber sah er eine Bewegungs- 
unruhe in den Fingern. Als er die Kranke aufweckte, gab sie an, daB 
sie sehr lebhaft getraumt habe. 

Bei der To. ist bisher offenbar nicht immer auf diesen Punkt 
geachtet worden, denn man erfahrt nicht in alien Fallen etwas fiber 
das Verhalten der unwillkurlichen Bewegungen im Schlafe. Es ist sehr 
leicht moglich, daB sich bei genauer Beobachtung bei der Athetose- 
double-ahnlichen Gruppe der To. Bewegungen im leichten Schlafe finden 
werden, zumal der Fall Landouzy lehrt, daB mehrfache Beobachtung 
desselben Kranken ein wechselndes Ergebnis haben kann. Es ergibt 
sich aus diesen Erwagungen, daB das genannte Symptom in seiner 
differentialdiagnostischen Bedeutung gering einzuschiitzen ist. 

DaB die Beteiligung der Gesichtsmuskulatur nur bei A. d. vor- 
kommt, bei der To. dagegen fehlt, gilt auch nicht allgemein, wenn auch 
zugegeben werden muB, daB ausgesprochenes Grimassieren! ungleich 
haufiger bei der A. d. vorkommt. Aber abgesehen davon, daB, wie oben 
erwahnt, sichere Falle von A. d. beschrieben sind, bei denen das Gesicht 
sich nicht an der Muskelunruhe beteiligt, findet man andererseits bei der 
To. in einem Viertel bis einem Fiinftel aller Falle eine wenn auch meist 
geringe Beteiligung der mimischen Muskulatur angegeben. 

Im Fall I von Schwalbe 66 ) herichtet Maas* 6 ) „im Gesicht gelegent- 
lich leichtes Grimassieren' 1 ; im Fall II von Schwalbe sind ,,im Gehen 
viele Gesichtsverzerrungen“ vorhanden. Flatau-Sierling 2i ) sahen bei 
ihrem Patienten ,,leichtes Vibrieren des Mundes“, manchmal auch KuB- 
und Schnalzbewegungen, die allerdings nach Angabe des Patienten 
willkiirlich sein sollten. Bregman 3 ) berichtet von einem seiner Patienten, 
daB beim Sprechen leichte Zuckungen in der linken Gesichtsseite und 
beiden Augenbrauen auftraten; bei einem anderen Kranken sah der- 
selbe Autor einen Spasmus des unteren Mundwinkels. Bei'einer Kran¬ 
ken Bernsteins 7 ) war das Gesicht ,,relativ ruhig“, aber es waren doch 
bisweilen Mund- und Stirnbewegungen vorhanden. Seelert 3 ) beobach- 
tete bei seinem Patienten im Schlafe einmal Kontraktionen in der 
Gesichtsmuskulatur. Im Falle Ewald 22 ) bestehen Stirnrunzeln und 
Grimassieren im Sinne der Schmerzverziehung. 

Aus dieser Zusammenstellung ergibt sich, daB bei der Torsions¬ 
dystonie das Gesicht durchaus nicht immer von der Bewegungsunruhe 
verschont bleibt, und daB daher dieser Punkt eine ausschlaggebende 
differe ntialdiagnostische Bedeutung nicht hat. 


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C. Rosenthal: 


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Von verschiedenen Autoren, so besonders von Lewandowsky, wird 
groBer Wert auf die Unfahigkeit der Dissoziation bei A. d. gelegt, 
besonders die Unfahigkeit zn isoliertem AugenschluB erschien dem 
genannten Autor von Bedeutung. Si. Bernstein stellte Untersuchungen 
bei Gesunden dariiber an und konstatierte, daB nur 60 °/ 0 der gesunden 
Individuen fiihig waren, ein Auge isoliert zu schlieBen. Die Ausfiihrung 
von beabsichtigten Einzelbewegungen stoBt sowohl bei der A. d. wie 
bei der Athetose-double-iihnlichen Form der To. auf Schwierigkeiten, 
die vor allem durch die dazwischenfahrenden unwillkiirlichen Bewegun- 
gen bedingt sind. Man kann also auch dieser Erscheinung eine wesent- 
liche diagnostische Bedeutung nicht zuerkennen. 

Die in unserm ersten Falle vorhandene Hypertrophie der Arm- 
muskulatur und des Schultergiirtels kann wie hier die Differential- 
diagnose zwischen symptomatischer A. d. und To. stiitzen. DaB 
dagegen eine solche Hypertrophie bei echter idiopathischer A. d. vor- 
handen ist, die Individuen mit weit fortgeschrittener oder abgeschlos- 
sener korperlicher Entwicklung betrifft, erscheint hochst zweifelhaft; 
berichtet wird in der Literatur dariiber nicht. Ebenso fraglich ist es. 
ob die in unserem Falle bestehende hochgradige akusto-motorische 
Ubererregbarkeit auch bei echter idiopathischer A. d. vorhanden ist. 
Eine gewisse BeeinfluBbarkeit der Bewegungsunruhe durch psyehische 
Einfliisse besteht ja auch bei der To.; es werden jedenfalls weitere 
Beobachtungen abzuwarten sein, bis sich liber diesen Punkt absehlie- 
Bend etwas sagen lassen wird. 

Der Charakter der unwillkiirlichen Bewegungen, der ein deutliches 
Unterscheidungsmerkmal in den beiden mitgeteilten Fallen darstellte, 
hat auch keine generelle Bedeutung. Lewandowsky betont ausdriick- 
lich, daB fur die A. d. keineswegs athetotische Bewegungen charak- 
teristisch sind; anderseits sind bei der To. ebenfalls athetoideBewegungen 
vorhanden. Zur echten athetotischen Bewegung gehort. ihre Uber- 
maBigkeit und zwar besonders die Uberstreckbarkeit der Zehen- und 
Fingergelenke. Gerade letztere ist charakteristisch fiir die cerebrale 
Kinderlahmung, und aus diesem Grunde ist es nicht verwunderlich, 
daB wir bei symptomatischer A. d. dieses Symptom finden. Bei der 
sich spa ter entwickelnden idiopathischen Form des Leidens aber wird 
es nicht in ausgesprochenem MaBe vorhanden sein konnen, da die 
abgeschlossene Ausbildung der Gelenke und ihres Bandapparates eine 
Uberstreckbarkeit verhindert. 

Wenn Lcioandowsky die A. d. als die Krankheit der ,,generali- 
sierten Mitbewcgungen“ ansieht, so zeigte sich die Berechtigung dieser 
Ansclmuung sehr deutlich bei unserm Falle R. Aber auch bei dem 
Madchen vermehren Bewegungsintentionen die Korperunruhe, und in 
den Fallen Athetose-double-ahnlicher To. wird haufig bemerkt, daB 


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Torsionsdystonie und Athetose double. 


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psychische Einfliisse ebenso wie Bewegungsintentionen die Unruhe 
steigern. Auch in diesen Fallen schwinden die unwillkiirlichen Bewe- 
gungen ganz ebenso wie bei A. d. in voller kbrperlicher und psychischer 
Ruhe haufig vollig und sind beim Laufen oder sonstiger starker kor- * 
perlicher Inanspruchnahme am starksten. Da man demnach bei der 
Athetose-double-ahnlichen Form der To. ebenfalls von generalisierten 
Mitbewegungen sprechen kann, so hat auch dieser Punkt keine dif- 
ferentialdiagnostische Bedeutung. 

Die Erscheinung des Spasmus mobilis, der passageren Contrac- 
turen ist ebenfalls beiden Erkrankungen gemeinsam. Die abnormen 
Haltungen des Kopfes, Rumpfes, der Extremitaten bei der To. sind 
ja auch nichts anderes als ein Spasmus mobilis, denn sie gleichen sich 
iramer wieder fiir kiirzere oder langere Zeit aus; im iibrigen ist der 
t)bergang vom Spasmus mobilis zu athetotischer Bewegung flieBend, 
wie Filimonoff betont, und ebenso, wie hinzuzufugen ist, der zu 
den spasmodischen, langsamen Drehbewegungen, wie sie bei beiden 
Leiden vorkommen, sodaB auch hierin keine sichere Unterscheidung 
zu iinden ist. 

Zuletzt sei noch ein wichtiges Symptom erwiihnt, das als charak- 
teristisch fiir die To. beschrieben ist, namlich das Bestehen einer Len- 
denlordose. Oppenheim legte dieser Erscheinung solche Bedeutung 
bei, daB er das Leiden nach ihr als Dysbasia lordotica bezeichnet 
wissen wollte. War schon in der Arbeit tiber die dysbatisch-dystatische 
Form der Torsionsdystonie gesagt worden, daB dieses Symptom, trotz- 
dem es in einer der ersten Beschreibungen des Leidens so wesentlich 
in den Vordergrund gestellt wurde, doch bei den spateren Veroffent- 
lichungen nur in einer verhaltnismaBig geringen Anzahl von Fallen 
gefunden wurde, so ergab sich bei der Durchsicht der Literatur der 
Athetose double, daB auch bei diesem Leiden wiederholt das Vor- 
handensein einer Lendenlordose erwiihnt wird. Schon die erste Arbeit, 
in der Falle von Athetose double mitgeteilt werden, namlich diejenige 
von Shmr 66 ) aus dem Jahr 1873, berichtet bei zwei von den sieben 
Fallen, daB die Kranken beim Gehen den Unterleib vorschieben. Im 
ersten Falle: ,,In walking she protrudes the abdomen and keeps the 
shoulders well back to preserve the balance 14 und im zweiten Falle: 
,,and balance is preserved by pushing forward the abdomen 11 . Im Falle 
Boumeville und Pilliet 11 ) heiBt es: ,,Tronc porte en arriere 11 . Im Falle 
von Solder 69 ) wird ausdrucklich die bestehende Lendenlordose beim 
Gehen hervorgehoben. Thomas' 11 ) sah bei zwei seiner beobachteten 
Falle doppelseitiger Athetose Lendenlordose, die besonders in Fall 1 
als betrachtlich bezeichnet wird. Goulard 30 ) sagt von seinem Fall 1: 
,,La colonne vertebrale se met souvent en lordose 11 und von Fall 3: 
,,Tronc porte en arriere et a droite 11 . Im Fall 1 von Breitkopf 12 ) be- 


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C. Rosenthal: 


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steht beim Gehen und Stehen starke Lordose. Oppenheim erwahnt in 
seiner Arbeit iiber die Dysbasia lordotica einen Fall von doppelseitiger 
Athetose, bei dem der Rumpf als lordotisch bezeichnet wird. Kramer 39 ) 
gibt bei der Athetose, die er bei einera 48jahrigen Luetiker fand. eben- 
falls an, daB beim Gehen Lordose bestand. 

Das genannte Symptom hat demnach nicht die Bedeutung fiir die 
Torsionsdystonie, wie urspriinglich angenommen wurde; es scheint 
vielmehr bei beiden Leiden in gleicher Weise vorzukommen; es wird 
ja durch eine Contraction der langen Riickenmuskeln verursacht, und 
es erscheint durchaus verstandlich. daB diese Muskelgruppen an der 
allgemeinen Bewegungsunruhe bzw. dem Spasmus mobilis teilnehmen, 
da auch sonst fast der gesamte Muskelapparat des Korpers beteiligt ist. 

Aus der Besprechung der einzelnen Punkte, denen differential- 
diagnostische Bedeutung fiir die To. gegeniiber der A. d. zugesprochen 
wird, ergibt sich also zusammengefafit folgendes: Zwischen der sympto- 
matischen A. d. und der Athetose-double-ahnlichen Form der To. ist 
die Unterscheidung moglich, denn bei der symptomatischen A. d. be- 
stehen 

1. meist anderweitige cerebrale Affektionen wie Diplegien, 
Paresen, Pyramidenbahnerscheinungen, Epilepsie u. a., 

2. mehr weniger hochgradige Intelligenzdefekte, 

3. echte Hypertrophien in den am starksten befallenen Korper- 
gebieten, 

4. echte athetotische Bewegungen in den Endgliedern der Ex- 
tremitiiten, 

5. akusto-motorische Gbererregbarkeit, enormer EinfluB psychi- 
scher Reize und abnorme Schreckhaftigkeit; diese Erscheinungen 
verschulden auch die haufig beobachteten Bewegungen im Schlafe. 

Die genannten Unterscheidungsmerkmale sind so markant, daB 
sie auch in alien Fallen, in denen die anamnestischen Angaben vollig 
fehlen, die symptomatische A. d. von der To. abgrenzen lassen. Ist 
eine Vorgeschichte vorhanden, so laBt ja der vollig andere Beginn bei 
beiden Leiden eine Verwechslung nicht aufkommen. 

Ganz anders liegen dagegen die Dinge, wenn man nach Unter- 
scheidungsmerkmalen zwischen der echten idiopathischen A. d. und 
der Athetose-double-ahnlichen Gruppe der To. sucht. Samtliche fiinf 
Punkte, die eine Trennung der symptomatischen A. d. von der genannten 
Gruppe der To. ermoglichen, komrnen hier in Wegfall. 

1. Erscheinungen anderer cerebraler Storungen fehlen l)ei beiden 
Leiden. 

2. Intelligenzdefekte werden je nach dem Zeitpunkte des Beginns 
in sehr geringem MaBe vorhanden sein oder bei idiopathischer A. d. 
wie bei To. fehlen. 


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Torsionsdystonie und Athetoee double. 


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3. Hypertrophien werden bei der idiopathischen A. d. wegen des 
spateren Beginns des Leidens nicht deutlieh sein oder fehlen, werden 
sich andererseits auch bei geniigend langer Dauer moglicherweise bei 
der entsprechenden Gruppe der To. entwickeln. 

4. Echte athetotische Bewegungen gehoren nach Lewandowsky nicht 
unbedingt zum Bilde der A. d. und konnen ganz fehlen; bei beiden 
Leiden bestehen die verschiedensten Bewegungstypen nebeneinander, 
bevorzugt ist der spasmodisch-torquierende Typ. 

5. Eine Beeinflussung der Bewegungsunruhe durch Willkiirbewe- 
gungen und psychische Einfliisse besteht bei beiden Leiden; ob bei der 
echten idiopathischen A. d. derselbe enorme EinfluB psychischer Reize 
auf die Bewegungsunruhe wie bei der symptomatischen A. d. vorhan- 
den ist, laBt sich nach den bisherigen Erfahrungen nicht mit Sicherheit 
sagen. Die haufig bei der A. d. angegebene motoriscRe Unruhe im 
Schlaf wird von anderen Autoren nicht beobachtet. 

Diesem Fehlen sicherer Unterscheidungsmerkmale stehen weit- 
gehende Vbereinstimmunqen gegeniiber. Der Beginn des Leidens in 
der Kindheit oder im spateren Leben ohne sonstige Krankheitserschei- 
nungen, die ganz allmahliche Ausbreitung fiber den ganzen Korper, 
auf dem Hohepunkt des Leidens die allgemeine Bewegungsunruhe, die bei 
Willkiirbewegungen und bei psychischer Erregung zunimmt, die unwill- 
kiirlichen Bewegungen selbst, die bei beiden Erkrankungen in den ver¬ 
schiedensten Formen bei Vorherrschen spasmodisch-torquierender Bewe¬ 
gungen auftreten, das Fehlen sonstiger Erscheinungen eines organischen 
Himprozesses sowie das Fehlen nachweisbarer Vererbung berechtigen 
zu der Annahme, daB die echte idiopathische Athetose double und die 
Athetose-double-ahnliche Form der To. dasselbe Leiden sind. 

Zieht man in Betracht, daB es sich bei der A. d. einmal lediglich 
um ein friiher oder spater auftretendes Symptom einer anderweitigen 
Cerebralschadigung handelt, die in den meisten Fallen dem weiten 
Gebiete der infantilen Cerebrallahmung zugehort, wahrend anderer¬ 
seits ein Leiden sui generis denselben Namen tragt, so ist es nicht 
verwunderlich, daB diese Nomenklatur Unklarheiten und Unsicher- 
heiten in der Bewertung beider Leiden Vorschub leistet. Diese Un¬ 
klarheiten werden fur die pathologisch-anatomischen Auswirkungen 
klinischer Bilder von groBtem Nachteile sein und hier fortschritt- 
hemmend wirken konnen. Aus diesem Grunde scheint eine moglichst 
klare klinische Gruppierung mit eindeutiger Nomenklatur dringend 
erforderlich. Es wird daher fiir die echte idiopathische A. d. und die 
mit ihr klinisch-symptomatologisch sowie in ihrer Entstehungsweise 
w T eitgehendst iibereinstimmende Athetose-double-ahnliche Form der 
To. der gemeinsame Name Hyper synkinesia idiopathiea vorgeschlagen. 
In dem Namen soli das deutlichste klinische Symptom, die Bewegungs- 
Archiv fiir P.-ychiatrie. Bd. 08. 3 


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C. Rosenthal: 


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unruhe, ferner das Fehlen der Dissoziation bzw. die pathologische 
Verkupplung willkiirlicher und unwillkiirlicher innervatorischer Impulse 
sowie die Tatsache Ausdruck finden, dad das Leiden ohne sonstige 
Krankheitserscheinungen aus sich heraus entsteht. 

Die Voraussetzungen, die zur Diagnose dieses Leidens berech- 
tigen, sind, um es kurz zusammenzufassen: Beginn des Leidens in der 
Kindheit oder spateren Lebenszeit bei vollig normal entwickelten, 
hereditar nicht belasteten Individuen ohne sonstige Krankheitserschei- 
nungen mit irgendeiner geringfugigen Bewegungsstorung; allmahliche 
Ausbreitung iiber den ganzen Korper in langsamer, bisweilen iiber 
Jahrzehnte hinaus sich erstreckender Progression; auf dem Hohepunkte 
des Leidens allgemeine Bewegungsunruhe, die bei Willkiirbewegungen 
und psychischer Erregung sich steigert, bei korperlicher und psychischer 
Ruhe nachlaBt; die unwillkiirlichen Bewegungen zeigen verschiedenen 
Typus, vorwiegend spasmodisch-torquierend, daneben athetoide, chorei- 
forme, myoklonieartige Bewegungen und Tremor; die Pyramidenbahn 
erkrankt nicht mit, die Intelligenz und die Psyche bleibt intakt. Das 
Leiden scheint in der Mehrzahl der Falle nach anfanglicher Progression 
lange stationar bleiben zu konnen. 

Die differentialdiagnostische Abgrenzung gegeniiber der sympto- 
matischen A. d. ist besprochen worden. Gegeniiber der dysbatisch- 
dystatischen Form der To., die demnach als To. im engeren Sinne auf- 
zufassen ware, unterscheidet sich das Leiden dadurch, daB bei ihm 
eine allgemeine Bewegungsunruhe im Vordergrunde des Krankheits- 
bildes steht, wahrend dort abnorme Haltungen, besonders Drehstel- 
lungen von Rumpf und Extremitaten beim Gehen und Stehen das Bild 
beherrschen. Im iibrigen bestehen zwischen den beiden Erkrankungen, 
die hinsichtlich ihres Beginns und ihrer Entwicklung so weitgehende 
Gbereinstimmungen zeigen, daB man einen verwandten Krankheits- 
prozeB fiir beide annehmen muB, allerhand Ubergangsformen. 

Eine gewisse Schwierigkeit wird bisweilen die Abgrenzung gegen- 
iiber der Chorea chronica machen. Aus dem Charakter der unwillkiir¬ 
lichen Bewegungen allein wird der Unterschied in vielen Fallen, aber 
nicht immer, klar werden, dagegen wird die Tatsache, daB die Hyper- 
synkinesia idiopathica eine Erkrankung der Mitbewegungen ist, wah¬ 
rend bei der Chorea chronica willkiirliche und unwillkiirliche Bewe¬ 
gungen in viel geringerem MaBe miteinander verkuppelt sind, als 
diagnostisch bedeutsam zu erwahnen sein. Ferner wird das Fehlen 
hereditarer Belastung und das Ausbleiben intellektueller Defekte bei 
langerer Krankheitsdauer die Abgrenzung beider Leiden gestatten. 

Eine andere Erkrankung als die genannten kommen fiir die Dif- 
ferentialdiagnose nicht in Betracht. 

Gehen wir nun kurz auf die Diagnose des zweiten mitgeteilten Falles 


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Torsionsdystonie und Athetose double. 


35 


ein, so ergibt sie sich aus dem eben Gesagten von selbst. Es handelt sich 
mit GewiBheit um einen Fall echter Hypersynkinesia idiopathica, da alle 
fur dieses Leiden zu fordernden Voraussetzungen erfiillt sind. 

Zum SchluB noch einige Worte iiber die pathologische Anatomie 
der hier besprochenen Erkrankungen. Wahrend iiber die Fruhform 
der symptomatischen Athetose double dank der Arbeiten von C. und 
O. Vogt'*) schon reichliches Material vorliegt, sind unsere Kenntnisse 
der Spat-form noch wenig zahlreich. Filimonoff fand bei seinem Kran- 
ken Zerstorungen in den oberen Rindenschichten, im Pallidum, Puta- 
men und Caudatum. t)ber die pathologische Anatomie der Torsions¬ 
dystonie wurde, soweit dariiber Mitteilungen vorliegen, in der friiheren 
Arbeit iiber die dysbatisch-dystatische Form des Leidens berichtet. 
Uber die echte idiopathisch A. d. und die Athetose-double-ahnliche 
Form der Torsionsdystonie, die hier als Hypersynkinesia idiopathica 
zusammengefaBt wurden, herrscht in pathologisch-anatomischer Be- 
ziehung noch vollige Unklarheit. 

Will man die Torsionsdystonie und die idiopathische Athetose 
double einem bestehenden pathogenetischen Begriffe unterordnen, so 
wird man sie am besten nach dem Vorbilde von Bielschowsky 8 ) dem 
System der Heredodegenerationen zurechnen. Dieser Autor betont, 
daB bei diesen Leiden der ,,determinierende Hauptfaktor in einer ab- 
normen Keimanlage des Individuums beruht, und daB man deshalb 
berechtigt ist, auch diejenigen Formen, bei denen eine gleichartige 
Vererbung nicht nachweisbar ist, dem Begriff der Heredodegenerationen 
zu subsumieren.“ Bielschowsky teilt die Heredodegenerationen in 
3 Gruppen ein; die hier behandelten Krankheitsformen sind der dritten 
Gruppe beizurechnen, ,,bei denen eine inharente, aber erst im Laufe 
des postfotalen Lebens hervortretende Schwache ganzer Organgebiete 
oder bestimmter Elementarbestandteile in ihnen zutage tritt.“ Er 
faBt diese Formen unter dem von Gowers aufgestellten Begriff der 
,,Abiotrophie“ zusammen. Wenn er die Torsionsdystonie ebenso wie 
die IFr'fconsche Krankheit den Abiotrophien mit lokaler Totalnekrose 
des Parenchyms, und zwar des Putamens und des Globus pallidus zu- 
rechnet, so ist anzunehmen, daB er das auf Grund des Falles Thomalla 
tut. Dieser ist aber, wie an anderer Stelle schon gesagt wurde, in seinem 
Verlaufe so ungewohnlich und {ihnelt klinisch sowohl wie pathologisch- 
anatomisch der JFiteemsehen Krankheit so sehr, daB er fur die Tor¬ 
sionsdystonie als nicht sicher verwertbar erscheint. In dem spater ver- 
offentlichten Fade Cassirers waren neben den iiber das ganze Gehirn 
verbreiteten Schwellungserscheinungen eine vorwiegende Beteiligung des 
Caiidatum und des Putamen an dem Krankheitsprozesse nachweisbar. 

Wahrend demnach die Hypersynkinesia idiopathica und die Tor¬ 
sionsdystonie in engerem Sinne durch einen auf abnormer Keimanlage 

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36 


C. Rosenthal: 


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beruhenden ProzeB, der gewisse Teile des extrapyramidalen Systems 
unfahig macht, auf die Dauer die Normalfunktion zu leisten, verur- 
sacht werden, entsteht die Friihform der symptomatischen Athetose 
double durch eine so hochgradige intrauterine, durch den Geburtsakt 
bewirkte oder friihinfantile Hirnschadigung, daB die Krankheitserschei- 
nungen sofort manifest werden. Die Spatform der symptomatischen 
Athetose double scheint eine Ubergangsform zwischen den beiden an- 
deren Gruppen darzustellen. Bei ihr liegt ebenfalls eine sichere Cerebral- 
affektion vor, die Athetose double wird aber erst weit spater manifest, 
und zwar besonders dann, wenn h oh ere Anforderungen an den Bewe- 
gungsapparat gestellt werden, z. B. wenn die Kranken zu laufen be- 
ginnen. Man gewinnt den Eindruck, daB hier durch einen cerebralen 
ProzeB oder ein Trauma eine Schwachung gewisser Organgebiete bewirkt 
wird, die der abnormen Keimanlage bei den Abiotrophien entspricht. 

Zusammenfas-sung. 

I. Die Zustandsbilder, die unter der Diagnose Torsionsdystonie be- 
schrieben werden, weichen klinisch-symptomatologisch stark vonein- 
ander ab. Im ganzen lassen sich 2 Gruppen unterscheiden: bei der 
ersten Gruppe stehen Drehstellungen von Kopf, Rumpf und Extremi- 
taten, die vorwiegend beim Gehen tmd Stehen vorhanden sind, im 
Vordergrunde des Krankheitsbildes; fiir diese Gruppe war die Bezeich- 
nung ,,dysbati8ch-dystatische Form der Torsionsdystonie “ vorgeschlagen 
worden. Bei der zweiten Gruppe wird das Krankheitsbild beherrscht 
von unwillkiirlichen Bewegungen der Korpermuskulatur, die bei korper- 
licher und psychischer Ruhe am geringsten sind, bei Bewegungsinten- 
tionen und bei Erregung zunehmen; diese Gruppe zeigt weitgehendste 
Ahnlichkeit mit der Athetose double. Im folgenden soli der Versuch 
unternommen werden, die Athetose-double-ahnliche Gruppe der Tor¬ 
sionsdystonie differentialdiagnostisch von der Athetose double dbzugrcnzen. 

II. Bei der Durchsicht der Literatur der Athetose double ergab sich 
fur dieses Leiden folgende Einteilung: 

1. Die iiberwiegende Mehrzahl aller Falle besteht kongenital oder ent- 
wickelt sich unmittelbar nach einem friihinfantilen cerebralen In¬ 
sult. Fiir diese Falle, bei denen Zeichen schwerer Cerebralschadi- 
gung wie Diplegien, Pyramidensymptome, schwere Intelhgenzdefekte 
u. a. stets nachweisbar sind, wird die Bezeichnung ,,Fruhform der 
symptomatischen Athetose double “ vorgeschlagen. Diese Form des 
Leidens ist den cerebralen Kinderlahmungen zuzurechnen. 

2. In einer weit geringeren Anzahl von Fallen liegt zwar ebenfalls eine 
kongenitale oder friihinfantile Hirnschadigung vor, aber die Athetose 
double bildet sich erst spater, oft erst nach mehreren Jahren, und 
hiiufig zu dem Zeitpunkte aus, wo erhohte Anforderungen an den 


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Torsionsdystonie und Athetose double. 


37 


Bewegungsapparat gestellt werden, z. B. dann, wenn die Kranken 
zu laufen beginnen. Fiir diese Form des Leidens erscheint der Name 
,,Spat form der symptomatischen Athetose double “ angebracht. Ander- 
weitige Erscheinungen von Cerebralschadigung sind bei dieser Form 
in den meisten Fallen, aber nicht immer deutlich nachweisbar. Es 
richtet sich dies nach der Ausdehnung und Intensitat der urspriing- 
lichen Schadigung bzw. nach dem Grade der Riickbildung der- 
selben. Auch diese Form des Leidens ist den cerebralen Kinderlah- 
mungen zuzurechnen. 

3. In einer verhaltnismaBig sehr geringen Anzahl von Fallen — es 
konnten aus der Literatur 17 nachgewiesen werden, — entwickelte 
sich in der Kindheit oder in hoherem Lebensalter bei bis dahin 
vollig gesunden und normal entwickelten Individuen in langsamer, 
bisweilen iiber Jahrzehnte ausgedehnter Progression ohne sonstige 
Krankheitserscheinungen irgendwelcher Art das Bild einer Athetose 
double. Da eine bekannte Ursache fiir diese Form des Leidens, 
die zuerst von Oulmont beobachtet wurde, fehlt, soli sie nach dem 
Vorbilde dieses Autors als „idiopathische Athetose double “ bezeichnet 
werden. Intelligenzdefekte, Lahmungen, Pyramidensymptome und 
andere cerebrale Begleiterscheinungen fehlen bei dieser Form des 
Leidens, die in keiner nachweisbaren Beziehung zur cerebralen Kin- 
derlahmung steht. 

III. Die Differentialdiagnose zwischen der symptomatischen Athe¬ 
tose double und der Torsionsdystonie wird an Hand zweier Falle be- 
sprochen, von denen der eine sicher eine Spatform der symptomatischen - 
Athetose double darstellt. Als typische Symptome dieses Leidens wer¬ 
den dabei festgestellt: echte Hypertrophien der Muskulatur und des 
Knochenbaus, echte athetotische Bewegungen an den Extremitaten- 
enden, mehr weniger schwere Intelligenzdefekte, andere Zeichen cere- 
braler Schadigung wie Diplegien, Pyramidensymptome u. a., ferner 
enorme BeeinfluBbarkeit der Bewegungsunruhe durch psychische Ein- 
fliisse. Diese Erscheinungen sind bei der Torsionsdystonie nicht vor- 
handen und gestatten daher die differentialdiagnostische Entscheidung 
auch dann, wenn alle anamnestischen Angaben fehlen. 

IV. Die Differentialdiagnose zwischen der Athetose double und 
der Torsionsdystonie engt sich somit auf diejenige zwischen der idio- 
pathischen Athetose double und der Athetose-double-ahnlichen Gruppe 
der Torsionsdystonie ein. 

V. Bei Priifung der einzelnen Punkte, die fiir die Differential¬ 
diagnose zwischen den beiden letztgenannten Krankheitsformen in der 
Literatur angefiihrt werden, also: Charakter der unwillkiirlichen Bewe¬ 
gungen, Beteiligung der mimischen Muskulatur an der Bewegungs¬ 
unruhe, Fortbestehen der Unruhe im Schlafe, das Vorhandensein 


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38 C. Rosenthal: 

generalisierter Mitbewegungen, des Spasmus mobilis und echter athe- 
totischer Bewegungen bei der Athetose double, der Lendenlordose bei 
der Torsionsdystonie, ergibt sich, daB keiner der genannten Punkte 
wirklich entscheidende Bedeutung hat. Auch die unter III fiir die' 
symptomatische Athetose double angegebenen Charakteristika gelten 
nicht fiir die idiopathische Athetose*double. 

VI. Es ergibt sich somit, daB zwischen der idiopathischen Athetose 
double und der Athctose-double-dhnlichen Form der Torsionsdystonie, 
die auch in Zeitpunkt und Art des Beginns sowie der Art der Ausbrei- 
tung des Krankheitsprozesses weitgehende Ahnlichkeit zeigen, klinisch- 
symptomatologisch eine sichere Unterscheidung nicht moglich ist. Es 
diirfte sich somit um dasselbe Leiden handeLn, fiir das im Interesse 
klarer Klassifikation der Name Hypersynkinesia idiopathica vorge- 
schlagen wird. In diesem Namen soil das hervorstechendste klinische 
Merkmal, die Bewegungsunruhe und die Verkupplung willkiirlicher 
und unwillkiirlicher Bewegungen, sowie der Umstand seinen Ausdruck 
finden, daB das Leiden ohne bekannte Ursache und ohne sonstige 
krankhafte Begleiterscheinungen aus sich heraus entsteht. 

VII. Die Torsionsdystonie im engeren Sinne, also die dysbatisch- 
dystatische Form dieses Leidens, ist mit der Hypersynkinesia idio¬ 
pathica eng verwandt nach Zeitpunkt und Art des Beginns sowie der 
Ausbreitung des Krankheitsprozesses. Es handelt sich wahrscheinlich 
um einen ganz ahnlich gearteten KrankheitsprozeB mit geringer Ab- 
weichung der pathologisch-anatomischen Vorgange. 

VIII. Die Hypersynkinesia idiopathica und die Torsionsdystonie 
im engeren Sinne sind durch eine Erkrankung eines Teiles des extra- 
pyramidalen Systems bedingt. Man kann sie nach dem Vorbilde von 
Bielschowsky den Heredodegenerationen, und zwar deren Untergruppe, 
den Abiotrophien Gowers, zurechnen. Was bei diesen Krankheits- 
formen als Folge eines auf abnormer Keimanlage des Individuums 
beruhenden degenerativen Prozesses geschieht, wird bei der Spatform 
der symptomatischen Athetose double dutch einen intrauterinen, intra 
partum entstandenen oder fruhinfantilen cerebralen Insult bewirkt. 
Die letztgenannte Form des Leidens stellt somit einen tTbergang dar 
zwischen einem auf abnormer Keimanlage beruhenden echten degenera¬ 
tiven ProzeB, wie er bei Hypersynkinesia idiopathica anzunehmen ist. 
und einer akuten Hirnschadigung durch Krankheit oder Trauma, wie 
sie bei der Friihform der symptomatischen Athetose double vorliegt. 

Literaturverzeichnis. 

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Torsionsdystonie und Athetose double. 


39 


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**) von Solder: Neurol. Zentralbl. 17, S. 573. — 70 ) Sterling: Zeitschr. f. d. ges. 
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(Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universitat Konigsberg i. Pr. 
[Direktor Geh. Med.-Rat Prof. Dr. E. Meyer~\.) 


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Das Leri sc he Plianomen und der Grundgelenkreflex 

von C. Mayer. 

Von 

Dr. E. C. Hoffmann, 

Assistenzarzt der Klinik. 

Mit 4 Textabbildungen. 

(Eingegangen am 2. Januar 1923.) 

Reflexe an den oberen Extremitaten, die fur den Nachweis von 
Pyramidenbahnlasionen charakteristisch sind, haben bisher noch keine 
wesentliche Bedeutung erlangt. In den letzten zwolf Jahren sind in- 
dessen in zunehmendem MaBe verschiedene solche Phanomene ver- 
offentlicht worden, so der Handklonus von Bouchard, der Handbeuge- 
sehnenreflex von Goldscheider, das Fingerphanomen von Gordon, das 
Tromners che Fingerphanomen, der Daumen- und Kleinfingerballen- 
reflex von Galant, schlieBlich das Vorderarmzeichen von Leri und der 
Grundgelenkreflex von C. Mayer. Die beiden letzten treten als die 
bedeutendsten hervor, bei ihnen soli es sich nach Ansicht einer groBeren 
Anzahl von Nachpriifern um echte Gelenkreflexe handeln, d. h. um eine 
Kontraktion bestimmter Muskelgruppen durch einen Reiz, dessen An- 
griffspunkt die sensiblen Nervenendigungen bestimmter Gelenke sind. 

Leri bezeichnet das von ihm 1913 beschriebene Phanomen als ,,signe 
de l’avant bras“. Nach seiner Anweisung wird die Priifung in folgender 
Weise ausgefiihrt: 

Man laBt den Patienten den zu priifenden Arm in moglichste Er- 
schlaffung bringen und stiitzt die Extremitat mit der eignen linken Hand 
in der Hohe des Handgelenks oder des Vorderarmes. Mit der rechten 
Hand beugt man die Finger des Patienten gegen die Hohlhand, dann 
seine Hand gegen den Vorderarm; man rollt die Hand in sich selbst ein; 
man forciert — in diesem Augenblick sieht man den Vorderarm sich 
fortschreitend beugen, wie unter dem EinfluB einer Triebfeder oder eines 
elastischen Zuges. Wenn man dieses zum erstenmal ausfvihrt, hat man 
den Eindruck, selbst diese Beugung des Vorderarmes hervorzubringen, 
indem man unbewuBt das Handgelenk stoBt. Um sich zu uberzeugen, 


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E. C.Hoffmann: Das L6rische Phanomen u. der Grundgelenkreflex v. C. Mayer. 41 


daC dieses nicht der Fall ist, genugt es, sich mit dem Daumen oder Zeige- 
finger der linken Hand der Bewegung zu widersetzen. Der so ausgeiibte 
Widerstand durch einen einzigen Finger ist immer ungeniigend, um die 
Beugung zu verhindern, genugt aber, um dem Untersucher zu be- 
statigen, dab er sie nicht selbst unbewuBt hervorgerufen hat. Im Augen- 
blick, in dem die Beugung vor sich geht, macht sich auf der Riick- 
seite des Handgelenks die Empfindung einer schmerzhaften Spannung 
bemerkbar, ohne dab es ohne weiteres festzustellen ist, ob dieser Schmerz 



Abb. 1. Leri positiv (physiologisch). 


oberflachlich zur Haut gehorig, oder tiefer — im Gelenk ausgelost wird. 
Der Endpunkt des Reflexes liegt augenscheinlich in den Beugemuskeln 
des Vorderarms; da man deutlich sieht und fiihlt, wie sich die Biceps- 
sehne anspannt, bevor die Beugung vor sich geht, ist an einer Beteiligung 
des Biceps an diesem Reflex nicht zu zweifeln (Abb. 1). 

Leri fiihrt aus, dab sein Phanomen nicht in den gewohnlichen Rahmen 
der Haut- oder Sehnenreflexe hineingehort, vielmehr sich durch eine 
viel ausgedehntere Bewegung als diese kennzeichnet und ziemlich genaue 
Aufschliisse iiber die Natur und Lokalisation einer gewissen Anzahl von 
Krankheiten des Nervensystems gibt. Die Beugung des Vorderarmes 
kann so lange aufrechterhalten werden, als man das gebeugte Handgelenk 
halt, und bei den meisten Personen erhohtsie sich fortschreitend, so dab 
das Handgelenk nur einige Zentimeter von der Schulter entfernt ist. 
Eine gewisse Ahnlichkeit zeigt das von Pierre Marie und Foix an der 
unteren Extremitat beobachtete und als Reflex der Beuger bezeichnete 


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42 


E. C. Hoffmann: 


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Phanomen. Es wird auch Verteidigungsreflex oder Markautomatismus- 
reflex genannt und an der unteren Extremitat in ahnlicher Weise wie 
das Vorderarmzeichen ausgelost. Aber auBer der Legalisation selbst 
bestehen zwischen diesen beiden Phanomen wesentliche Unterschiede. 
Die Verteidigungsbewegung des Obergliedes wiirde nicht nur die Beu- 
gung des Vorderarmes nach sich ziehen, sondern auch das Zuriick- 
ziehen des Armes bewirken. Bei einer Verteidigungsbewegung wiirde 
man nie eine so langsam fortschreitende Beugung sehen. Andererseits 
kann es sich nicht um Markautomatismus handeln, denn wahrend das 
Phanomen ,,des raccourcisseurs“ (Beuger) der unteren Extremitaten 



Abb. 2. Leri negativ (pathologisch). 


ein ausschlieBlich pathologisches Zeichen ist, das sich in gewissen Fallen 
von Paraplegien und Hemiplegien, bei Verletzungen des Pyramiden- 
bundels zeigt, ist das Lerische Phanomen ein physiologisches Zeichen. 
Wie die normalen Sehnenreflexe zeigt es einige individuelle Verschieden- 
heiten beziiglich der Intensitat, Amplitude und Schnelligkeit, aber es 
ist stets gleich an derselben gesunden Person. Pathologisch ist es, wenn 
es vollstandig oder fast vollstandig auf beiden Seiten erloschen ist 
(Abb. 2), oder auch wenn es asymmetrisch ist, im letzteren Falle ist die 
Seite mit den schwiicheren Zeichen die angegriffene. 

Das Phanomen verschwindet, wenn im Bereich einer der groBen 
Reflexbahnen eine organische Lasion besteht. In Frage kommen peri- 
phere, sensible und motorische Bahnen, die das Cervicalmark oberhalb 
des 5. Segments, den Hirnstamm, das GroBhirn bis zur Hirnrinde durch- 
ziehen. Der zentripetale Reflexweg verlauft in den sensiblen Nerven 
der Haut oder des Handgelenks, wahrscheinlich durch den Radialis oder 
Musculocutaneus; der zentrifugale durch den Musculocutaneus als den 
Hauptversorger der Beugemuskeln des Armes, besonders de8 Biceps. 


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Das L6rische Phanomen und der Grundgelenkreflex von C. Mayer. 48 


Leri fand einseitiges Fehlen seines Phanomens in alien Fallen von 
organischer, cerebraler Hemi- und Monoplegie, die durch Lasionen der 
Rinde, inneren Kapsel, der Hirnschenkel, der Briicke und des ver- 
langerten Marks entstanden waren. Auf beiden Seiten fehlte es bei 
cerebralen Diplegien. Es fehlte ferner in den raeisten Fallen von Chorea 
Huntington, bei manchen tief dementen Epileptikern und im epilepti- 
schen Anfall; bei gewissen Fallen von Hirntumoren; bei der amyotro- 
phischen Lateralsklerose, bei Tabes, wenn die Lasionen das Halsmark 
betroffen hatten und die Sehnenreflexe erloschen waren; in den meisten 
Fallen von Fried reichscher Krankheit; bei Syringomyelie und multipier 
Sklerose. 

Positiv war das Lerische Phanomen bei funktionellen Lahmungen 
und bei organischen Krankheiten des Kleinhirns und seiner Bahnen. 

Zu ahnlichen Resultaten kam drei Jahre spater, ohne die in unserer 
Literatur wenig beachtete Arbeit von Leri zu kennen, C. Mayer bei 
seinen Priifungen des Fingerdaumenreflexes, den er spater als Grund¬ 
gelenkreflex bezeichnete. Dies Reflexphanomen auBert sich nach 
C. Mayer dahin, daB maximale passive Beugungen des Grundgelenks 
eines Fingers, und zwar am konstantesten des 2., 3. oder 4., weniger 
konstant des 5. Fingers eine unwillkiirliche Oppositions be wegung des 
1. Metacarpus bei gleichzeitiger Beugung des Grundgelenks des Dau- 
mens und Streckung seines Endgelenks auslosen. C. Mayer hielt die 
Erscheinung zun&chst fiir pathologisch, stellte aber bald fest, daB es sich 
um ein physiologisches Phanomen handelt, das bei der weitaus iiber- 
wiegenden Mehrzahl nicht organisch Nervenkranker sich findct. Nach 
G. Mayers Anweisungen wird der Reflex am besten in der Weise aus- 
gelost, daB man bei supinierter Hand den Metacarpus eines der ge- 
nannten Finger von der Streckseite her mit dem Daumen niederdriickt 
oder ihn in dorsopalmarer Richtung zwischen Daumen und Zeigefinger 
faBt und volarflektiert (Abb. 3 und 4). Wenn man die passive Be- 
wegung des Grundgelenks nur ganz allmahlich vermehrt, was zur 
genauen Beobachtung des Phanomens notwendig ist, so sieht man, wie 
in einem bestimmten Moment die Bewegung des Daumens einsetzt, 
die um so ausgiebiger und energischer wird, je weiter man die passive 
Bewegung der Phalange treibt. C. Mayer fiihrt aus, daB es sich tatsiich- 
lich um eine durch den Reflexreiz ausgelbste tonische Kontraktion dor 
Daumenmuskulatur handelt, denn je mehr man die Intensitat des rcflex- 
auslosenden Reizes steigert, desto ausgesprochener wird der Reflex 
und die Kontraktion der Daumenmuskulatur weicht erst in dem Augen- 
blick, in dem die passiv niedergehaltene Grundphalange losgelassen wird. 

C. Mayer stellt fest, daB der Reflex normalerweise bei den Neu- 
geborenen und im ersten Kindesalter bis ins 3. Lebensjahr hinein fehlt, 
daB von da ab seine Auslosbarkeit von Jahr zu Jahr zunimmt. 


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44 


E. C. Hoffmann: 


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Bei der Priifung des Reflexes unter pathologischen Verhaltnissen 
kam C. Mayer zum Ergebnis, daB bei Bestehen erheblicher, durch 
Schadigung der Rinde oder inneren Kapsel bedingter motorischer Aus- 
fallserscheinungen im distalen Bereich der oberen GliedmaBen der 
Grundgelenkreflex negativ ist. Der normale Ablauf dieses spezifischen, 
nur durch bestimmte proprioceptive Reize nach Sherrinyton auslosbaren 



Abb. 3. Haltung der entspannten Abb. 4. Mayer positiv 

Hand vor dem Versuch. (physiologisch). 



Phanomens erfordert ferner ein Erhaltensein der fiir die Betatigung des 
Reflexablaufs in Betracht kommenden afferenten und efferenten peri- 
pheren Neurone. 

C. Mayer fand den Reflex unter 130 nicht organisch nervenkranken, 
verwundeten oder intern kranken Soldaten und Zivilpersonen in 113 
Fallen (86,9%) beiderseits, in 2 Fallen nur einseitig vorhanden, in 15 
Fallen fehlte er. In 10 Fallen von Heiniplegie durch Herderkrankungen 
des Gehirns mit mehr oder minder vollkommener Lahmung von Hand 
und Finger stellte C. Mayer Fehlen des Reflexes auf der Seite der Lah¬ 
mung fest. In den folgenden Jahren fiihrte er weitere Untersuchungen 
an einer groBeren Anzahl von Fallen mit dem gleichen Ergebnis aus. 
Die Nachuntersuchungen von Stiefler, Grosz, Flesch, Matzdorf, M. Gold¬ 
stein zeigten diesel ben Resultate. 


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Das Lerische Phanomen und der Grundgelenkreflex von C. Mayer. 45 

In seiner Rektoratsschrift ,,Zur Kenntnis der Gelenkreflexe der 
oberen GliedmaBen“ wendet sich C. Mayer der Besprechung einer Reihe 
von theoretischen Fragen zu und begriindet seine Ansicht iiber die echte 
Reflexnatur seines Phanomens. Sein Schuler M. Goldstein veroffent- 
lichte zwei Jahre spater eine ausfiihrliche Arbeit iiber den Grundgelenk¬ 
reflex von C. Mayer und das Lerische Vorderarmphanomen. Inmehreren 
Krankengeschichten bringt M. Goldstein eine ansehauliche Darstellung 
des Verhaltens der Phanomene bei organischer Schadigung des cortico- 
spinalen Systems. Mit den friiheren Nachuntersuchern nimmt er an, 
daB fiir den Grundgelenkreflex die afferenten Bahnen durch die 6. Cervi¬ 
cal- bis l.Dorsalwurzel, die efferenten durch die7.Cervical- und 1. Dorsal- 
wurzel gehen. Beim Vorderarmphanomen die Reizzuleitung durch die 
6. Cervical- und l.Dorsalwurzel, die motorische Betatigung durch die 
5.—6. Cervicalwurzel erfolgt. 

Gegen die Arbeit von M. Goldstein wendet sich A. Meyer in seiner 
Schrift: ,,Ubcr das Lerische Handvorderarmzeichen“. A. Meyers Er- 
gebnisse bezogen sich auf Untersuchung von ca. 300 Fallen, davon 
waren 100 Falle Nervengesxinde, je 50 Falle Neurotiker, Paralytiker, 
Schizophrene; dazu kamen 3 Untersuchungen epileptischer Anfalle, 
13 Hemiplegien cerebralen Ursprungs und 8 Falle von Encephalitis 
epidemica nach Grippe. Als Gesamtergebnis seiner Untersuchung 
kommt A. Meyer zum SchluB, daB das Lerische Phanomen nicht als 
Reflex, sondern als Schmerzreaktion aufzufassen sei. Von diesem Stand- 
punkte aus will er die wichtigsten pathologischen Veranderungen des 
Handvorderarmzeichens erklaren. So begriindet er die besondere Leb- 
haftigkeit und Ausgiebigkeit des Phanomens bei Neurosen durch die 
gesteigerte Trritabilitat und Lebhaftigkeit der Schmerzempfindung und 
psychomotorischen Erregbarkeit. Bei Lasionen der raotorischen Rinden- 
region ware die Abschwacbung oder das Fehlen des Phanomeas nur ein 
Zeichen der Lahmung der an der Erfolgskontraktion beteiligten Muskelti 
(Biceps und Brachioradialis). Den negativen Aasfall des Lerischen 
Phanomens begriindet A. Meyer mit dem komatosen Zustand desEpilep- 
tikers im Anfall, da mit der volligen Aufhebung des BewuBtseins auch 
die Moglichkeit zur Abwehrreaktion genommen ist. Die verschiedenen 
Resultate bei Schizophrenen erklart er durch den Grad der Gefiihls- 
abstumpfung und damit der Reaktionsfahigkeit auf Sehmerzreize. Er 
fiihrt an, daB ein hyperalgetischer Paralytiker ganz andere Bedingungen 
fiir die Auslosung einer Schmerzabwehrreaktion als ein Kranker mit 
Empfindungsabstumpfung bietet. 

Ahnlicher Ansicht ist auch V. Dumpert in seiner Arbeit ,,Rritisches 
zu dem nach C. Mayer benannten Finger-Daumenreflex“. Dumpert 
fiihrt aus, ohne die seit 1916 erfolgten Arbeiten von Mayer und Gold¬ 
stein zu kennen, daB der ,,Finger-Daumenreflex“ durch eine rein mecha- 


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46 


E. C. Hoffmann: 


nische Muskelwirkung zu erklaren sei, ohne daB man einen reflekto- 
rischen NerveneinfluB anzunehmen braucht. ALs Beweis fiihrt Dumpert 
Versuche an Leichen an, bei denen er durch Handgelenksbeugung die 
Daumenbewegung nach Durchschneidung der Thenarmuskulatur er- 
zielen konnte. 

C. Mayer bemiiht sich, diese Schmerz- und mechanischen Er- 
kliirungsversuche der Phanomene in seinen weiteren Arbeiten zn wider - 
legen. Ala Hauptargument seiner Annahme einer echten Reflexnatur 
beider Phanomene mit einer corticalen Ubertragungsstelle hebt er 
erstens seine Beobachtungen iiber das Vorkommen eines gekreuzten 
Grundgelenkreflexes hervor. Wir kommen im nachfolgenden noch 
darauf zuriick. Zweitens stiitzt er sich auf die auf seine Anregungen 
hin am Physiologischen Institut zu Innsbruck vorgenommenen saiten- 
galvanometrischen Untersuchungen. Die dabei erhaltenen Kurven 
zeigen nach Angabe von C. Mayer mit absoluter Sicherheit, daB die 
Oppositionsbewegung des Daumens beim Grundgelenkreflex auf einer 
tetanischen Kontraktion der Daumenmuskulatur beruht; daB die durch 
passives Niederdriicken eines der 4 dreigliederigen Finger erzielbare 
Erfolgsbewegung weder als Folge einer passiven Dehnung des langen 
Daumenstreckers aufgefaBt werden kann, noch durch eine der ver- 
schiedenen, anscheinend stromlos verlaufenden Muskelverkiirzungen 
zustande kommt. 

C. Mayer betont die Notwendigkeit weiterer Nachpriifungen. 

Diesem ist in vorliegender Arbeit durch Untersuchungen an 827 
Fallen Folge geleistet worden. Ausgefiihrt wurden die Reflexpriifungen 
an Patienten und Personal der hiesiqen Klinik und der Provinzial-Heil- 
und Pflegeanstalt Tapiau, der Medizinischen und Kinder klinik der 
Universitat, sowie an einigen Affen des hiesigen Tiergartens. 

Das Material setzte sich zusammen aus 200 nervengesunden Er- 
wachsenen, 26 Kindern, 532 Geisteskranken, 38 Fallen von organischen 
Erkrankungen des Gehirns, Riickenmarks und peripheren Nerven; 
16 Kranken im normalen und Somnifenschlaf, 4 Komatosen, 4 Leichen 
und 7 Affen. 

Bei Gesunden. 

Bei 200 Gesunden fanden wir das Lerische Phanomen in 97°/ 0 beider- 
seits gleich positiv mit individuellen Schwankimgen betr. AusmaB, In- 
tensitat und Schnelligkeit. Zu ahnlichen Resultaten ist auch Goldstein 
gekommen, der es in 98°/ 0 der Falle als positiv nacligewiesen hat. Die 
Ubrigen: Leri, Gurewicz, Liiet, Morel und Puillet haben es bei leichten 
Abweichungen in alien physiologischen Fallen gefunden, wahrend 
C. Mayer es 10 mal unter 82 Fallen vermiBt hat. 

Anders verhalt sich der C. Mayersche Grundgelenkreflex. Unter 200Fal- 
len haben wir ihn 26 mal nicht auslosen komien und 18 mal auf beiden Sei- 


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Das L6rische Phanomen und der Grundgelenkreflex von C. Mayer. 47 

ten asymmetrischgef unden, so daB der Reflex nur in78°/ 0 der Falle normal 
war. Goldstein hat ihn in 60°/ 0 der Falle auf beiden Seiten gleich ge- 
funden, gibt dagegen eine viel hohere Zahl von Fallen mit asymmetri- 
schem Grundgelenkreflex an (29); wahrend in 11 Fallen der Reflex 
iiberhaupt nicht auslosbar war. C. Mayer und Ostheimer kamen zu dem- 
selben Resultat in 6 Fallen von 60, C. Mayer bei weiteren Priifungen in 
15 Fallen von 130. Stiefler hat den Reflex bei 500 nervengesunden 
Soldaten 408mal positiv gefunden, das sind 8l,6°/ 0 der Gesamtfalle. 

Wir haben streng darauf geachtet, die Priifung des Reflexes bei Ge- 
sunden nur an solchen Handen auszufiihren, die friiber keinerlei Trau- 
men oder Verletzungen ausgesetzt waren. Es zeigte sich, daB nach 
langerer tTbung der Reflex ofter vorhanden war, wie man ihn iiberhaupt 
in einzelnen Fallen erst bei der zweiten Priifung auslosen kann. Wir 
haben mehrfach festgestellt, wie es auch die friiheren Untersucher an- 
geben, daB beim ausgiebigen und kraftigen Niederdriicken der Unter- 
suchte einen leichten Schmerz im Gelenk empfand und daB auch Gelenk- 
knacken zu horen war. Es zeigte sich als unbedingt erforderlich, in frag- 
lichen Fallen die Priifung wiederholt auszufiihren, besonders falls der 
zu Untersuchende die Auslosung schon gesehen hatte. Dies war z. B. 
beim Personal der Klinikder Fall, das, nachdem die Priifung an Patienten 
schon ausgefiihrt war, sich besonders schlecht ablenken lieB. 

W T ir nehraen an, daB der Unterschied der Ergebnisse von Goldstein , 
Stiefler und uns durcli die Verschiedenheit des Materials bedingt ist, so 
fanden wir bei Geistesarbeitern den Grundgelenkreflex fast stets positiv, 
wahrend bei Personen, die schwere korperliche Arbeiten ausfiihrten, 
ofteres Fehlen zu verzeichnen war. Diese Ansicht teilte Stiefler bei 
personlicher Riicksprache. Die Besprechung mit letzterem, als einem 
Schiiler C. Mayers, zeigte uns, daB wir bei den Priifungen genau in der 
gleichen Weise, wie C. Mayer verfahren haben. 

Einseitiges Fehlen des Grundgelenkreflexes haben wir im physiolo- 
gisehen Falle nicht feststellen konnen. 

Bei Geislesbranken. 

Bei der Priifung der Reflexe bei Geisteskrankeu stoBt man vielfach 
auf Widerstand des Patienten. So konnten wir von den uns zur Ver- 
fiigung stehenoen ca. 800 Fallen beide Phanomene nur an 532 Patienten 
priifen. Darunter waren 320 Falle von Dementia praecox, 26 Falle von 
manisch-depressivem Irresein, 34 Falle von Imbecillitat, 8 Falle von 
Idiotie, 14 Falle von Alkoliolikern, je 30 von Psychogenie und Epilepsie, 
20 Falle von Arteriosclerosis cerebri und sender Demenz und 50 Falle 
von progressiver Paralyse. 

Dementia praecox. Bei der Priifung der 320 Falle von Dementia 
praecox kamen wir zu folgenden Resultaten: beiderseits gleich deutlich 


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48 


E. C. Hoffmann: 


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ausgepragt — Mayer 54, Leri 71mal; beiderseits scbtvach positiv — 
Mayer 63, Leri 93; beiderseits negativ — Mayer 124, Leri 99; auf der 
einen Seite fehlend, auf der andern deutlich ausgepragt — Mayer 18, 
Leri 11; dasselbe mit dem Unterschiede, daB der Reflex auf der positiven 
Seite nur schwacb ausgepragt war — Mayer 41, Leri 26; verschieden 
stark auf beiden Seiten — Mayer 20, Leri 20mal. 

Wir fanden auf diese Weise den Grundgelenkreflex von Mayer in 
36,5,°/ 0 das Lerische Phanomen in 51,2°/ 0 auslosbar. Die Untersuchungen 
von Liret, Morel und Paillet ergaben dagegen nur in 11% solcher Falle 
eine Auslosbarkeit des Lerischen Phanomens. Audi M. Goldstein kam 
bei der Priifung des Grundgelenkreflexes zu einem ahnlichen Resultat 
wie die letzteren. Entgegengesetzt fand A. Mayer bei seinen Priifungen, 
allerdings nur an 40 Fallen von Schizophrenie, 4mal auf beiden Seiten 
Abschwachung, 30mal mittelstarkes Verhalten, 14mal erhohte Leb- 
haftigkeit und Ausgiebigkeit. Asymmetrie hat er nicht beobachtet. 

Unser positives Ergebnis fiel in der Hauptsache auf die paranoischen 
Formen, auch zeigten diese haufig leichte Steigerung der Gelenkreflexe; 
wahrend die Katatonie am meisten ein abnormes Verhalten aufwies. 

Auf diese Weise nehmen unsere Resultate den andern Untersuchern 
gegeniiber eine Mittelstellung ein; im Verbaltnis zum Ergebnis habenwir 
bei Schizophrenie haufiger ein Fehlen und Vorhandensein von Asymme- 
trien feststellen konnen. Die Zahl der von -4. Meyer gepriiften Falle ist 
unserer Ansicht nach zu gering, um daraus Schliisse ziehen zu konnen, 
wahrend die iibrigenUntersucher diePatienten mit katatonenSpannungs- 
erscheinungen und ausgesprochenem Negativismus vielleicht doch nicht 
in dem MaBe ausgeschieden haben, wie wir es getan haben. Die Falle 
mit fehlendem und asymmetrischen Phanomen waren in der Haupt¬ 
sache Endzustande der Dementia praecox, doch haben wir bei letzteren 
auch gut auslosbare Reflexe gefunden, wahrend sie andererseits bei be- 
ginnenden Schizophrenien mitunter fehlten. Die Gelenkreflexe wurden 
im Verlaufe von einigen Monaten wiederholt an Patienten gepriift, die 
eine Verschlimmerung des Krankheitszustandes zeigten, doch haben 
wir dabei, wie auch bei Remissionen, keine Andeiungen des ersten Be- 
fundes feststellen konnen. 

Manisch depressives Irresein. 26 Falle von manisch depressivem 
Irresein ergaben folgendes: beiderseits gleich deutlich ausgepragt 

— Mayer 3, Leri 9mal; beiderseits schwach positiv — Mayer 7, Leri 
9mal; beiderseits negativ — Mayer 5, Leri 5; auf der einen Seite feblend, 
auf der andern deutlich ausgepragt — Mayer 4, Leri —; dasselbe mit 
dem Unterschiede, da(3 der Reflex auf der positiven Seite nur schwach 
ausgepragt war — Mayer 4, Leri 3; verschieden stark auf beiden Seiten 

— Mayer 3, Leri -—. Also im wesentlichen, soweit die geringe Zahl der 
Falle einen SchluB erlaubt, ein nicht so haufiges abnormes und nicht so 


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Das Lerische Phanomen und der Grundgelenkreflex von C. Mayer. 49 

konstantes Verhalten wie bei M. Goldstein, der bei 20 Fallen 2mal voll- 
kommenes Fehlen und 3mal Asymmetric feststellte, auBerdem in 

7 Fallen die Reflexe sehr lebhaft auslosen konnte (letzteres fanden war 
auch in 2 Fallen). 

Imbeeillitdt. Unter 34 Imbecillen fehlte der Grundgelenkreflex 14, 
das Vorderarmzeichen 12 mal. Es waren Falle mit stark ausgesprochenen 
Degenerationszeichen und sehr niedrigem Intelligenzalter. 

In einem Falle von Imbecillitat, der unten naher besprochen wird, 
konnten gekreuzte Phanomene festgestellt werden. 

Idiotic. In 8 Fallen von Idiotie fehlten — Mayer 4, Leri 5 mal. 

Alkoholismus. 14 Falle von chronischem AlkoholmiBbrauch zeigten 
im Verhaltnis zum physiologischen ein haufiges abnormes Verhalten. 
Das nahere Ergebnis dariiber wie iiber die Imbecillitat und Idiotie ist 
a us den Tabellen I und II zu ersehen. Tabelle I bringt beide Pha¬ 
nomene einzeln; Tabelle II ihr Verhalten zueinander. 

Psychogenie. 30 Falle von psychogenen Erkrankungen zeigten 
seltenes Fehlen der Phanomene; so war Mayer 2, Leri 1 mal negativ; 
verschieden stark — Mayer 2, Leri 1 mal. Von positiven Fallen waren 
einige gesteigert. 

Epilepsie. Je 30 Falle von genuiner und symptomatischer Epilepsie 
ergaben beiderseits negativ — Mayer und Leri gleich 7; auf einer Seite 
fehlend — Mayer 3, Leri 1 mal. Von den gut ausgepragten beiderseits 
positiven Fallen wurden 3 im Augenblick des Anfalls, 4 unmittelbar nach 
dem Anfall gepriift. 

Epileptische Anfdlle. Die ersten 3 Falle ergaben folgendes: 

I. Eine 17jahrige Kranke mit typischer genuiner Epilepsie mit hfiufigen An- 
fallen. Anfall 91/2 Uhr abends, Pupillen lichtstarr, positiver Babinski, ZungenbiB, 
Einnassen. Mayer und Leri beiderseits negativ, nach 8 Minuten Babinski schwack 
auslosbar; nach 11 Min. Babinski negativ, nach 13 Min. beide Phanomene auf der 
linken Seite schwach positiv; nach 15 Min. rechts auch schwach positiv, Patientin 
reagiert nicht auf Anruf und Schmerzreize (volliges Durchstechen der Haut); nach 
25 Min. beiderseits gleich schwach auslosbar; nach 35 Min. beiderseits lebhaft wie 
vor dem Anfall, Patientin ist klar und orientiert. 

II. 28jahrige Frau, Befund wie I; Gelenkreflexe im Anfall negativ; nach 
4 Min. Babinski negativ; nach 10 Min. beide Phanomene schwach positiv, rechts 
deutlicher als links; nach 15 Min. beiderseits gleich schwach; nach 20 Min. deut- 
licher; nach 25 Min. lebhaft. 

III. 18jahriger junger Mann; seit dem 5. Lebensjahre Anfiille, in den letzten 

8 Tagen besonders haufig, Gelenkreflexe in anfallsfreier Zeit gut auslosbar und 
beiderseits gleich. Im Anfall Pupillen lichtstarr, positiver Babinski, ZungenbiB. 
EinnSssen; Gelenkreflexe (3 Min. nach Beginn des Anfalls) negativ; nach 6 Min. 
Babinski rechts negativ, links positiv, Gelenkreflexe nicht auslosbar; nach 9 Min. 
Gelenkreflexe rechts leicht positiv, links negativ; Babinski links schwach positiv; 
nach 14 Min. Gelenkreflex rechts schwach auslosbar, links fehlend. Patient rea¬ 
giert weder auf Nadelstiche noch auf Anruf; nach 20 Min. beiderseits gleich schwach 
auslosbar; nach 24 Min. deutlicher; nach 35 Min. lebhaft wie vor dem Anfall, 
Wiederkehr des BewuBtseins. 

Archiv fUr Psychiatrle. Bd 68 . 4 


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50 


E. C. Hoffmann: 


Tabelle I. 

Die Zeichen bedeuten: -|—f- beiders. positiv,-beiders. negativ, s s beiders. 

schwach, -J-einers. positiv, anders. negativ, -(- s einers. positiv, anders. herab- 

gesetzt, — s einers. negativ, anders. herabgesetzt. 



Reflex 

Ges.- 
1 Zahl 

+ + 

— 

8 S 

1 

!+- 

+ s 

1 - 8 

1 

Dementia praecox 

Mayer 

L4ri 

320 

54 

71 

124 

99 

63 

93 

1 18 

11 

20 

20 

41 

j 26 

Manisch depressives 
Irresein 

Mayer 

Leri 

26 

3 

9 

5 

5 

7 

9 

4 

3 

4 

3 

Imbecillitat 

Mayer 

Leri 

34 9 

14 

12 

5 

8 

2 2 

1 ; 2 

4 

1 2 

Idiotie 

Mayer 

Leri 

8 

2 

2 

4 

5 

1 

1 j 

l 

— 

— 

Alkoholismus 

Mayer 

Leri 

14 

4 

5 

4 

2 

2 

4 

2 

1 

3 

1 

Psychogenie 

Mayer 

Leri 

30 

12 

16 

2 

1 i 

14 

12 

— 

2 

1 

— 

Epilepsie 

Mayer 

Leri 

30 

8 j 
10 

7 

7 

3 

5 

3 ! 

1 

5 

4 

4 

3 

Arteriosklerose und 
senile Demenz 

Mayer 

L4ri 

20 

8 

6 

i 

3 

1 j 

6 

8 

— 

2 

3 

1 

2 

Paralyse 

1 

Mayer 

Leri 

50 

16 10 

20 10 

10 

14 

1 

2 

1 

10 

4 

2 

2 


Psychogene AnfaUe. Ein anderes Verhalten der Phanomene war in 
psychogenen Anfallen zu beobachten: 

I. Ein degenerierter 21 jahriger Psychopath, der wegen Verleitung zum Meineid 
eine mehrjahrige Zuchthausstrafo abbiiBte und wegen einer Art Ganserschen 
Dammerzustands in die Klinik iiberfiihrt worden war; gleich am ersten Abend nach 
seiner Einlieferung stellte ein psychogener Anfall mit besonders groteskem Ge- 
baren und scheinbarer Benommenheit sich ein: Schaum vor dem Munde, mit Kopf 
und FiiBen gegen den Boden schlagend, nicht auf Nadelstiche reagierend; Pupillen 
L.-R. -f-, Babinski negativ, Gelenkreflex (insbesondere Mayer, L 6 ri erst spiiterhin 
beim Ruhigerwerden) gut auslosbar. 

II. Eine Imbecille mit psychogenen Anfallen zeigte in einem charakteristischen 
arc de cercle dasselbe Verhalten. 

Psychogene Lahmungen, bei denen das Vorhandensein der Gelenk- 
reflexe mehrfach beschrieben worden war, konnten wir nicht naohpriifen. 

Arteriosclerosis cerebri und senile Demenz. 20 Falle von Arterio¬ 
sclerosis cerebri und seniler Demenz, die keine Herderscheimingen 


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Das L4risehe Phan omen und der Grundgelenkreflex von C. Maver. 51 


Tabeiie II. 

Die Zeichen beziehen sich auf jeden Arm einzeln. 



Zahl 

der 

Failc 

Mayor 

Leri 

+ + 

r | 1. 

Mayer 

L6ri 

r.|l. 

Mayor 

Leri 

B S 

r. | 1. 

Mayer 

LC-ri 

+ - 
r.|L 

Mayor 

L6ri 

+ t 

r.|l. 

Mayor 

L6ri 

- + 
r.| 1. 



I 

Dementia praecox 

320 

320 

43 

31 




9 10 

26 


33 26 

i 

21 21 

1 

21 

34 

40 50 

Manisch depressives 
Irresein 

26 

26 

G 

G 

4 

3 

3 

4 

2 


2 

3 

2 

3 

4 

3 

a 

0 

5 

! 5 

Imbecillitiit 

34 

34 

G 

G 

GG 

I 

o 

5 


G 

4 

3 

G 

5 


G 

2 

G 

4 

2 

Idiotie 

8 

8 

i 

i 

3 

-1 

s 

G 

1 


1 

1 

a 

G 

a 

G 

i 

i 

1 


Alkoholismus 

14 

14 

G 

G 


G 

2 

2 


G 

1 

2 

a 

G 

i 

i 

— 

i 

1 

|— 

Psychogenie 

30 

30 

12 

12 

G 

G 

11 

ii 

G 

G 

G 

G 

6 

<; 

i 

i 


_ 

— 

— 

Epilepsie 

30 

30 

8 

7 

fi 

3 

G 

G 


2 

2 

3 

1 

l 

5 

4 

H 1 

2 I 

4 

Arteriosklerose und 
senile Demenz 

MM 


G 

3 

2 

5 

7 

G 

G 

G 

G 

G 

G 

i 

2 

a 

a 

2 

1 

Paralyse 

50 

50 

10 

16 

6 

8 

4 

8 

_ 2 

12 

6 ! 

2| 

2 

10 

4 

i 

2 

2 

2 


zeigten, ergaben positiv Mayer 8, Leri 6mal; beiderseits schwach 

— Mayer 6, Leri 8; negativ — Mayer 3, Leri 1; verschieden stark 

— Mayer 2, Leri 3; auf einer Seite fehlend, auf der andern schwach 

— Mayer 1, Leri 2mal. Vergleicht man auf den Tabellen I und II diese 
Ergebnisse mit den vorherigen, so sieht man, daB zum erstenmal Mayer 
in positiven Fallen iiberwiegt. Ferner zeigten fast alle Falle bei den 
Priif ungen eine besonders langsame und ausgiebige Ausldsung der 
Phanomene, besonders des Grundgelenkreflexes: so vergingen eine 
halbe und eine Sekunde, bis der Daumen sich trage, einer Wurm- 
bewegung ahnlich, in Oppositionsstellung begab. Stiefler hat dieses als 
pathologische Abschwachung des Fingergrundreflexes, als Ausdruck 
einer nicht voll entwickelten Leitungsunterbreehung im zentralen 
Neuron beschrieben. Eine gleiche Verlangsamung stellten wir auch an 
kacbektischen Kranken fest. 

Progressive Paralyse. 50 Falle von progressiver Paralyse ergaben': 
beiderseits positiv — Mayer 16, Leri 20mal; beiderseits schwach positiv 

— Mayer 10, Leri 14; beiderseits negativ •— Mayer, Leri je lOmal; auf 
einer Seite fehlend, auf der andern positiv •— Mayer 2, Leri -—; das- 
selbe mit schwach positivem Resultat -— Mayer, Leri je 2mal; ver- 
schieden stark — Mayer 10, Leri 4mal. Die Falle mit positivem Re¬ 
sultat waren fast alle beginnende Paralysen; mehrere von diesen 

4 * 


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52 


E. C. Hoffmann: 


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zeigten einc deutliche Steigerung beider Phanomene. Die Falle mit 
fehlenden und asymmetrischen Gelenkreflexen waren in der Hauptsacbe 
fortgeschrittene, bei denen man zentrale Herde annehmen konnte. 

Wir bringen zum Vergleich die Ergebnissc M. Goldsteins und 
A. Mayers: Goldstein {and unter 33 Fallen der progressiven Paralyse die 
Gelenkreflexc beiderseits positiv — Mayer 9, Leri 7mal; beiderseits 
schwach -— Mayer 9, Leri —; beiderseits positiv — Mayer 6, Leri 21; 
auf der einen Seite fehlend, auf der andern Seite stark positiv — 
Mayer 4, Leri —; dasselbe mit schwach positivem Ergebnis — Mayer —, 
Leri 2mal. — Bei 2 mannlichen expansiven Paralysen mit starker 
Euphorie und ausgesprochenen GroBenideen stellte er eine deutliche 
Steigerung der Reflexe fest. 

Dagegen fand A. Meyer, der nur das Lerische Phanomen nach- 
priifte, unter 50 Fallen progressiver Paralyse in 14 Fallen erhohte Leb- 
haftigkeit und Ausgiebigkeit, in 30 Fallen mittelstarkes Verhalten, in 
2 Fallen volliges Fehlen des Lerischen Phanomens, in 4 Fallen auf beiden 
Seiten auffallende Abschwachung. 

Betrachtet man die angefiihrten Resultatc, so kann man feststellen, 
dall unsere Befunde auch hier eine Mittelstellung einnehmen. Unserer 
Ansicht nach konnte die Verschiedenheit in der Hauptsache durch das 
Material selbst bedingt sein. Es ware deshalb erforderlich, eine be- 
deutend groBere Anzahl von Fallen mit progressiver Paralyse durchzu- 
priifen und besonderen Wert auf die pathologisch-anatomischen Befunde 
zu legen. Jedenfalls mochten wir annehmen, daB bei der progressiven 
Paralyse noch ofters als bei der Schizophrenic Fehlen und asymmetri- 
sches Verhalten zu finden sein wird. 

Bei organischen Erkrankungen des Gehirns und Riickenmarks. 

Die Paralyse ist schon unter den Geisteskrankheiten besprochen 
worden. 

Die friiheren Untersucher, besonders Goldstein, kamen zum Ergebnis, 
daB eine Armlahmung infolge Pyramidenbahnschadigung mit dem 
physiologischen Ablauf beider Phanomene unvereinbar ist. Wir fandenbei 
6 Hemiplegien stets ein Fehlen der Phanomene auf der paretischen Seite. 

Bei 4 Fallen von Chorea kamen wir in dreien zum negativen Re- 
sultat, einmal waren die Phanomene schwach auslosbar. 

7 Falle von Lues cerebri ohne Herderscheinungen zeigten 3mal 
Fehlen, 3mal Asymmetrie, lmal schwach positive Zeichen. 

Bei 5 Fallen von Paralysis agitans 4mal positiv, lmal schwach 
positiv, stets beiderseits gleich. 

Bei 12 Fallen von multipier Sklerose 1 mal beiderseits schwach 
positiv, 8mal deutlich asymmetrisch, 3 mal volliges Fehlen. 

Bei 4 Fallen von akuter Myelitis 3mal negativ, lmal schwach aus¬ 
losbar. 


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Das Lerische Phanomen und der Grundgelenkreflex von C. Mayer. 53 


Bei einer Lahmung des Plexus brachialis fehlten die Gelenkreflexe 
auf der entsprechenden Seite. 

AUe diese Befunde decken sich vollstandig mit den Ergebnissen der 
friiheren Untersuchungen und weisen, zumal Storungen der Haut- und 
Tiefensensibilitat fast ausnahmslos fehlten, auf die wahre Reflexnatur 
hin. Wir verweisen deshalb auf die Literatur der friiheren Untersueher. 

Zur Frage der Reflexnatur der Phdnomene. 

Bei Kindern. Bezeichnend fur die Reflexnatur der beiden Phano- 
mene ist ihr Auftreten erst nach Vollendung des 2. Lebensjahres. Als 
erster hat C. Mayer darauf hingewiesen und festgestellt, daft es dann von 
Jahr zu Jahr haufiger zu finden ist. Die Ursache des Fehlens halt er fur 
rein mechanisch und erklart es durch eine gewisse Nachgiebigkeit des 
Bandapparats, in dem die Reiz u ngs verh alt nis se fur die sensiblen Ele- 
rnente ungiinstiger als beim Erwachsenen liegen. Auch die Vorgange 
der Verknocherung an den Epiphysen der Grundphalangen und den 
Metacarpen, sowie der distalen Epiphyse von Radius und Ulna konnten 
seiner Ansicht nach von maBgebendem EinfluB sein. 

Wir haben beide Reflexe an 26 gesunden und nicht nervenkranken 
Kindern im Alter von 4 Monaten bis 4 Jahren gepriift. Es wurde dabei 
folgendes Resultat erzielt: bei 14 Kindern im Alter von 4 Monaten bis 
zu 1 Jahr war das Mayersche und Lerische Phanomen negativ, bei 
8 Fallen von diesen Babinski deutlich positiv; dasselbe bei 4 Kindern 
im Alter von 1—2 Jahren mit 3mal positivem Babinski. Bei 16 Kindern 
im Alter von 2—8 Jahren fanden wir in 2 Fallen (2 1 / 2 Jahre) die Reflexe 
sehr schwach ausgepragt; 2mal im selben Alter fehlend, bei den iibrigen 
12 positiv mit steigender Intensitat entsprechend dem Alter; Babinski 
in 1 Falle im Alter von 2 1 / 2 Jahren positiv, sonst bei alien iibrigen 
negativ. Wir haben die beiden Phanomene beim Vorhandensein des 
Babinski nicht auslosen konnen und halten es mit M. Goldstein im 
Gegensatz zur mechanischen Erklarungstheorie C. Mayers fur wahr- 
scheinlicher, eine enge Verknupfung der Entwicklung des Zentralnerven- 
systems mit dem Auftreten der Gelenkreflexe anzunehmen und in 
Aoialogie mit dem Verlust des Babinskischen GroBzehenreflexes im 
gleichen Alter zu bringen. 

Gekreuzte Phdnomene. In einem Falle von Imbecillitat konnten beim 
Fehlen der Gelenkreflexe auf der einen Seite diese von der gesunden 
Seite her doch ausgelost werden. 

Wir bringen die Krankengeschichte: 24jahriger Besitzerssohn, Vater 
Alkohohker, sonst iiber Hereditat nichts bekannt; fing spat an zu 
sprechen; mit 6 Jahren Masern; in Volksschule schlecht gelernt, konnte 
nicht schreiben, wurde bald herausgenommen und zum Viehhuten ver- 
wandt; kam mit 20 Jahren in die Anstalt. 


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54 


E. C'. Hoffmann: 


Status: mittelgroBer, junger Mann in maBigem Ernahrungszustande; 
Hypoplasie der rechten Thoraxhalfte und der rechtsseitigen Extremi- 
taten; Gesicht asymmetrisch, angewachsene Ohrlappchen , leichte Parese 
der rechten unteren Gesichtshalfte; etwas herabgesetzte Kraft im rechten 
Schultergelenk; auch Vorderarmbeugung und Streckung sowie Supina¬ 
tion schwach, Pronation gut ausfiihrbar; Eingerstreckung nicht voll- 
kommen moglich, die Gelenke bleiben leicht gebeugt; Patient kann die 
Hand schlieBen. Handedruck rechts deutlich schwacher als links 
(Dynamometer rechts 14, links 50). Bauchdeckenreflexe rechts fehlend. 
Rechte untere Extremitat im Bereich des Sprunggelenks etwas paretisch ; 
Kniephanomene gesteigcrt; Patellarklonus; Babinski rechts positiv. 
Sensibilitat intakt. 

Mayer und Leri rechts negativ; i>ei der Auslosung auf der linken Seite 
dagegen gleichzeitig auf beiden Seiten positiv. Wir hielten uns dabei an 
die Vorschrift von C. Mayer, daB zur Beobachtung des gekreuzten Re- 
flexerfolges am Daumen bei passiv senkrecht emporgehaltenem rechten 
Vorderarm die rechte Hand des Patienten sowie die 4 dreigliederigen 
Finger passiv gestreckt werden rnussen. Wurde nun der Grundgelenk- 
reflex auf der linken Seite ausgelost, so trat auf der rechten eine deut- 
liche Oppositionsbewegung des Daumens ein. Es wurden verschiedene 
Bewegungen mit der linken Hand ausgefiihrt, doch keine weitere fiihrte 
zu einer Kontraktion der Muskeln der rechten Hand. Ferner wurde bei 
passiv herabhangendem rechten Arme das linke Handgelenk im Sinne 
des Lerischen Phanomens gebeugt und in sich eingerollt; es fxihrte zu 
eitier fast gleichzeitig auftretenden Dorsalflektion der rechten Hand 
mit einer leichten Vorderarmbeugung. 

Das Fehlen der rechtsseitigen Bauchdeckenreflexe, der positive 
Babinski rechts, die crhohten Sehnenreflexe, der Patellarklonus, all das 
zeigt, daB eine Schadigung der Pyramidenbahn bestehen muB. Die 
rechtsseitige Parese wie die Hypoplasie der rechten Thoraxhalfte und 
der Extremitaten weist auf eine Herdschadigung in der linken Hemi¬ 
sphare hin. 

C. Mayer, der 3 gleiche Falle eingehend beschreibt, nimmt zur Er- 
klarung des Phanomens der Reflexkreuzung an, daB der aus der ge- 
sunden Hemisphare stammende, entsprechend dem normalen Bau des 
Reflexes abgestimmte corticale Impuls iiberdies auch noch auf das 
Vorderhorn der paretischen Seite iibertragen wird, wodurch es in der 
paretischen Extremitat zu einer von der gesunden Hemisphare ab- 
hangigen Erfolgskontraktion kommt. Er fiihrt weiter aus, daB eine 
Leitung des Impulses von der gesunden Hemisphare zum Vorderhorn 
der paretischen Seite auf dem Wege des ungekreuzten Pyramidenbabn- 
anteiles nicht anzunehmen sei, wenn man mit Ziehen in diesem PyTa- 


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Das Lerisclie Phanomen und der Grundgelenkreflex von C. Mayer. 55 


midenbahnanteil eine Bahn sieht, die der Gbertragung der fiir die gleich- 
seitige Rumpfmuskulatur und allenfalls auch der fiir die unteren Glied- 
maBen bestimmten Impulse dient. Wenn man den zentrifugalen Schenkel 
des cortical gedachten Reflexbogens in die Pyramidenbahn oder in die 
cortico-rubro-spinale Bahn verlegt, muB man nach C. Mayers Ansicht 
annehmen, daB im Riickenmark anatomische Einrichtungen bestehen, 
die eine Reiziibertragung aus der corticofugalen Bahn auf beide Vorder- 
horner ermoglichen. Zur Vermittelung solcher Reiziibertragung im 
Niveau des Reizeintrittes, wie auch der hoheren und tieferen Segmente, 
miiBte das System der Commissurenfasern des Ruckenmarks dienen. 
Wenn nun die bisher bestehenden Kenntnisse vom feineren Bau des 
Ruckenmarks den Weg solcher Reiziibertragung noch nicht zeigen und 
vielleicht weitere Untersuchungen die Annahme dieser Bahnen nicht 
bestatigen werden, so spricht doch die Tatsache der Kreuzung fiir die 
wahre Reflexnatur. C. Mayers Ansicht iiber die Schadigungcn der 
Rinde oder inneren Kapsel ist oben erwahnt worden. 

M. Goldstein nimmt auf Grund seiner klinischen Beobachtungen 
und anatomisch-physiologischen Betrachtungen gleichfalls an, daB die 
Reflexiibertragung in der Hirnrinde zu suchen sei. Seiner Ansicht nach 
laBt sich das Kausalverhaltnis zwischen Reizung der sensiblen Nerven- 
endigungen im Gelenkapparat und der Erfolgsbewegung nur dadurch 
erklaren, daB die im GroBhirn und in dessen Rinde an den dort befind- 
lichen sensitive n Zellelementen entstehende Empf indung den motorischen 
Impuls und damit die Reflexbewegung ausldst. Daraus sei zu schlieBen, 
daB die Empf indung der Reizung im GroBhirn die Muskeln mittels eines 
Bewegungsimpulses durch die motorischen Zentren in der vorderen 
Zentralwindung in Bewegung setzt. 

Die Reflexpriifung nach Morphiumgaben, im normalen und Somnifen- 
Ddmmerschlaf. Bei mehreren Gesunden und Kranken, die bei der Aus- 
losung eine Schmerzempfindung angaben, fehlte diese nach Morphium- 
gaben, wahrend die Phanomene in derselben Weise vorhanden waren. 

Bei 11 Kranken waren die Reflexe im normalen Schlaf vorhanden, 
wahrend sie in 5 Fallen, die 4—5 Tage lang in einem Somnifen-Dammer- 
schlaf gehalten wurden, 4mal fehlten und lmal schwach positiv waren; 
in diesem letzteren Falle handelte es sich um eine Patientin, die keinen 
vollig tiefen Schlaf zeigte und dazwischen wach wurde. 

Reflexpriifungen im Koma und an Leichen. VeranlaBt durch die 
Behauptungen Dumperts, daB der Grundgelenkreflex durch eine rein 
mechanische Muskelwirkung zu erklaren sei, haben wir Versuche an 
Leichen ausgefiihrt. Darunter waren 4 Falle, die im Koma negative 
Reflexe gezeigt hatten, wahrend sie vorher auslosbar waren. Wenige 
Minuten nach dem Tode und spater konnten wir bei sehr starkem 
Druck auf ein Grundgelenk ein leichtes Anziehen des Daumens be- 


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56 


E. C. Hoffmann: 


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obachten, das lange nicht der vorher vorhandenen Bewegung ent- 
sprach. 

Reflexpriifung an Affen. Angeregt durch die Untersuchungen 
M. Goldsteins haben wir die Reflexpriifung auch an Affen des hiesigen 
Tiergartens vorgenommen. Es waren leider nur die niederen Arten 
vertreten, dieselben, die M. Goldstein zu seinen Priifungen verwandte. Es 
wurden bei 2 Makakus Rhesus, nachdem diese in einem Netz eingefangen 
waren und durch Futterreichungen des Warters abgelenkt wurden, die 
Phanomene negativ gefunden. Die iibrigen 5 waren zu unruhig, so daB 
die weiteren Priifungen unterlassen wurden. 

Z usammenfassuny. 

Es wurden 827 Falle normaler, nerven- und geisteskranker Personen 
gepriift. 

Bei Gesunden wurde das Lerische Phanomen in 97%, der Grund- 
gelenkreflex von C. Mayer in 87% der Falle positiv gefunden (Grund- 
gelenkreflex — Goldstein 60°/o> Stiefler 81,6°/ 0 ). 

Bei organischen Nervenkranken wurde ein Fehlen der Phanomene 
bei Lasionen der in Fragc kommenden afferenten und efferenten Bahnen 
festgestellt; bei Geisteskranken, auBcr bei Manie und Psychogenie, ein 
haufiges Fehlen und asymmetrisches Verhalten. 

Fiir die Reflexnatur im Gegensatz zur Auffassung der Phanomene 
als mechanisch •— odor durch Schmerzreaktion bedingt spricht: 

I. Das Fehlen der Reflexe bei einer Schadigung der angenommenen 
Ref lexbahnen; 

II. das Fehlen der Gelenkreflexe bei Kindern bis zum 2. Lebens- 
jahre, in Analogic zu dem Babinskischen GroBzehenreflex (Verknupfung 
der Entwicklung des Zentralnervensystems mit dem Auftreten der 
Gelenkreflexe); 

III. das Verhalten der Phanomene im epileptischen (Fehlen) und 
psychogenen (Vorhandensein) Anfall; auch die Feststellung des ge- 
kreuzten Reflexes bei einem Imbecillen mit rechtsseitiger infantiler 
Hemiparese. 

Was die praktische Bedeutung der Gelenkreflexe angeht, so scheinen 
sie besonders fiir die Differentialdiagnose zwischen organischen und 
funktionellen Lahmungen sowie epileptischen und psychogenen An- 
fallen verwendbar zu sein. Ferner wohl auch fiir die Hohendiagnose 
bei Erkrankungen des Riickenmarks und iiberhaupt fiir Erkennung 
und Beurteilung mancher organischer Nervenleiden, wie Tabes, multiple 
Sklerose, Tumor. 

Ob und welcher Art die Befunde bei den verschiedenen psychotischen 
Erkrankungen zu weiteren Schliissen berechtigen, muB die Zukunft 
lehren. 


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Das Lerische Phanomen und der Grundgelenkreflex von C. Mayer. 57 

Literatu rverzeichnis. 

M. Lewandousky: Handbuch der Neurologie. 1/2. — Baglioni: Zur Analyse 
der Reflexfunktion. Wiesbaden 1907. — A. Uri: Le signe de l’avant bras. Rev. 
neurol. 26, 1913, S. 277. — G. v. Monakow: Die Lokalisation im GroBhim. Wies¬ 
baden 1914. — Galant: Die Reflexe der Hand. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. 
Psychiatr. 43, 260. 1918. — Stiefler: Zur Klinik des Fingerdaumenreflexes. Neurol. 
Zentralbl. 36. 1917. — C. Grosz: Erfahrungen mit dem Fingerdaumenreflex. Wien, 
med. Wochenschr. 69, 586. 1919. — J. Flesch: Zur Frage der Begutachtung epi- 
leptischer Anfalle. Zeitsclir. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 38, 276. 1918. — 
F. Dumpert: Kritisches zu dem nach C. Mayer benannten „Finger-Daumenreflex“. 
Journ. f. Psychol, u. Neurol. 27,197. 1922. — Tromner: Ober Sehnen- und Muskel- 
reflexe. Berl. klin. Wochenschr. 50 , 1712. 1913. -— Fick: Handbuch der Anatomie 
und Mechanik der Gelenke. — M. Goldstein: Die diagnostische Brauchbarkeit, 
Lokalisation und die funktionelle Bedeutung des Handvorderarm- und des Finger- 
grundgelenkreflexes. Miinch. med. Wochensclir. 67, 1460. 1920. — M. Goldstein: 
Die Gelenkreflexe der Hand und ihre klinische Bedeutung. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, 
u. Psychiatr. 61, 1. 1920. — C. Mayer: Kriegsneurologische Erfahrungen. 
Med. Klinik. 11, 1017. 1915. — C. Mayer: Zur Kenntnis der Gelenkreflexe 
der oberen Extremitfiten. Rektoratsschrift. Innsbruck: Wagner 1918. — 

C. Mayer u. Ostheimer: tjber reflektorische, im Bereich der Extremity ten von 
den Gelenken her auslosbare Kontraktion von Muskeln. Arch. f. Psychiatr. u. 
Nervenkrankh. 52, 462. 1918. — C. Mayer: t)ber die anatomische Grundlage des 
von den Fingergrundgelenken auslosbaren Reflexes. Wien. klin. Wochenschr. 
Bl. 890. 1918. — C. Mayer: Zur physiologischen und klinischen Beurteilung der 
Gelenkreflexe der oberen GliedmaBen. Klin. Wochenschr. 1. Jahrg., Nr. 17. 1922. 
— C. Mayer: Zur Auffassung des Lerischen Ph&nomens und des Grundgelenk- 
reflexes. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 76, 590. 1922. — C. Mayer: 
Bemerkungen zu V. Dumperts Arbeit: Kritisches zu dem nach C. Mayer benannten 
„Finger-Daumenreflex“. Journ. f. Psychol, u. Neurol. 27, H. 6. 1922. — G. Mayer: 
Zur Kenntnis der Art der Muskelkontraktion beim Grundgelenkreflex. Zeitschr. 
f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 77, H. 4/5. 1922. — C. Mayer: Mitteilung fiber ein 
Reflexphanomen am Daumen. Neurol. Zentralbl. 35. — G. Stiefler: Weitere Be- 
obachtungen iiber den Grundgelenkreflex (C. Mayer). Vortrag auf dem letzten 
KongreB der Ges. Dtsch. Nervenfirzte. 1922. 


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(Aus der Klinik fiir psychische und nervose Krankheiten zu GieBen 
[Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Sommer'].) 


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Klinisehe Bemerkungen zur Frage nach der Rolle der lieber 
bei Oeistes- und Nervenkrankheiten 1 ). 

Von 

E. Leyser. 

Mit 1 Textabbildung. 

(Eingegangen am 5. Januar 1923.) 

Die Fragestellung, die unseren Betrachtungen zugrunde liegt, nam- 
lich welche Rolle die Leber bei Geistes- und Nervenkrankheiten spielt, 
hat schou friih zur Diskussion gestanden. Vor Griesinger fiihrte man 
bekanntlich die meisten Geistesstorungen auf Storungen in der Funktion 
des Leibes und des Unterleibes zuriick. Die Namen ,,Melancholie“, 
,,Hypochondrie‘‘, ,,Hysterie“ weisen ja mit aller Deutlichkeit auf diese 
Vorstellungen hin. Als die Zellularpathologie ihren Sieg fiber die 
Humoralpathologie davontrug, traten auch auf dem Gebiete, das uns 
beschaftigt, andere Betrachtuagsweisen in den Vordergrund. Von 
Seiten der Franzosen wurden diese Gedatikengange nie ganz aufgegeben, 
und noch in den 90er Jahren beschrieb Klippd seine folie hepatique 2 ). 
Cullere 3 ) brachte den ,,H e P a tismus“ mit alien moglichen Geisteskrank- 
heiten in Beziehung, da die Storung der Leberfunktion eine Autointoxi- 
kation des Organismus bewirke. Im groben ganzen aber dachte man an 
delirose und epileptische Zustande, die auf dieser Grundlage entstehen 
soil ten. 

Auf ganz anderer Grundlage beruhcn jene Anschauungen, die fiir die 
Eklampsie eine Leberstorung als Ursache ansahen. Nachdem zuerst 
Schmorl und Lubarsch auf die Leber achteten, haben Konstantinowitsch 4 ) 
und Ceelen 6 ) in ausfiihrlichen Untersuchungen die pathologisch anato- 
mischen Veranderungen in den eklamptischen Lebern bcschrieben und 
sokonn ‘eSippel 6 ) im AnschluBan Bouchard. Pinard u.a.wohl vermuten, 

- n ^ 

x ) Erweitert nach einem Vortrag in der Gesellschaft Deutscher Nervenarzte 
am 14. X. 1922 in Halle. 

a ) Klippd: Rev. de psych., Sept. 1897. 

s ) Cull&e: H6patisme et psychoses. Arch, de neurol. 

4 ) Beitr. z. pathol. Anat. u. z. allg. Pathol. 14, 482. 

5 ) Virchows Arch. 201. 

c ) Arztl. Praxis, 1899. 1—2. 


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E. Leyser: Klinische Beinerkungen zur Frage nach der Rolle der Leber usw. 59 


daB ein mangelhafter Stoffwechsel der Leber zu eiuer Autointoxikation 
und damit zur Eklampsie fiihre. Weiter unten werden wir auf diese 
Frage noch naher eingehen. 

In den Mittelpunkt des Intereases aber riickte die ganze Frage durch 
die Forschungen Wilsons 1 ), der die nach ihm benannte symmetrische 
Degeneration der Linsenkerne und ihre regel maBige Verbindung mit 
Lebercirrhose entdeckte. Hier steht eine Tatsache von unabweislicher 
Eindringlichkeit vor uns, die immer wieder dazu anregen wird, die 
Beziehungen zwischen Leber und Gehirn zu erforschen. Mit wenig 
Worten sei es erlaubt, die Entwicklung der Forschung kurz zu streifen. 
Wilson selbst nahm an, daB in der primar erkrankten Leber ein Toxin 
gebildet werde, das eine spezifische Wirkung auf den Linsenkern habe. 
Die Leberbefunde bei Wilsonscher Krankheit fanden ira weiteren Ver- 
lauf eine recht marmigfache Deutung. Rumpel und Meyer faBten sie als 
kongenitale HemmungsmiBbildung auf. Als Atiologie vermuteten sie 
Lues, ebenso Kubitz und Stammler, Homen u. a. A. Westphal lehnt dies 
ab, und die weitere Erfahrung hat keine Beweise fur die luetische 
Genese der Lebercirrhose geliefert. Schmincke 2 ) weist darauf hin, daB 
der Leberbefund mit seinem Umbau des Parenchyms, der lympho- 
cytaren Infiltration der Bindegewebsscheiden und vereinzelten Re- 
generationsvorgangen eine typische Lebercirrhose darstelle, fur die 
man nach dem pathologisch-anatomischen Bild weder eine fehlerhafte 
Anlage noch Lues verantworfclich machen konne. Der Leberbefund 
selbst hat uns also bisher keinen AufschluB iiber die Pathogenese der 
eigenartigen Erkrankung gebracht. Ebensowenig vermochte die histo- 
pathologische Untersuchung des Gehirns diese Erkenntnis zu fordern. 
Spielmeyer 3 ) hat seine Forschungen an 5 Fallen dahin zusammengefaBt, 
daB die Pseudosklerose (Striimpell-Westphal) und die Wilsonsche Krank¬ 
heit histopathologisch zusammengehoren, daB die Gehirnveranderung 
stets iiber die Linsenkerne hinausgreife, daB es andererseit3 typische 
Falle mit Lebercirrhose gebe ohne cystische Degeneration der Linsen¬ 
kerne. Poliak 4 ) hat kiirzlich einen typischen Fall von cystischer De¬ 
generation der Linsenkerne beschrieben, hat aber den histopatho- 
logischen ProzeB im ganzen Gehirn verbreitet gcfunden, allerdings mit 
besonderer Bevorzugung des Striatums und des Nucl. dentatus. Er 
erblickt in der GefaBversorgung ein hierfiir maBgebendes Moment und 
bezeichnet mit Kolisko 3 ) das Striatum beim Menschen als locus minoris 
resistentiae. Er halt die hepatogene Genese der Wilsonschen Krank- 

x ) Brain: VoL 34. Part. IV. 

*) Zeitachr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 57, 352. 

*) Zeitachr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 57, S. 312. 

*) Ebenda. 77. 

5 ) Ebenda. 60. 


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60 


E. Leyser: Klinische Bemerkungen zur Erage nach der 


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heit trotz mannigfacher gewichtiger Griinde fiir unbewiesen. Nun muB 
man ferner noch bedenken, daB auBer dcr Lebercirrhose sich recht 
regelmaBig eine MilzvergroBerung findet, und ich selbst konnte in einem 
kiirzlich zur Obduktion gekommenen Falle mich vom Bestehen einer 
follikularen Enteritis iiberzeugen, die fiir eine enterotoxische Genese 
imSinneiiosfroems 1 ) zu sprechen scheint. Die feste Beziehung, die Wilson 
zwischen einem bestimmten Hirnteil und der Leber gesichert zu haben 
schien, erscheint so wieder gelockert. Andererseits hat man das Ver- 
halten der Leber bei Striatumerkrankungen studiert. Boenheim 2 ) be- 
richtet von einem apoplektisch enveichten Nucl. caudatus mit Leberver- 
groBerung und Urobilinogenurie. Er stellt die Theorie auf, daB die 
Gehirnerkrankung das Primare sei. A. Westphal 3 ) fand bei einer in 
6 Wochen todlich verlaufenen Athetose double Linsenkerner- 
weichung und beginnende Lebercirrhose. Nachdem die Abhangigkeit 
des Parkinsonismus vom Pallidum dank den Forschungen besonders 
von O. und C. Vogt erkannt war, wendete man auch bei solchen Krank- 
heitsbildern der Leber erhohte Aufmerksamkeit zu. K. Dresel und F. H. 
Lewy 4 ) priiften bei 13 Paralysis-agitans-Kranken die Leberfunktion 
mittels der Widalschen Krise und fanden stets ein positives Resultat: 
sie vermuten, daB es sich dabei um eine dauernde schadigende Wirkung 
auf die vegetativen Zentren des Hirnstammes durch vagisch wirkende 
Substanzen handele. F. Stern und B. Meyer-Bisch 6 ) fanden bei ihren 
progredienten Fallen von Encephalitis epidemica, namentlich bei amyo- 
statischen Fallen, eine ausgesprochene Storung der Leberfunktion, die 
sich manifestierte in Urobilinurie, Erhohung des Neutralsehwefel- 
gehaltes des Harnes und in positiver Lavuloseprobe. Von anatomischer 
Seite war die Moglichkeit elektiver Schiidigungen bestimmter Hirn- 
territorien ja schon lange bekannt; denn beim sog. Kernikterus findet 
sich eine Gelbfarbung gewisser Nervenkerne des Hirnstammes. Ferner 
wurde neuerlich von Spatz 6 ) ti. a. die besondere histochemische Struktur 
bestimmter Hirngebiete an der Hand des Eisengehaltes aufgedeckt. 
Ob dieses Gehirneisen in einem Zusammenhang mit der Leber steht, ist 
fraglich, die Moglichkeit ist bei der wichtigen Rolle derselben im int<?r- 
mediaren Stoffwechsel nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. 
Weiterhin sprechen noch die Tierexperimente Fuchs'') fiir enge Be- 
ziehungen zwischen Leber und Gehirn; denn dieser konnte durch Leber- 
ausschaltung mittels Eckscher Fistel Encephalitis erzeugen. Wie die 

1 ) Fortschr. d. Med. 1914. 

2 ) Wien. klin. Wochenschr. 1893. 

3) Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. 60. 

*) Zeitschr. f. d. ges. erp. Med. 26, 87. 

5 ) Klin. Wochenschr. 1922, Nr. 31. 

6 ) Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 77. 

T ) Wien. med. Wochenschr. 71. 1921. 


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Rolle der Leber bei Geistes- und Nervenkrankheiten. 


6L 


weiteren Untersuchungen Poliaks 1 ) und Kirschbaums 2 ) lehrten, lieB 
sich bei dem GehirnprozeB allerdings keine Bevorzugung des Striatums 
feststellen. Nur F. H.Lewy 3 ) konnte an phosphorvergifteten Kaninchen, 
wenn er sie friih genug totete, zuerst proliferative GefaBprozesse im 
Striatum feststellen, spater freilich fand er eine diffuse Encephalitis, 
wie bei Eckscher Fistel. Wir kennen ja nun auch in der Klinik diffuse 
Gehirnerkrankungen mit Leberveranderungen, z. B. die Eklampsie. 
In diese Gruppe gehort vermutlich auch das Delirium tremens, bei dem 
Bocstroem*) unter 26 Fallen 22mal Urobilinogenurie nachweisen konnte. 
B. entwickelt die Anschauung, daB der Alkohol chronisch Magen, Darm, 
Leber und Gehirn schadige, und daB es dann bei einem akuten Versagen 
des Leberfilters zu einer Autointoxikation des Organismus komme. 
Diese Hypothesc entspricht Vorstellungen, zu denen Bonhoeffer und 
einige franzosische Autoren durch die klinische Beobachtung gefiihrt 
worden waren. Ich selbst habe vor einiger Zeit 5 ) die Moglichkeit einer 
Leberschadigung hypothetisch zur Erklarung einer Polioencephalitis 
haemorrhagica inferior auf morphinistischer Basis herangezogen. SchlieB- 
lich beanspruchen in der Reihe der Griinde, die einen Zusammenhang 
zwischen Leber und Gehirn wahrscheinlich machen, noch die Befunde 
Kafka s und Eioalds eine Rolle, die Leberabbau nach Abderhalden bei 
vielen Fallen von Melancholie nachweisen konnten, und der Umstand, 
den R. Bauer 6 ) hervorhob, daB Galaktose im Organismus nur im Nerven- 
mark enthalten ist, wahrend der Galaktosestoffwechsel der Leber allein 
untersteht. AUe diese aufgefiihrten Griinde, deren verschiedenes Ge- 
wicht nicht zu verkennen ist, sprechen dafiir, daB die Leber bei Nerven- 
und Geisteskrankheiten eine wichtige Rolle spielt, deren nahere Er- 
forschung eine Aufgabe von groBer Tragweite bildet. 

Soil man etwas naher von der klinischen Seite in dieses Problem 
eindringen, so gilt es, zuerst zu untersuchen, ob und inwieweit sich eine 
Storung der Leberfunktion bei Nerven- und Geisteskrankheiten nach¬ 
weisen laBt. Es muB ein mogliohst groBes und verschiedenartiges 
Material herangezogen werden. Des weiteren aber handelt es sich vor 
allem um methodologische Fragen betreffs der Prufung der Leber¬ 
funktion. Das Krankenmaterial erlaubt nur Untersuchungsmethoden, 
die an die Bereitwilligkeit der Probanden keine allzu hohen Anspriiche 
stellen. Es muBten darum Methoden wie die Chromocholoskopie und 
die Galaktoseprobe von vornherein auBer Betracht bleiben. Als ein- 
fachste Methode kann die Untersuchung des Harnes auf Urobilin und 

*) Arb. a. d. neurol. Inst. d. Wiener Univ. 28. 

3 ) Vortrag in der Ges. Dtsch. Nervenarzte. 1922. 

3 ) Vortrag in der Ges. f. Psych. Berlin v. 8. V. 1922. 

4 ) Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 68. 

5 ) Monatsschr. f. Psychiatr. u. Neurol. 51. 

*) Wien. klin. Wochenschr. 32. 1919. 


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62 


E. Leyser: Klinische Bemerkungen zur Frage nach der 


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Urobilinogen gelten. Freilich wird die klinische Brauchbarkeit dieser 
Methode insofern bestritten, als Infektionskrankheiten und Blutungen 
zu einem positiven Ausfall fiihren, ohne daB eine Schadigung der Leber - 
funktion vorliegen soil. Mit dieser Einschrankung darf diese Priifung 
als zuverlassig angesehen werden, wenn sie positive Resultate ergibt, 
wahrend negative eine Leberfunktionsstorung nicht auszuschlieBen 
erlauben. Es schien uns aus diesem Grunde angebracht, nach einer 
Erganzung zu suchen; wir wandten uns darum der von Widal 1 ) ent- 
deckten Oise hemoclasique zu. Diese besteht bekanntlich in Er- 
scheinungen, die wir vom anaphylaktkchen Chock kennen, in Leuko- 
cytenverminderung, Blutdrucksenkung und Senkung des refrakto- 
metrischen Index nach EiweiBaufnahme. Widal nahm an, daB die Be- 
eintrachtigung der fonction proteopexique der Leber die oben er- 
wahnten Phanomene. hervorrufe, die er gleichfalls nach intravenosen 
Peptoninjektionen erhielt. Die weiteren Forschungen haben die theo¬ 
rems che Grundlage der Reaktion wieder erschiittert. Mautner und 
Cori 2 ) konnten den Leukocytensturz auch durch Wasserdarreichung 
allein hervorrufen und fiihren ihn auf den reflektorischen Krarapf der 
Lebervenen zuriick. Die gut funktionierende Leber gleiche die durch 
den Krarapf der Lebervenen auftretende Leukopenie kompensatorisch 
aus. Trotzdem hat die klinische Brauchbarkeit der Widalschen Probe 
warme Verteidiger gefunden. Umber , Falta 3 ), Holzer und Schilling 1 ), 
Bauer 5 ) Meyer-Estorff 6 ) haben im allgeraeinen die Befunde Widals 
bestatigt. Retzlaff 7 ) faBt seine Erfahrungen dahin zusammen, daB ein 
positiver Ausfall beira Erwachsenen in den meisten Fallen auf eine 
Leberschadigung hinweise. Nur Eisetistadl 9 ) hat kiirzlich entschieden 
dagegen Stellung genommen. Er weist darauf hin, daB die Verande- 
rungen des Blutdruckes, des refraktometrischen Index und des Blut- 
bildes sehr minimal und undeutlich seien, daB ein Leukocytensturz auch 
bei Lebergesunden vorkomme und bei Leberkranken bisweilen fehle. 
Wahrend das letztere nirgends bestritten wird, scheint das erstere etwas 
weitgehend, wenn anders man die Moglichkeit zugesteht, daB auch 
klinisch Lebergesunde funktionelle Schadigungen der Leber erleiden 
konnen, ohne daB es zu manifesten Erscheinungen derselben zu komrnen 
braucht. Eisenstadt betrachtet die Widalsche Krise mit Glaser 9 ) als ab- 

Presse med. 1920. S. 893, 

2 ) Zeitschr. f. d. ges. exp. Med. 26, H. 3/6. 1922. 

3 ) Miinch. med. Wochenschr. 1921. S. 39. 

4 ) Berl. klin. Wochenschr. 46. 1921. 

5 ) Dtsch. med. Wochenschr. 1921. S. 50. 

e ) Klin. Wochenschr. 1922. S. 890. 

7 ) Klin. Wochenschr. 1922. S. 850. 

8 ) Klin. Wochenschr. 1922. S. 1796. 

») Med. Klinik. 1922. S. 11. 


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Rolle der Leber bei Geistes- und Nervenkrankheiten. 


63 


dominellen Vagusreflex, ein Zeichen erhohter Vagatonie, der sich bei 
jugendlichen Individuen, bei Hystero-Neurasthenie und Ikterus fande. 
VVenn wir uns trotz dieser Einwande und der Unsicherheit der theore- 
sehen Grundlage zur Anwendung dieser Methode entschlossen haben, so 
wollen wir weiter unten auch kurz auf die Einwande Eisenstddts und 
Glasers eingehen. Wir glauben, bei den fur uns zur Untersuchung 
kommenden Kranken manche Leberfunktionsstorung mittels der 
Widalsehen Probe aufgedeckt zu haben, die uns allein mit der Unter¬ 
suchung des Harnes auf Urobilin entgangen ware. Leider sind wir bei 
der Handhabung der Widalsehen Priifung bei Geisteskranken haufig auf 
Schwierigkeiten gestoBen, so daG wir nur 34 Falle mit beiden Methoden 
untersuchen konnten. Wir haben unsere Untersuchungen, soweit es die 
Urobilinurie betrifft, noch auf 40 weitere Falle ausgedehnt. 

Das Ergebnis der Untersuchung ist aus den folgenden Tabellen zu 
ersehen. 


Name 

Diagnose 

Widal 

Urobilin 

Urobih- 

nogen 

1. Ges. 

Encephalitis epid. 

o 

0 

0 

2. Ri. 

»♦ 99 

0 

0 

0 

3. Schii 


0 

0 

0 

4. Lei. 

99 

+ 

0 

0 

5. Ja. 

Paralysis agitans 

"T 

0 

0 

6 . Ra. 

Chorea chron. progr. 

0 

0 

0 

7. Eb. 

Wilsonsche Krankheit 

0 

0 

0 

8 . En. 

Alkoholismus 

0 

0 

0 

9. Ha. 

99 

*4" 

0 

0 

10. Sche. 

Epilepsie 

0 

+ 

+ 

11. Qn. 

99 

0 

0 

0 

12. Neb. 

99 

0 

4- 

4- 

13. Ho. 

Dementia praecox 

0 

0 

0 

14. Nei. 


0 

0 

0 

15. Fe. 


0 

0 

— 

16. Za. 


0 

0 

— 

17. Kb. 


0 

0 

— 

18. Di. 

M 99 

0 

+ 

0 

19. Em. 


0 

0 

— 

20. Gl. 


0 

0 

0 

21. Schl. 

Degenerationspsychose 

0 

0 

— 

22. Mu 

Manie 

4- 

0 

0 

23. Ma. 

Melanchobe u. Diabetes 

4 - 

0 

0 

24. St, 

Alteremelancholie u. Art.-Skier. 

0 

+ 

4- 

25. Bi. 

Arteriosklerot. Insult 

4- 

0 

— 

26. Ki. 

Traumat. Psychop. 

4" 

0 

0 

27. Mo. 

Muskeldystrophie 

0 

0 

0 

28. Do. 

Traumatische Lahmung 

0 

4~ 

4* 

29. Dii. 

Progressive Paralyse 

0 

0 

0 

30. Ka. 

Imbecillitat 

0 

0 

0 

31. Tho. 

Multiple Sklerose 

0 

0 

0 

32. Bo. 

Hysterie 

0 

0 

0 

33. Ble. 

Assent. Tremor 

0 

0 

— 

34. Kro. 

Atyp. Psvchose 

+ 

0 

0 


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64 


E. Leyser: Klinische Bemerkungen zur Frage nack der 


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Bei dem ersben Falle handelt es sich um eine jugendliche Encephalitis 
mit Charakterveranderung und peripherer Facialislahmung. Die 
nachsten 3 Falle sind typische chronisch progressive amyostatische 
Encephalitiden; es fand sich niemals Urobilin und Urobihnogen, einmal 
ein positiver Widal. Die Falle 6 bis 9 sind Striatumaffektionen, es fand 
sich nur ein positiver Widal. Besonders hervorzuheben ist, daC unsere 
Priifungen bei dem Falle Wilsonscher Kranklieit negativ verliefen; doch 
fanden sich hier auffallend niedrige Ausgangswerte der Leukocyten, 
so daB man versucht ist, mit Meyer-Estorff 1 ) von einer Art Dauerkrise 
zu sprechen. Bei den 2 Fallen von Alkoholismus fand sich ein positiver 
Widal, dagegen einmal Urobilinurie, unter 8 Fallen von Dementia 
praecox niemals positiver Widal, dagegen einmal Urobilinurie. Unter 
den 4 Fallen, die zu den Degenerationspsychosen im Sinne Schroders 
gehoren, 2mal positiver Widal und einmal Urobilinurie. Freilich zeigt 
der eine Fall mit Leukocytensturz daneben einen Diabetes, l>ei dem 
Widal selbst haufig einen solchen gefunden hat. Ein Fall von arterio- 
sklerotischem Insult und einer von traumatischer Psychopathic zeigen 
gleichfalls positiven Widal, iiber Fall 34 wollen wir am SchluB unse- 
rer Arbeit eingehend berichten. Bei einer alten traumatischen Lah- 
mung fand sich Urobilinurie. Nie stimmen Urobilinurie und Widal 
iiberein. 

Die Befunde beziiglich des Vorkommens von Urobilin und Uro¬ 
bilinogen im Harn haben wir in der folgenden Tabelle zusammengestellt: 


! 

Diagnose 

Positiver 

Ausfall 

Negativer 

Ausfall 

Summe der 
untersuchten 
F&lle 

Encephalitis. 

1 

4 

5 

Stri&re Affektionen. 

0 

3 

3 

Alkoholismus. 

1 

3 

4 

Epilepsie. 

2 

3 

5 

Degeneratives Irresein. 

2 

10 

12 

Dementia praecox. 

3 

13 

16 

Multiple Sklerose. 

1 

2 

3 

Neurasthenic. 

1 

1 

2 

Hysteric. 

0 

5 

5 

Verschiedenes. 

1 

18 

19 

1 

12 | 

62 

74 


Es kann also bei jeder Erkrankung Urobilin im Harn auftreten; denn 
ohne Frage hatte man, wenn man die Untersuchungen fortgesetzt hatte, 
auch bei Striatumaffektionen und bei Hysteric einen solchen Befund er- 
heben kbnnen. Boenheim 2 ), der diese Untersuchungen gleichfalls an- 
gestellt hat, fand Urobilinogenurie bei den verschiedensten Nerven- 

1 ) Klin. Wochenschr. 1922. S. 890. 

*) Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 60. 


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Rolle der Leber bei Geistes- und Nervenkrankheiten. 


65 


krankheit-en, einraal bei Epilepsie, einmal bei Migriine und einmal bei 
Hysterie, ofters bei Encephalitis und bei Pseudoskierose. Dieses Er- 
gebnis stimmt also vollig mit dem unserigen iiberein. Boe.nheim nimmt 
ein Zentrum fur die Gallenabsonderung im Subthalamus an, dessen 
Affektion er fiir diese Erscheinung verantwortlich macht. F. Frankel 1 ) 
ist ihm in dieser Auffassung beigetreten. Wir mochten die Deutung 
dieses Ergebnisses weiter unten etwas \orsichtiger formulieren. 

Halt man dieses Ergebnis mit dem der Widalpriifung zusammcn, so 
ergibt sich eine gute Gbereinstimmung. Auch bei dieser finden wir eine 
ganz regellose Verteilung, die noch dazu verschieden ist mit der Ver- 
teilung der Urobilinurie. Nach mundlicher Mitteilung hat auch P. Matz- 
dorf eine ausgesprochene Regellosigkeit beim Ausfall der Widalprobe 
festgestellt. Unter diesen Umstanden erhebt sich natiirhch die Frage, 
ob unsere Methoden iiberhaupt die Storung der Leberfunktion nach- 
weisen. Wir haben schon oben dargelegt, da II ein Zweifel an dieser 
Brauchbarkeit kaum erlaubt ist. Nur konnen wir jede Funktions- 
storung der Leber nicht mittels einer Methode nachweisen. Man hat 
deshalb auf Storung von Partialfunktionen der Leber geschlossen. Ich 
mochte mich auf Grund meines geringen Materials in dieser Frage nicht 
entscheiden. Jedenfalls ist eine Storung der Leberfunktion — sei es 
welcher Art sie wolle — in jedem Fall, in dem eine Probe positiv aus- 
fallt, wahrscheinlich. 

Das Ergebnis mit seiner volligen Regellosigkeit erlaubt naturgemaB 
in erster Linie negative Schliisse. Es ergeben sich weder regelmaBige 
Beziehungen zu bestimmten Krankheiten noch zu besonderen Sym- 
ptomenkomplexen, wie Anfalle, Depressionen, Delirien odcr dystonisches 
Syndrom. Man kann also nicht, wie ein Untersucher vorschlug, die 
Lrobilinogenurie als differentialdiagnostisches Merkmal zwischen endo- 
genen und symptomatischen Psychosen benutzen. Jeder Fall von 
Parkinsonismus nach Grippe Encephalitis bot durchaus nicht Zeichen 
von Leberstorung, wie angegeben wurde, und man muB darum wohl 
auch auf die Ausgestaltung darauf gegrundeter Hypothesen verzichten. 
Der eine Fall von Paralysis agitans, den ich untersuchen konnte, zeigte 
zwar Leukocytensturz, gleich den Befunden F. H. Lein/s und Dresels 
<1. c.), aber diese selbst geben zu, daB dieses Phanomen nicht regelmaBig 
sei. F. Frankel (1. c.) fand es in 50% seiner Falle. R. Stahl 2 ) unter- 
suchte 11 Falle von strio-lenticularem Symptomenkomplex; er fand den 
Widal 7mal positiv und 4mal negativ. Bei der StrauBschen und der 
Faltaschen Leberfunktionspriifung ergaben sich nur 2 schwach positive 
Resultate. 

1 ) Diskussionsbemerkung in der Gesellschaft f. Psych, u. Xeur. Berlin, vom 
5 V. 1922. 

2 ) Klin. Wochenschr. 1922. Nr. 47. 

Archlv fflr Pgychiatrle. Bd. 68. 5 


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E. Leyser: Klinische Bemerkungen zur Frage nach der 


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Trotzdem ist es aber angezeigt, die Interpretation unseres Ergeb- 
nisses uber die negative Seite hinaus fortzusetzen. Was lehrt es uns in 
bezug auf das Problem, von dem ausgehend wir zu unseren Unter- 
suchungen schritten, was lehrt. es uns iiber die Rolle der Leber bei 
Nerven- und Geisteskrankheiten ? Hierin zeigt es unseres Erachtens 
einwandfrei, daB diese Rolle wohl katim einheitlich ist. Bisher handelte 
es sich in der Diskussion, namentlich des Morbus Wilson, meist urn die 
Frage, ob die Leberstorung primar oder sekundar sei. Wir haben ein- 
gangs die Stellungnahme der verschiedenen Autoren bereits dargelegt 
und weisen in diesem Zusaminenhange nochmals auf die Auffassungen 
Wilsons, Westphala, Bostrooms, Boenheims u. a. hin. Wir wollen im 
folgenden den Argumenten naher treten, die fur eine pri mitre Rolle der 
Leber in diesem Mechanismus sprechen. Man hat fur die Leber eine 
entgiftende Funktion in Anspruch genommen, und der Ausfall bzw. die 
Herabsetzung dieser Leistung soli zu einer Autointoxikation des Orga- 
nismus fiihren. Diese Anschauung ist besonders auf Grund der Tier- 
experiraente Fuchs' gebildet (1. c.), der durch Leberausschaltung bei 
Hunden Encephalitis erzeugte. Die Moglichkeit einer Beeinflussung 
des Gehirns durch Leberausschaltung bzw. durch Leberschadigung 
auf toxischem Wege ist durch die weiteren experimentellen Studien 
F. H. Lctcys und Pinkussens 1 2 ) und Kirschbaums erhartet worden. IVlan 
hat nun zwei Wege, um die Folgen von Leberschadigungen auf das Ge- 
hirn zu studieren; der eine besteht in der histopathologischen Er- 
forschung der anatomischen Veranderungen im Gehirn. der andere in 
der genauen klinischen Analyse der nervosen Folgeerscheinungen bei 
Leberkranken. Beide Wege sitid wiederholt beschritten worden. Die 
pathologisch-anatoraische Kontrolle der tierexperimentellen Arbeiten 
wurde von Poliak , Kirschbaum und F. II. Leivy ausgefiihrt und ergab, 
wie bereits obcn erwahnt, eine ubiquitiire Ausbreitung degenerativer 
und entzundlicher Vorgange im ganzen Gehirn ohne ausgesprochene 
Bevorzugung bestimmter Hirnterritorien. Als Grundlagc der beob- 
achteten degenerativen Gehirnerkrankung erweist sich eine schwere 
toxischc GefaBwanderkrankung, bzw. das toxische Odem des Ge- 
hirne8. Eigentiimlich war eine zuerst von Levi-) beobachtete Gliazell- 
umscheidung der MarklagergefaBe, die von Poliak als ,,Schutzwall gegen 
eindringende Toxine“ gedeutet wurde. Ahnliche Erscheinungeu be¬ 
obachtete man bei akuter gelber Leberatrophie (Kirschbaum 3 ), wenn 
auch hier die degenerativen Prozesse iiber die entziindlichen iiberwiegen. 
Auch hier fand sich auBer besonders hochgradiger Verfettung im Stria- 


1 ) Vortrag in der Ges. Dtscli. Nerveniirzte. 1921. 

2 ) These de Paris. 1896. 

3 ) Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 77. 


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Rolle der Leber bei Geistea- und Nerve nkrankheiten. t>7 

turn keine Bevorzugung bestimmter Hirngebiete. So zeigen die patho- 
logisch-anatomischen Ergebnisse gewisse, iiber das ganze Gehirn aus- 
gebreitete Prozesse von degenerativera Charakter als Folgen von Leber- 
schadigung. Die klinischen Studien haben zuerst beim einfachen 
Ikterus eingesetzt. Bekannt sind dabei psychische Erscheinungen, wie 
Verstimraung, hypochondrische Vorstellungen, EntschluBlosigkeit, wo- 
zu sich als nervose Symptome Hautjucken, Schwindel und Pulsver- 
langsamung gesellen. Freilich sind diese Storungen nicht iramer gleich 
ausgesprochen; sie erinnern in gewisser Weise an die Symptome der 
Melancholie. Ira allgemeinen werden sie auf das Kreisen von Gallen- 
s&uren im Blute zuriickgefuhrt. Die nervosen Symptome ahncln vagi- 
schen Reizerscheinungen. Bei der Lebercirrhose werden fast nie nervose 
Symptome beobachtet, was bei dem chronischen Verlauf erklarlich ist; 
doch haben wir ja schon oben darauf hingewiesen, daB dieselbe zum 
Delirium tremens disponieren soil. Bei der akuten gelben Leberatrophie 
fehlen nie stiirmische nervose Symptome, wie Somnolenz, Verwirrtheit, 
Delirien und Koma. Bisweilen finden sich auch Krampfanfalle im 
Beginn (G. Meyer 1 ). Diese Bilder stehen durchaus den Intoxikations- 
psychosen nahe; hier darf man wohl von einer toxisclien Wirkung der 
Leberzerfallsprodukte sprechen. Von besonderem lnteresse sind noch 
die kataleptischen Symptome bei gutartigem Ikterus der Kinder. 
Dramsch 2 ) berichtete davon, dali bei einem anscheinend epidemisch 
auftretenden Ikterus einzelne Kinder im Alter von 1 ’/ 4 bis 7 Jahren 
ausgesprochene kataleptische Starre (Flexibilitas cerea) bis zur Dauer 
von 9 Tagen mit Apathie und geringer Nahrungsaufnahme aufwiesen. 
Ahnliche Beobachtungen teilen Rehn, Auerbach und Striimpell mit. 
Es lassen sich iiber die Tragweite dieser Erfahrungen nur schwer Er- 
orterungen anstellen, solange uns das Zustandekommen kataleptischer 
Symptome selbst unbekannt ist. Es darf hier wohl daran erinnert 
werden, dali von einigen Seiten, besonders unter dem Eindruck der Er¬ 
fahrungen mit der Encephalitis epidemica, eine Lokalisation dieser 
Phanomene in den subcorticalen Ganglion vermutet worden ist. Eine 
endgiiltige Stellungnahme scheint zurzeit noch unmoglieh. Die Ergeb¬ 
nisse der pathologisch-anatomischen und der klinischen Studien der 
nervosen Folgezustande nach Ixdterschadigung lassen sich noch nicht 
in Beziehung setzen. Die ersteren stehen mit keiner bestimmten 
Geistes- oder Nervenkrankheit in Analogic, sondern erinnern nur an 
manche Befunde bei Intoxikationen, wie Phosphor u. a., die letzteren 
zeigen gewisse oberflachliche Ahnlichkeiten mit depressiven, dehrosen 
und kataleptischen Symptomen, ohne doch eine tiefere Verwandt- 


J ) Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. 63. 

2 ) Berl. klin. Wochenschr. 1898. 

5* 


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E. Leyser: Klinische Bemerkungen zur Frage nach der 


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schaft zu beweisen. Priift man alle diese Resultate naher, so erscheint 
es doch aufs auBerste fragwtirdig, ob man auf dieser schwankenden 
Grundlage kiihne Hypothesen vom hepatogenen Charakter bestimmter 
nervoser oder psychischer Erkrankungen errichten darf. Die primare 
Rolle der Leber ist bisher nirgends bewiesen, selbst nicht beim Delirium 
tremens, wo sie uns noch am wahrscheinlichsten diinkfc. Trotzdem laBt 
sich noch nichts Endgiiltiges sagen und vielleicht werden wir doch noch 
nervose Erkrankungen kennenlernen, in deren Genese die Leber die 
primare Rolle spielt. 

Wir gehen nun dazu iiber, die Griinde zu priifen, die fiir eine sekun- 
dare Rolle der Leber sprechen. Im AnschluB an die Knrplus-Kreidl- 
schen Lehren von den vegetativen Zentren im Gehirn muBte auch der 
Gedanke auftauchen, ob nicht von einer bestimmten Stelle des Gehirns 
auch die Leberfunktion abgeandert. werden konne. Besonders ist 
Boenheim (1. c.) dafiir eingetreten. Er hat ein Zentrum fiir die Gallen- 
absonderung im Subthalamus vermutet. Dabei hat er auf die Sym- 
pathicusveranderungen bei der Leuchtgasvergiftuug verwiesen, die be- 
kanntlich dort oft Erweichungen hervorrufe. Ahnlich spricht F. Frdnkel 
(1. c.) von eitiem nervosen Leberzentrum. So haben auch K. Dresel und 
F. II. Levnj (1. c.) ihre Befunde bei Paralysis agitans so gedeutet, daB es 
sich um eine dauernde schadigende Wirkung auf die vegetativen Kerne 
des Hirnstammes durch vagiseh wirkende Substanzen, wie Histamin 
und Histidin handele. Dieselben Autoren 1 ) haben bei Paralysis agitans 
auch eine Stbrung der Blutzuckerregulation gefunden, die sie auf den 
Nucleus periventricularis im Hypothalamus beziehen. Hierher gehoren 
meines Erachtens auch die Beobachtungen iiber den Blutzucker bei 
Psychosen, wie sie von Kooy' 1 ), Heidema 3 ), O. Wuth*) u. a. angestellt 
worden sind. Es ist aber, wie nochmals hervorgehoben sei, auBer bei 
anderen Nervenkrankheiten auch beim Morbus Wilson und bei der 
Pseudosklerose eine sekundare Lebererkrankung angenommen worden, 
und dies zwingt uns zu einer Kritik an den zugrunde liegenden An- 
schauungen. Was wird denn eigentlich unter diesem Leberzentrum 
verstanden? Meist sprechen sich die Autoren iiberhaupt nicht naher 
aus, bisweilen soli es ein Zentrum fiir die Gallenabsonderung sein. 
Offenbar besteht aber, namentlieh wenn cirrhotische Prozesse in der 
Leber als ausgelost gedacht werden, die Vorstellung cines trophischen 
Leberzentrums, und hiergegen kann gar nicht genug Einspruch er- 
hoben werden. Nichts berechtigt zu dieser phantastischen Annahme; 


*) Zeitschr. f. d. ges. exp. Med. 26, 922. 

2 ) Brain. 1909. 42. 

3 ) Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 1909. 48. 

4 ) Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 1921. 64 und Untersuchungen iiber 
die korperlichen Storungen bei Geisteskranken. Berlin 1922. 


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Rolle der Leber bei Geistes- und Nervenkrankheiten. 


69 


wir kennen nirgends ein solches trophisches Organzentrum, etwa fiir 
die Nieren oder die Speicheldriisen. Immer untcrliegt nur die Funktion 
ties Organs der nervosen Regulation; nur die Muskulatur und die Haut 
sind, soweit uns bekannt ist, trophischen Einfliissen von seiten des 
Nervensystems ausgesetzt, und auch hier ist die Trophik in ihrem 
Mechanismus noch bei weitem nicht aufgeklart. Jedenfalls ist es meines 
Erachtens nicht erlaubt, ein solches hypothetisches trophisches Leber - 
zentrum zu substituieren. Vielmehr miissen wir, wenn wir von einer 
nervosen Beeinflussung der Leber sprechen, zuvorderst die anatomische 
und phvsiologische Bedeutung der zur Leber ziehenden Nerven be- 
riicksichtigen. Nach den Feststellungen von L. R. Muller und Ordering 1 ) 
geht die antagonistische Vagus-Sympathicuswirkung auf das Leber- 
glykogen iiber die Nebennieren (auch indirekt iiber die Speicheldriisen). 
Der Sympathicusbahn ist ein Zentrum im Hypothalarnus iibergeordnet. 
Der EiweiBstoffwechsel wird durch den Vagus gehemmt und durch den 
Sympathicus gefordert. Die Gallenbildung erfahrt umgekehrt Forde- 
rung durch den Vagus und Hemraung durch den Sympathicus. Hier- 
aus erhellt, daB auch eine zentrale Beeinflussung der Leber, je nach 
ihrem Angriff in den einzelnen vegetativen Zentren, sich in ihren ein- 
zelnen Funktionen manifestieren ward, daB aber kein einheitliches Leber- 
zentrum als solches wahrscheinlich ist. Durch einen Vagusreiz wird 
beispielsweise die Widalsche Priifung, die ja auf dem EiweiBstoffwechsel 
beruht, positiv ausfallen konnen. Gber den nervosen Mechanismus der 
Beeinflussung des Urobilinstoffwechsels sind wir nicht unterrichtet. 
Aber auch hier diirfen wir wohl ahnliche Verhaltnisse wie bei der Gallen- 
sekretion verrauten, so daB sich ein Sympathicusreiz als Storung kund- 
tun durfte. Es diirfte nun durchaus berechtigt sein, bei einer ganzen 
Reihe von Nerven- und Geisteskrankheiten den positiven Ausfall der 
Widalschen Probe und die LIrobilinurie als solche vagotonische bzw. 
sympathicotonische Svmptome aufzufassen. Insofern besteht also eine 
Cbereinstimmung mit den oben dargelegten Anschauungen Glasers und 
Eisenstadts. Hier wiirde also eine Beeinflussung der Leberfunktion vom 
Zentralnervensystem stattfinden, und die Rolle der Leber ware sekun- 
dar. Dagegen kann ich mich nicht entschlieBen, bei jenen Krankheiten, 
bei denen es zu anatomischen Prozessen in der Leber kommt, die Rolle 
der Leberaffektion als sekundar zu betrachten, mindestensso lange, als 
jenes hvpothetische trophische Leberzentrum nicht erwiesen ist. 

Somit konnen wir als vorlaufiges Ergebnis der Interpretation unserer 
Untersuchungsresultate folgendes buchen: 1. Eine primare Rolle der 
Leber in der Pathogenese ist nirgends bewiesen, beim Dehrium tremens 
aber nicht unwahrscheinlich. 2. Der positive Ausfall der Widalschen 


') KongreB f. inn. Med. 4, 22. 


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70 


E. Leyser: Klinische Beraerkungen zur Frage nach der 


Probe und das Auftreten von Urobilinurie bei niehreren unserer Falle 
sind vermutlich als vagotonische resp. sympathicotonische Symptome 
von seiten der Leber zu werten, und dies erklart auch ihre regellose Ver- 
teilung. Hier spielt also die Leber eine sekundare Rolle. 

Mit diesen vorbesprochenen Moglichkeiten ist nun aber die Rolle der 
Leber bei Geistes- und Nervenkrankheiten nicht erschopft, sondern 
ohne Zweifel kann die Erkrankung der Leber auch der Psychose bzw. 
Neurose koordiniert sein, kann gemeinsame Folge einer dritten Schad- 
lichkeit sein. Eine solche Noxe, die zugleich das Gehirn und die Leber 
angreifen kann, ist uns in der Spirochaete pallida bekannt; freilich ist 
hier diese Gemeinsamkeit recht lose und nur seiten findet sich die Lues 
des Zentralnervensystems mit der der Leber vergesellschaftet. Fester 
verkniipft ist die Gehirnerkrankung mit der Leberveranderung bei der 
Eklampsie, auf die wir eingangs schon kurz liinwiesen. Es soli hier 
nicht in die noch in vollem FluB bcfindliche Diskussion liber diese Er¬ 
krankung eingegriffen werden. Es scheint aber doch angebracht, darauf 
aufmerksam zu machen, daB die hepatotoxamischc Theorie Pinards und 
Sippels (1. c.), wie H. W. Schdnfeld 1 ) letzthin zusammenfassend nach- 
wies, nicht zu Recht besteht, sondern daB die Leberveranderungen 
ebenso die Folge der Vergiftung sind wie die Krampfe. Schdnfeld hat 
dafiir eine Vergiftung mit lipoidloslichen, aus der Placenta stammenden 
Stoffen verantwortlich gemacht. Fahr-) hat kiirzlich betont, daB die 
Leberveranderungen bei Eklampsie auf 3 Komponenten schlieBen 
lassen, erstens auf GefaBverstopfung mit ihren Folgen, die ihrerseits 
wieder auf blutalterierende, gerinnungserregende Eigenschaften des 
Eklainpsiegiftes zuriickzufiihren sind, zweitens auf eine direkte toxisclie 
Beeinflussung der GefaBwande und der Leberzellen und drittens GefaB- 
krampfe. Da die Nierenveranderungen ahnliche Verhaltnisse bieten, 
schlieBt sich Fahr der Toxintheorie der Eklampsie an und lehnt die 
Auffassungen Volhards und Zangemeislers ab. Ileynemann 3 ) hat von 
klinischer Seite ebenfalls die Ansicht ausgesprochen, dafi wir ohne An- 
nahme eines Toxins nicht alle Erscheinungen der Eklampsie einwandfrei 
erklaren konnen. Er hat auch, was fur unsere Methodik von besonderem 
Interesse ist, darauf hingewiesen, daB alle iiblichen Funktionspriifungen 
der Leber sehr haufig normal ausfallen. Wir haben in der Eklampsie 
also den Typ einer Erkrankung vor uns, bei dem Leber- und Gehirn- 
schadigung Folge einer dritten, noch unbekannten Noxe sind. Hier 
mochten wir noch einmal auf die Wilsonsche Krankheit verweisen, bei 
der von niehreren Seiten Gehirn- und Lebererkrankung ebenfalls als ko¬ 
ordiniert aufgefaBt werden. 

*) Arch. f. Gyniikol. 115. 1921. 

2 ) Klin. Wochenschr. 1922. Nr. 48. 

3 ) Klin. Wochenschr. 1922. Nr. 48. 


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Rolle der Leber bei Geistes- und Nervenkrankheiten. 


71 


Auf Grund neuerer Erfahrungen erscheint es mir aber hochst frag- 
lich, ob die Reihe dieser Erkrankungen, bei denen Gehirn und Leber 
zugleich affiziert werden, schon abgeschlossen ist. Als Beleg fur diese 
Ansicht mag folgender Fall dienen. 

K. K., lTjiihriger Mann, stammt aus gesunder Familie. Eins der Geschwister 
an „Dickdarmgeschwiir“ gestorben, Eltern und iibrige Geschwister gesund. Pat. 
wurde normal geboren, entwickelte sich regelrecht, war auffallend brav. Im Schul- 
alter hat Pat. „Gichtem“. Er war ganz steif an den Beinen; man konnte die Bett- 
decke nicht anriibren. Die Krankheit kam jedes Friihjahr wieder. Nach einigen 
Jahren verschwand sie. In der Schule 
lemte Pat. schlecht, war sehr still. Er 
ging gem in die Kirche. Mit 14 Jahren 
kam Pat. in die Gartnerlehre, blieb in 
einer Stelle, hat ausgelernt. Im Friih¬ 
jahr vor 2 Jahren erkrankt, wurde 
gelb im Gesicht, lief viel triebartig 
weg, wurde sehrreizbar, war sehr ruhig 
und still, aB nicht mehr, lag langere 
Zeit zu Bett. Er klagte iiber Kopf- 
schmerzen, sprach unsinniges Zeug 
und mit sich selbst, beschimpfte seine 
Eltern. Dann ging es mit Abklingen 
der Gelbsucht wieder besser. Pat. war 
ruhig und fing wieder an zu arbeiten, 
hatte allerdings oft Schwierigkeiten 
mit seinem I^ehrherrn wegen seiner 
Unvertriiglichkeit. Voriges Jahr er- 
krankte Pat. Ende Mai wieder an Gelb¬ 
sucht und verhielt sich ebenso. Dieses 
Jahr begann die Krankheit in ahn- 
licher Weise. Er aB wieder nicht, 
wurde gelb und redete irr. Pat. blieb 
aber nicht ruhig. Er lieB sich nicht zu 
Hause halten, trieb sich herum, nahm 
Geld weg, um es an Kinder zu ver- 
schenken. Auf Ermahnungen wurde er wie rasend, schlug seine Mutter, ging auf 
den Vater mit dem Messer los. Bei der geringsten Kleinigkeit begann er zu 
zittern, wurde gelb im Gesicht, machte starre Augen, ging ganz brutal gegen die 
Umgebung los, war kaum zu bandigen. Nach dem Anfall war er ganz ab und lag 
stdhnend zu Bett, um dann still wiederzukommen. In den letzten 8 Tagen vor 
der Aufnahme aB er gar nichts mehr und hatte fast jeden Tag solche Anfalle. 

Bei der Aufnahme im August 1922 zeigte sich Pat. als kraftig gebaut. Seine 
Gesichtsziige erinnern durch Schiefstellung der mandelformigen Augen etwas ans 
Mongoloide, ohne daB sonstige Symptome in dieser Richtung vorhanden waren. 
Die Gesichtshaut zeigte eigentiimlich schmutzig-blaBgelbe Farbung. Die inneren 
Organe waren gesund, im besonderen zeigte sich die Leber nicht vergroBert oder 
verhartet. Im Ham war weder Urobilin noch Urobilinogen nachzuweisen. Die 
Widalsche Probe ergab einen Leukocytensturz von 5200 auf 3700. also von etwa 
25%. Der Nervenstatus war normal, ebenso die elektrische Erregbarkeit. 

Sein VVesen war eigentiimlich stuinpf und uninteressiert. Er gab zogernde, 
schwerfiillige Antworten. Er bestatigte die Angaben der Mutter iiber seine Krank- 



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72 


E. Leyser: Klinische Bemerkungen zur Frage nach der 


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heit, wuBte keine Erkl&rung fur seine Wutanfalle; das komme so liber ihn. Nachts 
schreie er manchmal angstlich auf, doch davon wisse er nnr aus Erzahlungen der 
Angehorigen. 

In der nachsten Zeit war er noeh sehr zuriickhaltend, lachelte oft grundlos 
vor sich hin, doch gewohnte er sich bald an die Umgebung und gab sich freier. 
Bei wiederholter Exploration suchte Patient seine Wutanfalle damit zu begriinden, 
daB er gereizt wiirde. Dann beginne es in ihm zu zittem und zu brummen und er 
sclilage sinnlos um sich. Vor ein paar Monaten habe er einen solchen Anfall auch 
in der Trunkenheit gehabt. Hinterher wisse er nicht, was er getan habe. Ira Winter 
bekomme er, auch wenn er gereizt werde, nie solche Anfftlle. 

Intellektuell erwies sich Pat. als ganz geweckt beiin Bildererklaren, Erlautern 
absurder Fragen und Auffinden von Unterschieden, wahrend seine Schulkenntnisse 
und seine Rechenleistungen recht gering waren. 

Nach etwa 3 Wochen beschaftigte sich Pat. regelmaBig und fleiBig auf der 
Station und vertrug sich im allgemeinen recht gut mit den Mitkranken. Ein oder 
das andere Mai bekam er Handel und schlug dann recht brutal um sich. Ende 
September klagte Pat. noch iiber Zustande, bei denen es ihm zeitweise ganz toll im 
Kopfe werde. Er miisse sich dann ein paar Minuten aufs Bett legen. Er zeigte recht 
betriichtliche Arbeitslust und half riihrig. Im Oktober verhielt sich Pat. ruhig und 
unauff&llig und hatte keine Klagen mehr, so daB er Mitte November zur Arbeit 
nach Hause entlassen werden konnte. 

Es handelt sich also um einen 17jiihrigen jungen Mann, der in seiner 
Kindheit vielleicht eine Tetanie durchgemacht hat, der nun seit 3 Jahrett 
in jedem Friihjahr an Ikterus und einer eigentiimlichen psychischen 
Veranderung erkrankt. Die letztere besteht in abnormer Reizbarkeit, 
Wutanfallen, Verwirrtheitszustanden, angstlichen Traumen, Nahrungs- 
abstinenz, Ruhelosigkeit. Die Gelbsucht klingt ab, wahrend die psy- 
chische Beruhigung erst langsam nach wiederholten Schiiben eintritt. 
Der Pat. bietet dann das Bild eines langsamen, aber arbeitsamen, 
etwas reizbaren Menschen. 

So gewagt es erscheinen mag, auf eine einzelne Beobachtung hin 
eine neue Krankheit zu postulieren, so erscheint es hier doch angebracht; 
denn w T ir konnen unseren Fall schwerlich im Rahmen einer bekannten 
Krankheit unterbringen. Wcder scheint es sich um eine symptomatische 
Psychose bei rezidivierendem Ikterus zu handeln, noch um einen Epi- 
leptoiden mit zufallig sich wiederholender Gelbsucht. Einen ahnlichen 
Fall hat Cramer 1 ) beschrieben. Ein 54 Jahre alter Mann erkrankte seit 
mehreren Jahren jahrlich einmal an Magendarmstorung mit Ikterus. 
Dabei trat regelmaBig eine sehr angstliche hvpochondrische Stimmung 
mit ausgesprochenen Angstanfalien auf. In diesen walzte er sich auf 
dem Boden umher und bat, man moge ihm das Leben nehmen. Der- 
artige Attacken traten in unregel m a Bigen Zeitabschnitten auf. SchlieB- 
lichkames nachdreimonatigerDauerdcsletztenRezidivsderErkrankung 
zum Exitus im Koma. Autoptisch fand sich eine Pneumonie des rechten 


J ) Berl. klin. Wochenschr. 1898. 


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Rolle der Leber bei Geistes- und Nervenkrankheiten. 


73 


Unterlappens. In der Leber Maren die zentralen Lappchenpartien starker 
pigmentiert, sonst bot sich nichts Abnormes. Der Gehirnbefund war nega- 
tiv. Cramer spricht in sehr vorsich tiger Wei.se von einer ruoglichen Auto- 
intoxikation. Auslandische Autoren, wie Ferraroni 1 ), Ballet und Fame 2 ) 
haben Falle berichbet, wo epileptisehe Anfalle mit periodischem Ikterus 
einhergingen und mit ihin sich besserten, und bezeichnen sie als Auto- 
intoxikationen von hepatischem Ursprung. Alle diese Falle mochte ich 
mit meiner Beobachtung zusammenfassen; denn sie alle haben das Ge- 
meinsame, dab periodische Gelbsucht und psychische oder nervose 
Symptome auftreten, wie sie uns sonst von der Epilepsie bekannt sind. 
Diese Falle iniissen von der Epilepsie abgetrennt und als gesonderte 
nosologische Einheit betrachtet werden. Die Klinik dieser eigenart.igen 
Erkrankung konnte hier nur in groben Umrissen gegeben werden; 
weitere Forschung wird sie zu verfeinern haben. Auf einen neuen 
Naraen glaube ich vorlaufig verzichten zu diirfen. Jedenfalls aber, und 
dies war der Zweck unserer Darstellung, gehort diese Krankheit zu 
jenen, bei denen Zentralnervensystem und Leber gemeinsam, vermut- 
lich infolge einer dritten noch unbekannten Noxc, affiziert werden, und 
wir konnen uns aus den oben angefiihrten Griinden nicht zur Annahme 
einer Autointoxikation entschlieBen, zumal bei dem Cramerschen Fall 
die Autopsie keine grobere Leberveranderung ergeben hat. 

Wir haben so noch eine dritte Gruppe von Krankheiten uns heraus- 
zustellen bemiiht, bei denen Leber und Zentralnervensystem koordi- 
niert erkranken. Hier hat die weitere Forschung festzustellen, welcher 
Natur das schadigende Agens ist. Vermutlich gehort zu dieser Gruppe 
auch die Wilsonsche Krankheit. 

Zvmmmenfassung: Die Rolle der Leber bei Geistes- und Nerven¬ 
krankheiten ist nur selten primar, bisher konnte dies nur beim Delirium 
tremens wahrscheinlich gemachb werden, haufiger sekundar, wobei in¬ 
folge Betroffenseins bestimmter vegetativer Zentren Funktionsstorungen 
der Leber auftreten, die die Funktionsprufungen in positivem Sinne aus- 
fallen lassen, und schlieBlich in einer dritten Gruppe von Erkrankungen 
der Affektion des Zentralnervensystems koordiniert. Ein zu dieser 
Gruppe gehoriger Krankheitsfall ist beschriel)en. 

J ) Riv. quindic. di psichiatr. 1, 20. 1898. 

2 ) Gaz. hebdona. de med. 1902. 


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Das reaktive psychotische Syndrom und sein klinisches Bild 

hei Untersuchungshaft 1 ). 


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Von 

N. Bruchansky. 

(Aus dem InstitutGerichtlich-Psychiatrischer Expertise, gegriindet zur Erinnerung 
an Prof. W. P. Jerbsky [Dir.: Ds. E. N. Dowlmja] und der Universitatsklinik fiir 
Geisteskranke, Moskau [Dir.: Prof. D. P. B. Gannuschkin ].) 

(Eingegangen am 25. Januar 1923.) 

Psychogene psychotische Zustande bei Untersuchungsgefangenen 
sind eine von den brennendsten Fragen der gegenwartigen Psychiatrie. 
Im Laufe der letzten 25 Jahre sind verschiedenartige, im Gefangnis be- 
obachtete Krankheitsformen beschrieben worden. Ihnen wenden vrir 
uns nun zu. 

1897 beschrieb Ganser in Halle einen mit Auftreten falscher Ant- 
worten begleiteten eigentiimlichen Daramerzustand. Westpfuil, Liicke, 
Hey und andre halten diesen Dammerzustand des BewuBtseins fiir 
charakteristisch. Raecke schreibt in seiner 1922 gedruckten Abhand- 
lung, dad im Kern des Vorbeiredens eine Denkstbrung liege. Durch 
Beobachtungen gelangte man zur t)berzeugung, dall man das Ckinser- 
sche Vorbeireden nicht als ein spezifisches Syndrom einer beliebigen 
Erkrankung ansehen kann, weil es bei verschiedenartigen Geistes- 
stbrungen zutage tritt. Raecke schied die beim G'anserschen Syndrom 
von Bewegungs- und Geisteshemmung begleiteten Zustande in eine be- 
sondere Gruppe aus, die er ,,Hysterischer Stupor bei Strafgefangenen'‘ 
bezeichnete. 

Dupre hat unter dem Namen ,,Puerelisme mentale" einen dem 
G'artserschen verwandttn Zustand beschrieben, nur ist hier der Dam¬ 
merzustand dadurch ausgepragt, dall die Psyche einen infantilen Cha- 
rakter annimmt. Strdu/iler und Sterling haben an derselben Frage ge 
arbeitet. 

l ) Vortrag, gehalten auf der Psychiaterversainmlung ,,Kleine Freitage" am 
6. X. 1922 und im Moskauer Xeuropathologen- u. Psychiaterverein am 27. X. 1922. 
Im Mai desselben Jahres vorhergehende Berichterstattung des 1., 2., 3. u. 4. Falles 
auf der Jahresversammlung des I. G. P. E., im selben Monat wurde der 1. Fall im 
Psychiaterverein „Kleine Freitage' 1 demonstriert. 


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N. Bruchansky: Das reaktive psychotiscke Syndrom usw. 


75 


Aus dem erwahnten Vorbeireden entwickelte sich auch der Begriff 
,,Pseudodemenz“, beschrieben von Stertz, Schuppius, Wernicke. Hier 
finden wir dies Symptom (Vorbeireden) als selbstandigen Komplex 
frei von BewuBtseinstriibung. 

Kraepelin umgrenzte mit dem Namen ,,Gefangenenwahnsinn“ ein 
der von Bimbaum beschriebenen,,Wahnhaften Einbildung“ entsprechen- 
des Krankheitsbild. Die Beeintrachtigungs-, GroBen-, Verfolgungs-, 
Selbstbeschuldigungswahnideen, Ideen abenteuerlicher Erlebnisse und 
phantastische Konfabulationen haben hier keine Dauerhaftigkeit und 
Festigkeit, sie treten auf die Oberflache und verschwinden wieder, ohne 
zu einem Teile der Gesamtpersonlichkeit geworden zu sein; sie sind ober- 
flachlich, fliichtig, abhangig von auBeren Ursachen, mit Farbung von 
,,Spiel“ und ,,Schauspielerei“. Nach Birnbaum gleicht der Wahnaufbau 
der Wahnfabel. Weiterhin entwickelt sich der Wahn nicht. 

Kraepelin und Birnbaum sehen zwisehen der von ihnen beschriebenen 
Krankheitsform und der Hysterie einen engen Zusammenhang. ,,Den- 
noch“, sagt Kraepelin, ,,wiirde es wohl zu weit gegangen sein, hier einfach 
von hysterischen Psychosen zu sprechen. Abgesehen davon, daB immer 
nur ein Teil der Kranken Stigmata darbot, entfernt sich hier die im 
Vordergrunde des Krankheitsbildes stehende phantastische Wahn- 
bildung doch recht erheblich von den landlaufigen Gestaltungen der 
Hysterie. Anderseits hat sie unverkennbare Beziehungen zu bestimmten 
Formen der psychopathischen Veranlagung.“ Birnbaum schreibt: ,,Beim 
degenerativen Wahnvorgang handelt es sich nicht, wie bei anderen 
Psychosen, vor allem auch der Paranoia, um einen aus innerer Gesetz- 
maBigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt einsetzenden, in bestimmter 
Weise verlaufenden und an eine bestimmte Dauer gebundenen ProzeB.“ 

Diese eben besprochenen Krankheitsformen haben viel Gemeinsames 
mit den von Bonhoeffer beschriebenen ,,pathologischen Einfallen“. Es 
ist hier wohl nicht vonnoten, auf den sichtbaren Zusammenhang zwisehen 
diesen Wahnproduzierungen und der Pseudologia phantastica hinzu- 
weisen. 

Nahe verwandt den obengenannten Krankheitsbildern sind die Kut- 
?ifrschen ,,Katatonen Zustande der Degeneraten“. Einen analogen 
Symptomenkomplex beschreibt Risch. 

Hier haben wir vor uns das schizophrene Syndrom, den schizo- 
phrenen Reaktionstypus; Erscheinungen, die Frage nach der Existenz- 
moglichkeit, die Prof. P. B. Gannuschkin (1914) in seiner bezeichnenden 
Schrift (,,Die schizophrene Veranlagung“, eine Fragestellung) als Erster 
so entschieden aufgerollt hat. ,,Das schizophrene oder katatone Syndrom 
im weiten Sinne des Wortes kann bei den verschiedenartigsten seelischen 
Erkrankungen beobachtet werden; ganz genau wie alle iibrigen Syn¬ 
drome, alle anderen Reaktionstj^pen . . . DieExistenzmoglichkeit akuter 


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N. Bnichansky: Das reaktive psychotische Syndrom 


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(binnen mehr oder minder kurzer Frist giinstig abgelaufener) Psychosen 
schizophrener Artung und psychogenen Ursprungs scheint uns eine Tat- 
sache zu sein, deren Interesse und Bedeutung auBerordentlich groB 
sind.“ 

Die beschriebenen haftpsychotischen Komplexe sind miteinander 
eng verbunden. „Freilich“, meint Kraepelin, ,,wird man in Hinblick 
auf das wechselnde Verhaltnis zwischen inneren und auBeren Ursachen 
und die Verwandtschaft der verschiedenen Formen (oben beschriebener) 
psychopathischer Veranlagung untereinander nicht envarten diirfen, 
daB die hier versuchten Abgrenzungen ganz scharfe sind; vielmehr 
werden wir naturgemaB mit t)bergangsformen zu rechnen haben.‘‘ Die 
Mehrzahl der Verfasser zahlt die psychopathischen Zustande der Unter- 
suchungsgefangenen zu den hysterischen, wobei sie nur die spezifische 
Farbung, die die Haft hervorruft, betonen. Die Erforschung der Hysterie 
in den letzten Jahren fiihrte jedoch viele zur tlberzeugung. daB die 
Hysterie nicht als eine Erkrankung sui generis anzusehen sei, und daB 
hysterische Krankheitsmerkmale bei den verschiedenartigsten Krank- 
heitsformen sich zeigen konnen. ,,Sehr innig sind die Beziehungen 
zwischen der Hysterie und Psychopathic,“ schreibt Kraepelin , ,,ja, wir 
konnen sagen, daB die Hysterischen nur eine Untergruppe der krank- 
haften Personlichkeit bilden“ . . . Derselbe Autor sagt im letzten 
Bande seiner Vorlesungen: „Die Hysterie ist demnach nicht eigentlich 
eine Krankheit, sondem eine Riickstandigkeit der Willensentwicklung, 
die sich mit verschiedenartigen Krankheitszustanden vergesellschaften, 
allerdings auch als selbstandige Unzulanglichkeit der Umgebung auf- 
treten kann. Am leichtesten und haufigsten kommen daher hysterische 
Storungen dort zur Ausbildung, wo ein schwacher, hilfloser Wille un- 
gewohnlich schweren, gemiitlichen Belastungsproben ausgesetzt wird.“ 
Hoche spricht von der „Hysteriebereitschaft“ eines jeden Menschen. 
Noch deutlicher driickt es Forster aus: ,,Hysterie als Krankheit gibt es 
nicht, sondem nur eine hysterische Reaktion, und dieseist an sich nicht 
krankhaft, jeder ist mehr oder weniger diesen hysterischen Reaktionen 
geneigt.“ Bumke, der auch diese Ansicht vertritt, schlagt vor, die 
hysterische Reaktion als psychogen zu betrachten. ,,Man kam wohl zu 
der Vorstellung,“ meint Jaspers, ,,daB jeder Mensch seine ,Grenze‘ habe, 
an der er reaktiv erkranke.“ — ,,Aus der einzelnen Reaktion ohne 
weitere Kenntnis der Personlichkeit und der Begleitumstande laBt sich 
die Diagnose des Pathologischen nicht stellen“ {Bumke). „In der Regel 
ist aber“, nach der Meinung von Oppenheim, ,,bei den durch gewalt- 
same Erschiitterungen korperlicher oder seelischer Art aufgelosten 
Nervenstorungen von funktionellem Charakter eine Pradisposition und 
psychopathische Reaktion nur dann anzunehmen, wenn die Vor- 
geschichte Anhaltspunkte dafiir eigibt.“ 


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und sein klinisches Bild bei Untersuchungshaft. 


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Bei all diesen Krankheitsformen wirkt, nach Bonhoeffer, das psycho¬ 
gene Moment. Hell pack betont in seiner Abhandlung iiber die Kriegs- 
neurasthenie folgende psychische Traumen: ,,seelisches Einzelerlebnis, 
seelische Spannung, seelische Reibung und seelische Umstellung.“ 
Diese Momente sind gewiB auch stets bei den Untersuchungsgefangenen 
vertreten. 

Jaspers charakterisiert kurz das Gemeinsame der echten Reaktionen, 
wenn er, wie folgt, schreibt: ,,Wir fassen zum SchluB noch einmal zu- 
sammen, was den echten Reaktionen gemeinsam ist: Der AnlaB, der in 
enger zeitlicher Verbindung mit dem reaktiven Zustand steht, ist fiir 
unser Verstandnis zureichender. Zwischen Inhalt des Erlebnisses und 
Inhalt der abnormen Reaktion besteht ein verstandlicher Zusammen- 
hang. Da es sich um die Reaktion auf ein Erlebnis handelt, gleicht sich 
die Abnormitat im Laufe der Zeit aus. Besonders mit Wegfall der Ur- 
sache fallt auch die abnorme Reaktion fort. Dadurch steht die reaktive 
Abnormitat im Gegensatz zu alien spontan auftretenden krankhaften 
Vorgangen.“ Vom selben Verfasser wird vorgeschlagen, die reaktiven 
Zustande folgendermaBen voneinander zu trennen: 1. nach den An- 
lassen der Reaktion, 2. nach der eigenartigen seelischen Struktur der 
reaktiven Zustande, 3. nach den Arten der seelischen Konstitution, die 
die Reaktivitat bedingt. ,,Die Reaktionsformen konnen bekanntlich“, so 
meint Meyer, ,,die allerverschiedenartigsten Bilder aufweisen, deren Ein- 
teilung einstweilen noch nicht nach qualitativ einheitlichen Gesichts- 
punkten erfolgt. Sie werden bald mehr nach ihrer sozialen Wirkung 
(Querulantenwahn), bald nach dem auBeren Entstehungsmoment (Haft- 
reaktion) oder nach den klinischen Einzelsymptoinen und schlieBlich 
nach der Konstitutionsform ihre Bezeichnung erhalten.“ 

,,Selbst dort aber,“ spricht Kraepelin in seinen Vorlesungen, ,,wo die 
seelischen Einfliisse als die wirklichen Ursachen einer Storung anzu- 
sprechen sind, laBt sich in der Regel zeigen, daB eine krankhafte Ver- 
anlagung die giinstige Vorbedingung fiir ihre Wirksamkeit bildete.“ 

Bei Erorterung der psychotischen Komplexe heben die meisten Ver¬ 
fasser, hauptsachlich sich auf Kriegsmaterial stiitzend, die krankhafte 
Veranlagung in Form des einen oder andern Defektes hervor. Diese An- 
schauung vertreten: Jolly, Bonhoeffer, Forster, Morchen, Meyer, Frdnlcel 
und andere. 

Oft lassen psychotische Komplexe bei Untersuchungsgefangenen 
den Gedanken an eine Simulation zu. Ohne Zuriickweisung dieses 
Gedankens wird von Autoritaten einstimmig behauptet, daB eine reine 
Simulation ohne krankhafte Grundlage nur vereinzelt vorkomme. 
Birnhaum fiihrt Beispiele an, wo pathologische Luge, Simulation, wahn- 
hafte Einbildung, phantastischeWahnbildung und hysterischer Dammer- 
zustand eng zusammengehort und zusammenhangt. „Aus vielleicht an- 


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X. Brachansky: Das reaktive psycliotische Syndrom 


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fanglicherSimulation kann zuweilen eine Krankheit, der derKranke nicht 
widersteht, entstehen“ (Jaspers). In seiner Abhandlung: ,,Die Gesetze 
der unwillklirlichen Reflexverstarkung“ behauptet Kretschmer: ,,daB 
ganz vorwiegend solche Leute auf Vortauschung verfalien, bei denen sich 
Zeichen habitueller nervoser Minderwertigkeit mit einzelnen Unaus- 
geglichenheiten und Labilitaten oder auch mit allgemeiner Schwache 
der Personlichkeit verbindet. Diese Konstellation bezeichnet man im 
weitesten Sinne des Wortes als ,,hysterische Anlage“. A. Rosanoff meint 
daB das, was die einen alsHysterie, die andern als Simulation beschrieben, 
ein und dieselbe Erscheinung sei; Hysterie ist der Ausdruck fiir den 
medizinischen Gesichtspunkt, Simulation jedoch fiir den rechtswissen- 
schaftlichen. 

Nach Alzheimers Ansicht ist eine funktionelle und endogene Geistes- 
erkrankung nur als ,,Ergebnis der Fortentwicklung und Umgestaltung 
einer pathologischen Individualitat“ anzusehen. Die pathologische Per¬ 
sonlichkeit, die groBte Variation des Menschentypus, ist nur eine Ab- 
weichung von der Durchschnittsveranlagung (Jaspers). Nach Kraepelin 
,,erscheint es anderseits unmoglich, eine wirklich vollstandige Auf- 
zahlung aller Spielarten von psychopathischen Personlichkeiten zu 
geben. Jede einzelne seelische Unzulanglichkeit kann einmal im Vorder- 
grund des klinischen Bildes stehen, wahrend andere schwacher an- 
gedeutet sind oder fehlen, so daB sich eine unabsehbare Zahl von um- 
schriebenen Verkiimmerungszustanden ergeben wiirde, die dann noch 
alle moglichen Abstufungen zeigen konnen.“ Frdnkel halt in seiner Ab¬ 
handlung ,,Uber die psychopathische Konstitution der Kriegsneurotiker 1 ‘ 
die verschiedenartigen Psychopathieumgrenzungen fiir willkiirlich und 
uberfliissig. Bumke behauptet, daB „eine scharfe Trennung konstitutio- 
neller Anomalien und krankhafter Reaktionen schlechterdings unmog- 
lich ist . . . Nicht bloB die konstitutionelle Stimmungslabilitat, sondern 
ebenso die psychogenen Reaktionen, die krankhaften uberwertigen 
Ideen, die Psychosen der Haft, der Querulantenwahn, die Unfallsneu- 
rosen setzen eine gewisse krankhafte Anlage immer voraus. Starke An- 
lasse lassen freilich auch verhaltnismaBig riistige Menschen entglelsen, 
die Mehrzahl aber wird schon durch Schadlichkeiten aus der Bahn ge- 
worfen, die nervos ganz widerstandsfahige Personen spielend ertragen.“ 

Die Bedeutung der Konstellation wird in letzter Zeit beim Studium 
der psychotischen Komplexe besonders hervorgehoben. ,,Nach den Ge- 
setzen der Konstellationspathologie 11 , so behauptet Tendeloo, ,,gibt es 
weder ein pathognomonisches Symptom oder einen Symptomokomplex, 
noch ,,die spezifische Reaktion“. Reaktionen haben stets nur einen re- 
lativen Wert, weil sie bei verschiedenen Konstellationen auftreten und 
anderseits ausbleiben konnen, obwohl der ,,spezifische Faktor“ vor- 
handen ist, falls die Konstellation ihr Auftreten nicht ermbglicht“. — 


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und sein klinisches Bild bei Untersuchungshaft. 


79 


,,Jedenfalls“, sagt Mayer, ,,ist erst die Gesamtheit aller dieser kon- 
steUativen Momente imstande, das Unfallereignis zu einem derart be- 
stimmenden Faktor zu ruachen, da 13 erst durch diesen die fur das be- 
treffende Individuum krankhaften Storungen ausgelost werden.“ 
Nach dieser kurzen Literaturiibersicht und Erwahnung der zeit- 
gemiiBen Ansichten fiber die uns interessierende Frage will ich nun in 
kurzer Fassung einige unserer Krankengeschichten anfiihren. 

Fall 1. A., 34 Jahre alt, Abteilungschef der Arbeiter- und Bauerninspektion, 
aufgenommen aus dem Butuirky-Gefangnishospital. Aus der dortigen Kranken- 
geschichte entnehmen wir folgendes: Innere Organe gesund, Kniesehnenreflexe ge- 
steigert. die Reflexe der oberen Extremitaten normal. Schlaft die ganze Zeit. 
Keine Reaktion der Pupillen. Offnet ab und zu die Augen, blickt den ihn Auf- 
weekenden stier an und schlaft sofort wieder ein. Reagiert auf die Umgebung und 
auf Nadelstiche gar nicht. Ganz teilnahmlos seiner Futterung gegeniiber, schluckt 
aber frei. Kein Stuhlgang, urinierte nicht. Wurde katheterisiert. 5. II. ins I.G.P.E. 
iiberfuhrt. 

Aufnahmebefund: Schlafzustand, Gesichtsausdruck wie in Hypotaxie. Bleich, 
abgemagert. Puls schwach, labil. Dumpfe Herztone, zweiter Ton akzentuiert. 
Injektion von Coffein, WeineinflciBung. Pupillen verengert, reagieren auf Licht. 
Sehnenreflexe der Knie gesteigert, der oberen Extremitaten normal. Pathologische 
fehlen. Klonus der linken Kniescheibe. Exkretionstatigkeit selir herabgesetzt. 
Rachen- und Gaumenreflexe fehlen. Reagiert nicht auf Nadelstiche. Schlaft 
den ganzen Tag. Nach energischem Wecken offnet er mit Anstrengung die Augen, 
uin sie sogleich wieder zu schlieBen und weiterzuschlafen. Erwachte um 7 Uhr 
abends, bat zu essen, sagte, daB das letzte Datum, an das er sich erinnere, der 
25. Januar sei. und schlief wieder ein. Wurde katheterisiert. Die folgenden 5 Tage 
im selben Schlafzustand. Ein nahrhaftes Klistier. Trotz groBer Anstrengung ist 
es oft unmoglich, den Kranken zu erwecken. Wachte inehrmals auf einige Minuten 
auf. Paraparese der unteren Extremitaten, die Parese links deutlicher aus- 
gedriickt. Aktive, wenn auch schwache Bewegungen der linken Hand, die rechte 
kann er kaum bewegen. Bedeutende Herabsetzung der Sensibilitfit. Antwortet 
mit groBer Hemmung und Anstrengung. Zuweilen beim Sprechen riisselartige 
Lippenbewegungen. Bald recht klares BewuBtsein, bald Dammerzustand. Wenig 
zuganglich. Reagiert fast gar nicht auf die Umgebung. Gemiitsstimmung in¬ 
different. Im Laufe dieser 5 Tage nannte er wahrend des Wachseins seinen Vor- 
und Familiennamen, erziihlte, er habe 3 Kinder, sei in der „Tscheka“ gewesen, 
weshalb, wisse er nicht, zur Zeit befinde er sich im Krankenhaus, jetzt sei Januar; 
arbeitete nach der Mendelschen Theorie, vollfiihrte Experimente, kiinstliche Zeu- 
Kung betreffend. Sein Gehim werde iibertragen, dieses vollziehe sein Onkel, der 
sich mit Gehimiibertragung von Menschen auf Tiere und umgekehrt beschaftige. 
Habe hier davon seinen Onkel sprechen gehort. In seinem Kopfe befinden sich 
Schlangen, in den Augen ein Gefiihl gewisser Flecken. Klagte iiber Kopf- und 
MagenBchmerzen. 

Oft Nahrungsverweigerung, iBt im allgemeinen jedoch geniigend, ausschlieB- 
lich Fliissiges vom Loffel. Puls niedrig, labil. Uriniert selbstandig wahrend des 
abendlichen Wachseins. Erstmaliger Stuhlgang nach Klistier am 8. II. 

Noch 2 Monate lang befand sich der Kranke in solchem Schlafzustand, 
nur eine halbe bis eine ganze Stunde war er taglich wach. Im Schlafe 
vertreibt er oft mit recht stereotypen Bewegungen der linken Hand irgend etwas 
vom linken Ohr, lachte einigemal unerwartet laut auf. Beim Aufwachen sind seine 


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X. Bruchansky: Das reaktive psychotische Syndrom 


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Augen zuerst fixiert, haben einen zerstreuten, nichtssagenden Ausdruck, der dann 
miide, verschlafen, jedoeh forschend wird. Jetzt gewohnlich wahrend des Wach- 
seins ein klares BewuBtsein. Spricht wie friiher dieselben Wahnideen aus, klagt 
iiber dieselben Sinnest&uschungen, auch noch iiber Bienengesumm im Kopfe. 
Hypochondrische Beschwerden, rasonniert dariiber viel. Er kennt den Arzt, weiB, 
daB jetzt Februar ist. Erinnert sich, daB er am 25. erkrankte und vorher noch den 
Untersuchungsrichter scldagen wollte. Sclilaff, zuganglich, reagiert fast gar nicht 
auf die Umgebung. Beim Ausgefragtwerden bemiiht er sich, eine Scheidewand 
vor sich aufzurichten. Schlaf t sogleich wieder ein. wenn er seine Wahnideen, Emp- 
findungen und Klagen ausgesprochen. 

Einst erwachte er nachts, fragte forschend die Aufseherin nach ihrer friiheren 
Beschftftigung aus, erz&hlte hierauf voller BewuBtsein und lebhaft von seinem 
Leben, seiner Familie, seiner Schw&rmerei fur die Mendelsche Theorie, seinen 
gegenwartigen Sinnestauschungen. 

Einmal beim Erwachen ein trauiuahnliches BewuBtsein mit Ubergang in Ver- 
wirrung und Wahnphantasie: er ist auf dem Lande, befiehlt die Pfcrde zu putzen, 
sie zu tranken, teilt Befehle den Knechten aus, erz&hlt vom lustig verlebten gestrigen 
Abend. In den Augen eine unruhige Bewegung, dann eine scliroffe tonische Muskel- 
spannung des Korpers, Grimassen im Gesicht, Schmatzen mit den Lippen und 
Schlaf. 

Trotz des anhaltenden Schlafzustandes, der Unumganglichkeit und Unzu- 
gfinglichkeit des Kranken befand sich doch in dessen Wesen etwas, was ihn un- 
willkiirlich zum Mittelpunkt der Umgebung machte. 

Wahrend dieser Zeit nimmt er vom Loffel nur fliissige und weiche Nahrung zu 
sich. Ist in der Auswahl der Speisen, obgleich er sich im Schlaf befindet, sehr 
wfthlerisch und launenhaft. So spuckt er z. B. ein gestern zubereitetes Hiihner- 
kotelett aus, bittet einst, eben aufgewacht, uni WeiBbrot, da er schwarzes nicht esse. 

22. II. Arztliche Begutachtung (Diagnose: Katatonie), die die Uberfiihrung 
des Kranken in eine Zivil-Irrenanstalt bestimmte. Der Zustand des Kranken ver- 
andert sich stark. Sclilftft viel, aber mit Unterbrechungen. Das Wachsein wird 
offer und bfter und verlangert sich. Schlftft im allgemeinen nicht mehr als 3 bis 
4 Stunden tiiglich. Spricht im Laufe des Februars recht standhaft Verfolgungs- 
walmideen aus. Einst am Abend lieB er den Arzt zu sich rufen und erziihlte ihm, 
er habe das Gefiihl, ein Hundegehirn zu besitzen, ging darauf gleich auf laufende 
politische Fragen iiber. Das Mitgeteilte hatte den Charakter einer gewissen Ab¬ 
surdity. an die der Kranke selbst nicht zu glauben schien. Hier findet man Tendenz 
zur GroBenwahnbildung: er ist ein hervorragender und groBer Staatsmann. Er 
wiirde sofort befreit werden, wenn Lenin und Kalinin von seinem Arrest nur wissen 
wiirden; sein Arrest wiirde dem Kreml sorgfaltig verheimlicht, er miisse es nur am 
rechten Orte mitteilen und aile seine Feinde. unter ihnen auch Dscherschinsky, 
bekamen die gerechte Strafe. Er ist vollkommen unschuldig. Halluzinatorische 
Empfindungen von summenden Bienen sind seltener. Klagt jetzt iiber schwere 
Trftume. Viele hypochondrische Beschwerden. Rftsonniert. Im allgemeinen ein 
ziemlich lebhafter und interessanter Gesellschafter. Anfang Marz ist der Wahn 
bleicher und wird sehr oberflachlich. Gegen Ende des Monats klagt der Kranke 
nicht mehr iiber Halluzinationen, wird nur von sehr schweren Traumen geplagt. 

Im April miBtrauiscli: er glaubt zuweilen, es seien hier Spione, die ihn be- 
obachten. Von seinem Vergehen spricht er nie. BewuBtsein klar, genau orientiert, 
Stiinmung im allgemeinen gleichformig-ruhig, ist zwar zuweilen etwas kaprizios, 
gut informiert iiber den laufenden politischen Moment, am meisten interessiert ihn 
sein schwebendes Gerichtsverfahren. Irgendwelche Gedachtnisstorungen werden 
nicht beobachtet. Kami sich an seine Krankheit nur vom 1. bis 2. III. an erinnern. 


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und sein khnisches BiJd bei Untersuchungsliaft. 


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.Sein Vergehen (Bestechung) erwahnt er nie; meint, er wisse nicht genau, wesson 
man ihn beschuldige, es scheine jedoch der Konterrevolution, einige Mitarbeiter 
tier „Tscheka“ halten mit ihm personliche Abrechnung. 

In den Vordergrund (obgleich sich die Bewegungen der rechten Extremitaten 
ullmahlich wieder herstellen) treten jetzt die Triplegie und beinahe tagliche hyste- 
rische Anfalle, wobei der Kranke oft vom Bette auf die Diele fallt. Beschadigte sich 
kein einziges Mai dabei. Das Schlafbediirfnis wie friiher, nur ist es viel leichter, den 
Kranken aufzuwecken. 

Am 5. V. 1922 in die psychiatrische Klinik (Dir.: Prof. P. B. Gannuschkin) 
iiberfuhrt gemftB der folgendermaBen lautenden Gerichtsbestimmung: „Das Ver- 
fahren ist einzustellen bis zur Genesung des Kranken. der in eine Zivilirrenanstalt 
zu transferieren ist.“ Trotz dieser, den Kranken sehr beunruhigenden Doppelheit 
der Gerichtsbestimmung bewirkt schon allein die Gbcrfiihrung des Kranken in die 
Klinik eine scharfe Besserung in seinem Zustande. Schliift viel weniger. Erwacht 
bisweilen selbstflndig oder nach Anruf im Gespr&chston. Objektiv werden keine 
Anfalle beobachtet. Der Kranke selbst klagt liber ungefahr zweiminutenlange 
Kriimpfe in den Handen und EiiBen. Hergestellt sind wieder die Bewegungen der 
rechten Hand, die des linken FuBes beginnen sich zu zeigen. Sitzt im Lehnstuhl. 
Pupillen ungleich, prompt reagierend. Eine recht oft wechselnde Stimmung. Eine 
falsch aufgefaBte Bemerkung, eine unangenehme Mitteilung vom Laufe seiner 
Gerichtssache — all dieses andert scharf sein Selbstbefinden. Er erschlafft, sieht 
miide und bleich aus; Puls 140—150, verliert den Appetit, wird sehliifrig— einige 
beruhigende Worte und das Bild verftndert sich: wieder lebhaft, frisch, lacht und 
scherzt. Liigt viel und oft wegen Kleinigkeiten. 

Interessiert sich lebhaft fur die Umgebung. Liest viel. Sein Betragen ist im 
Beisein des Arztes viel einfacher, als wenn Fremde zugegen sind. Den Frauen 
gegeniiber etwas kokett, erzahlt viel von sich, akzentuierend „so bin ich“. Ver- 
steht es, sich interessant zu machen — immer befindet sich jemand neben ihm. 
Spricht von einer Beschuldigung als Konterrevolutionar und nur beilaufig und 
fliichtig erwahnt er die ,.dumme und abscheuliche" Anklage. Erkundigt sich, ob 
bier nicht „Tschekisten“ sich befinden. Zuweilen hypochondrische, leicht zer- 
flieBende Beschwerden neben volliger Gleichgiiltigkeit seinen Krankheitserschei- 
nungen (Schlafsucht, Paralyse) gegeniiber. 

Gegen Ende seines Aufenthaltes in der Klinik kann er schon gut gehen, klagt 
nicht mehr liber Anfalle, schlaft nicht am Tage. Ihipillen von normaler Form mit 
sehr prompter Reaktion. Hat im Gewicht zugenommen. 

Sicheres und etwas herrisches Auf treten. Ist von Verehrerinnen umringt. 
Gemiitsstimmung gleichmaBig und ruhig. Entgegenkommend, korrekt, zuriick- 
haltend, Liigenhaftigkeit und Prahlerei schwach ausgedriickt, Sein Horizont ist 
der eines mittleren Intelligenten, bei genauerer Bekanntschaft jedoch zeigen sich 
Liicken im Elementarw issen. Will sich erholen und dann ein groBes offentliches 
Amt iibernehmen. Die ihm Xahestehenden halten ihn fiir vollkommen gesund. 

9. VI. Nach vielen Bemiihungen des Bruders und dessen Burgschaft befreit. 
Nach den im August erhaltenen Mitteilungen arbeitet er viel und befindet sich wohl. 

Aus den anamnestischen Mitteilungen, gesammelt von nahen Ver- 
wandten, Bekannten und vom Kranken selbst entnehmen wir folgendes: 

Stammt aus einer ungebildeten reichen Bauemfamilie. Vater: 72 Jahre alt, 
korperhch gesund, geistig in den letzten Jahren schwachsinnig, hat einen schwarme- 
rischen, unvertraglichen, leicht erregbaren Charakter. GroBmutter vaterlicherseits: 
geisteskrank, starb fruh. Alle Briider und Schwestern: leicht erregbar. egoistisch, 
energisch, tiichtig. Eine Sj&hrige Schwester starb an traumatischer Spondylitis, 
eine andere, 24 Jahre alt. an Gehirnentziindung. Der Kranke selbst ist eine Friih- 

Archiv ftlr Psychiatric. Bd. 08. 6 


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N. Bruchansky: Das reaktive psychotische Syndrom 


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geburt, erst mit 4 Jahren begann er zu gehen und zu sprechen. Im Kindest Iter: 
Masem, Scharlach, Diphtheritis, Lungenentziindung. Sexualleben von 16 Jabren 
an. Trinkt vora 17. Jahre an, trank wahrend des Krieges viel. Im Rausche ist er 
reizbar, zuweilen aggressiv. Venerische Krankheiten negiert. Lernte sehlecht, war 
genotigt, deswegen aus dem Gymnasium auszutreten. Keine Fehlgeburt der ersten 
und zweiten Frau. Gesunde Kinder. 

Von Kindheit an lebhaft, untemehinungslustig, schlau, selbstliebend, prahle- 
risch, teilnahmsvoll, nichts nachtragend, beeinfluBbar, leicht erregbar und dann 
heftig, sehr schwarmeriscb, groCer Damenfreund. Die Gemutsstimmung schwan- 
kend: bald ist er hochst erregt und voll Mut, bald niedergedriickt. Ungeniigend 
folgerichtig in der Diensttatigkeit, verliert bald das Interesse bei systematischer 
Arbeit. In einer fur ihn neuen Sache — ein unersetzlicher Organisator, arbeitet 
dann unermiidlich, fieberhaft. Einst, im Alter von 8 Jahren, brach er nach einer 
seiner Meinung nach ungerecht erlittenen Strafe in Trfinen aus, kroch unters Bett 
und schlief ein. Schlief dreimal 24 Stunden. Durchlebte im Schlafe seine Kindheit. 
(Unangenehme Erinnerungen an Hiinselei der Spielgenossen wegen seiner Unfahig- 
keit zu gehen und zu sprechen.) 

1915, von der Front eben zuriickgekehrt, wo nach groBen Unannehmlichkeiten 
ihm das Kriegsgericht drohte, telephonierte er seinem Bruder, der ihm mitteilte, 
daB seine Lieblingsschwester an Gehirnentziindung gestorben. „Das Herz krampfte 
sich zusammen, alles wurde trube“, ein Anfall und er schlfift ein. Die erste Woche 
schlfift er ohne aufzuwachen. Im Laufe der folgenden Woche andert sich der 
Schlafzustand: Schlaf wechselt mit Muntersein. Gegen Ende der zweiten Woche 
ist er vollstandig gesund. Im Schlafe durchlebt er die unangenehmsten Episoden 
aus dem Leben mit seiner ersten Frau. 

1917 machten kiinstliche Zeugung betreffende Experiment© seines Onkels, 
sowie Gesprache iiber die mogliche Gehimiibertragung aus einem Tier ins midere 
einen groBen Eindruck auf ihn. 

Arretiert am 7.1. 1922 wegen einer groBen, allgemein bekannten Tat. Be- 
schuldigung: Erpressung und Bestechlichkeit. Am 17.1. drohte er mit Hungertod, 
wurde hierauf in Einzelhaft transferiert. Im letzten Verhor (25.1.) wurde ihm der 
im Zusammenhang mit seinem Vergehen stehende Arrest seiner Frau mitgeteilt, 
er waif sich auf den Untersuchungsrichter und begann ihm Hiebe zu versetzen; 
wurde ergriffen, kurz und lahm geschlagen. Stiirzte auf die Erde, bekarn einen An¬ 
fall und fiel in einen Schlafzustand. 2. II. transportiert ins Gefiingnishospital. 

Nun wollen wir ganz kurz diesen Fall analysieren. 

Das Krankheitsbild der ersten Zeit erinnert an Lethargie oder Stupor 
(unter diesen Namen verstehe ich hier nur die Symptomenkomplexe 
und nicht die klinischen Krankheitsformen sui generis). In der Folge- 
zeit treten Ziige katatonen Stupors immer deutlicher hervor. Auf diesem 
Krankheitsfond kann man zuweilen beobachten: Dammerzustand des 
BewuBtseins, der ,,wahnhaften Einbildung“ nahestehende Wahn- 
bildung, Traume, Halluzinationen, verbunden mit affektiv gefarbten 
Vorstellungen, Riidinsche paranoide Ziige. Der Kranke ist im Brenn- 
punktderAufmerksamkeit aller, nimmt stets sein eigenesInteresse wahr, 
ist die ganze Zeit liber reinlich. Lebhafter in Abwesenheit der Arzte 
als in ihrer Anwesenheit. Somatisch: Entkraftung, labiler Puls, Un- 
bestandigkeit der PupillengroBe und der Reaktion auf Licht, Herab- 
setzung der Exkretionsfahigkeit, hysterische Anfalle. Ursache. Ver- 


Goi.)gle 


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und sein kliniaches Bild bei Untersuchungshaft. 


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lauf und Ausgang der Erkrankung sind in engem Zusammenhang mit 
auBeren Umstanden. Seitens der Hereditat: Geisteskranke und Psycho - 
pathen. Unser Patient war in seiner Entwiekelung bedeutend'zuriick- 
geblieben; miBbrauchte den Alkohol. Die Psyche des Kranken weist 
Charakterziige der pathologischen Schwindler, Liigner und Trieb- 
menschen auf. In der Vergangenheit nach psyehischen Traumen ana- 
loge Zustande in sich enthaltcnde stark affektbetonte Erlebnisse. 

All dieses gestattet uns, von der letzten Erkrankung als von einer 
reaktiv psychotischen zu sprechen, die sich bei einer geistig defekten, 
erblich belasteten, dem Alkohol ergebenen, kbrperlich geschwiieh- 
ten Personlichkeit entwickelte. Das grundlegende klinische Bild 
baut sich nach gewohnter affektiv betonter Weise auf. In der Er¬ 
krankung selbst ist fraglos ,,Zielelement“ enthalten. 

Fall 2. X., 27 Jahre alt, aufgenommen am 20. IX. 1921. aus dem Butuirky- 
Gefangnishospital. Von der „Tscheka“ arretiert am 14. VIII. 1921 und am selben 
Tage ins Gefiingnislazarett transferiert. Beschuldigung: Konterrevolution. 

Bedeutende Abmagemng. Viel Acne. Puls labil. Durnpfe Tone. Uber und 
unter dem rechten Schliisselbein: rauhe Tone. Hiiufiger Gesichtsniuskeltic, be- 
gleitet bisweilen von Kopfzucken. Pupillcn erweitert, trage reagierend auf Lie-lit, 
Paraplegie der linken Extremitaten, Paralyse der rechten Hand und des dritten bis 
fiinften Fingers der linken. Knieselmenreflexe werden nur scliwer hervorgerufen. 
Pathologische und Klonus fehlen. Sphincter normal. Tremor der Zunge. Reagiert 
nicht auf Nadelstiche. Rachen- und Konjunktivalreflexe fehlen. Standhafte 
Derinographie. Scharf ausgepriigte Muskelwellen. 

Liegt die ganze Zeit bewegungslos auf dem Riicken. Das Gesicht aufgedunsen. 
Gesichtsausdruck gleichgiiltig, stumpf, triibe, der Blick leer. Spricht oft undeut- 
lich mit sich selbst. In den ersten zwei Tagen unzuganglieh. Antwortet gar nicht 
auf Fragen. Reagiert nicht auf die Uingebung. 

Die folgende Woche antwortet er, jedoch nicht gleich. 1st sichtlich bemiiht, 
sich zu erinnern oder das passende Wort zu finden, im allgemeinen spricht er 
zusammenhanglos mit grammatikalischen Fehlern. Mitimter ein naives kindliches 
Lacheln. Auf die Bitte, die einfachsten Gegenstiinde zu bezeichnen. sieht er einige 
davon, ohne sie nennen zu konnen. verwundert an, andere bezeichnet er nach 
einiger Unentschlossenheit richtig. WeiB nicht, wo er sich befindet, bemiiht sich 
auch nicht, es zu erfahren und bleibt vollkommen teilnahmlos, wenn man es ilnn 
erldart. Tagsiiber cine groBe Schlafrigkeit, naehts schliift er unruhig. wacht oft 
auf, fiirchtet sich vor irgend etwas. Wird mit dem Loffel gefiittert. Reinlich. 

29. IX. Abends ein hysterischer Anfall mit breiten, weit ausholenden Be- 
wegungen, Kriimmung des Korpers, wird auf dem Bette in die Hohe geworfen, 
Pupillen reagieren auf Licht, klagt nach dem Anfall liber allgemeines Unwohlsein. 

In den nachsten Tagen zugfinglicher. Antwortet gewdhnlich mit groBer 
Hemmung, zuweilen aber iiberhaupt nicht, Sagt auf die meisten Fragen: „ich 
weiB nicht“ oder gibt verkehrte Antworten, aus denen man jedoch ersieht, daB 
die Fragen richtig aufgefaBt sind. .Sieht sich von Schlangen umringt, sie kriechen 
auf seinem Korper. Hort ihr Zischen. Bittet, ihn irgendwoandershin zu placieren, 
wo keine .Schlangen sind. Anfallc beinahe taglich. Klagt iiber Kopfschmerzen. 

3. X. In die ruhige Abteilung versetzt. Zuganglicher. WeiB, daB er sich im 
Krankenhause befindet, kann aber das Datum seiner Aufnahme in dasselbe nicht 
nennen. Erinnert sich, wenn auch sehr unklar, daB er an der Front gewesen, kon- 

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N. Bruchansky: Das reaktive psychotischo Syndrom 


tusiert und vcrwundet wordcn, babe den Typhus durehgemacht, kann aber iiicht 
sagen, wann und wo; ebenso weiB er nicht, daB er arretiert ist, meint, er sei in der 
Krim crkrankt, womit er sich dort beschaftigt, dessen erinnert er sich nicht; weiB 
nicht, ob er Verwandte und Bckannte hat. wo er gelemt und friiher gelebt. Auf 
alle sich auf die Zeit der Armeen von Denikin und Wrangel beziehenden Fragen 
antwortet er: „Ich erinnere mich nicht Zahlt mit Liicken, die meisten einfachsten 
Rechenaufgaben lost er falsch, mit Charakter von „Vorbeireden“. Aufgefordert, 
etwas vorzulesen, nimmt er erst nach langer Zeit das Buch in die Hand und sieht 
mit gespanntsm Ausdruck angestrengt hinein. Auf die ersten Buchstaben weisend 
sagt er „P“ anstatt „G“ und ,,0"' anstatt „E“. Xennt die Farben nicht richtig. 
Recht iippige und lebhafte Gesichts- und Gehorhalluzinationen: sieht seine Mutter 
und hort ihre Stinune, sie verflucht ihn; sieht und fiihlt Schlangen. Spricht recht 
standhafte Verfolgungswahnideen aus: er muB umkommen, weil die Weisen von 
Zion ihn in die Zahl der zu Tode verurteilten eingeschlossen, man beobachte ihn. 
wolle ihn vergiften, lese seine Gedanken. Nachts komme iminer irgend jemand 
zu ihm. Furchtet sich vor der Dunkellieit. Erzahlt, daB gestem seine Tante ihn 
besucht habe. Ist meist teilnahinlos oder weinerlich gestimmt. Beim Rundgaug 
der Arzte sieht er forschend in ihr Gesicht. Konzentrische Gesichtsfeldeinschriin- 
kung. Die PupillengroBe schwankt, hangt von auBeren Ursachen ab, gewohnlich 
prompte Reaktion, bisweilen etwas trage. Oft hysterische Anfiille. Im allgemeinen 
ist das Betragen des Kranken ohne iiuBere Defekte. Reinlich die ganze Zeit iiber. 
Solch ein Zustand wahrt ungefahr 10 Tage. Alle Aufmerksamkeit und Fiirsorge 
der iibrigen Kranken sind auf ihn gerichtet. Im Laufe der nachsten 2 Wochen wird 
er allmsihlich zuganglicher und geselliger. BewuBtsein klar, genau orientiert. 
Meistens gedriickte Stimmung, weint oft. Klagt seltener iiber Gesichts- und Gehor¬ 
halluzinationen, die Verfolgungswahnideen sind sehr oberflachlich, spricht sie viel 
seltener aus; behauptet in allem unschuldig zu sein. Betrachtliche Gedachtnis- 
schwache. kann sich an die erste Zeit seiner Erkrankung nicht erinnern. Kann 
lebhaft von seinem Leben bis zum Herunnahen der Roten Armee in die Krim er- 
zahlen. Im Elementarwissen recht groBe Liicken: zahlt schlecht, gibt verkehrte 
Antworten. kennt keine Gebete. Sieht formell wie ein Debiliker aus, deuthcher in 
Gegenwart des Arztes. In der Tagesordnung gut orientiert, paBt sich bequem an. 
Etwas reizbar und egozentrisch. 

Am 2. XI. Urztliche Begutachtung, die X. als unzurechnungsfahig erkliirte und 
seine 0 be mill rung in eine Zivilirrenanstalt bestiinmte. Von diesem Tage an bessert 
sich das Befinden des Kranken schnell. Halluziuationen und Wahnideen ver- 
schwinden. Das verloren gewesene Wissen stellt sich wieder ein. Der Kranke er¬ 
zahlt ausfiihrlich von seinem Leben in der Krim, seiner Ankunft in Moskau und 
seinem Arrest. Die friiherc Xiedergeschlagenheit fehlt. Die Stimmung ist schwan- 
kend, vom Laufe seiner Gerichtssache abhangig. Ziemlich leicht erregbar, kaprizios. 
reizbar. Erhohte Selbstschatzung und etwas Prahlerei. Zuvorkommend, korrekt. 
Allmfihlich stellen sich die Bewegungen der Hande wieder ein, im Zustande von 
Hypotaxie geht der Kran ce. Anfalle sind merkbar seltener, aber immer von 
auBeren Ursachen abhfingig, von ihnen hervorgerufen sind auch die Klagen iiber 
Kopfschmerzen. Dcr Horizont und die lnteressen des Kranken entsprechen gegen 
Ende seines Aufenthalts im I. G. P. E. vollkommen denen eines mittleren Intelli- 
genten. Gut bewandert in der Gesckichte und Literatur. Kann gut reden. Be- 
herrscht alle europaischen Sprachen. Bei der Uberfiihrung (30. XI.) muBte der 
Kranke auf Handen hinausgetragen werden, im Alexeewschen Irrenhause jedoch 
beginnt er schon am folgenden Tage selbstfindig zu gehen. Anffille und Sensibilitats- 
storungen wurden nicht beobachtet. Die Bewegungen aller ExtremitSten haben 
sich im vollen Umfang wieder eingestellt. Xach einigen Tagen aus der Anstalt ent- 
lassen und seinen Verwandten iibergeben. 


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unci sein klinisches Bilcl bei Untersuchungshaft. 


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Aus anamnestischen Mitteilungen eifahren wir, dafi N. in Moskau auf der 
StraBe von einem Mitarbeiter der „Tscheka“ arretiert worden war, der zur Zeit, 
als unser Patient einen verantwortungsvollen Kriegsposten in der Krim einnahm, 
dort im geheimen lebte. In der „Tscheka“ wurde ihm wahrend des Verhors seine 
Beschuldigung — ErschieBung von Arbeitern und Roten Soldaten — vorgewiesen; 
er bekain einen Anfall und fiel in den Zustand, in welchem er ins Gefangnishospital 
transportiert worden. 

Unser Patient ist der einzige Sohn, beendete das Pagenkorps und das Archiio- 
logische Institut, bestand das Eintrittsexamen in die Generalstabsakademie. 
1914 wurde er einberufen, an der Front zweimal verwundet und zweimal kontusiert. 
Nach der Kontusion: Hemiparese, Gehor- und Gesichtshalluzinationen und 
hysterische Anfalle. All diese Krankheitserscheinungen wiihren 2—3 Monate. 
AuBerhalb der genannten Erkrankungen sind keine Anfalle beim Krankcn be- 
obachtet worden. Erhielt im Kriege das Georgskreuz und die Goldwaffe. Hatte 
immer einen unbestiindigen und heftigen Charakter. 

Vater starb wahrend des Aufstandes am SchlagfluB. Mutter leidet an Tbc. 
pulm. Onkel miitterlicherseits Alkoholiker, einer von ihnen starb an der progres- 
siven Paralyse. 

Die erste Zeit iiber tragt der Geisteszustand von N. den Charakter katatonen 
Stupors. Hier werden bald beobachtet: Ziige von Puerelisme mentale und vom 
Ganserschen Syndrom; weiterhin; Pseudodemenz, hier und da erinnert das Bild 
an „wahnhafte Einbildung“; auch hat es zuweilen einen paranoiden Anflug im 
Riidinschen Sinne. 

Im Wesen des Kranken ist folgendes als charakteristisch hervorzuheben: Ge- 
dachtnisstorung in Form von retrograder und anterograder Amnesie bei Gedacht- 
nisbewahrung fur weit Zruiickliegendes, unerklarbare Anpassungsfahigkeit, mehr 
lebhaftere Stimmung in Abwesenheit als im Beisein des Arztes, anfanglich leerer, 
weiterhin forschende Ausdruck der Augen; somatisch: Korperliche Entkraftung, 
labiler Puls, hysterische Anfalle, Lahmungen und Kopfschmerzen, die von iiuBeren 
Ursachen abhftngen. Sein Arrest und die Beschuldigung eines mit der hochsten 
Strafe belegten Verbrechens sind als Ursache der Erkrankung anzusehen. Fort- 
entwicldung der Krankheit — verbunden mit auBeren Umstanden, Ausgang 
— Wiederher8tellung ad status quo ante — von giinstiger Situationsveranderung 
abhangig. Die Psyche des Kranken weist einige Ziige der pathologischen Haltlosen 
und Liigner auf. In der Vergangenheit analoge, durch Kontusion hervorgerufene 
Erkrankungen. 

Die obige Erorterung ftihrt zur Folgerung, diese besprochene Krank- 
heitsform als . eine reaktiv-psychotische bei einem Haltlosen zu be- 
zeichnen, dessen Vorgeschichte hereditare Belastung und einen schon 
gebahnten Weg fiir ahnliche Zustande aufweist. Die Erkrankung selbst 
enthalt ein gewisses ,,Zielelement‘ J . 

Fall 3. A., 29 Jahre alt, Fortifikationslehrer der Ingenieurschule, aufgenommen 
am 9. VII. 1922. Arretiert am 23. VI. Beschuldigung: Spionage und Ubergabe von 
geheimen Zeichnungen an ausliindische Gesandtschaften. 

Aufnahmebefund: abgemagert, bleich. Puls stark erregbar. Reine Tone. 
In den Lungenspitzen Ausatmen und trockene rauhe Tone. Pupillen erweitert, mit 
prompter Reaktion. Zunge sich nach rechts abneigend. Die rechte Hand paraly- 
siert. Parese des rechten FuBes. Schleift beim Gehen den FuB am Boden. Knie- 
sehnenreflex gesteigert, Hautreflexe lebhaft. Pathologische fehlen. Beim SchlieBen 
der Augen fallt er auf den Riicken, steht aber weiterhin mit gesehlossenen Augen, 


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§(•} X. Bruchansky: Das reaktive psycbotische Syndrom 

ohne zu tuumeln. Analgesia totalis, rechts deutlicher ausgedriickt. Rachen- und 
Gaiunenreflexe lassen sich hervorrufen. Ein bestandiges Zucken mit dem Kopfe. 

Gesiehtsausdruck kindisch — verwundert oder stier — geapannt: als ob er 
etwas vergessen und sich daran zu erinnern suche. Gemiitsstiramung unruhig, oft 
Triinen in den Augen. Bei der Aufnahme hort er die an ihn gerichteten Fragen 
ruhig an, kann sie nicht begreifen, liiclielt kindisch. 2 Stunden sptiter beginnt er zu 
sprechen, faBt aber die Fragen nicht gleich auf und begreift, dcm Anscheine nach, 
den groBten Teil von ihnen nicht. Sagte, daB cr sich an nichts erinnern konne. 
Kennt nicht seincn Familiennamen, sein Alter, weiB nicht, wo er sich befindet, 
wann und wo er gelernt, wo seine Frau; kann die Jahreszahl nicht nennen, mit 
Miihe orinnert er sich an den Namen seiner Tochter; weiB es nicht rnchr. daB er 
heute seine Frau gesehen. 

Die ersten 3 Wochen liegt der Kranke die ganzc Zeit liber. Derselbe Gesichts- 
ausdruck wie bei der Aufnahme: lachelt bisweilen sinnlos schuldbewuBt, seine 
Augen fiillen sich mit Triinen. Antwortet auf BegriiBungen, erkennt aber den Arzt 
nicht. Wenig zuganglich, verkehrt mit niemand, interessiert sich aber sichtlich fiir 
die Umgebung. Kann nicht folgerichtig sprechen. VergiBt Worte und ersetzt sie 
durch sinn- und lautverwandte. Begreift die Fragen richtig, antwortet aber ge- 
wohnlioh: ,,ich erinnere mich nicht, ich inochte alles begreifen 11 . Herausfallen von 
Elementarkenntnissen, starke Gedachtnisschwache. Glaubt in der Kriegsschule zu 
sein. der Arzt sei ein Vorgesetzter, die Mitkranken seien Horer, jetzt sei das Jahr 
1921; kennt seinen Vor- und Vatersnamen, jedoch nicht seincn Familiennamen. 
Auf die Frage: ,,A.. wie ist Ihr Familiennamen ?“ antwortet er mit gSnzlich ver- 
lorenem Ausdruck: „Ich weiB nicht.“ Meint, seine Frau sei in Kijew. Kann ein- 
fache Gegenstftnde (Bleistift, Feder und ahnliehes) nicht sogleich erkennen und 
richtig bezeichnen. Kann weder schreiben noch lesen: „C“ best er wie „0“, ,,K“ 
wie „J“ usw. Klagt iiber starke Kopf- und Riickgratschmerzen. Behauptet, ein 
Xagel sei in seinem Kopfe eingeschlagen. Er habe ein Gefiihl, in der Luft zu liegen. 
Hort unbestimmte Stimmen, Klopfen ans Fenster. Glockengelaute und ahnliehes. 
Etwas, was im Zustande und Betragen des Kranken sich befindet, tr&gt ihm die Zu- 
neigung der Umgebung ein und macht ihn zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. 
Reinlich und akkurat. Puls die ganze Zeit liber labil. Besonders groBe Pupillen bei 
irgendeiner EiTegung. Uriniert selten und schwer. Schlaft und iBt geniigend. 

Im Laufe der folgenden Woche bessert sich das Befinden. Geht ein wenig, 
lahmt etwas. Beschranktc Bewegungen der Hand beginnen sich zu zeigen. Die 
Zunge neigt sich nur ein wenig seitwarts ab. Gespriichiger. Viel lebhafter in Ab- 
wesenheit der Arzte. Hat freundschaftliche Beziehungen mit zwei intelligenten 
Kranken angekniipft. Das Gedachtnis stellt sich wahlerisch wieder ein: erinnert 
sich an vieles aus seinem verflossenen Leben, erzahlt recht ausfiihrlich von seinen 
mit der Kontusion (1915) und dem Arrest (1919) zusammenhiingenden Erkrankun- 
gen; lesen und schreiben kann er noch immer nicht. Einfaehe Rechenaufgaben 
lost er langsam und meistentcils falsch. Ist der Meinung, wegen Xahrungsmittel- 
einkaufe im lettischen Kaufladen arretiert zu sein. Die Lage seiner Familie beun- 
ruhigt ihn. Gehorhalluzinationen vie friiher, ebenso das Gefiihl, in der Luft zu 
liegen. Puls leicht erregbar. Gaumen- und Rachenreflexe fehlen. 

9. VIII. Arztliche Begutachtung (Diagnose: traumatische Psvchoneurose). die 
A. als unzurechnungsfiihig erklarte und seine Ulierfiihrung in ein Zivilirrenhaus 
bestimmte. Einige Tage nachher werden die krankhaften Erscheinungen in ihrer 
Intensitat sichtlich schwacher oder verschwinden auch ganz. So sind alle Be¬ 
wegungen in vollem Umfange wieder hergestellt. Die Zunge neigt sich nicht mehr 
zur Seite ab. Klagt nicht mehr iiber Halluzinationen. Schnell stellt sich das ver- 
lorene Wissen wieder ein, spSter als alles andere — Lesen und Schreiben. Macht 


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und Mein klinisches Bild bei I'ntersuchungshaft. 


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den Eindruek eines vollstandig Gebildeten. Arbeitet viel und mit Hingebung: er- 
lernte die Buchbinderei im Laufe einiger Tage, zeichnet sehr gut. Liest auBer 
belletristischen auch spezielle technische Bucher. Immer zuvorkommend. Korrekt. 
Zutraulich, leicht beeinfluBbar. Die Stimmung hangt ganz von auiieren Ursachen 
ab. Die kleinste Unannehmlichkeit niacht ihn mutlos und driickt ihn nieder, 
h An fig Triinen in den Augen; er liegt im Bette, kann sich mit nichts besehiiftigen, 
fiihlt sich wie zerschlagen, spricht hypochondrische Beschwerden aus. Solche De- 
pressionen sind gewohnlich von sehr kurzer Dauer. In der letzten Zeit beherrscht 
er sich mehr und gibt sich Miihe, seine Verzagtheit und seinen Kleinmut vor der 
Umgebung zu verbergen. 

Die Frau des Kranken und er selbst gaben folgende anamnestische Mit- 
teilungen. 

Vater: leicht erregbar, kein wertvoller Mensch. starb an der progressiven 
Paralyse. Mutter: eine energische tiichtige Deutsche. Schwester: starb. 2 Jahre 
alt, an Gehimentziindung. Briider: gesunde, wertvolle Menschen. 

Unser Patient ist vollkommen intelligent, von groBem kiinstlerischem Ge- 
schmack. ein tiichtiger Ingenieur, guter Mathematiker. Ein ehrlicher, guter, fried- 
fertiger, vorsichtiger, etwas angstlicher, miBtrauischer, kleinmiitiger, schiichtemer, 
traumerischer, kein Selbstvertrauen habender, leicht beeinfluBbarer Mensch von 
labiler Stimmung. Sehr arbeitsam. guter Familienvater. Heiratete vor 6 Jahren 
(vorher jungfr&ulich). Hat eine gesunde Tochter. Keine Fehlgeburt der Frau. 
Lues et gonorrhoea negiert. An der Front trank er einige Monate lang, aber in A Big. 
1919 kontusiert: wurde mehrere Faden weit zuriickgeschleudert, sein linkes 
Trommelfell war zerrissen worden. Xach BewuBtlosigkeit konnte er 8 Tage lang 
nicht sprechen, die Zunge neigte sich nach rechts ab; Hemiparesis rechts. konnte 
weder lesen noch schreiben. All diese krankhaften Erscheinungen verschwanden 
vollstAndig im Laufe von 3—4 Monaten, wobei die Fahigkeit zu lesen und zu 
schreiben sich spater als alles andere einstellte. Machte 1916 einen akuten Lungen- 
prozeB durch, wurde Tbc. wegen voin Kriegsdienst vollstandig freigesprochen. Im 
Juli 1919 von der „Tscheka“ als der Spionage verdiichtig arretiert. Einige Tage 
spater. als der Untersuchungsrichter wiihrend des Verhors einen SchuB abgab, um 
den Kranken zu erschrecken. bekam dieser einen Anfall, wonach die rechten Ex- 
tremitaten die Bewegungsffihigkeit verloren. Die Zunge neigte sich nach rechts 
ab, konnte nur mit groBer Anstrengung sprechen; wurde katheterisiert. Recht 
bedeutende Ged&chtnisstorung, iippige Gehor- und Gesichtshallizunationen, 
schwere Depression; wurde nach 4 Monaten freigesprochen. Gesundete voll- 
st&ndig. 

Die gegenwartige Erkrankung entwickelte sich folgendernmBen: Er wurde 
von der ..Tscheka" wegen Verdachtigung der Spionage und Ciiergabe geheimer 
Zeichnungen an auslandische Gesandtschaften arretiert. Schon wiihrend des ersten 
Verhors, als man ihn nachts photographierte, bekam er einen Anfall, nach dem 
seine rechten Extremitaten paralysiert waren; Halluzinationen traten auf, eine 
schwere Depression. Wurde auf Forderung der anderen Arretierten ins Gefiingnis- 
hospital und von dort ins I. G. P. E. transferiert. 

Korperliche Krankheitserscheinungen. Betaubtsein, allgemeine Herabsetzung 
der Geistestatigkeit, des Gedachtnisses im besonderen — all dieses gab (in den 
ersten Tagen der Beobachtung im I. G. I*. E.) den Anschein einer organischen Er¬ 
krankung in Form von BluterguB. 

In den niichsten 2—3 Wochen bestarkte einerseits die Krankheitsentwicklung 
den Gedanken an unmittelbar nach dem BluterguB sich entwickelt habenden „ver- 
einten" Schwachsinn, anderseits jedoch herrschte keine Cbereinstiminung zwischen 
der allgemeinen Besserung und dem Grade des Herausfallens von Elementarkennt- 


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X. Bruchansky: Das reaktive psychotische Syndrom 


nissen und der GedftchtnisschwftchengroBe (z. B. kann er seinen eigenen Familien*- 
namen nicht nennen, trotzdem er mit demselben angeredet wird). 

Ira symptomatologischen Bilde halte ich fur notwendig, folgendes zu 
betonen: 

Entkrftftung, leicht erregbarer Puls, Kopfschmerzen, Unbestandigkeit der 
PupillengroBe und der Schleimhautreflexe, labile Gemiitsstimmung. bestandige 
Akkuratesse, etwas, was ihm trotz seiner schweren Zug&nglichkeit die Zuneigung 
der Umgebung eintragt, und ein etwas anderes Betragen in Abwesenheit der Arzte. 

Weiterhin iiberwiegen krankhafte Erscheinungen in Form von Pseudodemenz, 
organische Storungen treten jedoch in den Hintergrund. Die Anerkennung als un- 
zurechnungsfahig fiihrt zu einer fast vollen Wiederherstellung seiner Personlich- 
keit ad status quo ante. Seine Psyche steht der psychastlienischen am nachsten. 
Von seiten der Hereditat: organisches Leiden des Zentralnervensystems. 

Die obige Erorterung nebst analogen Erkrankungen der Vergangen- 
heit (die erste mit Kontusion verbundene schliebt ein Vorhandensein 
organischen Substrata nicht aus, die zweite ist eine rein psychogene) 
lassen behaupten, dab die oben besprochene Krankheitsform eine 
reaktiv-psychotische ist, die bei einer erblich belasteten, korperlich ent- 
krafteten Personlichkeit von etwas defekter Psyche sich entwickelte. 

Es ist moglich, dab bei der Kontusion das psychische Trauma und 
das korperliche so eng zusammenhingen, dab der Mechanismus der 
nachgefolgten Erkrankungen als ein Bedingungsreflex angesehen werden 
mub. Dadurch wird dann das von uns beobachtete urspriingliche Bild 
in vieler Beziehung erhellt. 

Fall 4. R., 52jahrig, aus der „Tscheka“ aufgenommen am 30. IX. 1921. Das 
inkriminierte Verbrechen, der Lauf des Prozesses und die Erkrankung sind ini Be- 
gleitschreiben nicht erwahnt. Dort gibt es nur Anordnungen liber Einzelhaft und 
auBerst strenge Beaufsichtigung. 

Auf einer Tragbahre hereingetragen. Korperlich entkraftet. Dumpfe Tone. 
Unelastische Arterien. Puls labil, von recht schwachem Druck. Pupillen gleieh- 
maBig verengt, reagieren etwas triige auf Licht. Beim Herausstrecken neigt. sich 
die Zunge nach rechts ab. Paraplegie. Kniesehnenreflexe gesteigert, Pathologisclie 
und Klonus felilen. Sphinkter normal. Handekraft geschwacht. Tremor der Hiinde 
und der Zunge. Keine Sensibilitaten der FiiBe und des unteren Korjierteiles. 
Rachen- und Gaumenreflexe vorhanden. Bedeutende Sprachstorung. Spricht un- 
deutlich, stotternd, mit Charakter von Paraphasie, dem Anscheine nach das Auf- 
fassungsvermogen des Gesagten erhalten. Spricht oft nicht das, was er will, begreift 
seine Worte; bei gewisser Beharrlichkeit bekommt man vom Kranken eine richtige 
Antwort. Allgemeiner Eindruck, daB man es mit einem intelligenten Menschen zu 
tun hat. In den ersten Tagen wenig zuganglich. Reagiert fast gar nicht auf die 
Umgebung; ganz ungesellig. Liegt die ganze Zeit auf dem Riicken, die Augen 
geradeaus gerichtet. Gesichtsausdruck maskenahnlich, niedergeschlagen, etwas 
gespannt. Greift sich oft, bald mit der einen, bald mit der anderen Hand an die 
Stirn, als ob er sich an irgend etwas zu erinnern bemiihe. Klagt iiber starke Kopf¬ 
schmerzen, in der .Stirn und an beiden Schlafen. Gemiitsstimnuing beinahe unruhig 
zu nennen. Keine Zeitorientierung, weiB nur unklar, daB er sich im Krankenhause 
befindet. Betrachtliche Gedftchtnisstorung. Weiterhin sind die Antworten un- 
zusammenhangend, zerrissen. jedoch mit Charakter von Vorbeireden. Auf Fragen 
nach Daten des Krieges und der Revolution nannte er das Jnhr 1905 und 1914, 


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und sein klinische.s Bild bei Untersuchungshaft. 


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wobei seinen Worten nach der Krieg mit Deutschland 1905 gewesen. Gibt auf die 
meistenFragen die Antwort: „Ich weiB nicht. “ Kann sein Geburts- und Hochzeits- 
jahr nicht nennen, ebenso nicht die Xamen seiner Kinder. Beim Antworten wieder- 
holt er oft und akzentuiert ein wenig einige Worte: „Zurjupa, Kreml, aus dem 
Hause fortgejagt“; spricht Verfolgungs- und Benachteiligungswahnideen aus, die 
recht oberflachlich, labil, anscheinend von fiuBeren Ursachen abhangen. 

Beim einfaclien Rechnen immer die grobsten, lappischsten Fehler; vollst&ndig 
gleichgiiltig gegeniiber den kindisch-naiven Fragen des Arztes. Zuweilen, und 
hauptsachlich in Anwesenheit der Arzte, unakkurat und unanstandig in seiner 
Toilette, entleert sich laut seiner Case. Reinlich die ganze Zeit. Schlaft schlecht. 
Aus kurzen, wie zufallig fallen gelassenen Sfttzen und Worten konnte man sich 
folgendes Bild seines Arrestes zeichnen: Venvandte von Zurjupa nahmen sein Haus 
in Ufa ein, hierbei hatte er mit ihnen ZusammenstoBe. Als er am Ende des Sommers 
in Moskau zur Vorstandsversammlung der Gouvemementsjagden eintraf, war er 
auch im Kreml bei Zurjupa, wonach man ihn noch am selben Tage arretierte. 
Sorgt sich um seine Tochter. Xannte richtig die Adresse seiner Frau. Trotz Un- 
geselligkeit und auBerer schwerer Zugangliehkeit befand sich im Wesen des Kranken 
etwas, was ihn imwillkiirlich zum Pflege- und Aufmerksamkeit-szentrum der Mit- 
kranken und des Personals machte. 

In solchem Zustande befand sich der Kranke (ungefahr einen Monat lang) bis 
zum Tage, als ihm die Ubergabe eines Bekannten iiberreicht wurde. An diesem 
Abend, in Abwesenheit des Arztes und des Aufsehers, erzahlte der Kranke seinem 
Xachbar einiges aus seinem Leben und seiner Gerichtssache. Bald darauf erhielt 
er einen Brief seiner Frau mit der Xachricht, daB alles gut und in Ordnung, die 
Tochter sei gesund und satt. Der Zustand des Kranken verbcssert sich etwas, beim 
Herausstrecken neigt sich die Zunge nicht mehr seitwarts ab. Rachen- und Gau- 
menreflexe fehlen. Pupillen von normaler Form, gleichmiiBig, reagieren recht lebhaft 
auf Licht. Hebt sich auf Kissen in die Hohe. Paraplegie unveriindert, klagt dar- 
iiber nie, als ob ihn die Bewegungslosigkeit nichts angehe. BewuBtsein klar. 
Spricht keine Wahnideen aus. Sehr vorsichtig: glaubt, man beobachte ihn. Von 
seinem Verge hen spricht er nie, behauptet beharrlich, wegen personbcher Reclmung 
mit Zurjupa arretiert zu sein. Bisweilen reizbar, handelsiichtig, finster, dann 
l»ereitet ihm das Sprechen noch mehr Schwierigkeit. Meistenteils entgegenkommend 
freundlich, lebhaft. Im allgemeinen ein defektloses iiuBores Betragen. Trotz seiner 
Gedachtnisstorung Herausfallen der Elementarkenntnisse, wie z. B. das einfache 
Rechnen, laBt doch der Kranke ab und zu eine vollkommen richtige und wertvolle 
Bemerkung fallen. Die krankhaften Erscheinungen sind in Anwesenheit der Arzte 
immer deutlicher ausgepr&gt. Viel hypochondrische Beschwerden. 

Am 1. XII. iirztliche Begutachtung (Diagnose: Dementia arterioselerotica), 
welche die Cberfuhrung des Kranken in eine Zivilirrenanstalt bestimmte. Von 
diesem Tage an ein Umschlag im Befinden des Patienten. Einige Tage spater tragt 
er am Abend im Kreise seiner Mitkranken und des Arztes verstandnisvoll, mit Ge- 
fiihl und Ausdruck ein langes Gedicht von Xekrassow vor; macht oft scharfsinnige 
Bemerlcungen, aus denen man sein Interesse und seine Kenntnis von den bren- 
nendsten Tagesfragen erfahrt. Allmahlich bessert sich der psychische Zustand des 
Kranken. Gemiitsstimmung gedriickt, hauptsachlich vom Laufe seiner Gerichts¬ 
sache abhangig. Ein sehr egoistischer, zuweilen reizbarer Mensch mit weitem 
Horizont und groBer Beobachtungsgabe. Zeigt Xeigung zu spitzbiibischer Er- 
pressung von Produkten seiner bessergestellten Mitkranken, die in ihm ihren auf- 
richtigsten Freund sehen. Liest viel. Uber Schwiiche in den Handen klagt er nicht. 
Kann die unteren Extremitaten schon bewegen, liegt aber noch und geht 
nicht. 


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N. Bruchansky: Das reaktive psychotische Syndrom 


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In solch einem Zustande, auf der Tragbahre, wurde der Kranke (10. IV. 1922) 
ins Alexeewsche Irrenhaus transportiert, wo er schon am nachsten Tage selbstandig 
geht, wenn auch mit paretisch-atactischem Charakter. Nach 3 Tagen aus der An- 
stalt entlassen und seinen Verwandten iibergeben. Zu Hause werden keine Geh- 
storungen beobachtet. 

Aus der Vorgeschichte, die wir von unserm Patienten, seiner Frau 
und einen ihm gut Bekannten erhielten, ist folgendes hervorzuheben: 

Vater litt an Taboparalysis mit Paraplegie. Der Kranke selbst ist sehr intelli¬ 
gent, nahm verantwortungsvolle, bffentliche Amter ein. Ein starker, fester, be- 
harrlicher, schwarmerischer, heftiger Charakter. Outer Familienvater. Halt sich 
fiir einen Anarchisten. Ist in der Vergangenheit in eine groBe Expropriation ver- 
wickelt gewesen, wobei er wahrseheinlich einen Teil des Geldes sich angeeignet 
hatte. Zweimal verheiratet. Kraftige und gesunde Kinder. Keine Fehlgeburt der 
ersten wie der zweiten Frau. Trank maBig. Lues negiert. 

Im Friihjahr 1921 machte er den Typhus exanthematicus und recurrens durch. 
Nach Worten seines Bekannten erkrankte er, vor ungefahr 25 Jahren, nach dem 
Tode seiner Tochter an einer knapp zwei Monate lang wahrenden Nervenkrankheit 
mit Paraplegie und BewuBtseinstriibung; lag im Krankenhause, gesundete voll- 
stilndig. 

Arretiert wegen Verdachtes der Organisation eines bewaffneten Aufstandes. 
Die gegenwartige Erkrankung begann in der „Tscheka“, wo er bald nach seinem 
Arreste Schiisse und Schreie der Erschossenwerdenden horte; wurde plotzlich be- 
wuBtlos. seine FiiBe waren gelahmt. 

Im ersten Monat gleicht R.s Krankheitsbild einer an Schwachsinn 
bei BluterguR erinnernden oder luetischen Dementia organica. 

Im allgemeinen klinischen Bilde findet man Ziige des Ganserschen 
Syndroms; weiterhin wird Pseudodemenz beobachtet. All dieses hat das 
Geprage von ..wahnhafter Einbildung“ und vom Rudinschen Paranoid. 

Symptomatologisch ist hervorzuheben: Gedachtnisstorung, Liicken 
im Elementarwissen. Abnormitat und Verwirrtheit des Urteils, unwillkiir- 
liches Aufmerksamkeitsfixieren derUmgebung auf den Kranken, eigen- 
tiimliches Bekanntwerden der Arzte mit den Sachverhaltnissen durch 
im zusammenhanglosen Gesprach wie zufalhg fallen gelassene Worte, 
verschiedenes Betragen in Gegenwart der Arzte und in ihrer Abwesen- 
heit, bestiindige Reinlichkeit; somatisch: Entkraftung, Arteriosklerosis, 
labiler Puls, Unbestandigkeit der Schleimhautreflexe, Kopfschmerzen, 
Schwankungen der PupillengroBe und ihrer Reaktion auf Licht und eine 
organische Erkrankung simulierende korperliche Storungen. Der 
Krankheitsbegimi ist mit dem Arrest, der Beschuldigung wegen eines 
schweren Staatsverbrechens und dem Geschreihoren der Erschossen¬ 
werdenden verbunden. Verlauf und Ausgang abhangig von auBeren 
Ursachen. Vater starb an Taboparalyse. Die Psyche unseres Kranken 
weist einige Ziige der pathologischen Schwindler auf. In der Vergangen¬ 
heit: eine analoge Erkrankung nach psychischem Trauma. 

Die obige Erorterung berechtigt uns, von der reaktiv-psychotischen 
Natur dieser Krankheitsform zu sprechen, die sich bei einer korperlich 


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und sein klinisches Bild bei Untersuchungshaft. 


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«ntkrafteten, etwas psychotisch minderwertigen, mit beginnender 
Arteriosklerose belasteten Personlichkeit entwickelte. 

In der Vergangneheit moglich gewesene, mit der Krankheit des 
Vaters verbundene affektiv gefarbte Vorstellungen, das Alter und 
Vorhandensein arteriosklerotischer Krankheitserscheinungen erhellen 
das urspriingliche klinische Bild und machen es teilweise verstandliclier. 

Fall 5. Sch., 34 Jahre alt,Handler, die letzten 2 Jahre Mitarbeiter der,,Tscheka“, 
arbeitete gegen die Spekulation. Aufgenommen am 18. II. 1922. Am 10. X. 
arretiert wegen Amtsiibertretung. Erkrankte, den Worten der Frau nach, sogleich 
naeh dem Arrest. 

Seitens der inneren Organe und des Xervensystems keine Abnormitaten. Der 
Kranke sieht alter als seine Jahre aus. Betrachtliche Schwacke. Gekriimmt, kann 
kaum seine FiiBe am Boden schleppen. Gesicht aufgedunsen. Gesichtsausdruck 
miide-teilnahmlos. Niedergeschlagene Augen. Sieht den Arzt nicht an; beim Auf- 
sehen ein recht verstandiger und forschender Ausdruck in den Augen. Liegtdie 
ganze Zeit iiber im Bette, ungeselUg, schweigsam, unterhalt sich nicht mit den 
Mitkranken, wenig zuganglich, negativistisch. Sehr stereotyp im Auftreten und 
Gesprach; spricht oft mit kindlich-weinerlicher Stimme. Wenn sich jemand dem 
Kranken nahert. wird dieser im Bette unruhig: wiihlt in seiner Decke herum, legt 
seine Kissen anders, hierbei wiederholt er: „Hundefleisch, Taugenichts, Land- 
streicher, verfluclite Juden“. Alle Kommunisten sind Trinker, sie haben RuBland 
verkauft und vertrunken, sind alle von Juden bestochen, welche von RuBland nichts 
nachlassen werden. Alles wird ausgestohlen und zerstort. Kommunisten und 
Juden verfolgen ihn, wollen ihn verderben, seine Wohnung auspliindem. Man will 
ihn durch vergiftete Xahrung umbringen, aber das Gift habe keine Wirkung auf ihn, 
und ihn mit Stbcken schlagen konne man doch nicht. Behauptet, seine Frau habe 
mit den Arzten eine Verschworung gegen ihn angezettelt, sie sei auch von Juden 
bestochen, versuchte schon, ihn durch Tabak zu vergiften. Beim Brotausteilen 
nimmt er nie das ihm zugeteilte Stuck, will sich selbst eins auswahlen und bemiiht. 
sich, das unterste zu nehmen. Xicht aus alien Handen nimmt er Xahrung an. 
Seiner Frau und Schwester gegeniiber verhiilt er sich wahrend der Zusammen- 
kiinfte gleichgiiltig, iBt aber aus ihren Handen alles, was sie ihm geben. Wahrend 
seiner vollstandigen Xahrungsverweigerung zweimal Sondenemfthrung. Xeben 
Verfolgimgs- und Beeintrachtigungswahnideen ist auch noch GroBenw’ahn zn 
finden: er ist zum PrSsidenten des 5. Gouvemements einschlieBenden Trestes er- 
nannt. Behauptet, von Kalinin zum Gouverneur des Xowgorodschen, Twjerschen, 
Kostromschen, Jaroslawschen und Wologodschen Gouvemements ernannt zu sein. 
Miis8e sein Amt am 1.1. 1922 antreten; meint, jetzt sei Oktober 1921. Habe 
40 jiidische Spekulanten arretiert, diese l>estachen die notigen Personen und be- 
miihen sich jetzt ihn zu bestechen. Als Gouverneur werde er schonungslos gegen 
die Juden kampfen und sie aus seinem Gebiet ausweisen. Zu diesein Zwecke musse 
man vor alien Dingen nach ,,Tatsachen“ bei Juden suchen, und da ausnahmsloe 
jeder Jude etwas zu verbergen habe, so kann man sie mit vollem Recht ausweisen. 
Klagt, daB die Juden ihm etwas zufliistem und sich die ganze Zeit iiber ihn lustig 
machen. 

Zuweilen kann man beobachten, daB der Kranke die Fragen begreift, denn auf 
einige antwortet er wie beim „Vorbeireden“. So z. B. auf die Frage, ob er den Arzt 
J. X. aus dem Kreisirrenhause kenne, antwortet er: „Kolotinsky hat mich ver- 
giftet;“ auf die Frage, wie alt er jetzt sei, wenn er mit 22 Jahren in die Kreisirren- 
anstalt eingetreten, sagt er: „10 Jahre quftlen mich die Juden,“ und bittet zugleioh 
lispelnd um ..siiBes Brotchen" und „frisches Eichen“. 


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92 X. Bruchansky: Das reaktive psychotische Syndrom 

Reinlich und akkurat. Wird bisweilen erregt, wenn jemand ihn durcli Be- 
achimpfen oder Fragen verdrieBt. Bietet dann das Bild eines angriffsbereiten 
Menschen dar. Wenn der Arzt sich trotzdem nicht vom Bette des Kranken ent- 
fernt, so greift dieser, nach einer ganzen Reihe komplizierter Bewegungen, naeli 
dem Krankenkittel des Arztes oder wirft recht vorsichtig ein Stiick Brot nach ihm. 

Arzt lie he Begutachtung am 17. V. 1922 (Diagnose: Schizophrenic) erklarte Sell, 
als unzurechnungsfahig und bestimmte seine Uberfiikrung in eine Zivilirrenanstalt. 
Jedoch bis Ende September gab zum letzteren die Gerichtsbehorde keine Einwilli- 
gung. Die ganze Zeit iiber ist der Krankheitszustand ebenso eintonig stereotyp. 
Dieselben Verfolgungs- und GroBenwahnideen. Wiederholt seine gewbhnlichen 
Scheltworte: „Hundefleisch, Landstreicher, verfluchte Juden“. Verweigert die 
Krankenhausnahrung. iBt nur (mit dem Kopfe unter der Decke steckend) von zu 
Hause Geschicktes. Zieht Eier roh vor, sieht sie fraglos ungefahrlicher zum Ver- 
giftetwerden an. Sehr geschwiicht. Puls leicht erregbar. 

27. IX. ins Alexeewsche Irrenhaus transportiert mit der Anmerkung, Sch. 
diirfe ohne Erlaubnis der „Tscheka“ die Anstalt nicht verlassen. Am Tage der 
tj berfiihrung lebhaft, packt selbst seine Sachen ein, zog sich selbst an. 

Im Alexeewschen Irrenhause ein bedeutend besserer Zustand. Zuganglich, 
hoflich, korrekt, gibt bei der BegriiBung die Hand. Ein ganz verstandiger Ge- 
sichtsausdruck. Mimik und Bewegungen lebhaft. Beim Gehen keine Abnormi- 
taten. Lispelt nicht, zieht nur die Worte in die Lange. Den Mitkranken gegen- 
iiber wenig mitteilsam. Liegt meist im Bette, den Kopf nicht verdeckend. Keine 
Aktivitat, interessiert sich fiir nichts. Ist zugleich aber vom Leben in der Anstalt 
gut unterrichtet. Orientiert. Erzahlt, daB er in der „Tscheka“ gearbeitet, kennt 
seine Mitarbeiter, nennt ihre Namen. Meint, er sei wegen seiner „Judenprojekte“ 
arretiert. Mit seiner Frau spricht er sachlich auch iiber abstrakte Themata, beim 
Naherkommen des Personals verstummt er. Fiir sein Kind interessiert er sich 
immer. Nimmt geniigend Xalirung zu sich, aber nur das von seiner Frau Ge- 
brachte. Teilt dem Arzt mit, daB er zu niemand Vertrauen habe und sich vor dem 
Vergiftetwerden fiirchte. Xach dem Essen oft Erbrechen. Sehr akkurat. Sorgt 
fiir seine Bequemlichkeit. Xeben vollig richtigen Antworten und Bemerkungen 
trifft man oft falsclie Antworten, Erinnerungsfiilschungen oder noch ofter chrono- 
logisch falsclie Umstellung der Tatsachen, Unrichtigkeit im Urteile, GroBen-, Ver¬ 
folgungs-, Unschuldswahnideen — all dieses ist nicht fest, sehr ober(lachlicli, triigt 
fast den Charakter von Rhetorik, Ironie, kindlicher Ausge 1 assenheit (so fordert er 
die Ausbesserung des Fensters, an dem er liegt; nach Erfullung seiner Bitte bemerkt 
er: „sonst konnten Die be mich stehlen“. 

Aus der Vorgeschichte, die wir von der Frau unseres Patienten er- 
hielten, entnehmen wir folgendes: 

Vater, 70 Jahre alt, ein ruhiger Charakter. gesmid. Mutter starb in hohem 
Alter, war gesund. Onkel v&terlicheraeits geisteskrank, starb krank; worin sich 
seine Krankheit ausdriickte, ist unbekannt. Der Bruder und zwei Schwestem des 
Kranken sind gesund, von anderen Verwandten fehlt jede Xachricht. Auf dem 
Lande geboren und aufgewachsen. Kindheit und Jugend ist der Frau unbekannt, 
heiratete ihn vor 14 Jahren. Hatte damals einen etwas heftigen, empfiinglichen, un- 
geselligen Charakter. Forderte von der Frau Unterwerfung, war sehr unduldsam. 
Trank nicht. Hatte seine eigene Warenhandlung. Fiihrte sein Geschaft gut; lebte 
in guten materiellen Verhaltnissen. Zwei Schwangerschaften der Frau, keine 
Fehlgeburt. Das altere Kind, ein 15jiihriger Knabe, gesund; die jiingere Tochter 
starb einjahrig. 

1911 arretiert wegen Reichskreditpapierfalschung. Nach einjahriger Unter- 


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und sein klinisches Bild bci Untersuchungshaft. 93 

suchungskaft erklarte ihn das Gericht fur sckuldig imd verurteilte ihn zu 6jahriger 
Zwangsarbeit. 

Gleich nach dem Urteilssprueh begannen sick Zeichen von Geistesstorungen zu 
zeigen, wurde ins Gefangnislazarett transferiert und von dort in die Moskauer 
Kreisirrenanstalt, wo er am 28. I. 1912 eintraf. Krankenliste Nr. 1042. 

Aufnahmebefund: Korperlich etwas geschwackt; seitens der inneren Organe 
und des Nervensystems keine Abnormitaten. Vollfiihrte mit den Handen eine 
ganze Reihe besonderer Bewegungen, gestikuliert viel. Leistete bei der Unter- 
suehung einigen Widerstand. Gesichtsausdruck verstandig. Spricht viel und 
schnell, stereotyp einige Worte oft wiederholend. Redet ziemlich zusannnenhang- 
los; bricht den angefangenen Satz oft ab; haufige Gedankenspriinge. Antwortet 
manehmal gar nieht, oder in Satzen, die in keinem Zusammenkang mit der Frage 
stehen, oder wiederkolt stereotyp: „weiBe Wfische, Hunde schimpfen“; oft Vorbei- 
reden. Er weiB nieht, wo die Anstalt sich befindet, ihn habe der Feldscher be- 
trogen, iler ihm versproehen, ilm zu seiner Frau zu begleiten und statt dessen ihn 
nach Moskau gebraeht. Auf die Frage, ob er nachts gut schlafe, antwortet er be- 
jahend, zugleich hinzusetzend, daB man ihn wegen nachtlichen Gebetesingens 
sehelte. Auf die Frage, ob er lange im Krankenhaus gelegen, sagt er, es seien zwei 
Arzte — „einer ist gut, der andere Hund schimpft 11 . Nur auf die einfachsten, ihm 
unerwarteten Fragen antwortet er richtig. So teilte er folgendes richtig mit: 
seinen Yor-, Vaters- und Familiennamen, daB er Handler und Schlosser, verurteilt 
wegen Falschmiinzerei zu 6 Jahren Zwangsarbeit. 

Im ersten und zweiten Jahre (1912 bis 1913) ist der Geisteszustand im allge- 
meiuen recht gleiehfdrinig. 

Liegt die ganze Zeit mit bedecktem Kopf. Wenig zugiinglich, verschlossen. Ant¬ 
wortet nieht auf BegriiBungen, wendet sich ab. Auf Fragen antwortet er fast 
niemals. Interessiert sich fur nichts; ffillt durch nichts auf. Beim schnellen 
Sprechen lispelt er immer. Recht viel komplizierte und affektierte Bewegimgen. 
Eine alberne Mimik. Rollt beim Spaziergang immer gleichformige kleine Blfitter- 
kugeln. Spricht oft halblaut mit sich selbst oder singt Gebete, zuweilen stereotyp 
ein und dasselbe Wort wiederholend. Etwas gedriickte Stimmung. Schiichtern, 
angstlieh, zuweilen reizbar. Eine recht sclnvache Intelligenz. Kami fast nichts von 
sich erziihlen, kennt sogar nieht den Namen seiner Frau. Spricht standhafte 
Wahnideen aus: man habe ihn durch Betrug hierhergefiihrt; Mitjka, der Tele¬ 
graphist, will ihm seineFrau abwendig machen; erwolle sie betriigen; Gift werde in 
seinen Teller geschuttet. Verweigert stets die Nahruug, behauptet: ,,alles ist ver- 
giftet“; bittet „ein frisches Eichen“; iBt nur Extraportionen. Bisweilen schluchzt 
er kindisch, bittet „suBes Brotchen, was Tante Pascha gab“. Ins Klosett geht er 
selbstandig, sputet sich, sieht sich um, wehrt irgend etwas von sich ab, oder halt 
sich die Ohren zu. Halt sich fiir gesund, crkliirt oft: „heute fahre ich nach Hause“. 
Seiner Frau gegeniiber gleichgiiltig bei der Zusammenkunft. Reinlich die ganze 
Zeit liber. Schlaft geniigend. In diesem Zustande bisweilen heftiges Aufbrausen, 
hervorgerufen immer durch Sckimpfworte der Umgebung. Wenn er Schimpfworte 
hort, springt er auf, zittert, schreit, schlagt die sich Scheltenden, zerreiBt die 
Wasche. Mehreremals seiner Aggressivitat wegen in die unruhige Abteilung ver- 
setzt, wo er ruhig, niemand anriihrte, aber ganzlich die Nalirung verweigerte, 
leistete Widerstand bei der Sondenernahrung, nahm im Gewicht sehr ab. Wurde 
deswegen nach einigen Tagen zuriickversetzt. Wfihrend eines von tliesen Er- 
regungszustAnden, im Juni 1912, trat Erbreclien nach dem Essen ein, was man von 
dieser Zeit an fast taglick zwei Jahre lang beobachtete. 

Anfang 1914 wieder ganz unzuganglich, boshaft, spricht nieht, aber sclireit; 
antwortet auf alleAnreden stereotyp: ,.99. Hundefleisch, nach Hause“. Das Er- 
regimgsaufflammen wird seltener beobachtet, ist aber idel intensiver. 


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N. Bruchansky: Das reaktive psychotische Syndrom 


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Vom 26. I. 1914 ein zweimonatel anger Erregungszustand; die Stimme ist 
vom bestandigeu Schreien schwaek und heiser geworden, zerreiOt die W&sche 
und die Matratze; bestilndige kiinstliche Ern&hrung. Sehr schwach und ent- 
kriiftet. 

Ende Miirz beginut er selbstandig zn essen. Lebhaft, guter Stimmung, gut- 
miitig. Geht auf den Arzt zu und begriillt ihn mit Handedruck. Beaehtet Schelt- 
worte wenig. Antwortet wie gewohnlich „99“ auf Eragen. Klagt, daB man ihn 
friiher mit Tabak gefiittert habe, er habe in der Holle gebrannt; bittet um rohe 
Eier, besonderes EBgesehirr und neue Kleidung. Nach Erfiillung seiner Bitte kann 
er sich von seinem Teller und seinem Kruge nicht trennen, zeigt alien, was fur gute 
Beinkleider, Krankenkittel usw. er bekommen. Sprieht keinen Vergiftungswahn 
mehr aus. Erbrechen nur selten. Fahrt zusammen beim kleinsten Gerausch. 

In der Folgezeit bessert sich der Zustand. Interessiert sich lebhaft fur die 
Umgebung. Lebt sich mit den anderen Kranken gut ein. Sprieht verstitndig von 
allem. Recht gleiehgiiltig seiner eigenen Lage gegeniiber. MiBtrauisch. IBt selb¬ 
standig. Arbeitet viel: verfertigt Schuhe; gibt fur sich keinen Kopeken aus. Wird 
zuweilen, wenn er Schimpfworte hort, wie friiher erregt, fangt a bar keine 
Priigelei an. Bei Verweigerung irgendeiner Bitte wird er grob, boshaft, verweigert 
die Nahrung, beginnt jcdoch selbstandig zu essen, wenn versucht wird, ihn mit 
Gewalt zu fiittern. 

1915 und 1916 ein etwas besserer Zustand. Arbeitet 12 bis 14 Stunden tAglich. 
Dieses „verbessert die Stimmung, lenkt von unangenehmen Gedanken ab“. Verhalt 
sich zu allem mit vollem BewuBtsein. Im allgemeinen ist sein Verhalten defektlos. 
Schmeichlerisch oder, umgekehrt, grob dem Personal gegeniiber. Erhohte Selbst- 
schatzung: „alle kennen Sch.“ Macht viel Handelsplane. LiiBt keinen Zufall vor- 
iiber, irgend etwas fur seine Bequemlichkeit zu erbitten. Beharrlich begreift er 
seine Lage nicht. Halt sich fiir gesund. MiBtrauisch. Gibt dem Arzte zu ver- 
stehen, daB seine Beschuldigung ihm nicht bekannt sei. Man habe ihm erzahlt, daB 
er seinen Bruder erschlagen habe, dieses leugne er auch nicht, konne sich nur nicht 
daran erinnern. Ist iiberzeugt, seine Gerichtssache werde nochmals durehgesehen 
und er daraufhin befreit werden. Bat mehrmals um Begutachtung und um Ent- 
lassung. Als man seine Bitte abwies, wurde er boshaft, versehlossen, lag die ganze 
Zeit mit bedecktem Kopfe im Bette. Verweigerte die Nahrung; gedriickte Stim¬ 
mung. Einst nach Verweigerung ihm Eier zu verschreiben, nahm er 10 Tage lang 
nur Brot und Wasser zu sich; war finster, unzugiinglich. wendete sich von den 
Arzten zur Seite ab. 

Am 19. XII. von der Arztekonferenz als strafvollzugsfiihig erkliirt (1. Diagnose: 
Dementia praecox, 2. Diagnose: Psychosis degenerativa) und im Januar 1917 ins 
Oouvernementsgefftngnis transferiert, von dort nach einigen Tagen ins Kolmowsehe 
Krankenhaus (die Frau kennt die Ursache der Dberfiihrung dorthin nicht). Nach 
Verlassen des Krankenliauses, wo er ungefahr 3 Monate sich befand (im Zusammen- 
hang mit der Februarrevolution befreit), zeigte er keinerlei Wunderlichkeiten, war 
nur ungeduldiger und reizbarer. Beschiiftigte sich wieder in Wuischni-Wolotschock 
mit Handel. Handelte mit Erfolg und Gluck. Verlebte die Februar- und Oktol>er- 
revolution still und ruhig. 1918 siedelte er nach Moskau iiber. 1919 von der 
„Tscheka“ wegen Spekulation arretiert. Da er viele Spekulanten kannte, so schlug 
man ihm vor, in die „Tscheka“ als Mitarbeitcr einzutreten. Arbeitete gegen die 
Spekulation. Fiihrte die Auftriige erfolgreich aus. als Mitarbeiter geschatzt. 

Von der Gerichtssache weiB die Frau, ihren Worten nach, fast gar nichts, 
sprieht hochst unklar von seiner Beschuldigung wegen Diebstahls eines wiehtigen 
Dokuments aus der „Tseheka“. In der gegenwartigen Erkrankung unseres Patien- 
ten findet seine Frau viel Ahnlichkeit mit dem ersten Zustande. 


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und sein klinisches Bild bei Untersuchungshaft. 


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Klar tritt der schizophrene Charakter der gegenwartigen Erkrankung 
hervor. Aus der allgemeinen Grundlage dieses fast stuporcsen Zustandes 
mbchte ich zerstreute, nicht in die Augen failende Ziige hervorheben, 
welche schon vom Aufnahmetage des Kranken an im J. G. P. E. Zweifel 
am Vorhandensein eines Krankheitsprozesses erweckten. Und zwar 
meine ich folgendes: der zuweilen verstandige forschende Gesichtsaus- 
druck ; die bestandige Akkuratesse und Reinlichkeit; wahrend der Er- 
regungszustande keine entsprechende Ubereinstimmung zwischen der 
angriffsbereiten Haltung und dem Affekt selbst; bisweilen Ziige von 
Puerelisme mentale oder Gansersches Vorbeireden; der fraglose Zu- 
sammenhang zwischen denWahnideen und den auBeren Ursachen, die 
den Kranken in die Haft fiihrten (sein Spekulationsbekarapfen). 

Die gegenwartige Erkrankung ist ihrem klinischen Bilde nach mit der 
ersten identisch. Beide traten unter Einwirkung bestimmter psychischer 
Traumen auf, nur mit dem Unterschiede, daB der AnlaB zur ersten Er¬ 
krankung keine Untersuchungshaft wie im 2. Fall, sondern die Ver- 
urteilung zu sechsjahriger Zwangsarbeit war. Vom Haftcharakter ab- 
hangig sind wahrscheinlich auch die Budinschen. paranoiden Ziige. die 
im ersten Krankheitsbilde zahlreich hervortraten. Zweifellos fand sich 
in den letzten Jahren seines Aufenthaltes im Moskauer Kreisirrenhause 
neben gesteigerter Selbstschiitzung und ungeniigender Auffassung seiner 
Lage auch Tendenz zu Unschulds- und Begnadigungswahnideen. Diese 
Richtung haben auch die sehr oberflachlichen, ihm fremden Erinne- 
rungsfalschungen, als ob er seinen Bruder ermordet. Die Uberfiihrung 
unseres Patienten in ein Zivilkrankenhaus, im zweiten Krankheitsfalle, 
befreit ihn zwar aus der Haft, laBt ihn aber noch in Abhangigkeit von 
der Gerichtsbehorde. Unter EinfluB giinstiger Situationsveriinderung 
bessert sich das allgemeine Befinden des Kranken. Diese Auseinander- 
setzung und der Ausgang der ersten Erkrankung berechtigen mich, 
dieses Leiden nicht als ein progrediierendes, sondern als ein reaktiv- 
psychotisches zu bezeichnen. Einige schizophrene Charakterziige ge- 
statten von der Verwandtschaft mit den Verschrobenen oder von der 
Moglichkeit einer schizophrenen Grundlage, wo iihnliche Zustande sich 
entwickeln konnen, zu sprechen. Psychopathisce Ziige der Schwindler 
sind auBerdem noch beim Kranken zu bemerken. 

Nun gehen wir zum Versuche einer Verallgemeinerung, zu einigen 
SchluBfolgerungen iiber. 

Gut bekannte und als klinische Zustande von selbstandiger Vor- 
kommnis und Bedeutung beschriebene Erscheinungen bildeten in 
unseren Krankheitsbildern mehr oder minder stark ausgepragte Teil- 
komponenten, Teilerscheinungen eines einheitlichen Ganzen. 

Gansers Dammerzustand, hysterischer Stupor, Puerilisme mentale, 
Pseudodemenz, katatonische Zustande Degenerierter, wahnhafte Ein- 


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X. Brucliansky: Das reaktive psyckotische Syndrom 


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bildung, Gefangenenwahnsinn: Ziige aller dieser Zustande waren in jedem 
unserer Krankheitsbilder vertreten. 

Dieselben Verhaltnisse finden wir auch in der Kasuistik anderer 
Autoren vor. 

Demzufolge sind wir geneigt zu glauben, in unseren Bildern ein 
Symptomenkomplex beobachtet zu haben, dessen soeben genannte 
Teilkomponenten nur in vereinzelten Fallen, als selbstandige, vom 
Komplex losgeloste, einzeln und fur sich dastehende Phiinomene zur 
Beobachtung gelangen konnen. 

Eine zusammenfassende Charakteristik dieses Symptomenkom- 
plexes wtirde folgendermaBen lauten: Anfang akut, manchmal eine 
Initialerregung, Benommenheit, auf der Hohe ausgepragter Stupor, 
manchmal motorische Ausfallserscheinungen, Retentio urinae et alvi; 
Urteilsbildung fehlerhaft, verworren; Kenntnisse elementarster Art 
fallen aus; Gedachtnisstorung, meist in der Form retrograder und antero- 
grader Amnesie bei gut erhaltenen Erinnerungen entriickterer Ver- 
gangenlieit. Die Fragen des Arztes werden unter Sperrungen beant- 
wortet. Spontane Fragen, die der Kranke selbst stellt, ungesperrt. 
Im Benehmen eine gewisse Gabe, die Aufmerksamkeit der Umgebung 
zu erregen und dauemd zu fesseln, gute Anpassung, keine Unreinlichkeit; 
Blick oft leer; manchmal forschend. 

Auf diesem Hintergrund eine Menge Sinnestauschungen und Wahn- 
ideen, sehr labiler, an auBere Eindriicke ankniipfender Art. Somatisch: 
allgemeine Schwache, Kopfweh, stets Pulslabilitat, Pupillenweite oft sehr 
schwankend und zwar in Abhangigkeit von auBeren Umstanden, un- 
gleiches Verhalten der Schleimhautreflexe. 

Spater venvischen sich die stuporosen Ziige, jetzt beherrschen die 
Szenerie das Sich dumm Stellen in Gatwerscher Form, die Pseudodemenz 
usw. Auffallend wrd jetzt der Unterschied im Benehmen des Kranken 
in An- und Abwesenheit des Arztes. Die Stimmung ist meist depressiv. 

Der Verlauf hangt ganz von auBeren Umstanden ab. Dauernd und 
anhaltend eine erhohte Reaktivitat. Stets ein paranoischer Einschlag 
im Sinne Rudins (Wahnbldungstendenz in der Richtung von Ver- 
folgungs-, Unschulds-, Begnadigungsideen). 

Ausgang — bei giinstiger Situation — eine Wiederherstellung ad 
statum quo ante. 

Den AnlaB fur die Erkrankung gibt stets eine seelische Umstellung, 
bewirkt durch eine Gemiitserschutterung. In alien unseren Fallen ist die 
Erkrankung (wie auch ihr Inhalt) jedesmal zeitlich mit einem wicht'gen 
Erlebnis verbunden; desgleichen auch friihere Erkrankungen derselben 
Patienten laut ilirer Anamnese. 

Alle diese Eigentiimlichkeiten, wohl auch die eigenartige Verlaufs- 
und Ausgangsart, fiihren uns zum Schlusse, daB das zu untersuchende 


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uncl sein klinisches Bild bei I'ntersuchungshaft. 


97 


Syndrom der Gruppe echter reaktiver Psychosen beizurechnen ist und 
nicht denjenigen der Phasen oder Prozesse. Letztere konnen ebenfalls 
reaktiv verlaufen: sind die Verhiiltnisse identisch, kann auch das 
klinische Bild in mancher Hinsicht sehr ahnlich ausfallen, aber der 
Kern der Sache, das Grundbild wird stets eine spezifisch-gesetzmaBige 
Verlaufsweise annehmen, die dem Wesen der betreffenden Psychose 
(Phase oder ProzeB) eigen ist. Der Willmannachen Ansicht, dafl unser 
Wissen uber die GesetzmiiBigkeiten, die das Verhaltnis zwischen der 
urspriinglichen Veranlagung und der auf ihrem Boden zur Entwick- 
lung gelangenden krankhaften Reaktion beherrschen, hochst diirftig 
ist, rauB ich durchaus beistimmen. 

Und nun die Frage von der Veranlagung unserer Patienten, von den 
Charaktereigentiimlichkeiten, die dieser Veranlagung entspringen. In 
dieser Hinsicht ist unser Material in bezug auf die Anamnese so un- 
gunstig beschaffen. daB uns bloB die Verinutung erlaubt scheint, daB 
ein derartiges Syndrom eher bei psychopathischen Personlichkeiten, als 
bei geistig vollwertigen. zu erwarten ist; und zwar scheint uns ihre 
Mehrzahl der Liigner- und Sehwindlergruppe anzugehoren. 

Nach Kretschmers Ansicht gibt es drei Phasen im Ablaufe hyste- 
rischer EntauBerungen (in weitem Sinne): auf den akuten Affektreflex 
folgt als zweite Phase seine willkiirliche Steigerung, die Aggravation, 
worauf drittens die Phase des chronischen. zur Gewohnheit gewordenen 
Reflexes folgt — die Phase einer eigentumlichen Krankheit. Diese Er- 
wagung ist besonders einleuchtend in bezug auf Zustande, wo Uhr- 
mechanismen in Bewegung gesetzt werden. 

Nun wird uns auch unser klinisches Bild verstandlicher: die Be- 
nommenheit wiirde den akuten Affektreflex reprasentieren; das darauf 
folgende Sich-dumm-Stellen wiirde sich als die psychologisch einfachste 
Form der willkurlichen Steigerung und Modifikation des Reflexes deuten 
lassen, eine Form, di3 hier sehr leicht verstandlich ist, wenn man an 
den Psychopathentypus krankhafter Liigner und Schwindier denkt. 

Die reiche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen im Bereiche des Sich- 
dumm-Stellens und der paranoide Einschlag (Riidin) verleihen den Er- 
krankungen Untersuchungsverhafteter eine besondere Farbung. wobei 
das Kolorit der Farbung durchaus durch die personlichcn Eigentiimlich- 
keiten und die Art der Veranlagung bestimmt wird. 

Es ist verstandlich, daB das zweite Stadium im Verlaufe des psycho- 
tischen Syndroms bei nicht in der Haft verlaufenden Fallen ein ganz 
anderesBild abgeben wird: dieses in Abhangigkeit von der Konstellation, 
wobei das Zielmoment am ausschlaggebendsten ist. Eine Bestatigung 
dieser Behauptung finden wir in analogen, von uns gesehenen Fallen, 
wo bei nicht verhafteten Patienten das Sich-dumm Stellen uberhaupt 
fehlte oder nur angedeutet war, desgleichen auch das Riidins che 

Archlv fur P^ychiatrie. Bd. 08. 7 


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98 N. Bruchansky: Das reaktive psychotische Syndrom 

Paranoid. Dasselbe gilt von den Kriegsneurotikern: im zweiten Stadium 
existieren hier meist motorische Storungen, ein in bezug auf das Ziel- 
moment durchaus zureichender Befund, uni die Befreiung vom Militar- 
dienst, als solcher, zu bewirken. 

Dies alles fiihrt zum Schlusse, dalJ wir iil)er die Natur einer Er- 
krankung nur in dem Falle sieher urteilen kbnnen, wenn alle Konstel- 
lationsmomente insgesamt in Betracht gezogen sind. 

Dann wiirden vielleicht mehrere Veroffentlichungen eine ganz andere 
Beleuchtung finden konnen (z. B. Falle Gauppscher abortiver Paranoia, 
Friedemanns milde Paranoiaformen usw.). 


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und sein klinisches Bild l>ei Untersuchungshaft. 


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Zentralbl. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 1903. 1—2. — Westphal: Ein Fall von 
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des Vorbeiredens. — Wilmanns: Die Psychopathien (Handbuch d. Neurol, von 
Lewandowsky. Berlin 1914). — Jaspers: Allgemeine Psychopathologie. 1920. 


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Die Perversitaten und Iuversitaten vom Standpunkt del* 

Reflexologie. 


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Von 

Professor W. Bechlcrew, Petrograd. 

(Eirigegangen am 29. Deztmber 1922.) 

Cher die krankhaften Perversitaten der Geschlechtstatigkeit 
haben wir eine ganze Reihe von Arbeiten, vorzugsweise klinischen 
Inhalts, wobei einige von ihnen auch den Geschlechtstrieb zum 
Gegenstand ihrer Forschung haben und sich bemiihen in den 
Mechanismus der Perversitaten und Inversitaten einzudringen. Von 
den bedeutenderen Werken der neuesten Zeit sind auf diesera Ge- 
biet diejenigen folgender Autoren hervorzuheben: Krafft-Ebing, 
.1. Moll, Schrenk-Notzing, Havelock-Ellis, M. Dessoir, Hollander, 
Rosenbach, Bleuler, Gley, Friedmann, Magnus, Hirschwald, Hirsch- 
berg, Stroma, Klafi und viele andere, und in der russischen Literatur: 
Tarnowsky, Stefanowsky, Kowolewsky, Tscherback, die meinigen, die 
von Blumenati und einigen andern. 

Schon Casper 1 ) erkannte die Perversitaten der Geschlechts¬ 
tatigkeit in Gestalt einer angeborenen und einer erworbenen Form, 
die sich in letzterem Falle aus GeschleehtsiiberfluB und quasi l)ber- 
sattigung in dieser Beziehung entwickelt, an. 

An eine gleiche Teilung in diese oder jene Erganzungen und 
Variationen hielten sich viele der neuesten Autoren und darunter 
Tarnowsky. Gley, Krafft-Ebing, Havelock-Ellis, Moll u. a. 

Gegen das Angeborensein der Perversitaten sprechen sich 
Meyncrt , Hollander, Rosenbach, Kraepelin und Friedmann aus. Sie 
nieinen, da!3 die Perversitaten iiberhaupt nicht angeboren sein 
konnen. Wir wollen bemerken, daI3 C. Gley-) auBer den beiden ge- 
nannten Formen — der angeborenen und der durch Geschlechts- 
iibersattigung erworbenen — noch eine dritte anerkennt, wenn der 
Mensch beabsichtigt einen perversen Akt zu empfinden und sich 
dann allmahlieh an ihn gewohnt. 

*) J - Ludwig Casper: Klin. Novellen u. gerichtl. Medizin. Berlin 1863. 

'•) Gley: Ijcs aberrations de l’instinct sexuel d’aprfe de travaux recents. 


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W. Bechterew: Die Perversitaten und Inversitaten usw. 


101 


Dann verdient die Ansicht M. Dessoirs '), nach welcher man 
beziiglich der Geschlechtsentwic-klung zwei Perioden — die urspriing- 
liche Periode des nichtdifferenzierten Geschlechtstriebs und die 
weitere Periode des difTerenzierten Triebs unterscheiden mull, beriiok- 
sichtigt zu werden. Bis zur Periode der Reife ist dem Autor nach 
der Geschlechtstrieb nicht aufs kontrtire, sondern naehststehende 
Objekt, mogen es gleichaltrige Knaben, Miidchen oder sogar Tiere 
sein, gerichtet. Eist mit der Geschlechtsreife differenziert sich der 
Trieb bei normaler Entwicklung aufs entgegengesetzte Geschlecht. 
Ieh will noch bemerken, daB die Autoren bei den fruheren Arbeiten 
iiber die Perversitaten geneigt waren, die meisten derselben als ein 
Produkt der Degeneration anzusehen, was die Ansicht iiber ihren 
Ursprung wesentlich vereinfachte. 

Eine degenerative Grundlage erkannte man besonders den In- 
versitaten zu. 

Schon W. Fliefi (Der Ablauf des Lebens) sprach diesbeziiglich 
zuerst iiber die Bisexualitat der Organismen, wonach C. Gley in seiner 
Arbeit „Les aberrations de l'instinct sexuel" (Revue philos. 1885) 
die Theorie der Bisexualitat zur Erklarung der Inversitat heranzog. 
Dieser Theorie nach miissen im Gehirn zwei Zentren, von denen 
das zweite dem nicht seine Entwicklung 2 ) erhalten habenden Ge- 
schlecht entspricht, existieren. 

Nach Kraffl-Ebing fiihrt die bisexuelle Natur eines jeden Indi- 
viduums neben der Entwicklung des Geschlechts zu einer Bildung 
der mannlichen und weiblichen Centra ini Gehirn, die sich nur zur 
Zeit d^r Reife, hauptsachlicli unter dem EinflulJ der Keime der 
Geschlechtsdriise entvvickoln. 

Nach Krafft-Ebiitg gehort der heterosexuelle Trieb neben den 
physischen Erscheinungen (Bart, maimlicher Bau des Larynx, 
Haare usw.) zu den sekundaren Gesehlechtseigentumlichkeiten. Aber 
es gibt einzelne Personen, bei denen die sekundaren Gesehlechts¬ 
eigentumlichkeiten invers sind, der Mann erinnert an eine Frau und 
umgekehrt, was in einem Falle Feminismus, im andern Masculismus 
genannt wird. Nach der bisexuellen Theorie Krafft-Ebings sind die 
sekundaren Gesehlechtseigentumlichkeiten beider Geschleehter ait- 
fangs bei jedem Menschen in latentem Zustande, aber mit der Be- 


1 ) M. Dessoir: Z. Psychologie der Vita sexualis. Zeitsehr. f. d. ges. Neurol, u. 
I’sychiatr. 30. 

2 ) Siehe auch die Schriften von Chevalier (Inversion sexuelle 1893), Kraffl- 
Ebing: Zur Erklarung der kontraren Sexualempfindungen. Jahresber. f. Psychiatr. 
u. Nervenkrankh. XII. In gleicherWeise haben wir Hinweise von Dr. Ardnin (Jalirb. 
f. sex. Zwischenst. 1900), Hirschfeld: D. objektive Diagnose d. Homosexualitiit, 
Hermann: Genesie d. Gesetzes d. Zeugung. 7. Libido und Mania 1903 u. a. 


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102 


VY. Bechterew: Die Perversitiiten und Inversitiiten 


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stimmung dee Geschlechts entwickeln sich die einen und unter- 
driicken die andern Eigentiimlichkeiten des Geschlechts. 

Die Entwicklung der Ovarien hindert die Entwicklung des Barts 
und bewirkt die Entwicklung der Brustdriisen, die Entwicklung der 
Saniendrii.se dagegen bewirkt die Entwicklung des Barts und halt 
die Entwicklung der Brustdriisen zuriick. In gleicher Weise unter- 
driickt, nach Krafft-Ebing, die Entwicklung der Samendriise den 
Geschlechtstrieb zuni Mann, die Entwicklung der Ovarien dagegen 
halt den Geschlechtstrieb zur Frau zuriick. 

Hiernach ist es klar, da!3 nach Krafft-Ebing die Geschlechts- 
invereitat auf den Bedingungen der Lebensprozesse des Organismus 
liegriindet ist. 

Nach den andern. sich an eine gleiche Theorie haltenden 
Autoren handelt es sich uni ein ,.weibliche8‘‘ Gehirn in einem 
„mannlichen“ Korper und um ein „mannliches“ Gehirn in einem 
„weiblichen“ Korper. 

Krafft-Ebing unterschied eigentlich vier Grundformen oder, ge- 
nauer, Stufen der angeborenen Geschlechtsinversitat, — eine Teilung, 
die nach einigen Erklarungen auch von Moll angenommen wird. 

1. Den psychosexuellen Hermaphroditismus, wo bei Vorherrschen 
der Homosexual itat auch Spuren der Heterosexualitat erhalten 
bleiben. 

2. Die Homosexualitat ini eigentlichen Sinne des Wortes, wo 
jegliche Neigung zuni andern Geschlecht fehlt. 

3. Die Effemination, wo sich die ganze Personlichkcit deni 
inversen Geschlechtstrieb entsprcchend veriindert. 

4. Die Androginie. wo auch die Korperformen dem unnormalen 
Geschlechtstrieb entsprechen. 

Krafft-Ebing erkannte auch die erbliche Ubertragung der Per- 
versitaten an. Darwin erkannte bekanntlich die Erblichkeit der er- 
worbenen Merkniale und unter andereni der Leidenschaft zum Dieb- 
stahl an. Jedoch ist zu bemerken, daB die Theorie der Erblichkeit 
der erworbenen Eigentiimlichkeiten heutzutage nicht mal von seinen 
Nachfolgem anerkannt wird, weil an ihre Stelle die Theorie Weiff- 
manns , an die sich die meisten der zeitgenossischen Biologen halten. 
geriickt ist. Man hat freilich die neusten experimentellen Daten. 
die zugunsten der Darwinschen Ansichten sprechen, aber sie be- 
ziehen sich fast alle auf die niedern Tiere und konnen nicht auf 
den Menschen iibertragen werden. 

Wie dem auch sei, nach Krafft-Ebing entsteht die Geschlechts¬ 
inversitat durch Erblichkeit, wobei einer der Vorfahren eine krank- 
hafte Neigung zu seinem Geschlecht erwerben kann. die dann durch 
Erblichkeit auf die Nachkommenschaft iibertragen wird. 


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vom Standpunkt der Reflexologie 


103 


Doch sind die zugunsten dieser Ansicht angefiihrten Tatsachen 
wenig zahlreich und, was mehr ist, nicht geniigend gepriift. Die 
Beobachtung Krafft-Ebings ist vor allem auf den Erklarungen zweier 
K ranker begriindet. 

Ein Homosexualist versioherte, daB sein Vater auch Homo¬ 
sex ualist gewesen sei, in einem andern Falle versieherte ein Patient. 
daB sein Vater eine groBe Leidenschaft fiir hiibsche Diener gehabt habe. 

Max Dcssoir ist geneigt, die Homosexualitat zu einem un- 
differenzierten Geschlechtstrieb zu rechnen. 

Nach A. Moll ist das jedoch wenn auch zuliissig, so doch nur 
dort. wo sich eine sichtbare Schwankung, die bald als homosexueller. 
bald als heterosex ueller Trie!) erscheint, auBert. Aber er bezweifelt 
auch hier die Richtigkeit einer solehen Erkliirung, weil sich dann 
der Trieb ebenso leicht auf Tiere, wie auch auf Menschen miinn- 
lichen und weiblichen Gesehlechts richten miiBte, was jedoch nach 
Erreichung der Geschlechtsentwicklung auBerst selten beobachtet 
wird. AuBerdem miiBte man in diesem Fall wieder die Erklarung 
suchen, warum sich gerade hier nicht eine ausschlieBliche Hetero- 
sexualitat, die seiner Meinung nach das Resultat einer angeborenen 
Priidisposition ist, entwickelt habe. 

Als, nach .-1. Moll, ein Patient bei seinem Vater in den Biichern 
eine Menge Anmerkungen iiber die Inversitat fand, vermutete er, 
daB sein nachster Verwandter (nicht Vater) Homosexualist gewesen 
sei. und daB dieses Gebiet deshalb den Vater so interessiert habe. 

Derselbe Autor fiihrt Falle erblicher Piiderastie an. So hatte 
ein Koch eine Neiguug fiir Frauen und gleichzeitig fiir Paderastie. 
Sein illegitimer Sohn, der apart lebte. hatte auch eine Neigung fiir 
beide Geschlechter. 

Es werden dann Falle von Inversitiiten unter nahen Verwandten, 
z. B. Briidem oder Sclnvestern, angefiihrt: „Viele Manner, die an 
Inversitiiten litten,“ sagt A. Moll, „erzahlten mir von der vollstandigen 
Geschlechtsaniisthesie ihrer Briider, Schwestern oder Eltern. u In 
einzelnen Fallen muBte man horen, daB die Schwestern eine un- 
gewohnliche Gleichgiiltigkeit fiirs Hofmachen der Manner zeigten. 
In einem Falle sagt Krafft-Ebing, daB die Schwester des Patienten 
sich sehr kalt Mannern gegeniiber verhielt, aber in einige ihrer 
Freundinnen verliebt war. Mir sind auch Falle bekannt, wo patho- 
logische Inversitaten bei einigen Gliedern ein und derselben Familie 
beobachtet wurden. Ein Patient, ein Sadist, dessen Geschichte an- 
fangs Krafft-Ebing und dann ich beschrieben hatte, hatte einen 
Bruder mit „sadistischen Neigungen". Es wird dann auf einen Fall 
Krafft-Ebings mit erblichen sadistischen Neigungen 1 ) hingewiesen. 

') .4. Moll: Inversitat. Russische Ubers. S. 59—60. 


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W. Bechterew: Die Perversit&ten und Inversitaten 


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Die Ansicht von tier Erblichkeit der Geschlechtsabnormitaten 
wird unter anderm auch von Ribot 1 ) und Thoulouse' 2 ) aufrechtgehalten. 
Wenn man n&ch deni Bekenntnis eines der Homosexualisten, des sen 
Meinung A. Moll anfuhrt, urteilt, sind dieselben geneigt sich als ein 
Opfer der Erblichkeit zu betrachten. „Ob der Homosexualismus 
erblich ubertragen wird oder nicht," schlieBt der Erzahler, „jedenfalls 
denken die homosexuellen Menschen, daB ihr Trieb ererbt ist." 

Doch auch selbst Krafft-Eling besteht nicht auf der Unbedingt- 
heit seiner Theorie. 

Was A. Moll betrifft. so ist seiner Meinung nach. „wenn man 
die Haufigkeit der Homosexualitat in Betracht zieht, das vorhandene 
Material iiber die Erblichkeit noch zu unbedeutend" (1. c. Seite 60 . 
Von meinem Standpunkt aus leidet auch wesentlich die Qualitiit 
des Materials. 

Der am wahrscheinlichsten sogar von den Arzten aufrecht er- 
haltene Glaube an die Erblichkeit lenkt bei seiner Verbreitung unter 
den Homosexualisten wohl zu sehr ihre Aufmerksamkeit auf diese 
Seite, besonders wenn die auf die Entwicklung der Homosexualitat 
wirkenden iiuBeren Ursachen einer so friihen Kindheit angehoren, daB 
sie in Vergessenheit geraten oder unbemerkt bleiben. In Anbetracht 
dessen konnen die Mitteilungen der Homosexualisten oder Sadisten 
beriicksichtigt werden, aber das wissenschaftliche Material miissen 
eigentlich die Geschichten, die in jedem einzelnen Fall vom Arzt mit 
besonderer Beriicksichtigung des Einflusses der verschiedenen auBeren 
Umstande zusammengestellt werden und die Rolle des gegenseitigen 
Einflusses und der Nachahmung bilden. Die bekannte Meinung 
Mantegazzas, daB die Homosexualisten eine falsche Lage der fiir die 
Geschlechtsteile im Gebiet des Rectums bestimmten Nerven haben. 
wurde nicht ohne Grund schon von Krafft-Ebing bestritten. Diese 
Theorie konnte nur fiir die passiven Paderasten, die unter den 
Homosexualisten in verschwindender Anzalil vorhanden sind. von 
Bedeutung sein. Hierbei gewiihrt dem Paderasten der wirklic-he 
Geschlechtsakt Befriedigung und nicht das Hineinstecken der Finger 
oder anderer Gegenstande in das Rectum. Augenscheinlich spielt 
hier der durch diesen Akt hervorgerufene emotionelle Zustand, der 
unter anderen Verhaltnissen der Reizung nicht vorkommt, eine be- 
sondere Rolle. 

In letzter Zeit fingen iiberhaupt die Theorien, die die Inversi¬ 
taten und Perversittiten auf ein angeborenes oder erbliches Element 
zuriickfiihren, mit dem Faktum, das die Bedeutung der iiufiern 


1 ) Th. Ribot: Erblichkeit der seelischen Eigenschafteu. Russische Cbere. 
-) C. Thoulouse: I>es causes de la folie. Prophilaxie et assistance. 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


105 


Moraente in der Entwicklung der Geschlechtsanomalien begrenzt, 
zusammenzustoBen. Unter anderem habe ich sogar Falle von In- 
versitiit mit ungiinstiger Erblichkeit dureh Suggestion 1 ) kuriert. 

Andererseits legen viele Autoren (Gley, Tarnowsky u. a.) der 
Gewohnheit in der Entwicklung der Inversitiit eine Bedeutung bei. 
Oberhaupt muB man sagen, daB, je ofter inverse Akte vorkommen, 
um so schneller wurzeln sie ein, indem sie in eine mehr oder weniger 
dauerhafte Form der Inversitiit iibergehen. 

t)ber die Frago, ob die moralische Kontagion, Nachahmung und 
V'erfuhrung die Entwicklung der Geschlechtsinversitiiten begiinstigt, 
kbnnen kaum zweiorlei Meinungen existieren, obgleich A. Moll aueh 
in dieser Beziehung auf Grund einiger Daten Zweifel ausspricht. In 
dieser Frage muB ich Professor Tarnowsky, der erkliirt, daB ein mit 
Geschlechtsinversitat behaftoter Knabe in einem Internat leicht ein 
Trager der Krankheit werden kann, den Vorzug geben. 

Anfangs kann ein junger Mensch einen piiderastischen Akt voll- 
fiihren, indem er sich eine Frau vorstellt. Wenn er denselben Akt 
mehrmals ausgeiibt hat, wird er in geschlechtlicher Beziehung anormal. 
und schlieBlich macht die Gewohnheit die Piiderastie zu einem Mittel 
der Befriedigung des Geschlechtstriebs. 

Die Isoliertheit der Frauen dient auch nach der Meinung vieler 
(■ Chevalier, Krau/3, Appert, Tarnowsky u. a.) als Ursacho der Inversi- 
tiiten, doch hat diese Form einen voriibergehenden Charakter, augen- 
scheinlieh deshalb, weil es sich in besagtem Falle um Erwachsene 
handelt, bei denen der Geschlechtstrieb sclion zum Stillstand ge- 
kommen ist und der anormalo Akt nur durch die Umstande er- 
zwungen ist, bei deren Anderung die Sache wieder normal wird. 

Aber eine dauerndo Isoliertheit der Geschlechter in der Kindheit 
kann augenscheinlich einen groBen EinfluB in genannter Beziehung 
haben. Hiervon iiberzeugen uns unter anderm die Beobachtungen 
Havelock-Ellis, die ihn veranlassen, sich entschieden gegen eine 
Isoliertheit der Geschlechter in der Schule 1 ) auszusprechen. 

„Ein bekannter Herr, Hermaphrodit in psychosexueller Be¬ 
ziehung, d. h. einer, der eine Neigung fiir Manner und Frauen hatte, 
erzahlte mir, daB diese eigonartige Inversitiit seiner Meinung nach 
nur durch eine strenge Erziehung erkliirt wird. Der Geschlechtstrieb 
stellte sich bei ihm, wie er sagt, sehr friih ein, da er aber dureh 
seine strenge Erziehung vollstiindig von Frauen isoliert war, ent- 

1 ) W. Berhterew: Oboserenje Psychiatrie. 1898, S. 587 u. Zentralbl. f. Nerven- 
beilk. fiirs selbe Jahr. Sielie auch neuropath, u. psychiatr. Beobachtungen (russisch) 
1900. 

2 ) Havelock-EUis und •/. Symands: D. kontrSre Geschlechtsgefiihl. Leipzig 

1896. 


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W. Bechterew: Die Perversitaten und Invereitaten 


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wickelte sich bei ihm der Trieb zu Miinnern. Nachher fingen auch 
Frauen an, ihn zu erregen, abor die Neigung zum mannlichen Ge- 
schlecht verschwand nicht melir." (.4. Moll, 1. c. S. 29.) 

Nach Meier bewirkte die soziale Isoliertheit unter Miinnern und 
Frauen die Entwieklung der Homosexualitat. 

Auch im Orient kann die Entwieklung der Paderastie mit der 
strengen Isoliertheit der Frau in Zusammenhang gebracht werden, 
aber nach Liebermann mit deni Opiuinrauclien. 

Gegenseitiger Onanismus, der in geschlossenen Schulen weit ver- 
breitet ist, dient nach Tarnowsky und andern Autoren als Ursaclie 
der Entwieklung der Homosexualitat. Moll jedoch sprieht diesbeziig- 
lich Zweifel aus, indem er sagt, daB die angefiihrten Tatsaehen 
wenig bewiesen seien. Nach seinen Worten kann man daraus. daB 
ein an Inversitat Leidender sich mit gegenseitigem Onanismus be- 
schaftigt, noch nicht iiber den Grundzusammenhang dieser beiden 
Erscheinungen urteilen, weil die Inversitat zuweilen schon vor dem 
Beginn der Masturbation erscheint. 

Eine nicht geringere Bedeutung hat das Zusammenleben ein 
und desselben Geschlechts, besonders bei Unverheirateten. 

Dadurch wird die Homosexualitat unter den katholischen Geist- 
lichen und unter den Lehrern erklart. Sowohl hier als auch dort 
figurieren auffallend oft unreife Knaben als Geschlechtsobjekte. Eine 
besondere Verbreitung der Homosexualitat in Form von ..paedophilia 
erotica" (Krafft-Ebing) wird auch in den Vereinigten Staaten wegen 
Mangel an Frauen beobaehtet. Das Alter der als Geschlechtsobjekt 
dienenden Knaben schwankt zwischen 10 und 15 Jahren. 

Wahrscheinlich ist das jungfriiuliche Aussehen der Kinder dieses 
Alters einer der Griinde ihrer Anziehung als Geschlechtsobjekt. 

Wenn es sich um inverse Aktc als Profession zweeks Erwerb 
handelt, so entwickelt sich nach Tarnowsky die Homosexualitat als 
Inversion. A. Moll bezweifelt das jedoch, ohne dafiir besondere 
Griinde anzufiihren. 

Es ist bemerkenswert, daB nach den Aussagen von Plofl In- 
versitiiten bei wilden und halbzivilisierten Volkern nicht beobaehtet 
werden, iibrigens nicht ohne Ausnahmen, zu denen z. B. die Aleuten 
gehoren. Ebenso ist auch die Masturbation bei den Orientalinnen 
und Hottentottinnen verbreitet, was wohl mit der Polygamie in 
Zusammenhang stehen kann. 

Friedreich weist auf die Haufigkoit der Paderastie bei den Wilden 
Amerikas hin. Die Daten Lombrosos stimmen auch mit dem eben 
Angefiihrten iiberein. 

Was eigentlich die Invereitaten betrifft, so sagen einige Autoren 
dariiber, daB. wenn die Inversitat den normalen Geschlechtstrieb er- 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


107 


setzt, es sich urn ihren degenerativen Ursprung handelt, wahrend 
hier andere Autoren geneigt sind, den EinfluB der in friihem Alter 
wirkenden dauernden Momente anzuerkennen. 

Letztere Ansicht erhiilt besonders beziiglich des Fetischismus eine 
Bedeutung von der Zeit an, als Bind auf die Rolle der Eindriicke 
von Kindheit auf die Entwicklung der Erscheinungen des Fetischis¬ 
mus hinwies 1 ). 

Von den auf genanntem Gebiet arbeitenden Autoren wollen wir 
etwas 1 iinger bei zweien, A. Moll und F. Freud, vorweilen, die, 
wenngleich zeitgenossische Autoren in dieser Frage, gleichzeitig Ver- 
treter entgegengesetzter Ansichten iiber die Entwicklung. des Ge- 
schlecht8triebs und den Ursprung der Perversitaten sind 2 ). 

Bekanntlich besteht A. Moll in seiner Schrift „Perversitiiten“ auf 
dera Angeborensein des heterosexuellen Geschleehtstriebs. Dein Autor 
nach muB man durchaus das Angeborensein der Fiihigkeit, sexuell 
auf die Erregung des andern Geschlechts zu reagieren, zugeben. Aber 
die Kultur hat diese Reizungen geiindert. So werden die aufs Auge 
wirkenden Reizungen dureh die Kleidung und verschiedene Erfin- 
dungen der Toilettenkunst geschw r iicht. Die auf den Geruchssinn 
wirkenden Reizungen werden durch Parfiim, Waschungen usw. er- 
stickt. Durch eine Reihe von Generationen gehend, sclnvacht dieser 
EinfluB der Kultur wesentlich die Wirkung der natiirlichen Reizungen 
ab, wodurch sich auch die Tatsache erklart, daB ein entbloBtes Sub- 
jekt oftmals keinen Geschlechtstrieb hervorruft, wahrend dieselbe 
Person angekleidet die entsprechende Erektion herbeifiihrt. 

In einzelnen Fallen, wo diese Schw'achung des angeborenen Triebs 
sehr hochgradig ist, spielt irgendeine Zufiilligkeit, wie es besonders 
beim Fetischismus der Fall ist, eine besonders wichtige Rolle. Der 
Autor gibt die Moglichkeit, daB man den Verlust oder die Schwachung 
der angeborenen heterosexuellen Fahigkeit da anerkennen muB, wo 
der Geschlechtstrieb aufs mannliche Geschlecht gerichtet ist, zu. Dem 
Zufall im Leben schreibt jedoch der Autor eine begrenzte Wirkung zu. 

Wenn man die Ansicht iiber den aus zw r ei Bestandteilen be- 
stehenden Geschlechtstrieb — dem Bestreben zur Detumescenz und 
dem Bestreben zur Beriihrung — in Betracht zieht, muB unter oben- 
genannten Kulturverhiiltnissen das Zuriickbleiben in der Entwicklung 
des Bestrebens zur Detumescenz und der Mangel am Bestreben zur 
Beriihrung entstehen. Beim Homosexualismus ist in Wirklichkeit nur 
der eine Bestandteil des Geschleehtstriebs, namlich das Bestreben 

*) Siehe auch W. Bechterew: Obosr. Psychiatric 1903. Nr. 1, S. 11. 

2 ) Ich halte es in besagtem Falle fiir wiinschenswert, die Ansichten dieser 
Autoren nicht nur geniigend vollstandig wiederzugeben, sondem auch nach Mog¬ 
lichkeit mich nfther an ihre eigenen Erklarungen zu halten. 


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W. Bechterew: Die Perversitaten und Inversitaten 


zur Beriihrung, anormal, wahrend das Streben zur Detumeseenz oder 
die peripheren Prozesse normal bleiben. 

Ferner erklart A. Moll 1 ) bei der Beurteilung der Aussagen der 
Autoren, dab aus zufalligen Eindriicken gewisse Assoziationen, die 
den Charakter des Geschlechtstriebs bestimmen, entstehen, dab aus 
gegenseitigem Onanismus zwischen Knaben die Inversitat des Ge¬ 
schlechtstriebs entsteht, und dab man durch Einimpfung von wcib- 
lichen Gewohnheiten bei Knaben wahrend der Erziehung auch eine 
Gesehlechtsinversitat erhalt. Ich personlich halte mich an die Mei- 
nung, dab, wenn diese Einfliisse der Einwirkung auch die erwahnten 
Folgen ergeben, in den meisten Fallen auberdem eine angeborene 
Anlage dazu vorhanden ist. Wenn sich die Sache anders verhalten 
wiirde und der gegenseitige Onanismus unter Knaben hier wirklich 
eine wesentliche Rolle spielen wiirde, so wiirde die Homosexualitat 
eine unvergleichlich grobere Verbreitung finden, und Inversitaten 
wiirden weit ofters als jetzt beobachtet werden. Der Autor fiigt 
hinzu, dab, da der Geschlechtstrieb durch den Onanismus die meisten 
Menschen befriedigt, diese letzteren, wenn die Theorie der Assoziation 
richtig ware, in der Folge das Bediirfnis hatten, sich durch den 
Onanismus zu befriedigen. Im Gegenteil miibte die Neigung zum 
Coitus eine seltene Ausnahme sein, wenn aus den ersten Eindriicken. 
die zu einer Befriedigung des Geschlechtstriebs fiihren, bestandigo 
Assoziationen bei Fehlen von Anlage entstehen wiirden. 

Indem der Autor von einer angeborenen Anlage zu Inversitaten 
spricht, bemerkt er, dab es hierbei durchaus nicht notwendig sei. 
dab sich die Inversitat bei den Vorfahren geaubert hat. Hier wieder- 
holt sich also dasselbe wie bei andern angeborenen Stornngcn, sagen 
wir z. B. dem Schwachsinn. Aber da die in geschlechtlicher Beziehung 
Invertierten meistenteils, wenigstens in Fallen scharf ausgesprochener 
Inversitat, keine Nachkommenschaft haben, mub man diese an¬ 
geborene Anlage haupt3achlich aufs Degeneriertsein der von nerven- 
und geisteskranken Eltern abstammenden Person zuriickfuhren. Doch 
herrscht iiber diese Frago unter den Autoren augenscheinlich keine 
verschiedene Meinung, weil die meisten von ihnen, wie Krafft-Ebing , 
Charcot, Manian , Westfal, Halbau, Kowalewsky, Burneville, Gley und 
viele andere in Fallen von Inversitaten die degenerative Natur an- 
erkennen. 

Nach dem Autor ist die heterosexuelle Reaktionsfahigkeit eine 
angeborene Eigenschaft des normalen Menschen wie das Gehim, das 
Herz, die Leber, die Nieren. 

Der Autor lenkt dann die Aufmerksamkeit darauf bin, dab es 
unzweckmabig sei, den Geschlechtstrieb als eine isolierte Funktion 
') A. Moll: Sexuelle Inversitat. St. Petersburg. S. 8 (russisch). 


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vom Standpunkt tier Reflexologie. 


109 


zu betrachten, er ist einerseits rait den sekundaren Geschlechts- 
inerkmalen. andererseits mit vielen anderen psychischen Erseheinungen 
verbunden. Er ist nicht in den Geschlechtsteilen, sondern im Gehirn 
lokalisiert, und deshalb ist die Tatsache, daB mit den mannlichen 
Genitalien der weibliche Geschlechtstrieb und mit den weiblichen 
der mannliche verbunden ist, begreiflich. 

Moll leugnet aueh nicht die erworbenen Formen der Inversitat, 
aber er erkennt fiir die angeborenen und erworbenen Formen den 
allgemeinen atiologischen Moment, den er mit ^Moment der psychi¬ 
schen oder Nervenanlage und Degeneration des Zentralnervensystems 1 * 
bezeichnet, an. 

In einem Wort, es handelt sich um erne gewohnliche Anlage 
zu Nerven- und Geisteskrankheiten, an die sich verschiedene Formen 
von Inversitaten schlieQen. 

Doch muB man im Auge haben, daB bei der weitverbreiteten 
Erklarung der erblichen Anlage letztere nicht immer bei den In- 
vertierten bewiesen werden kann. Das erwahnt auch Moll, indem er 
sich auf Havelock-Ellis, Carpenter, Hoche, Bafalowitsch und Tarnowsky 
beruft. Ja, selbst auch Moll konnte in einigen Fallen bei sorgfaltiger 
Untersuchung keinerlei Anlage entdecken. 

Viele rechnen zu den atiologischen Elementen der sexuellen In¬ 
versitat die Geschlechtsexzesse und iiberhaupt ein lastorhaftes Leben. 
A. Moll spricht die Bedeutung dieses Moments ab, indem er seine 
absprechende Beziehung folgendermaBen erklart: Mir ist ebenso schwer 
mir das vorzustellen, w r ie ein Mensch, dor zu viel Naschereien genossen 
hat, gerade infolgedessen an einem schonen Morgen an den wider- 
wiirtigen Tiefen des StraBenschmutzes Vergniigen findet. Er meint. 
daB, wenn das richtig ware, man auch den umgekehrten SchluB 
ziehen konnte, daB die Geschlechtsexzesse in der homosexuellen Liebe 
auch den Trieb zur Frau nach sich ziehen, was man zur Heilung 
benutzen konnte. 

Doch darf man nicht unberiicksichtigt lassen, daB, wenn man 
vom Laster spricht, es sich um Exzesse und Reizungen nicht nur 
im Sinne eines hiiufigen Coitus, sondern um Mitbeteiligung an Ge- 
schlechtsexzessen mit solchen Verfiihrern, die durch ihr Beispiel zur 
Ausiibung von denselben Akten verleiten, handelt. 

Was den Onanismus betrifft, so wird seine Rolle beziiglich der 
Inversitaten oder Anlage darauf zuriickgefiihrt, daB das ideale Ele¬ 
ment des Triebs zum weiblichen Geschlecht gleichzoitig mit ihm 
unterdriickt wird, und das schafft einen giinstigen Boden fiir In¬ 
versitaten. AuBerdem finden gerade Onanisten, w r enn sie beim Ona¬ 
nismus zu groben Manipulationen mit den Handen greifen, oft keine 
Befriedigung durch das Zusammenziehen des Sphincters cunni. im 


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YV. Beehterew: Die Perversitaten und Inversitaten 


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Gegenteil, sie konnen durch Paderastie mehr Befriedigung erlangen, 
da das Zusaramenziehen des Sphincter ani energischer ist, weil sich 
sein Ring fester schlieBt. Dieser Moment wird unter anderem von 
Mantegazza und Stark hervorgehoben. 

Die Theorie der angeborenen Anlage zum Homosexualismus 
zwingt einen anzuerkennen, daB die schon in frischer Kindheit vor- 
kommenden AuBerungen des Geschlechtstriebes aufs kontrare Ge- 
schlecht gelenkt werden miissen, wahrend bekanntlich nach Dessoir 
die Neigung sich nicht zum kontraren Geschlecht, sondern am haufig- 
sten zum nachststehenden Objekt auBert. Die Dauer dieses Stadiums 
der Undifferenziertheit des Geschlechtstriebs ist individuell ver- 
schieden. 

t)ber die Meinung, daB wir bei einer anderen Ansicht oft bei 
Erwachsenen Neigung zum Onanisms und verhaltnismaBig selten den 
heterosexuellen Geschlechtstrieb beobachten miiBten, muB man be- 
merken, daB der Onanismus doch zur masturbierenden Inversitat 
fiihrt, wenn die Neigung zum Onanismus fiirs ganze Leben bleibt, 
wobei der normale Geschlechtsakt bei Beibehaltung des Geschlechts¬ 
triebs entweder gar nicht ausgefiihrt wird oder sogar der Trieb zum 
Geschlechtsakt verloren geht. Wenn das bei weitem nicht bei alien 
Onanisten geschieht, wenn in vielen Fallen der Onanismus spurlos 
vergeht und hochstens zur Entwicklung der Neurasthenic fiihrt, so 
muB man in Betracht ziehen, daB sich der Onanismus in den meisten 
Fallen erst dann entwickelt, wenn der Geschlechtstrieb eine ent- 
sprechende Richtung hat, wobei der Onanismus selbst in diesem 
Falle den sexuellen Akt mit dem kontraren Geschlecht symbolisiert. 
Endlich bedingt die den Degeneraten eigene besondere Eindrucks- 
fahigkeit zweifellos die Neigung zur Befestigung des Onanismus und 
Ersatz fiir den normalen Verkehr, besonders wenn er sehr friih an- 
gefangen hat. 

Andererseite wiirde uns vom obengenannten Standpunkt der 
EinBuB der Kultur auf die Entwicklung des Homosexualismus ganz 
unverstandlich sein. Bekanntlich stellte bei den alten Volkern der 
Homosexualismus ein Institut seiner Art vor und war sehr verbreitet. 
was bei den Volkern des Orients noch jetzt der Fall ist. 

Wenn man diesen Standpunkt einnimmt, miiBte man eine be¬ 
sondere angeborene Neigung zur Homosexualitat bei den Volkern 
der Alten Welt und den zeitgenossischen orientalischen Volkern ver- 
muten, was aber nicht angenommen werden kann. 

In genannter Beziehung verdient die Meinung Liebermanvs 1 ) 
iiber die Beziehung der homosexuellen Prostitution im Orient zum 


*) Liebermann: Les fumeurs d’Opiuni en Chine. Etude medicale. Paris 1862. 


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vom Standpunkt der Heflexologie. HI 

Opiunirauchen, das die Geschlechtssphiire erregt, eine besondere Auf- 
merksamkeit. 

Nach den Untersuchungen Liebermanns hat sich die Prostitution 
in China seit der Verbreitung des Opiumrauchens sehr entwickelt. 
Als Bestatigung dafiir dient auch das Faktum, dab in den siidlichen 
Provinzen, wo das Opiunirauchen weniger verbreitet ist, auch die 
homosexuelle Prostitution geringer ist. 

Es ist kaum notig zu sagen, daB in diesem Falle nicht nur 
das Opiunirauchen eine Bedeutung hat, sondern auch das Milieu, 
in deni es vor sich geht. 

Uberhaupt halt meiner Ansicht nach die Theorie der angeborenen 
Neigung zur Homosexualitiit wenigstens in den meisten Fallen keine 
Kritik aus. Die Sache ist die, daB wir das Abstumpfen des Ge- 
schlechtstriebs nicht selten als eine angeborene, sondern eino er- 
worbene Erscheinung haben, und doch beobachten wir nicht, daB 
dieses Fallen der Geschlechtsfahigkeit irgendwie mit Geschlechts- 
inversitaten verbunden ist. Was die Degeneraten betrifft, so haben 
wir in einzelnen Fallen bei ihnen ein Fallen des Geschlechtstriebs, 
in anderen dagegen eine Steigerung und uberhaupt eine besonders 
friihe Entwicklung bei einer erhohten nervosen Eindrucksfiihigkeit. 
Und eben dieser Umstand dient auch in passenden Fallen als Grund- 
lage zur Entwicklung der Geschlechtsinversitaten. 

Es handelt sich darum, daB man keinen geniigenden Grund hat 
den Trieb zum kontraren Geschlecht als ein sekundiires Geschlechts- 
merkmal anzusehen. Wenn man anerkannt hat, daB die Eigentiim- 
lichkeiten des physischen und psychischen Zusammenhangs des Mannes 
und die der Frau sekundiire Geschlechtsmerkmale eind, fragt es sich, 
welche Beweise man zugunsten dessen anfiihren kann, daB das kon- 
trare Geschlecht der Natur seines Organismus nach in geschlechtlicher 
Beziehung erregen und folglich auch das kontrare Geschlecht anziehen 
muB? Zu diesem Zweck waren spezielle Versuche an Tieren, die seit 
ihrer Geburt isoliert von anderen gehalten worden sind, notwendig, 
nach der Entwicklung der Geschlechtsreife miiBte man sie zusammen 
mit ebenso aufgezogenen Tieren kontraren Geschlechts einer Beob- 
achtung unterziehen. In einem Falle nahm ich von der Mutter zwei 
zwei Wochen alte Ferkel Yorkshirer Rasse verschiedenen Geschlechts. 
Bei kiinstlicher Fiitterung gediehen sie und erreichten ihre Ge- 
schlechtsentwicklung, aber ungeachtet ihres bestiindigen Zusammen- 
lebens zeigtcn Bie keinerlei Anzeichen von Geschlecht3trieb und gaben 
trotz aller Fiirsorge eines erfahrenen Viehziichters keinen Zuwachs. 

In anderen Fallen beobachtete ich nicht selten, daB junge Hiin- 
dinnen und sogar Kiihe sich auf andere des gleichen Geschlechts 
setzten und die mannlichen Geschlechtsbewegungen machten. Alle 


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112 


\V. Bechterew: Die Perversitaten und Inversitaten 


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diese Daten sprechen nicht fur das Angeborensein der heterosexuellen 
AuBerungen, sondern fiir ihr Entstehen aus individueller Erfahrung. 
A. Freud entwickelte auf Grund von Daten der Psychoanalyse aus- 
fiihrlich eine ganz andere Theorie des Geschlechtstriebs und der In¬ 
versitaten 1 ). 

Zu Inversitaten rechnet F. Freud einerseits Falle von Benutzung 
von Korperteilen, die nicht zum Geschlechtstrieb vorher bestimmt 
sind, zu sexuellen Zwecken, andererseits Falle, die sich durch eine 
Verzogerung oder einen Aufenthalt der vorhergehenden Beziehungen 
zum sexuellen Objekt charakterisieren, wahrend normale Beziehungen 
schnell abgemacht werden miissen. — 

Natiirlich erweitert diese allgemeine unbefriedigende Bestimmung 
den Begriff der Perversitat bis zur volligen Unbestimmtheit, anderer¬ 
seits bietet sie keinerlei Stiitzpunkt fiir eine Trennung pathologischer 
Zustande von normalen. was auch der Autor selbst einsieht. 

So sagt er, daB es keinen einzigen gesunden Menschen gebe, 
bei dent sich nicht zum normalen sexuellen Zweck etwas, was man 
Inversitat nennen konnte, beimischt. Und andererseits, daB man 
gerade auf dem Gebiet des sexuellen Lebens auf besondere, bis jetzt 
ungeloste Schwierigkeiten stoBon miiBte, wenn man zwischen einer 
einfachen Variation in den Grenzen der physiologischen Norm und 
den krankhaften Symptomen eine scharfe Grenze ziehen wolle. 

In einem anderen Teil seiner Arbeit bemiiht sich der Autor, dem 
Begriff der Perversitat vom Standpunkt der Pathologie naherzutreten. 

Wir haben Grund, die Perversitat als ein krankhaftes Symptom 
in den Fallen anzusehen, sagt er, wenn sie in alien Verhiiltnissen 
die normalen Beziehungen verdriingt und ersetzt, wenn die Inversitat 
fixiert ist und das einzige Mittel zur Befriedigung des Geschlechts- 
bedurfnisses ist. Aber wir konnen eine Perversitat nicht pathologisch 
nennen, wenn sie sich neben dem normalen sexuellen Objekt und 
dem Zweck auBert, wenn Bedingungen, die ihre Entwicklung be- 
giinstigen und eine normale Entwicklung verhindern, vorhanden sind. 

Nach Freud ist die Neigung zu Inversitaten nichts besonders 
Seltenes, sondern muB als Eigenschaft einer normalen Konstitution 
betrachtet werden. 

Den Inversitaten liegt etwas Angeborenes zugrunde, aber das 
ist etwas, was alien Menschen eigen ist. Dieses Etwas kann als 
Keim in seiner Intensivitiit schwanken und seine Entwicklung von 
den iiuBeren Lebensverhiiltnissen erwarten. Es handelt sich um die 
angeborenen, von der Konstitution gegebenen Wurzeln des Ge¬ 
schlechtstriebs. 


*) F. Freud: Theorie d. Geschlechtstriebs. Moskau 1911 (russisch). 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


113 


In einigen Fallen verwandeln sich diese Wurzeln in Inversitaten, 
in anderen bei Verdrangungen in Krankheitssymptome, indem sie 
einen bedeutenden Teil der sexuellen Energie an sich ziehen. Im 
dritten Falle fiihren die Keime der Inversitaten nach Vermeidung 
beider Extreme durch Beschriinkung und Umarbeitung dieser Keime 
der Inversitaten zur Entwicklung des sogenannten normalen Ge- 
schlechtslebens. 

Eine Konstitution mit Keimen aller Perversitaten hat nur 
ein Kind. 

An einer anderen Stelle sagt Freud hieriiber folgendes: Den 
angeborenen Unterschieden der sexuellen Konstitution gebiihrt wahr- 
scheinlich die groBte Bedeutung. Unter erwahnten Unterschieden 
der Konstitution versteht der Autor das Vorherrschen des einen 
oder anderen Instinkts der sexuellen Erregung. Geben wir von seinem 
Standpunkt aus auch solche Variationen der urspriinglichen Grund- 
lage, die unvermeidlich und ohne jegliche fremde Mitwirkung zur 
Schaffung eines normalen Geschlechtslebens fiihren, zu. Solche Varia- 
tionen ist er geneigt als Degenerative zu betrachten und sie als den 
Ausdruck einer erblichen Verschlechterung der Rasse anzusehen. 

Ferner kann man, dem Autor nach, zuweilen Perversitiit und 
Neurose in ein und derselben Familie finden, wobei die Manner oder 
einer der Manner positiv invertiert sind, und die Frauen entsprechend 
ihrer Neigung zur Verdriingung negativ, d. h. hysterisch — ein guter 
Beweis zu der von uns gefundenen Mitbeziehung zwischen zwei Er- 
krankungen der Geschlechtsinversitaten und der Hysterie. Der 
Autor gibt nicht die angeborene Schwiiche des von anderen Autoren 
anerkannten Geschlechtstriebes zu, aber er erkennt die Moglichkeit 
einer konstitutionell-bedingten Schwiiche eines Faktors des Geschlechts¬ 
triebes, namlich der genitalen Zone, durch welche dann die Ver- 
bindung der einzelnen Geschlechtsentwicklungen zwecks Moglichkeit 
einer Vermehrung entsteht, an. Wenn diese Verbindung in der 
Periode der Geschlechtsreife nicht vor sich geht, so wird der starkste 
der anderen sexuellen Komponenten in den Vordergrund treten und 
sich als Perversitat auBern. 

Ein anderer Ausweg kann durch die Verdrangung in Symptome 
der Neurose entstehen. 

Einen dritten Ausweg kann es infolge von Sublimation in Ge¬ 
stalt von AbfluB zu starker Erregungen sexuellen Charakters in 
ganz andere Gebiete, z. B. das der Kunst, geben. 

Die Invertierten sind nach Ansicht des Autors keine Degenorierten, 
weil die Inversitat bei in anderer Hinsicht ganz normalen und voll- 
kommen arbeitsfahigen und sogar auf geistiger und moralischer Hohe 
stehenden Personen vorkommt. 

Archiv fUr Psychiatrie. lid. 68. 8 


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114 


W. Bechterew: Die Perversitiiten und Inversitaten 


Der Autor zieht zur Erkliirung der Inversitat die bisexuelle 
Organisation heran, wobei er sie nicht iin allgemein angenommenen 
Sinn als Anerkennung einer besonderen Entwicklung an Stelle des 
physischen Bisoxualismus des psychischen Bisexualisraus (psychischer 
Hermaphroditismus), wie Krafft-Ebing meinte, oder als Existenz eines 
besonderen weiblichon 1 ) Gehirns bei den Mannern oder, nach einer 
anderen Erkliirung, eines mannlichen Gehirns bei den Frauen ver- 
steht. Ohne seinen Begriff des Bisexualismus ntiher zu bestimmen. 
erkliirt der Autor, daB wir auf Grund der bis jotzt bekannten Daten 
das Entstehen der Inversitat nicht befriedigend erklaren konnen. 

Im vorhergehenden handelte es sich eigentlich um Inversitaten 
hinsichtlich der Geschlechtsobjekte. Die zweite Gruppe der Geschlechts- 
anomalien bezieht sich aufs sexuelle Ziel. 

Was den Ursprung dieser Perversitiiten betrifft, so entwickelt 
sich dem Autor nach der Geschlechtstrieb gleichsam schon in den 
ersten Tagen nach der Geburt, wobei das Saugen der Mutterbrust 
dem Geschlechtsakt gleichkommt, aber das Kind ist autoerotisch, 
weil es an seinem eigenen Korper seine Befriedigung findet. Unter 
dem EinHuB der Korruption kann das Kind polymorphisch perversiert 
scin, d. h. es kann zu alien moglichen Perversitiiten geneigt sein. 
Mit der Zeit tritt beim Kinde eine Amnesie zu dieser Periode des 
Geschlechtslebens ein, und die Energie des Geschlechtstriebs richtet 
sich auf andere Ziele, kehrt aber zur Periode der Geschlechtsreife 
wieder gleichsam zuriick. Indem der Autor die Reizungen der 
genitalen Zone durch Unreinlichkeit erwahnt, spricht er von Onanis- 
mus des Jiinglingsalters, wodurch die zukiinftige Bedeutung der 
genitalen Zone gefestigt. wird. 

Bei der Erkliirung der partiellen Triebe sagt Freud folgendes: 
Bei den perversen Neigungon, wo die sexuelle Bedeutung der Mund- 
hohle und der Offnung des Anus beigelegt wird. ist die Rolle der 
erogenen Zone ohne weitere Erklarungen klar. 

Man kann im gegebenen Falle die erogene Zone in alien Be- 
ziehungen als Teil des Geschlechtsapparates betrachten. Diese Korper- 
teile und die zu ihnen gehorenden, mit Schleimhauten versehenen 
Organe werden der Ort neuer Empfindungen und der Veriinderung 
der Innervation wie wirkliche Geschlechtsorgane unter dem EinfluB 
eines normalen Geschleehtsaktes. 

Nach Freud ist der Fetischismus auf einer erniedrigten Neigung 
zum normalen sexuellen Ziel begriindet, wobei die funktionelle 
Schwiiche des Geschlechtsapparates eine unfehlbare Bedingung seiner 


*) Alle diese Korperteile, folglich die Lipj>en, den Mund, den Anus, erkennt 
der Autor gleich der genitalen Zone als erogene Zonen an. 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


115 


Entstehung ist. Die Verbindung mit der Norm wird hier durch eine 
psychologisch notwendige Uberschatzung des sexuellen Objektes, die 
sich auf alles mit ihm assoziativ Verbundene erstreckt, festgestellt. 
— Soldi eine Ubersehatzung vergleicht der Autor mit einer in der 
normalen Liebe, besonders wenn das sexuelle Ziel irgendwie nicht 
erreicht wird. Aber man kann einen Fall nur von dem Moment 
an als pathologisch betrachten, wenn das Streben zum Fotischismus 
bestimmte Grenzen iiberschreitet und den normalen sexuellen Zweek 
abschliebt, dann, wenn der Fetisch von einer bestimmten Person ge- 
trennt und ein selbstandiges sexuelles Objekt wird. 

Hier handelt es sich somit einfach um den Gbergang einer 
Variation des Geschlechtstriebs in pathologische Perversitaten. Doch 
erklart der Autor nicht die Art des tlberganges. 

In Ubereinstimmung mit Binet erkonnt er nur an, dab sich in 
der Wahl des Fetisches der dauernde Einflub eines moglicherweise 
schon in friiher Kindheit empfangenen sexuellen Eindrueks aubert. 

So sind in allgemeinen Ziigen die Ansichten Freuds iiber die 
Inversitaten und Perversitaten, die von den einen geteilt, von den 
anderen verworfen, aber in jedem Falle von alien fiir originell ge- 
halten werden 1 ). 

Aus dem Vorhergegangenen ist ersichtlieh. dab bis jetzt noch lange 
koine Gbereinstimmung in den Ansichten der Autoren iiber die 
Frage vom Ursprung der Perversitaten und Inversitaten existiert, 
und speziell die Erklarung der Inversitaten durch Bisexualismus bei 
weitem fiir unbefriedigend gehalten werden kann und nach Freud 
diese Erseheinung iiberhaupt keine befriedigende Erkliirung hat 
Was die Perversitaten betrifft, so sind auch hier die Ansichten der 
Autoren ziemlieh verschieden und wird die Freudsche Theorie bei 
weitem nicht von alien Autoren geteilt. 

Auf meine Beobachtungen gestiitzt, meine ich, dab die dunklen 
Fragen der sexuellen Pathologie uns durch die Erklarung des Ge- 
schlechtsbiochemismus und dabei die Anwendung der reflexologischen 
Untersuchungsmethode oder die Methode der Entwicklung der 
Assoziationsreflexe bedeutend klarer werden. 

l ) Ich mache hier keinerlei Bemerkungen iiber die Theorie Freuds, weil ich 
seine Ansichten noch spater beurteilen muB. Man hat freilich auch andere Ar- 
beiten mit Anwendung der Psychoanalyse bei der Homosexualitat, z. B. die von 
Stekel: „Onanie und Homosexualitat' 1 . Berlin-Wien 15)17. Auch von ihm: Masken 
der Homosexualitat. Zentralbl. f. Psychoanalyse. Jg. 2 u. 3. Von Bohn: Beitrage 
zur Psychologie der Homosexualitat. Zeitschr. f. arztl. Psychoanalyse. Jg. 6. 1920. 
Wir wollen aber nicht die Beleuchtung des Gegenstands durch diese eigenartige 
Literatur, die, nach dem Ausdruck Slriimpells (siehe Wesen und Behandlung d. 
Xeurasthenie. Wien. med. Wochenschr. 1920. S. 1929) voll von „psychoanaly- 
tischen Phantastereien der modemen sog. Psychoanalyse ist", komplizieren. 

8 * 


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W. Bechterew: Die Perversitaten und Inversitiiten 


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Ura naher an den Gegenstand heranzugehen, beginne ich mit 
der Bestimmung der Perversitaten, weil, wenn es alien klar ist, daB 
die Inversitat des Geschlechtstriebes eine pathologische Erscheinung 
ist, man schon aus den oben angefiihrten Ausziigen ersehen kann. 
daB es noch keine genaue Bestimmung fur die krankhaften Per¬ 
versitaten des Geschlechtstriebes gibt. 

Wenn wir im Auge haben, daB der Geschlechtstrieb seiner 
Natur nach in normalen Lebensverhiiltnissen zur Venvirklichung der 
von der Natur hingewiesenen Form der Geschlechtsbeziehung, die 
zur Kinderzeugung und Fortsetzung des Artenlebens in der Nach- 
kommenschaft fiihrt, vorher bestimmt ist, miissen wir jegliche Ab- 
schweifung von diesem Ziel als eine unnatiirliche Geschlechts¬ 
beziehung betrachten. Doch braucht nicht jede unnatiirliche, 
d. h. nicht der Natur des Geschlechtstriebes entsprecliende Beziehung 
fur eine pathologische gehalten zu werden. Man muB dabei einen 
Unterschied machen, ob diese Perversitaten unabhangig von der Zeit 
und Ursache ihrer Erscheinung derartige sind, daB a) sich das Indi- 
viduum selbst nicht von ihnen lossagen kann oder nur mit groBerer 
oder geringerer Miihe, indent es dieselben nach ungewohnlicher An- 
strengung iiberwindet, oder b) ob es mit Leichtigkeit den unnatiir- 
lichen Beziehungen entzogen und auf normale Funktionen der Ge- 
schlechtssphare iibergehen kann. Die ersteren Falle muB man als 
pathologische, die letzteren als Perversitaten des Geschlechtstriebes. 
die nicht den Grad von krankhaften Zustanden erreichen, betrachten. 

Aber abgesehen davon, daB die Perversitaten auch in dem Falle 
als pathologisch betrachtet werden miissen, wenn sie so eingewurzelt 
sind, daB das Individuum selbst sich nicht von ihnen lossagen kann 
oder nur mit Miihe, haben sie solche Eigentiimlichkeiten, die weder 
dem Charakter noch dem Grad ihrer AuBerung nach mit normalen 
Erscheinungon des Geschlechtstriebes vereinbar sind. 

Diese beiden Kriterien: die bis zu krankhafter Gewohnheit ein- 
gewurzelte Perversitat und, in einigen Fallen, die Monstruositat im 
Charakter und Grade ihrer Erscheinung, scheiden schon an und fiir 
sich meiner Meinung nach in geniigendem MaBe die Pathologie 
dieses Gebiets von der Norm. AuBerdem kann fiir viele Perversi¬ 
taten der Umstand als charakteristisches Merkmal dienen, daB der 
Geschlechtstrieb vom allerersten Beginn der Geschlechtsreife an sich 
schon auf anorntale Weise auBert, wobei der normale W'eg der Be- 
friedigung des Geschlechtstriebes fiir den Kranken entweder ganz 
unerreichbar ist oder wenn auch erreichbar, so doch die krankhafte 
Neigung zu einer nicht entsprechenden Befriedigung des Geschlechts¬ 
triebes sich unabhangig von den iiuBeren Verhaltnissen kund gibt. 
Doch darf man nicht vergessen. daB sich einige der Perversitaten 


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vom Standpunkt tier Reflexologie. 


117 


in verschiedenen Perioden besonderer physiologischer (z. B. wiihrend 
der Schwangerschaft, Menstruation usw.) oder irgendwelcher krank- 
hafter Zustande (z. B. bei Geisteskrankheiten) ohne irgendwelcho 
auBere Griinde und Bedingungen auBern und nach Verlauf dieser 
Zustande verschwinden. 

In letzterem Falle stehen die Perversitaten unter dem sicht- 
lichen EinfluB besonderer physiologischer und krankhafter oder un- 
normaler Zustande des Organismus und miissen deshalb gerechter- 
weise zu Perversitaten krankhaften Typus gerechnet werden, aber 
dieses letztere Merkmal kann, indem es einzelne Falle von Perversi¬ 
taten charakterisiert, nur als Erganzung zum Vorhergehenden be- 
trachtet werden. 

Alle iibrigen Perversitaten sind nicht krankhaft, da sie gewohn- 
lich der Lasterhaftigkeit eigen sind. 

Unter anderem kann man durchaus nicht mit der von Freud 
gegebenen Bestimmung der Perversitat ubereinstimmen. Es handelt 
sich darum, daB das Uberschreiten der anatomischen Grenzen, das 
das Merkmal einer Kategorie von Perversitaten ist, infolge von ein- 
facher Korruption entstehen und folglich keine Perversitat vorstellen 
kann, wahrenddessen in der Bestimmung des Autors keine Hinweise 
auf den Unterschied der Zustande gegeben werden. Selbst fiir die 
Inversitaten wird in diesem Sinne keine Begrenzung gegeben. 

In letzter Zeit wurde natiirlich nach der Begriindung der Be- 
deutung der inneren Driisensekretion dieses Gebiet auch zur Er- 
klarung der Erschcinung der Homosexualitat herangezogen. Hirsch- 
berg z. B. (siehe Miinch. med. Wochenschr. 1918) sieht den Grand der 
Homosexualitat nicht im Bau des Gehirns und nicht in psycho- 
logischen Bedingungen, sondern in somatischen. Er betrachtet die 
Homosexualitat als eino interessante Variants, die von einer bi- 
sexuellen Erblichkeit abhangt und dadurch bedingt ist, daB man in 
einigen Fallen anstatt der bisexuellen Neigung in der embryonalen 
Entwicklung einen gemischten G'harakter tindet. Die Perversitaten 
konnen dem Autor nach in folgende fiinf Gruppen eingeteilt werden: 
1. den Hermaphroditismus, als Resultat einer ungeniigenden Diffe- 
renzierung der Geschlechtsorgane, 2. die Androgynie, wenn es sich 
um eine Mischung der anderen Geschlechtsmerkmale handelt, 3. den 
Transvertismus, wenn es sich um eine auBere Projektion zum kon- 
triiren Geschlecht (z. B. die Art sich zu kleiden usw.) handelt, 
4. Homosexualitat oder einen verkehrten Geschlechtstrieb, 5. den 
Metatropismus, wenn ein weibischer Mann der Frau gegeniiber die 
Rolle einer Frau spielt und umgekehrt. Alle diese Formen sind auf 
Anomalien der inneren Sekretion begriindet (siehe genauer in den 
Jahrbiichern fiir sexuelle Zwischenstufen). In seinen „Naturgesetzen 


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118 W. Bechterew: Die Perversitaten und Inversitaten 

der Liebe“ nennt der Autor das innere Sekret, das den mannlichen 
Schlag erzeugt, Andrin und das den weiblichon erzeugende Gyniicin. Bei 
obengenannten Fallen bleiben beide Sekrete im Organismus, wiihrend 
bei normalen Personen eines der Sekrete das andere unterdriickt. 

Ich will femer eine Schrift Steinachs und Lichtensteins (Miinchn. 
med. VVochenschr. Nr. 6, 1918) bemerkon, wo auf Grund spezieller 
Versuche die sokretorische Theorie als Grundlage der Homosexualitat 
hervorgehoben wird. Spaterhin sind die Versuche von Sleinach in 
einer besonderen Arbeit 1 ), woriiber an anderer Stelle die Rede sein 
wird. erklart worden. Hier will ich bemerken, daB Steinach von 
den Geschlechtsdriisen die sogenannten Pubertatsdriisen, die die 
Leydigschen Zellen enthalten und ein inneres Sekret erzeugen, trennt, 
wobei die Transplantation der Driisen des einen Geschlechts aufs 
andere im Resultat den Homosexualismus ergibt. Man kann sogar 
boi den Homoeexuellen quasi den Unterschied im Bau der Puber- 
tiitszellen und der normalen Leydigschen Zellen bemerken. 

In neuester Zeit unterschied man in Deutschland fiber die Frage 
vom Homosexualismus scharf zwei Richtungen — die psychologisehe, 
durch Kraepelin (siehe Miinchn. med. Woehenschr. Nr. 5, 1918), der 
die Homosexualitat fur eine Angewohnheit halt, vertreten, und die 
somatische von demselben, Hirschberg, Steinach u. a. (iiber die An- 
sichten Molls war friiher die Rede). Hirschberg sowie auch Bloch 
betrachten den erworbenen Homosexualismus als Pseudohomosexualis- 
mus und versichern, daB sie keinen einzigen wirklichen Homosexualisten 
durch Hypnose kuriert hiitten, im Gegensatz zu Kraepelin, der die 
Heilung durch Hypnose als Argument gegen angeborene Homo¬ 
sexualitat hervorhebt. Er weist auch darauf hin, daB auf 100 Ona- 
nisten nur 2 Homosexualisten kommen und man deshalb auch nicht 
den Onanismus der Urheberschaft der Homosexualitat zeihen kann. 
In der Schrift ,,Homosexualitat des Mannes und Weibes“ weist 
Hirschberg auf den durch eine Heirat zwischen invertierten und ge- 
sunden Personen entstandenen sozialen Schaden hin. Indem der 
Autor mit den anderen iiber die psychopathische und neuropathische 
Konstitution, die auch Kraepelin anerkennt, iibereinstimmt, bemerkt 
er in seinen Thesen, daB die Homosexualitat eine Atypie ist, die 
sich darauf begriindet, daB sich in den Pubertatsdriisen Zellen beider 
Geschlechter befinden, und daB die auf ein Geschlecht gerichteten 
Handlungen des NichthomosexuelJen ebensowenig eine pathologische 
Neigung hervorrufen konnen, wie auch das verstarkte Umgehen der 
Homosexuellen mit Normalen — die Homosexualitat beseitigen. 


J ) Steinach: Arch. f. Entwicklungsmechanik d. Organismen. 47, Heft 1 und 
48, Heft 4, 1920. 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


119 


Es ist unnotig zu sagen, dab Kraepelin mit diesen Schliissen nicht 
einverstanden ist und in einer kurzen Erwiderung (daselbst) auf die 
Kiinstlichkeit der Theorie des Andrins und Gynacins hinweist und, 
von seiner Erfahrung geleitet, die Ansicht Hirschbergs uberhaupt 
einseitig findet. 

Die Anhanger der Lehre vom Angeborensein des Homosexualis- 
mus 1 ) weisen unter anderm darauf hin, dab sich der Homosexualis- 
mus schon in friiher Jugend entwickelt und daher trotz aller ent- 
gegengesetzten Einfliisse. sowohl in Worten als auch in der Presse, 
dab gleichzeitig die erotisehen Traume auch einen homosexuellen 
Inhalt haben, was dem ganzen Wesen der Personlichkeit entspricht, 
auch alle geistigen Begleiterscheinungen solche wie die allgemeinen 
homosexuellen Triebe sind, und dab schlieblich auber den Geschlechts- 
abnormitaten auch korperliche degenerative Merkmale vorhanden 
sind. Aber kein einziger dieser Griinde hat eine unbedingte Bedeu- 
tung und spricht nur dafiir, dab die Inversitaten deshalb am haufig- 
sten bei den Degeneraten vorkommen, weil die Homosexualisten 
oft degenerative Merkmale und eine friihe Geschlechtsentwicklung 
haben. aber alles oben Gesagte schliebt nicht eine Moglichkeit der 
Entwicklung der Homosexualitat bei den Degeneraten unter unnatiir- 
lichen Verhaltnissen der Erregung der Geschlechtssphare in einer 
friihen Periode der Geschlechtsreife aus, wenn sich zuerst der Ge- 
schlechtstrieb bildet und nach dieser oder jener Seite eine Richtung 
erhalt, denn alle andern Eigentiimlichkeiten der Homosexualisten 
ergeben sich natiirlicherweise schon aus der befestigten Inversitat, 
weil sogar die Traume, wie wir wissen, die gewohnlichen seelischen 
Erlebnisse wiedergeben, was wir unter anderm aus der Pathologie 
der militarischen traumatischen und anderen allgemeinen Neurosen 
wissen. In letzter Zeit ist Klasi (Zeitschr. f. Neurol, u. Psych. 52, 
1./3. Heft, S. 54 ff.) zur Anerkennung der angeborenen Form von 
Homosexualismus geneigt, indem er sich auf die Versuche Steinachs 
und Lichtensterns (Miinchn. med. Wochenschr. 45, Heft 6) stiitzt, und 
auch der erworbenen, wobei letztere nicht nur ein Resultat des 
Onanismus. der Angewohnheit usw. sein kann, sondern auch der 
Unfahigkeit zu einem normalen Geschlechtsleben, und sogar infolge 
der Suggestion und Autosuggestion, wie das bei jedein Hysteriker 
vorkommt. Wenn sich hierbei zum Symptomenkomplex des so- 
genannten echten Homosexualismus ein Komplex der Impotenz 
(d. h. Furcht vor Impotenz und infolgedessen hypochondrische Sorgen) 
gesellt, mub man voraussetzen, dab es sich nicht um eine angeborene, 
sondern erworbene hysterische Erscheinung handelt. 


( 1 Siehe z. B. Hirschtoald. Munch, med. Wochenschr. 1918. 


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VV. Be elite re w: Die Perversitaten und Inversitiiten 


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Ich sehe nicht, daB der Autor neue Beweise zugunsten der 
Erblichkeit der Homosexualitat angefiihrt hat; was seine Ansicht 
iiber die Impotenz als Grund zur erworbenen Homosexualitat be- 
trifft, so kann sie augenscheinlich ihre Rolle spielen, aber es entsteht 
die Frage, ob nicht selbst die Impotenz das Resultat vorhergehenden 
Onanismu8 und darunter gegenseitigen Onanismus zwischen Personen 
ein und desselben Geschlechts oder irgend welcher anderer Umstande, 
die mit den Geschlechtserregern beim Verkehr mit Personen des- 
selben Geschlechts verbunden sind, ist. 

In letzter Zeit erkennt M. Hirschwald (Sexuelle Zwischenstufen, 
Ausg. 1918), auf die Arbeiten Steinachs gestiitzt, den endogenen Ur- 
sprung der Homosexualitat an und unterzieht die ZweckmaBigkeit 
aller psychischen Heilmethoden einem Zweifel. Seiner Meinung nach 
ware derjenige, der nach diesen Daten an dem korperlichen Ursprung 
der Homosexualitat zweifelte, iiberhaupt logischen Uberlegungen un- 
zuganglich. Doch kann man am Vorhandensein eines experimented 
nachgewiesenen korperlichen Ursprungs der Homosexualitat bei Tieren 
nicht zweifeln; um aber die experimentellen Daten von Tieren auf 
Kranke zu iibertragen, muB man auch dieselben Verhaltnisse bei 
letzteren nachweisen. Bei alledem schlieBt das Vorhandensein des 
korperlichen Ursprungs der Homosexualitat in einigen Fallen noch 
nicht die Moglichkeit einer Entwicklung dor Homosexualitat psy- 
chogenen Ursprungs in andern Fallen bei Degeneraten aus. 

Die neuesten Daten aus dem Gebiet der sexuellen Pathologie 
befreien uns auch nicht von den widersprechenden Ansichten iiber 
dieses Sujet. Obgleich z. B. HirsMerg (Sexualpathologie, III. Storungen 
im Sexualstoffwechsel) solche Erscheinungen, wie den Fetischismus, 
durch einen bedingten resp. Assoziationsroflex erkliirt, was von mir 
(siehe meine Arbeit „Uber die Inversitiiten vom Standpunkt der 
Reflexologie“. Obosrenije Psychiatrie und von diesem Autor bestimmt 
festgestellt worden ist, gibt er nichtsdestoweniger auch hier eine 
Mischung dor mannlichen und weiblichen Eigenschaften — des An- 
drins und Gyniicins, die schlieBlich auf die innere Sekretion zuriick- 
gefiihrt werden, zu, wobei unter dem EinfluB der ausgeschiedenen 
Hormonen die meisten Personen unbewuBt zum Fetischismus geleitet 
werden. Auch der Sadismus wird auf eine Verstarkung der mit 
einer besonderen Mischung des Andrins und Gyniicins (Mischungs- 
verhaltnis von Andrin und Gynacin) verbundenen inneren Sekretion 
zuriickgefiihrt. Der Autor stimmt mit Freud iiber den EinfluB der 
Geschlechtssphiire auf die Personlichkeit iiberein, ,,die Richtung und 
Starke der Sexualitat beruht vor allem auf der eigenen Sexual- 
konstitution, die von Geschlechtsdriisen und ihrem Chemismus ab- 
hangig ist und fast nichts mit psychischen Ursachen, Komplexen 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


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und infantilen Erlebnissen zu tun hat.“ Wahrenddessen erwahnt 
0. Klienenberg (Zur Frage der Homosexualitat. Arch. f. Psychiatric 63, 
Heft 1, 1921) zwei typische Falle von Homosexualitat, in denen die 
Idee der Inver sitat in einem Falle mit einem hvpochondrischen 
Gefiihl, in einem andern mit hysterischer Einbildung verbunden war, 
auf Grund dessen der Autor zum SchluB einer erworbenen Atiologie 
der Homosexualitat kommt. Es verdienen noch die Arbeiten Ziehens, 
Klasis und Kranfeldts iiber dieses Sujet beriicksichtigt zu werden. 

Indem ich dem Wesen nach zur Beurteilung der Frage iiber- 
gehe, bemerke ich unter anderem, daB die vorhandenen Beob- 
achtungen bestandig beweisen, daB die Perversitaten des Geschlechts- 
triebs in gewissen Fallen auch gesunde AuBerungen derselben nicht 
ausschlieBen, daB letztere sogar gleichzeitig oder parallel oder perio- 
disch beobachtet werden, wenn der krankhafte Trieb die normalen 
Kundgebungen ablost. 

Zur Vermeidung von Begriffsverwechslungen werde ich kiinftig- 
hin eine solche Anomalie des Geschlechtstriebes, die nicht das kon- 
triire, sondern entsprechende Geschlecht als Ziel im Auge hat, In- 
versitat nennen, alle iibrigen krankhaften AuBerungen des Geschlechts¬ 
triebes dagegen, die in anormaler Beziehung zum kontraren Geschlecht 
ihren Ausdruck finden, erhalten die Benennung von „Perversitaten“. 
Wir werden zur Vermeidung von Begriffsverwirrung diese Termino- 
logie benutzen, obgleich sich, wie wir spater sehen werden, die Ent- 
wicklung der verschiedenen Abweichungen wesentlich wenig vonein- 
ander unterscheidet. Aber es gibt noch eine Abweichung, die weder 
zur einen noch zur andern Form gehort, weil sie als Ziel die Be- 
friedigung des Geschlechtstriebes ohne Rucksicht auf irgendein 
Geschlecht, sondern nur die Benutzung von Gegenstanden, die irgend- 
eine Beziehung zum geliebten Wesen haben, im Auge haben, wie 
das z. B. beim sog. Fetischismus, den man auch symbolisehe Per- 
versitat nennen konnte, der Fall ist. Endlich kann die Abweichung 
in der Art der Befriedigung des Geschlechtstriebes durch eigene 
Mittel bestehen, wie das bei der sog. Masturbation oder dem Onanis- 
mus der Fall ist. In letzterem Falle ist der Geschlechtstrieb auf 
sich selbst gerichtet und kann deshalb Reversion oder Selbstbefrie- 
digung genannt werden. 

An anderer Stelle hatte ich schon Gelegenheit, iiber die Ent- 
wicklung des Geschlechtstriebes 1 ) zu sprechen, hier konnen wir nur 
kurz diese Frage beriihren, urn folgende Erklarung des Mechanis- 
mus der Entstehung der verschiedenen Perversitaten begreiflich zu 
machen. 


J ) Siehe W. Bechlerew: R. Wratsch. 1918, Nr. 29—32 u. 33—36. 


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122 


W. Bechterew: Die Perversitaten und Inversitaten 


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Auf Grund meiner Beobachtungen iiberzeugte ich mich, daB die 
Erektilitat (Erektionsfahigkeit) der Geschlechtsorgane sich sehr friih 
einstellt, und man jedenfalls bei Knaben im Alter von ungefahr 
einem Jahr schon eine durch organische Ursachen bedingte Erektion 
des Geschlechtsorgans beobachten kann. 

Dieser von einer Spannung und Schwellung des Geschlechts¬ 
organs begleitete Erektionsreflex ist, wie wir aus physiologischen 
Daten ersehen, hauptsachlich durch eine Reaktion der GefaBe be- 
dingt, kann aber teilweise auch eine Muskelreaktion sein. Es kann 
aber von keinerlei Samenejakulation in friihem Kindesalter die Rede sein. 
Nur von der Geschlechtsentwicklung an beginnt der Erektionsreflex vom 
sekretorischen Reflex in einem solchen MaBe begleitet zu werden, daB 
die Samenejakulation in Gestalt der sog. Pollution entstehen kann. 

Der Erektionsreflex, als ein mit Blutandrang zu den Geschlechts- 
organen verbundener Reflex, kann bekanntlich durch mcchanische 
Reibung unterstiitzt werden, wobei er von einem besonderen sub- 
jektiven Zustand, ahnlich dem, den man beiin Kratzen einer juckenden 
Stelle empfindet, begleitet wird. Der Erektionsreflex, als einer von 
Blutandrang begleiteter, muB schon an und fiir sich die Sekretion 
der Geschlechtsdriisen vergroBern und fiihrt bei geschlechtsreifen 
Personen bei anhaltendem ZufluB von Blut und Verstarkung der 
Erektion durch mechanische Reibung des Geschlechtsorgans zur Ent- 
wicklung des Ejakulationsreflexes, nach dessen Eintritt der Erektions¬ 
reflex aufhort. Hiernach ist ersichtlich, daB der Ejakulationsreflex 
durch den Erektionsreflex, der die Fiillung der Samenblaschen und 
das Auswerfen des Samens veranlaBt, unterstiitzt wird und sich mit 
ihm entwickelt. 

Der Erektionsreflex kann sich sogar bei Kastraten auBem, aber 
nur in dem Falle, wenn die Operation in einem der Geschlechtsreife 
folgenden Alter, w r enn dieser Reflex schon als Assoziationsreflex her- 
vorgerufen war, vorgenommen worden ist, wahrend bei Fallen von 
Kastrierung in einem friiheren Alter der Erektionsreflex nicht zu- 
stande kommt. 

Hiernach ist es klar, daB zwischen dem Erektionsreflex und dem 
sekretorischen ProzeB der Geschlechtsdriisen die engste Wechsel- 
beziehung besteht. Der erstere regt die Sekretion der Geschlechts¬ 
driisen an und kann unter gewissen Bedingungen auf diesem Wege 
die Erektion bis zu dem Eintritt des Ejakulationsprozesses veran- 
lassen, andererseits bedingt die verstarkte Sekretion der Geschlechts¬ 
driisen die Erregung des Erektionsreflexes, indem er ihn schlieBlich 
zur Entwicklung der Pollution bringt. 

Aber die Geschlechtsentwicklung besteht nicht nur aus dem 
Erektions- und SekretionsprozeB, der von einem Zustande der Spannung 


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vom Standpunkt der Reflexologie 


123 


und Schwellung der Geschlechtsorgane begleitet wird. sondern wird 
auch von einem allgemeineren mimisch-somatischen Zustand. der sich 
objektiv durch Veriinderung der Herztatigkeit, gefaBmotorische Er- 
scheinungen, Roten der Wangen, erhohten Glanz der Augen und be- 
sondere Mimik des Gesiehts zum Ausdruck kommt, begleitet. Nach 
der Samenejakulation verschwindet mit dem Aufhoren des Erektions- 
reflexes auch der mimisch-somatische (emotionelle) Zustand und gibt 
einem gewissen Grad von Nervenermiidung Raum. 

Es fragt sich, womit der mimisch-somatische Zustand verbunden 
ist? Man hat alien Grund zur Annahme, daB er mit der.Ausscheidung 
der Geschlechtsdriisen verbunden ist, weil er bis zum hochsten Grade 
seiner Entwicklung von der Ausiibung des Geschlechtsaktes, wo gleich- 
zeitig mit der hochsten Entwicklung der Sekretion das Auswerfen 
des Samens bei den Miinnern und die Sekretion der Geschlechts¬ 
organe bei den Frauen vor sich geht, anwachst. Der Grund des 
mimisch-somatischen Zustandes liegt somit an den sekretorischen 
Prozessen der Geschlechtsdriisen, die nicht nur eine auBere, sondern 
auch innere Sekretion haben, was heutzutage keinem Zweifel unter- 
liegt (die sog. Pubertatsdriisen). 

Es ist klar, daB bei der sog. Geschlechtserregung. die durch eine 
Erektion des Geschlechtsorgans und eine Verstarkung der sekretorischen 
Tiitigkeit der Geschlechtsdriisen charakterisiert wird, die Sekretion 
der Pubertatsdriisen ins Blut tritt, was eigentlich dem allgemeinen 
mimisch-somatischen Zustand zugrunde liegt. 

In friiher Kindheit bleiben die Geschlechtsdriisen zweifellos nicht 
untatig, sie produzieren auch ihr Sekret, natiirlich in weit geringerer 
Menge als bei Erwachsenen, wobei das auBere Sekret wegen seiner 
verhaltnismaBigen Unbedeutsamkeit kaum imstande ist, eine Erektion 
des Geschlechtsorgans unter irgendwelchen Bedingungen hervorzurufen, 
und es iiberhaupt schwer annehmbar ist, daB eine im friihen Alter 
beobachtete Erektion durch eine Ansammlung von Sekret in don 
Samendriisen und nicht durch irgendwelche andere Reizungen (z. B. 
Anhiiufungen von Fakalien im Rectum) bedingt wird. Aber jeden- 
falls tritt die Sekretion der Geschlechtsdriisen, nachdem sie sich ein- 
gesogen hat, ins Blut, indem sie in verschiedenem MaBe einen all¬ 
gemeinen mimisch-somatischen Zustand, der sich in der Herztatigkeit 
und der Tiitigkeit der GefaBe, wenn auch schwach, ausdriickt, und der 
Anhanglichkeit der Kinder zu ihren Eltern zugrunde liegt, hervorruft. 

Als mimisch-somatischer Zustand muB er auch von subjektiven 
Erscheinungen begleitet werden, aber jedenfalls hat dieser mimisch- 
somatische Zustand kein Objekt des Geschlechtstriebes, der sich erst 
•spiiter bei der Geschlechtsreife, wenn die auBere Sekretion sich bis 
zum hochsten Grade steigert und bei den Mannern einen Ausweg 


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W. Bechterew: Die Perversitaten und Inversitaten 


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verlangt und schlieBlich zur Erreichung des Geschlechtszweckes in 
Person eines Objektes des anderen Geschlechtes fiihrt, auBert. Bis 
dahin konnen wir nur von einem allgemeinen Zustand in Form 
von Anhanglichkeit zu den Eltern, harmonischen Ursprungs mit einer 
Produktion des inneren Sekrets der Geschlechtsdriisen und Einsaugen 
desselben ins Blut verbunden, sprechen. 

Wenn die Erektion des Geschlechtsorganes in friihem Kindes- 
alter keine Beziehung zur Sekretion der Geschlechtsdriisen des Kindes 
hat, so steht der allgemeine mimisch-somatische Zustand in nicht so 
direkter Verbindung mit dem Geschlechtserektionsreflex wie bei Er- 
wachsenen, sondem ist gleichsam unabhangig von letzterem. 

Dieser allgemeine, der kindlichen Anhanglichkeit zugrunde 
liegende Zustand sucht seine Befriedigung in Umarmungen und Kiissen 
der fur sie sorgenden Personen, Horen ihrer Stimme u. dgl., aber 
diese kindliche Anhanglichkeit zum Pflegepersonal hat, ich wieder- 
hole es, schon deshalb nichts mit dem Geschlechtstrieb gemein, weil 
sie iiberhaupt nicht mit einer sich durch eine Erektion des Geschlechts¬ 
organes charakterisierenden Erregung verbunden ist. 

Letztere auBert sich erst in der Periode der Geschlechtsreife, 
wenn eine verstarkte Sekretion der Geschlechtsdriisen, deren UberfluB 
an auBerem Sekret in Form von Pollution hervortritt und von 
mimisch-somatischen Reflexen und einem emotionellen Zustand, der 
bei der Pollution den Grad von Orgasmus erreicht, begleitet wird, 
beginnt. Von da an verbindet sich der allgemeine emotionelle 
Zustand eng mit dem Erektionsreflex und entsteht zuerst das, was 
man gewohnlich Geschlechtserregung nennt. Es ist selbstverstandlich. 
daB dabei der emotionelle Zustand beim Erreichen seiner starksten 
Intensivitat eine besondere Farbung erhalt. AuBer dem erektiven 
Zustand der Geschlechtsorgane und der Veriinderung der HerzgefaB- 
funktion wird er durch ein subjektives Gefiihl der Spannung und 
Schwellung in don Geschlechtsorganen und einen allgemeinen Zustand 
von Ermattung und Anxietat cliarakterisiert. 

Infolge dieser Empfindungen wird einem die Ursache dieses 
gleichsam neuon Gefiihles mehr odor weniger klar, und es verlangt 
gewaltsam einen Ausweg, der durch Beobachtung an Tieren, Aus- 
kiinften beim Umgang mit Menschen und Nachahmung durch natiir- 
liche Beziehungen erreicht wird. 

Hberhaupt, wenn die Geschlechtsreife einen gewissen Grad er¬ 
reicht hat, ist sie genotigt, eine Art von Entladung des Zustandes 
dor Spannung, der von nun an mit einer Erektion der Geschlechts¬ 
organe verbunden ist, zu suchen, und dieses Bestreben zur Erleich- 
terung der Geschlechtserregung in Form von aggressiven Reflexen zum 
kontraren Geschlecht nennen wir Geschlechtstrieb. 


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Es fragt sich jetzt, worin die Grundursache der Homosexualitiit 
des Geschlechtstriebes besteht? 

Von meinem Standpunkt aus muB man vor allem die Hypothese 
Krafft-Ebings von der Bildung mannlicher und weiblicher Zentren, 
die sich unter deni EinfluB der Keime der Geschlechtsdriisen oder 
nach anderen Autoren vom „weiblichen“ Gehirn im miinnlichen 
Korper oder dem „mannlichen 4i Gehirn im weiblichen Korper ent- 
wickeln, ausschlieBen. Wenn man vom Geschlechtstrieb spricht, so 
geht die Sache nicht im Gehirn, sondern in den die innere Sekretion 
absondemden Geschlechtsdriisen vor sich. Letztere sind die primaren 
Bestimmer des Geschlechts, was sich aus einer ganzen Reihe von 
Untersuchungen, die die Rolle der Chromosomen als Trager der erb- 
lichen Eigenschaften hervortreten lassen, ergibt. Freilich ist diese 
Idee bestritten worden und einige Autoren, wie 0. Hertwig, Bovery, 
Hecker u. a. sprechen nicht ohne Grund nur von dem EinfluB der 
Chromosomen, sondern aucli dem des Protoplasmas auf die Nach- 
kommenschaft. Doch konnte man immerhin an den Chromosomen 
des Kerns die Bedingungen der tlbertragung der Erblichkeit des 
Geschlechts besser als an irgendwelchen anderen Elementen ergrunden. 
Uberhaupt wird die Lehre von den Chromosomen als Tragern der 
Erblichkeit, fiber welche wir eine Reihe von Sehriften Hertwigs, Strap- 
burgers , Rabls, Boverys, Iieckers, Ficks, Lundegords, Demokls, Godlewskys, 
Herbst', Korreis u. a. haben, von den meisten anerkannt. Nur Moves 
sieht nicht in den Chromosomen, sondern in der Mitochondrie die 
Trager der erblichen Eigenschaften, aber diese Ansicht findet bis 
jetzt keine Verfechter. In jedem Falle laBt eine ganze Reihe ex- 
perimenteller Arbeiten die Rolle der Chromosomen bei der Ubertragung 
der erblichen Eigenschaften eine unbestreitbare sein. 

Wenn man, sagt R. Goldschmidt , in Ruhe die vorhandenen ex- 
perimentellen Daten betrachtet, so wird einem die Rolle der Chromo¬ 
somen bei den Erscheinungen der Erblichkeit ganz klar. Nehmen 
wir einerseits die Untersuchungen Bowers liber den qualitativen Unter- 
schied der Chromosomen. Wenn in einem Teil des Embryos des See- 
igels gewisse Chromosomen fehlen, so erhalt man eine defektive Larve. 
Niemand kann es sagen, daB deswegen nicht die Larve des Seeigels 
entstanden ist. Ein Vergleich wird uns sofort zeigen, was wir damit 
sagen wollen. Wenn einem Kinde die Schilddriise fehlt, so wird es 
ein Idiot, mit alien physischen und psychischen Eigenschaften, die 
einem solchen eigen sind. Und doch gehort es mit all seinen Korper- 
zellen zur Art des Homo sapiens; alle Keime der Arteneigenschaften 
sind bei ihm vorhanden, es fehlen nur die von der Schilddriise pro- 
duzierten Hormonen, die zu einer normalen Entwicklung aller dieser 
Eigenschaften erforderlich sind. Ist bei diesen und anderen ahnlichen 


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W. Bechterew: Die Perversitaten und Inversitaten 


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Fallen nicht eine groBe Ahnlichkeit mit den Chromosomen zu be- 
merken? Die Keime werden aus ganzen Geschleehtszellen vielleieht 
hauptsiichlich oder ausschlieBlich in ihrem Plasma vererbt. Doch die 
„Ausfiihrungsursachen*‘ im Sinne Roux\ d. h. die Substanzen, die die 
voile Entwicklung dieser Keime befordern, wir konnen sogar sagen. 
„die Hormonen der vollendeten Form 1 * werden von den Chromosomen 
erzeugt. Die Erblichkeit des Geschlechts und noch mehr der sekun- 
daren Geschlechtsinerkmale gehort gerade zu den Beispielen, die die 
Kicbtigkeit solcher Urteile beweisen. In diesen Fallen haben wir mit 
der denkbarsten Genauigkeit die Eigenschaften, die zu bestinnnten 
Chromosomen in gewisser Boziehung stehen, vor uns. Doch sind diese 
Eigenschaften keine Keime, sondern stellen spezifische Modifikationen 
aller Arteneigenschaften vor. Erblich sind nur die lotzteren befestigt, 
und nur das Endgiiltige, in dem sie sich entwickeln, ist durcli ein 
entsprechendes Chromosom oder, wir konnen es ruhig sagen. seine 
Hormonen 1 ) bedingt. 

So gehort noch der Geschlechtsunterschied zur embryonalen 
Lebensperiode der Frucht und besteht aus der Entwicklung der 
Chromosomen und der von ihnen ausgeschiedenen Hormonen, was die 
bisexuelle Theorie Krafjt-Ebings von Grund auf untergrabt. Es gibt 
noch andere Daten, die fiir die Rolle der Hormonen in bezug auf 
Geschlechtsunterschiede der Frucht noch in der Periode des Lebens 
im Mutterleibe sprechen. Bokanntlich bringt eine Kuh in seltenen 
Fallen zvvei und iiuBerst selten drei Kiilber zur Welt. Es ist kon- 
statiert worden, daB. wenn die Zwillinge verschiedenen Geschlechtes 
sind, die heranwachsonde Zwillingskuh in den weitaus meisten Fallen, 
mit iiuBerst seltenen Ausnahmen, unfruchtbar bleibt. Der amerikanische 
Zoolog F. Lillie (The theory of the free — martin — Science 1916) 
untersuchte Uterusse trachtiger Kiihe, die er aus Schlachthiiusern 
erhalten hatte. In jedem von ihnen befanden sich zwei Embryono 
verschiedener Perioden, und in 21 Uterusson waren Einbryone ver- 
schiedenon Geschlechts. Diese Zwillinge hatten, wie es sich erwies. 
sich aus zwei verschiedenen Eiern entwickelt (und nicht aus zwei 
Blastomeron ein und desselben Eies, wie das zuwoilen vorkommt), 
weil in alien Fallen in den Ovarien zwei corpora lutea als t)ber- 
bleibsel der aus den Ovarien herausgetretenen Eier vorgefunden 
wurden. Weitere Untersuchungen zeigten, daB, wenn man die GefiiBe 
des einen Embryos injiziert, durch die Gemeinsamkeit des Chorions 
die Farbe auch ins andere Embryo eindringt. Es ist somit klar, daB 
in den Zwillingsembryonen dadurch ein bestandiger Wechsel der im 
Blut zirkulierenden Stoffe und folglich auch der Hormonen entsteht, 

') Xeue Ideen in der Biologie. St. P. T. 1914 S. 124, u. 129. 


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andererseits ist es bekannt, daB die Geschlechtsdrusen auf die sekun- 
diiren Geschlechtsmerkmale wirkende Hormone ausscheiden. Eben 
deshalb rufen die mannlichen Hormone eine Atrophie der Geschlechts- 
driise und eine Sterilitat des zukiinftigen Weibchens hervor. Freilich 
haben die weiblichen Geschlechtsdrusen nicht solch einen EinfluB auf 
die mannlichen Samendrusen, aber das hiingt von einer besonderen 
SchutzmaBregel der Spermatozoiden ab, was auch aus anderen Daten 
bekannt ist. Es ist bemerkenswert, daB in drei von Lillie unter- 
suchten Fallen Ausnahmen von der allgemeinen Regel und die Ovarien 
vollkommen entwickelt gefunden wurden, aber das waren Falle, wo 
die Chorionen fiir beide Zwillingsembryonen getrennt waren. Hiernaeh 
ist es klar, daB diese drei Falle nur eine Bestatigung der oben ge- 
nannten Erklarung sind. 

Dann kennen wir die V T ersuche Steinachs, bei denen durch 
Transplantation des Ovariums der Ratten die Weibchon ihre sekun¬ 
daren Geschlechtsmerkmale iindern konnten, und man umgekehrt 
durch Transplantation der Samendriisen der mannlichen Ratten bei 
densolben eine Entwicklung der sekundaren Merkmale hervorrufen 
konnte. Die spatem Arbeiten desselben Autors 1 ) bekraftigten nocli 
mehr die vom Autor erhaltenen Daten. Besonders interessant sind 
die Versuche des Autors an Kastraten. Der Autor transplantierte 
solchen Ratten, sowohl mannlichen als auch weiblichen (intra testi- 
cula), Geschlechtsdrusen, wobei die reproduzierenden Zellen in letzteren 
vemichtet wurden, die Pubertatszellen dagegen, denen der Autor 
eine besondere Bodeutung beziiglich der Entwicklung der sekundaren 
Geschlechtsmerkmale beilegt, bewahrt blieben. Im Resultat erhielt 
man quasi einen kiinstlichen Hermaphroditismus, der sieh in Form 
von Homosexualismus auBerte. Alles oben Erklarte bringt einen zura 
SchluB, daB die Natur des mannlichen und weiblichen Organismus 
nicht durch den Unterschied der Gehirncentra, sondern durch den 
Unterschied der mannlichen und weiblichen Geschlechtsdrusen und 
Sekretion von Hormonen durch dieselben bedingt wird, daB die 
Teilung des Geschlechts schon in der embryonalen Entwicklung ent- 
steht, und daB deshalb von keiner bisexuellen Theorie in der friiheren 
Bedeutung dieses Wortes die Rede sein kann. Andererseits kann 
man bestimmt sagen, daB durch die Entwicklung der Driisen sowohl 
die physischen als auch die charakterologischen Geschlechtsmerkmale 
bedingt werden. Weiter dariiber gehen die oben genannten Daten 
augenscheinlich nicht. Aber sie eroffnen uns die Moglichkeit, be- 
griindete Ansichten iiber die Natur des Geschlechtstriebes zu bilden. 


*) Steinach: Arch. f. Entwicklungsniechanik d. Organismen. 46, Heft 1 und 
48, Heft 4, 1920. 


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W. Bechteiew: Die Perversitaten und Inversitaten 


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So kann man nicht mehr spezioll von einem „weiblichen*‘ oder 
,, mannlichen “ Gehirn sprechen. Ungeachtet dessen kann man, wie 
eine Reihe toils von mir selbst, teils von meinen Schiilern 1 ) aus- 
gefiihrte Untersuchungen zeigt, in der Gehirnrinde miinnlicher Wesen 
(Hunde) neben dem Sulc. cruciatus im Bezirk des Gynus sigmoidei, 
ein kleines Gebiet, dessen Reizung durch einen elektrischen Strom 
eine Arterienhyperamie der Samendriisen und eine Erektion des 
Geschlechtsorgans hervorruft, finden, und durch die Reizung des 
Thalamus opticus kann man nicht nur den Erektions-, sondern auch 
Ejaculationsreflex erzeugen. Noch niedrigere Zentren solcher Art 
haben wir im Kreuzgebiet des Riickenmarks. Es sind Hinweise 
vorhanden, daB auch die peripheren sympathischen Gangliome nicht 
ohne Bedeutung bei der Erektion der Geschlechtsorgane sind. 
Hierbei halte ich es fur notwendig zu bemerken, daB es mir auch 
bei Menschen mannlichen Geschlechts bei Gehimoperationen durch 
eine Reizung des oberen Drittels des motorischen Gebiets eine deut- 
liche Erektion des Geschlechtsorgans hervorzurufen gelang. Anderer- 
seits zeigten meine gemeinschaftlichen Untersuchungen mit Mislaivsky, 
daB eine Reizung der motorischen Gebiete der Gehirnrinde bei Ka- 
ninchen ein deutliches Zusammenziehen der Scheide (Vagina) bewirkt, 
und die von Doktor Plocliinsky in meinem Laboratorium gemachten 
Untersuchungen bewiesen, daB auch der Uterus ein ganz deutliches 
und starkes Zusammenziehen bei einer Reizung des motorischen 
Gebiets der Gehirnrinde zeigt 2 ). 

Wenn wir in Betracht ziehen, daB die primare Entwicklung der 
Gehimrindencentra von der Entwicklung der entsprechenden Ge- 
schlechtsdriisen und der in Verbindung mit ihren Hormonen hervor- 
gerufenen Geschlechtsreflexe, und nicht umgekehrt, abhangig ist, so 
ist es klar, daB das Vorhandensein der erwahnten Centra uns nur 
vom Vorhandensein der Geschlechtsreflexe, die unter Beteiligung der 
Gehirnrinde entstehen, spricht, ohne gleichzeitig das Wesen des 
Geschlechtstriebs, dessen Hauptgrund augenscheinlich am Hormonis- 
mus der Geschlechtsdriisen liegt, zu erklaren. 

Doch miissen die Gehirncentra erwachsener Tiere und des Men¬ 
schen, wie Versuche mit den Samendriisen zeigen, als Vermittler der 
Entwicklung der Geschlechtserregung und folglich auch der Fahig- 
keit der Geschlechtsdriisen betrachtet werden. Aber wenn das so 
ist, so geniigt es sich vorzustellen, daB Tiere mannlichen Geschlechts 
durch einen speziellen Hormonismus besondere spezifische Erreger 
der Fertigkeit ihrer Samendriisen durch Reflexe haben, wobei der 

x ) Siehe W. Bechlerew: Grundlehren der Gehirnfunktionen. Ausg. II, VI u. 
VII. Die Nervenzentra. 2 u. 3. Jena. 

2 ) Siehe daselbet. 


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vom Standpunkt der Rcflexologie. 


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Grund dieser Erregung, wie die Beobachtung es zeigt, in dem von 
den Geschlochtsorganen herriihrenden Geruch der Wesen kontraren 
Geschlechts bestehen konnte, zugunsten dessen entsprechende Be- 
obachtungen nicht nur an Wirbeltieren, sondern auch Insekten aus- 
gefiihrt werden konnten. Auf diesem VVege wiirde ims die Natur 
des heterosexuellen Gesehlechtstriebs bei Tieren mannlichen Ge¬ 
schlechts klar werden. Umgekehrt muB derselbe Mechanismus in 
der Periode der Brunst auch auf die Entwicklung des heterosexuellen 
Geechlechtstriebs bei Personen weiblichen Geschlechts wirken. 

In Verbindung mit diesem direkten Erreger bei den Tieren, die 
schon den Geschlechtsakt gehabt haben, gewinnen noch andere, nach 
dem Gesetz der Assoziationsreflexe wirkehde Erreger, wie z. B. der 
Anblick einer Person kontraren Geschlechts, ihre Stimme, Beriih- 
rung usw. eine Bedeutung. VVenn somit die Quelle der Hetero- 
sexualitiit des Gesehlechtstriebs bei Tieren im verschiedenen Hor- 
monismus der mannlichen und weiblichen Wesen liegt und sich gleich- 
zeitig mit der Reife der Geschlechtsdriisen auBert, stellt sich nach 
dem wenn auch nur einmaligen Zustandekommen der Geschlechts- 
annaherung zwischen Wesen verschiedenen Geschlechts, die mit einer 
Absonderung von Geschlechtsprodukten endet, die Entwicklung ent- 
sprechender Assoziationsreflexe geschlechtlichen Charakters fest, durch 
welche schon eine einfache Beriihrung, der Anblick und zwar die 
Stimme der Person kontraren Geschlechts zu Erregern der Tiitigkeit 
der Geschlechtsdriisen und folglich auch der heterosexuellen Ge- 
schlechtstriebe werden. 

Beim Menschen muB die Grundnatur der Geschlechtserregung 
und des heterosexuellen Triebs im selben ProzeB liegen, wofiir ent¬ 
sprechende Beispiele angefiihrt werden konnen, aber zweifellos ver- 
dunkeln und unterdriicken sogar die schwache Entwicklung des 
Geruchssinns, die Kultur und die Lebensbedingungen zu sehr den 
EinfluB der Grundreizung der Geschlechtsdriisen in Form des vom 
andern Geschlecht herriihrenden Geruchs. In Anbetracht dessen ist 
hier die Sache in dieser Beziehung weit komplizierter, wie wir es 
aus der spatern Erklarung ersehen werden. 

In keinem Falle kann man sich vorstellen, daB beim Menschen 
der heterosexuelle Trieb durch den von einem Individuum kontraren 
Geschlechts herriihrenden Geruch bestimmt wird. Im Gegenteil tut 
die Kultur alles, urn die Wirkung des Geruchs wahrend der Men- 
struationsperiode bei den Frauen und der sich entwickelnden Leiden- 
schaft bei den Mannern zu beseitigen (Abwaschungen, Parfiim, Ab- 
reibungen usw.) und gleichzeitig das Organ vor den Blicken des 
kontraren Geschlechts zu verbergen, infolgedessen hier nur die Rede 
von andern indirekten, den Geschlechtstrieb wachrufenden Erregern 
Archlv fur Psychiatrie. Bd. 68. 9 


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W. Beehterew: Die Perversitaten und lnversitaten 


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die Rede sein kaiui. Diese indirekten Erreger sind das AuBere mit 
den ihm eigenen sekundaren Geschlechtsmerkmalen: der Mimik, 
Stimme, Sprache, den charakteristischen Eigentiimlichkeiten der 
Persdnlichkeit des kontriiren Geschlechts und alle kulturell-sozialen 
Verhaltnisse, die schon von Kindheit an die Konzentrierung der 
Individuen dos einen Geschlechts aufs andere lenken. Hierzu tragen 
auch die bestiindigen Unterhaltungen, literarische und poetische Erzeug- 
nisse und die darstellende Kunst bei. SchlieBlich spielen die direkte 
Beriihrung wahrend des Tanzens, des Spielens, mutwilliger Streiche 
und anderer gegenseitiger Handlungen beider Geschlechter eine her- 
voiragende Rolle bei der Bestimmung der Richtung des Geschlechts- 
triebs. Infolge der Gesamtheit dieser Einwirkungen bei normalen 
Verhiiltnissen wird der Geschlechtstrieb beim Menschen in den meisten 
Fallen unvenneidlich aufs kontrare Geschlecht gelenkt. Wenn aber 
die Erreger letzterer Art den natiirlichen Bedingungen der Annahe- 
rung der Geschlechter, besonders in der Anfangsperiode der Geschlechts- 
reife nicht entsprechend sind, so kann das Resultat ein anderes sein. 
wie das aus den weiter angefiihrten Beobachtungen ersichtlicli ist. 

Vorlaufig will ich bemerken, daB ich bei den unten angefiihrten 
Beobachtungen zur Entdeckung der Atiologie der Inversitiiten nicht 
zur Psychoanalyse, durch welche, wie ich mich iiberzeugt habe, 
dem Kranken leicht diese oder jene Entstehung seines krankliaften 
Zustandes eingeHoBt wird, gegriffen habe. Auf Grund der Erfalirung 
ist es nicht schwer. sich zu iiberzeugen, daB die Psychoanalyse dutch 
irgendwelche Tendenz des Arztes die Patienten auf einen falschen 
Weg leiten und SchlieBlich etwas nicht der Wirklichkeit Entsprechen- 
des ergeben kann. Durch diesen suggerierenden EinfluB wahrend 
der Psychoanalyse wird in betrachtlichem MaBe auch die von Adler 
vorworfene pansexuelle Theorie Freuds iiber die Atiologie der all- 
gemeinen Neurosen erklart. 

Anstatt der Psychoanalyse benutzte ich die von inir angewandte 
Methode der Konzentrierung: Ich bitte solche Kranke, sich in ihrer 
freien Zeit auf die urspriinglichen, zur Entwicklung ihrer Krankheit 
dienenden Lrsachen zu konzentrieren und alles, woran sie sich die6- 
beziiglich erinnern konnen, aufzuschreiben, in einein Wort — nach 
Moglichkeit alles, was sich auf die Anfangsperiode ihrer Erkrankung 
bezieht, zu reproduzieren und alle auBern Verhaltnisse, die nach der 
Meinung der Kranken mit dem Beginn des krankhaften Zustandes 
in Verbindung gebracht werden komien, anzumerken. 

Ich schlage deshalb den Kranken vor, sich hierbei langer gcrade 
auf die urspriinglichen Griinde und Verhaltnisse der Entwicklung 
des krankhaften Zustandes zu konzentrieren, um sie zu ergriinden 
und nachher vollstandiger zu orklaren. Eine solche Methode halte 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


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ich deshalb fiir besonders wertvoll, weil sich gleichzeitig mit der 
Konzentrierung die Bilder der Vergangenheit ohne irgendwelche be- 
stinimte Tendenzen reproduzieren. Infolgedessen gibt diese Methode 
der Konzentrierung von meinem Standpunkt aus bedeutend mehr 
als gewohnliches Ausfragen und laBt es nicht zu, daB die Kranken 
durch Ausfragon auf einen falschen Weg geleitet worden. Bei alle- 
dem miissen auch die Aussagen der Kranken sowohl von ihren 
Niichsten als auch das Nahere durch Gesprache mit dem Arzt ge- 
priift werden. 

Unter normalen Verhaltnissen wird die Art der Befriedigung 
des Geschlechtstriebs beim Menschen auf natiirliche Weise durch 
den Coitus miihelos gefunden, deshalb schon, weil zur Zeit der Ge- 
schlechtsreife die Halbwiichslinge auf verschiedene Art iiber den Bau 
der Geschlechtsorgane des Mannes und der Frau und den Geschlechts- 
akt durch die anschaulichen Beispiele der Geschlechtsbezieliung der 
Haustiere in Kenntnis gesetzt sind. Wenn also nichts den Gang 
der Entwicklung des Geschlechtstriebs stort, findet er auch beim 
Menschen einen Ausweg im Bemlihen, Beziehungen zum kontraron 
Geschlecht anzukniipfen. 

Aber auch ein normal gestalteter assoziativer Geschlechtsreflex 
kann wie jeder Assoziationsreflex gestort oder sogar vollstiindig 
durch diese oder jene Bedingungen unterdriickt werden. Einen 
besonders deprimierenden EinfluB iibt in dieser Hinsicht die Furcht 
aus. In einor meiner vorhergehenden Arbeiten babe ich schon unter 
dem Titel „Furcht vor Geschlechtsimpotenz w eine besondere Art 
von Psychasthenie, bei der Geschlechtsverkehr nur aus krankhafter 
Furcht vor dem Nichtzustandekommen des Geschlechtsakts unmog- 
moglich gemacht wird, beschrieben. Das geniigt, um den Erektions- 
reflex zeitweilig vollstiindig zu hemmen. Zur Illustration will ich 
hier auBer den friiher von mir besehriebenen Fallen noch folgenden 
nach den Worten des Kranken anfiihren. 

„Ich bin 38 Jahre alt. Zum zweitenmal verheiratet. Als Witwer 
fiihrte ich ein lustiges Leben, gab mich aber nie Ausschweifun- 
gen hin. 

Der Beginn meiner Krankheit datiert von der Witwerperiode 
vom Jahre 1901. Ich habe keine Syphilis gehabt und vor einem 
Jahr den Scharlach durchgemacht. 

Branntwein trinke ich selten und sehr wenig, ebenso Wein. Ich 
rauche sehr viel, sogar des Nachts. 

VVie zu Beginn der Krankheit, so befinde ich mich auch jetzt 
(ein wenig schwiicher) fast iinmer in einem apathisch-deprimierten 


1 ) W. Bechterew: Obosr. Psvchiatr. 1907, 8. 85. 

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W. Bechterew: Die Perversitaten und Inversitaten 


Gemiitszustande, jeder Widerspruch reizt mich. Ich bin zerstreut 
geworden, das Gedachtnis ist geschwacht und die Fiihigkeit zu 
geistiger Arbeit hat sich verringert. 

Am empfincllichsten ist mein krankhafter Zustand beim Ge- 
schlechtsverkehr mit einer Frau, beim Herannahen des Geschlechts- 
aktes ergreift mich die Furcht, daB ich nicht imstande sein werde, 
ihn auszufiihren. alles in mir zittert, SchweiB bricht hervor und es 
kommt zu keiner Erektion oder sie legt sich allmahlich. 

Wenn ich mit einer Frau allein, aber in einem keinen Ge- 
schlechtsakt gestattenden Milieu bin, fiihle ich mich wieder wie der 
Mann, welcher ich vor der Krankheit war. 

In der ersten Zeit meiner Krankheit, wenn ich absichtlich zum 
Coitus meine Matresse besuchen muBte, konnte ich gar nicht den 
Geschlechtsakt ausfiihren, aber nach meiner Krankheit wurde ich 
wieder potent, obgleich die mich verfolgende Furcht, daB ich in der 
notigon Minute keine Erektion haben werde, mich nicht ganz ver- 
lieB. Es geniigte, mir zu sagen, daB ich den Coitus ausfiihren 
„miisse“, und ich w r ar schon nicht mehr fahig dazu. Das geringste 
MiBlingen in dieser Hinsicht reizt noch mehr meine Nerven. 

Tn meiner Jugendzeit war ich auch manchmal zum Coitus un- 
ftihig, das war, als ich zuerst mit einer kauflichen Frau verkehrte, 
und diese Falle verliefen ohne irgendwelchen EinfluB auf meine 
Psyche. 

In den letzten 2 bis 3 Monaten hat meine Nervositat sehr zu- 
genommen. Ich fiihle ein inneres Frostoln in der Brust und in den 
Hiinden, meine Hypochondrie ist starker geworden und ich habe 
wieder die Fiihigkeit zur Ausfiihrung des Geschlechtsaktes verloren. 

Ich setze voraus, daB mit der bestiindigen Furcht, in der 
notigen Minute keine Erektion zu haben, auch der Grand meiner 
allmahlichen Gleichgiiltigkeit zu Frauen verbunden ist. 

Gleiclizeitig mit der Storung des Norvensystems habe ich an- 
gefangen an Magenkatarrh zu leiden. Gegenwartig iiuBert er sich 
in Sodbrennen und AufstoBen ungefiihr 3 Stunden nach dem Essen. 
Der Stuhl ist regelmaBig. 

Die erste Halfte der Nacht schlafe ich fest, aber gegen Morgen 
wird der Schlaf unruhig, zuweilen sogar schwer. 

AuBer einigen Medikamenten habe ich VVasser gebraucht und 
bemerkt, daB kalte Abreibungen ungiinstig wirken, warme Wannen 
dagegen boruhigend.“ Weiteres Ausfragen lieB mich nichts Neues 
etfahren und die objektive Untersuchung ergab auBer Zittern der 
geschlossenen Augenlider keinerlei Abweichung von der Norm. 

Wenn es so um den gebildeten und gefestigten assoziativen 
Geschlechtsreflex bestellt ist, so ist es ganz natiirlich, daB die in 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


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der Periode der Geschlechtsreife wirkenden Verhaltnisse einen un- 
giin8tigen EinfiuB auf die AuBerungen des Geschlechtsreflexes in der 
Zukunft haben konnen. Hiernach ist es klar, daB, wenn die Periode 
der Geschlechtsentwicklung dureh irgendwelche Bedingungen gestort 
wird, dadurch eine nicht entsprechende „Perversitaten und Inversi- 
taten“ genannte Richtung des Geschlechtstriebes bestimmt erreicht 
werden kann. 

tlbrigens konnen bei der letzteren, wenn auch selten, bei Ver- 
haltnissen unnatiirlicher Befriedigung des Geschlechtstriebes vor- 
kommen, wenn diese unnatiirliche Befriedigung zur Gewohnheit wird 
und durch die Unmoglichkeit, den normalen Geschlechtsakt zu be- 
friedigen bedingt wird. So ruft ein Kind in der Periode der Ge¬ 
schlechtsreife und zuweilen noch friiher durch zufallige Reizung oder 
durch verderbliches Beispiel und Lehre die Geschlechtserregung 
durch mechanisches Reiben des Geschlechtsorgans, mit andern Worten, 
durch Onanismus hervor. 

Wir haben hier einen Fall von einem gewohnlichen Erektions- 
reflex, dem die Hand zu Hilfe komrat, um ihn bis zum Maximum 
seiner Entwicklung zu steigern, wobei auch unvermeidlich der 
sekretierende Effekt, der bei den Mannern zur Samenejaculation 
fiihrt, eintritt. Man kann diesen ganzen ProzeB mit einem solchen 
vergleichen, den man bei einer juckenden Hautoberflache hat, wenn 
man sich kratzen muB, oder wenn z. B. ein Kind eine durch un- 
notige Blutiiberfullung der Schleimhaut der Augen entstandene 
Reizung sich durch Driicken mit den Fingern oder dem Handriicken 
erleichtert. Ebenso kann sich der Onanismus bei Kindern entwickeln 
und sogar in sehr friihem Alter, weil die Erektion des Geschlechts¬ 
organs, wie ich erwahnt habe, schon in der ersten Kindheit moglieh 
ist. Im Kreise meiner Beobachtungen kamen Falle solchen Onanis¬ 
mus im Alter von 3 bis 6 Jahren vor. 

Hier haben wir ein solches nach den Worten eines Lehrers 
niedergosehriebenes Beispiel: „Harry, 15 Jahre alt, ist das erste 
Kind augenscheinlich gesunder Eltern. Der Bruder seiner GroB- 
mutter vaterlicherseits war geisteskrank, die iibrigen Glieder der 
Familie, sowohl vaterlicher- als auch mutterlicherseits, sind gesunde 
ausgeglichene Menschen (nach den Worten der Eltern). Harry 
wurde geboren, als die Mutter 27 und der Vater 25 Jahre alt war 
Die Geburt verlief normal, das Kind zahnte ohne Komplikationen. 
Es fing mit l 1 ^ Jahren an zu gehen und mit zwei zu sprechen. 
Bevor es ein Jahr alt war, erkrankte es schwer an den Masern und 
im Alter von drei Jahren an Diphtheritis, von den ersten Monaten 
seines Lebens an fing es an an starker Verstopfung zu leiden. Bis 
zum 5. bis 6. Lebensjahr war Harry nach den Worten der Eltern ein 


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\V. Bechterew: Die Perversitaten und Inversitaten 


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ganz normales Kind, erst vom 6. Jahr an fing er an. Gereiztheit 
und erhohte Nervositat zu auCern. Vom 6. Jahr an fing er, wie 
or selbst sagt, an. sich mit Onanismus zu beschaftigen. Das 
erfuhren die Eltern erst in diesem Jahr und deshalb wandten sie 
sich nicht fruher an arztliche Hilfe. Diese ganze Zeit bis zu den 
letzten Tagen miBbrauchte er, seinen Worten gerniiB, ubormtiBig 
dieses Laster, indent er sich ihm im Laufe von 24 Stunden 5-—fitnal, 
sogar am Tage auf der Couchette liegend oder sitzend hingab. 

Vergangenen Sommer benutzte ihn ein Subjekt, ein Homo- 
sexualist, ungefiihr lOrnal. 

Vom 6. Jahr an empfand er schon eine starke Geschlechts- 
erregung. suchte die Nahe kleiner Madchen, inachte bewuBte Ver- 
suche, sich ihnen zu nahern. Die Erregung wuchs und verlor bis 
jetzt nicht an ihrer Starke. Ihn errcgt nicht nur die Gesellschaft 
einer jeden jungen Frau, deren Nahe zuweilen eine Pollution her- 
vorruft, sondern auch die leiseste Anspielung aus diesem Gebiet, 
wie z. B. das Wort „Frau“ im Buch oder sogar das Schild „Ac¬ 
coucheuse". 

Des Nachts liebt er Bilder entbloBter Frauen hervorzurufen, 
nachts drangten sich ihm dieselben gegen sein Wollen auf. 

Harry zeichnet sich durch eine verhiiltnismaBig gute Gesund- 
heit und guten Appetit aus, leidet nur an chronischem Schnupfen, 
zuweilen hat er Schwindel und Schmerzen in der linken Schlafe und 
empfindet beim Biicken Schmerzen in der unteren Hiilfte des Nackens 
und im oberen Teil des Riickgrats. Zuweilen hat er auch krarnpf- 
artige Schmerzen, die von der Brust zum Halse ziehen. Er schliift 
unruhig, bedeckt sich oft den Kopf mit der Decke, wacht einige- 
mal in der Nacht wie von einem Schlage getroffen auf, schlaft 
erst l j„ bis 1 Stunde nach dent Hinlegen ein, verfiillt zuweilen vor 
dem Einschlafen quasi in Vergessenheit und verliert die Orientierung. 
d. h. er erhalt eine umgekehrte Vorstellung von der Lage der ihn 
uragebenden Dingo und es scheint ihm, daB er mit dem Kopf auf 
der entgegengesetzten Seite als in Wirklichkeit liegt. 

Im allgenteinen ist er ein willenloser dienstfertiger Jungling, der 
leicht unter fremden EinfluB gerat, im Familienkreise dagegen ist 
es eigensinnig, kaprizios, eigenwillig, besonders der Mutter gegen- 
iiber, zu der er sogar feindliche Gefuhle hegt. Er ist feige, aber 
empfindet keine Furcht. 

Er ist gereizt. auBerst nervos, nicht seBhaft, ungeduldig. sehr 
neugierig, was er stark, aber nicht andauernd auBert, konzentriert 
schwer seine Aufmerksamkeit, die er schwer lange fixieren kann. 
Beim Lesen verbindet er oft Satze nicht dem Sinn nach, obgleich 
er im Resultat das Gelesene vollkommen versteht. Seine Sprache 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


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ist richtig. Er ist zu logischen Konstruktionen fahig. Abstrakte 
Begriffe sind ihm zuganglich. Die Arbeitsfahigkeit ist erniedrigt, 
er ist faul, seine Interessen sind sehr begrenzt. Die seinem Alter 
eigenen idealen Bestrebungen. Schwarinereien, romantische Erlebnisse 
usw. sind ihm unbekannt. 

Harry halt sich fiir hoffnungslos krank, was ihn aber nicht be- 
sonders betriibt, er hat kein wirkliches eifriges Bestreben, gesund 
zu werden. aber er ist nicht allein um sich unbosorgt, sondern hat 
auch keine Anhiinglichkeit an seine Verwandten, Kameraden; letztere 
vermiBt er nicht und klagt nicht iiber Einsamkeit. Das Gefiihl der 
Eitelkeit fehlt ihm. Sein Ehrgeiz ist schwach entwickelt, Beleidigungen 
rufen keine besondere Reaktion hervor. Das Schamgefiihl ist ab- 
gestumpft. Von seinem Geschlechtsleben spricht er sachlich ruhig, 
ohne Verlegenheit, aber auch ohne einen Antlug von Liisternheit 
und Wollust. Er ist nicht zynisch, gebraucht keine Schimpfworter, 
kann sie nicht leiden. Er ist nicht verlogen, nicht sentimental, 
weint selten. 

In intellektueller Beziehung ist er meiner Meinung nach nicht 
sehr zuriickgeblieben. Er besucht die 5. Klasse des Gymnasiums, 
gilt als mittelmiiBiger Schuler, lernt eifrig die althebraische und 
franzosische Sprache. beschiiftigt sich mit Musik und hat Gehor. 
Das Gedachtnis ist verhaltnismaBig nicht schlecht. Er behalt das 
Gelesene. besonders Zahlen. und die Lage der StraBen. In der 
Mathematik bleibt er nicht vor seinen Altergenossen zuriick, allge- 
meinbildende Gegenstande humanitaren Charakters faBt er in 
schwachem MaBe auf. Sein Vater ist aufbrausend, seine Mutter 
gesund. Die iibrigen Glieder der Familie sind auch gesund.“ 

Im besagten Falle ist erwiihnt worden, daB die Worte „Frau“ 
und ..Accoucheuse" eine Pollution hervorrufen. Das JaBt sich dar- 
aus erkliiren, daB der Onanismus von einer verstiirkten Reproduktion 
beim Anblick nackter Frauen begleitet gewesen ist, weswegen sich 
auch der assoziative Geschlechtsreflex beim Wort „Frau w und gleich- 
falls beim Wort „ Accoucheuse" gebildet hat. 

Wie erwiihnt, sind Falle von noch friiherem Onanismus moglich 
Diese Fiille werden gewohnlich bei nervosen degenerativen Kindern 
beobachtet, so sind besonders giinstige Bedingungen zur Entwicklung 
des Onanismus im Sinne der Reizungen der Geschlechtsorgane er- 
forderlich und sie miissen deshalb als besonders seltene oder sogar 
ausschlieBliche angesehen werden. 

Man muB im Auge haben, daB der MasturbationsprozeB an und 
fiir sich neben den entspreehenden Reizungen des Geschlechtsorgans 
den ProzeB der Konzentrierung auf diese Reizungen als auf Muskel- 
impulse bei der Bewegung der Hand anregt. und das stellt eine 


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\V. Bechterew: Die Perversitaten und Inversitaten 


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Verbindung des Reflexes der Konzentrierung auf die Masturbation 
und der sie begleitenden Entwicklung des Erektionszustandes des 
Geschlechtsorgans und deni naehfolgenden Zustandekomraen des 
Erektionsreflexes bis zur Samenejaculation einschliefllich her. 

Daher entsteht die Masturbation nicht nur bei irgendeiner zu- 
falligen Reizung der erogenen Zone, welche die Entwicklung des 
gewohnlichen Erektionsreflexes veranlaflt, sondern auch infolge der 
gewohnlichen Heranziehung des Prozesses der Konzentrierung zur 
Geschlechtssphare, mag sie durch irgendeine zufallige, wenn auch 
zur Erregung des Erektionsreflexes ungeniigende Reizung der ero¬ 
genen Zone, oder durch Reproduktion der friiheron Masturbationen. 
oder des Geschlechtsaktes, oder schlieBlich durch Reproduktion der 
passenden iiuBeren Einwirkungen hervorgerufen eein. 

Es ist klar, daB sich dadurch die Masturbation beim Kinde 
noch mehr befestigt, um so mehr, als der gewohnliche Erektions- 
reflex die Geschlechtsorgane an eine verstarkte Produktion des 
Sekrets der Geschleclitsdriisen gewohnt und die iiberfliissige Ansannn- 
lung des letzteren an und fur sich ein natiirlicher Erreger des 
Erektionsreflexes ist. Letzterer erregt nach dem Gesetz der As- 
soziationsreflexe den Reflex der Konzentrierung auf die Geschlechts¬ 
sphare an, was seinerseits den Eroktionsreflex verstiirkt. 

Andererseits ruft das Bedurfnis zur Entstehung des Erektions¬ 
reflexes wiederum die Neigung zur Masturbation hervor, die, ohne 
irgendwo auf ein geniigendes Hindernis zu stoflen, vor sich geht. 

In einem Wort, wenn nur eininal die Geschlechtserregung durch 
mechanische Reibung der Geschlechtsorgane entstanden ist, ist es 
natiirlich, daB sich bei jeder durch irgendwelche Ursachen ent- 
standenen Geschlechtserrogung das Bestreben einstellt, sie auf die 
friihere Art abzumachen, und schlieBlich wird die Sache zur Gewohn- 
heit, von der man sich ohne besondere MaBnahmen schwer oder so- 
gar unmoglich frei machen kann. 

Ich will ein von einem Kranken geschriebenes Beispiel an- 
fiihren: 

„Auf dem halben Wege zur Oblomowschtschina“ 1 ). 

1. Anfangs kampfte ich unter anderm mit dem Onanismus in 
der Hoffnung, daB die ^indorei" 4 mit der Zeit vergehen wiirde. 

2. Dann wurde schon iiber zwei Jahre dieserKampf verzweifelter. 
wurde gleichsam meine Lcbensaufgabe: alle meine Gedanken drehten 
sich darum. 

3. Erfolg des Kampfes. Im Durchschnitt kam es wie in der 
Chronik „einmal in der Woche" vor. Und nach jedem „Mal u ver- 

x ) Ausdnick aus dem Roman Oovscharo/fs „Oblomow“. Typus eines Wilien- 
losen. 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


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sicherte ich, daB es das letzte „Mal“ sein wiirde. Die Illusionen 
wurden durch asketische Momente, die von Zeit zu Zeit den all- 
gemeinen Gang der Krankheit unterbrachen, geschaffen — Momente 
einer mit Anstrengung erkauften Enthaltsamkeit von 2 bis 3 VVochen. 

Diese Momente wurden jedock entweder durch wochentliche 
Pollutionen in der Periode der Enthaltsamkeit, oder durch darauf- 
folgende Perioden sinnloser Vergeudung von Energie erkauft. Die 
Pollutionen wurden von unerwarteten, ratselhaften, beiingstigenden 
Traumen, bei denen es mir heiB und kalt wurde, wenn ich daran 
denke, begleitet oder hervorgerufen. Ich verkehrte geschlechtlich 
im Traum mit den mir nachststehenden Personen . . . 

4. Wie ich kampfte. Ich betete. Ich beschwor das Beste in 
mir, das Gewissen, die Schamhaftigkeit, die Menschenliebe und Selbst- 
liebe; ich flehte „die Liobe zu leben“ an, damit sie mich zur Ent¬ 
haltsamkeit zwinge, und die Liebe und Achtung zu den Verwandten 
und sagte mir: „Erhalte dich wenigstens fur sie M . Ich machte kalte 
Abreibungen, teiis auch, um mich gegen ■ haufige Erkaltung der 
Bronchen abzuharten. Auf diese Art bewahrto ich einige Arbeits- 
fiihigheit, Kraft und Glauben an die Moglichkeit, mich unter meiner 
eigenen Leitung zu bessem und auf diese VVeise meinem idealen 
„Ich u nahezukommen. 

5. Allgemeinbofinden. Der Kampf ist zu anstrengend geworden. 
Ich brauche mir unvorsehens nur das Gesicht und die Korperumrisse 
einer Frau vorzustellen, und momentan entsteht eine Erektion. In 
den letzten Jahren schwackte sich diese Erscheinung, wahrscheinlich 
durch die sich einstellende Erschopfung, ab. 

Der Doktor konstatierte bei mir allgemeine Nervositat und Herz- 
neurose. 

Ich mull noch von einer starken Schwachung der meisten 
Funktionen des Organismus sprechen; ich bin kurzsichtig oder schwach- 
sichtig, ich hore nicht so gut, das Gleichgewichtsorgan hat sehr ge- 
litten, die Funktionen des Seelenlebens noch mehr. Das Gediichtnis 
ist Hand in Hand mit der Aufmerksamkeit und dem Willen buch- 
stablich atrophiert. Melancholie, Apathie oder iiberhaupt eine un- 
begreifliche Inertie boherrschen mich groBten toils, und wochenlang 
ist mein Lebon einem Vegetieren gleich. 

Aufmerksamkeit besitze ich gar nicht, aber ich bin auch nicht 
zerstreut, sondern eher wie von einem Starrkrampf befallen. Das 
ist besonders, wenn ich mich physisch schlecht fiihle. 

Das einzig Unangetastete und mich Anregende ist mein BewuBt- 
sein, und das SelbstbewuBtsein quiilt mich derart, daB ich schlieB- 
lich darunter am meisten leide. Es sagt mir unablassig, daB ich 
auf schiefer Bahn gehe. Es fliistert mir in letzter Zeit zu, daB ich 


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W. Beehterew: Die Perversitaten. und Inversilaten 


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selbst nicht die Kraft habe, raeine Leidenschaft zu iiberwinden. Vor 
mir stand klar wie der Tag die Alternative: entweder geht es schnell. 
schnell zu Ende, d. h. zum unvermeidlichen Untergang, odor mit Hilfe 
anderer betrete ich einen neuen Weg. 

Es mud radikale Hilfe kommen. 

Ich flehe Sie an, sie mir nicht zu versagen! 

Petrograd, 28. III. 16. 

Solange die Sache sich nur aufs oben Gesagte beschrankt, kann 
man von einer Masturbationsgewohnheit in Form von Reversion 
sprechen. Diese Gewohnheit kann jedoch einen solchen Grad er- 
reiehen, dad die Befriedigung des Geschlechtstriobs auf normale 
Weise. d. h. durch natiirlichen Verkehr mit dem kontraren Geschlecht, 
durch die Gewohnung des Geschlechtsorgans sich nur durch die 
Reibung beim Masturbationsprozed zu erregen, nicht mehr zustande 
komrat. 

Dieser Satz wird durch folgenden Fall illustriert. Der Kranke 
schreibt: 

Von friiher Kindheit an war mein Nervensystem immer sehr 
schwach, so dad ich mich sogar iiber Kleinigkeiten aufregte. Durch 
diese hohe Nervositat entwickelte sich und progressierte allmahlich 
eine grode Verlegenheit, Menschenscheu und Streben zum Alleinsein. 

Erst vor 4 bis 5 Jahren legte ich diese Verlegenheit und das 
ewige Bemiihen, allein zu sein, an dem ich in der Kindheits-, Halb- 
wiichslings- und Jiinglingsperiode meines Lebens gelitten hatte, ab. 

Das Lernen wurde mir ziemlich schwer, besonders die positive 
Wissenschaft. Was die humanitaren Gegenstande betrifft, so hatte 
ich eine gewisse Neigung fur dieselben und beschaftigte mich nach- 
her in der Universitiit erfolgreich mit ihnen. Doch iiuderten sich 
meine humanitaren Fahigkeiten erst im Alter von 19 bis 20 Jahren. 
bis dahin waren alio Gegenstande des Gymnasialkursus im Sinne des 
Verstehens gleicli schwer, so dad ich immer zum Auswondiglernen 
dessen, was mein Intellekt nicht fassen konnte, greifen mudte. 

Was mein Geschlechtsleben betrifft, so mud ich sagen, dad ich 
niemals normalen Verkehr gehabt habe. Bein Eintreten der Geschlechts- 
reife fing ich an zu einer madigen Selbstbefriedigung zu greifen, was 
ich bis jetzt, nicht mehr als einmal wochentlich, fortsetze. Auf diese 
Weise litt und leide ich nicht unter den zerstorenden Symptomen, 
die eine unvermeidliche Folge verstarkter Masturbation sind. Vor 
4 Jahren, namlich am 30. Januar 1905, heiratete ich, konnte aber 
wegen der unregelmadigen und unvollstandigen Erektion keinen 
Coitus zustande bringen. Die Unregelmadigkoit der Erektion driickte 
sich darin aus, dad das Geschlechtsorgan, wenn auch eine gewisse 
Spannung erhielt, so sich doch sehr schnell zusammenzog und durch 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


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dieses Zusammenziehen jegliche Moglichkeit, den Geschlechtsakt zu 
vollfiihren, annullierte. Wiederholte Versuche ergaben auch keine 
giinstigen Resultate. In Anbetracht dessen wandte ich raich an 
einen Arzt des klinischen Instituts. Der raich daselbst behandelnde 
Arzt fiir Hautkrankheiten, V., konstatierte aus irgendeinera Grunde. 
ungeachtet aller meiner Gegengriinde, durch welche ich seine, ineiner 
Meinung nach zweifellos falsche Uberzeugung zu widerlegen suchte, 
dad meine Geschlechtsimpotenz die Folge einer venerischen Er- 
krankung sei. 

Er beharrte jedoch bei seiner Uberzeugung und begann Bugieren 
anzuwenden. Nach 2 bis 3 Seancen von Bugieren empfand ich 
heftige Schmerzen in den Hoden und auch in der Prostatadriise. 
Die anfanglichen Schmerzen in letzterer endeten mit einem qual- 
vollen EntziindungsprozeB, der durch die vom selben Doktor an- 
gewandten MaBregeln bald gliicklich beigelegt wurde. 

Was die Hoden anbetrifft, so entstanden an ihnen nach dem 
schweren EntziindungsprozeB. aller Wahrscheinlichkeit nach deni 
Bugieren, Abszesse. In Anbetracht meines schweren Zustands war 
eine Operation erforderlich, die rair auch ira Friihling 1905 gemacht 
wurde. Nachdem ich mich von der Operation erholt hatte, wandte 
ich mich an Professor B. fiir Nervenkrankheiten, in der Hoffnung. 
daB er mich von meinem t)bel befreien kbnne. Er verordnete mir 
Arsen, Spermin-Poehl, riet mir, Duschen zu nehmen, kalte Abreibungen 
zu machen, doch fiihrten alle diese Palliative zu nichts, ergaben 
nicht die notigen Resultate im Sinne der lokalen Heilung, im Sinne 
der allgemeinen Heilung hoben und besserten sie bis zu einem ge- 
wissen Grade das Nervensystem, das in einem zerriitteten Zustand 
war. AuBerdem nahm ich wiihrend einiger Monate in einer Heil- 
anstalt fiir physikalisehe Methoden Duschen und unterwarf mich einer 
allgemeinen und lokalen Elektrisation, doch resultatlos. 

Ich kurierte mich nicht nur in Petersburg, sondern auch im 
Auslande, in Wiesbaden und Baden-Baden, wo ich Nervenarzte kon- 
sultierte. Hire Behandlung glich vollkommen der oben beschriebenen 
und ergab keine positiven Resultate. 

So blieb die sich vor 4 Jahren, namlich gleicli nach der Heirat 
geiiuBerte Geschlechtsimpotenz, die trotz allerhand Arten von Behand¬ 
lung (Arzneien, Duschen, Elektrisation, kalte Abreibungen) mir viele 
moralische Qualen und Leiden verursacht hatte, ohne jegliche wiinschens- 
werte Anderung und ich bin heute die bestandige und Hauptursache 
meines taedium vitae. 

Die Resultate der Untersuchung des Kranken sind folgende: 

Die lokale Untersuchung zeigt gut entwickelte Geschlechts- 
organe: aber der Penis ist ohne die gewohnliche Elastizitat, gut ent- 


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W. Bechterew: Die Perversitaten und Inversitaten 


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wickelte Testiculi, an der Haut des Scrotums bemerkt man eine 
Xarbe von dem an dieser Stelle gewesenen AbszeB, in der Leisten- 
gegend sind die Lymphdriisen erweitert, die Prostatadriise ist nicht merk- 
lich vergroCert, der Bulbocavernosus-Reflex existiert, wenn auch schwach. 

Bei der allgemeinen Untersuchnng des Nervensystoms erweist sich: 
Der motorische Apparat ist ohne besondere Veranderungen (aber der 
Kranke kann die Zunge nicht zur Seite bewegen), es ist eine sehr 
verschiedene Innervation beider Gesichtshalften bemerkbar; irritatio 
spinalis fehlt. Die Reflexe, besonders der Kniereflex und der der 
Achillessehne, sind erhoht, der Cremasterreflex fehlt jedoch. Die 
Empfindlichkeit ist ohne merkliche Veranderungen. Die Koordination 
ist nicht gestort. Seitens der inneren Organe bemerkt man: Die 
Tone des Herzens sind haufig, aber seine Tatigkeit ist scharfen 
Schwankungen unterworfen; seitens des Verdauungsapparats — dys¬ 
pepsia nervosa. 

Was den Geschlechtsakt betrifft, muB man beim Vorhandensein von 
libido eine den Coitus unmoglich machende Schwiiche der Erektionen 
konstatieren. Die Samenejaculation wird von keiner Erektion begleitet. 

Von atiologischen Momenten wird auBer dem Onanismis nichts 
weiter auBer einer zur Erkrankung pradisponierenden Bedingung — 
der Erblichkeit — konstatiert: die Eltern des Kranken waren nah 
verwandt, der Vater war der Onkel der Mutter. 

Somit fand man in den Geschlechtsorganen nichts Derartiges, 
was eine Geschlechtsimpotenz hatte erklaren konnen, die deshalb 
ausschlieBlich aufs Konto der gewohnlichen Befriedigung durch 
Onanismus, Feststellung eines Erektionsreflexes seiner Art durch 
Reizung mit der Hand und groBeres oder geringeres Gehemmtsein 
bei den Versuchen zum natiirlichen Verkehr mit einer Frau, geschrieben 
werden muB. 

Die Folgen des Onanismus konnen auch durch die eigenartige 
Perversitat, iiber welche ich hier einige Worte sagen muB. zum 
Ausdruck kommen. 

In gewissen Fallen iiuBert sich durch den Onanismus eine gereizte 
Schwiiche der Geschlechtsorgane, die zu einer vorzeitigen Samen¬ 
ejaculation wahrend der Versuche zur geschlechtlichen Beziehung fiihrt. 

Das wird besonders bei Neurasthenien, die sich in Zusammen- 
hang mit friiherem Onanismus entwickelt haben, beobachtet und ist 
eine langst bekannte Erkrankung, doch ist die Erkliirung ihres 
Mechanismus unaufgeklart geblieben. 

Zur Illustrierung will ich folgenden Fall anfiihren; der Kranke, 
ein 28jahriger junger Mann, schreibt von sich folgendes: 

Ich war ungefahr 14 Jahre alt, aLs ich zum ersten Male des 
Nachts Pollutionen bekam. Ich wuBte nicht. daB das eine bei Mannem 


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vom Standpunkb tier Reflexologie. 


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normale Erscheinung sei, und beschloB deshalb, einen Arzt zu kon- 
sultieren. Aber in einer Provinzstadt (ich lebte zuweilen in Libau), 
wo einer den andern zu gut kennt, genierte ich mich, rait irgend 
jemand dariiber zu sprechen. Ich lernte damals in einer Stadtschule 
und horte oft Gesprache alterer Kameraden, denen ich entnahm, daB 
einige Geschlechtsverkehr mit Frauen hatten, andere sich mit Ona- 
nismus beschaftigten, und diese Beschaftigung ihnen viel Vergniigen 
machte. Da ich von Natur auf leidenschaftlich war, erregto mich 
das sehr, und ich begann schlieBlich, mich auch mit Onanismus zu 
beschaftigen. freilich ziemlich selten, und dachte, daB dadurch die 
nachtlichen Pollutionen aufhoren wiirden. Wenn ich mich mit Ona¬ 
nismus beschiiftigte, lieB ich nie den vollen SamenerguB zu, sondern 
beschrankte mich groBtenteils auf die durch die Manipulationen hervor- 
gerufene angenehme Empfindung. Mit Onanismus beschiiftigte ich 
mich 1 bis l l / 2 Jahre, wonach ich erfuhr, daB derselbe eine Krank- 
heit sei, imd daB die damit Behafteten schlieBlich Idioten werden. 
Solch ein Fall passierte wirklich einem meiner Bekannten in Libau; 
dieses Faktum war mir sehr iiberzeugend, und ich lieB die schlechte 
Angewohnheit fallen. Mit Frauen hatte ich keinen Geschlechtsverkehr, 
und genierte mich sogar, dariiber mit meinen Kameraden zu sprechen. 
indem ich mich anstellte, daB ich dafiir kein Bediirfnis hiitte. 
Wiihrenddessen empfand ich ein starkes Bediirfnis, meinen Geschlechts- 
trieb zu befriedigen. Ich vermied weibliche Geschellschaft und genierte 
mich, mit einer bekannten Dame auf der StraBe zu gehen. Es kam 
dazu, daB die Kameraden anfingen, sich iiber mich lustig zu machen; 
es geniigte, in der Gesellschaft zu erklaren, daB sie mich init einer 
Dame bekannt machen wollten, und ich war naeh wenigen Minuten 
nicht mehr da. Ich fiihlte mich wirklich sehr geniert, wenn es ihnen 
gelang, mich einzufangen und mit einer Dame bekannt zu machen. 
Infolgedessen befand ich mich in einem sehr gcdriickten Zustande. 
Hiiufige. von Traumbildern erotischen Charakters begleitete Pollu¬ 
tionen lieBen mir keine Ruhe. Ich war damals iiberzeugt, daB ich 
ein Idiot werden wiirde, weil ich den Onanismus und die Pollutionen 
fiir ein und dasselbe hielt. Als Resultat meines gcdriickten Zustandes 
blieb ich von meinen Kameraden, die in ihrer Entwicklung weit vor- 
geschritten waren, zuriick, blieb in meinern Lernen zuriick, obgleich 
die Wissenschaft mir sehr leicht war, und ich mit 18 Jahren die 
Kommerzschule mit einer Auszeichnung beendete. In dieser Zeit er¬ 
fuhr ich erst aus Biichem. daB alle Manner Pollutionen haben, und 
das beruhigte mich ein wenig. Aber fiir anormal hielt ich nur eins: 
ich hatte immer die gleichen Traume — als ob ich mit einer Frau 
im Verkehr stiinde, aber sobald ich ihren Korper beriihrte, endete 
der ProzeB und war von einer Samenejaculation begleitet. Alle 


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W. Beehterew: Die Pervcrsitiiten und Inversitaten 


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meine Gedanken waren nur rait dieser Frage beschaftigt, und ich 
konnte mich auf nichts anderes konzentrieren. Ich interessierte mich 
nur fiir Musik, und ihr verdanke ich meine erste Bekanntschaft mit 
Damen, die auch Klavier spielten (ich spiele die Geige). So schloB 
ich Bekanntschaft, konnte mich aber mit keiner Dame befreunden, 
weil ich mich immer genierte ihre Hand zu beriiliren, und immer 
etvvas kalt im Umgang mit ihnen war, selbst beim Alleinsein. Einige 
hielteu mich deshalb fiir stolz, andere sagten, daB ich mich anstelle. 
Dafiir sprach sich die gauze Leidenschaftliehkeit meiner Natur, wenn 
ich allein war, aus, besonders nachts. Sehr oft konnte ich mich nur 
dann beruhigen, wenn ich das Bett verlieB und ein wenig im Zimmer 
umherspazierte. Viele meiner Kameraden rieten mir, ungeachtet 
dessen, daB ich mich anstelite, kein Bediirfnis fiir einen Geschlechts- 
verkelir mit Frauen zu haben, doch alle Vorurteile fallen zu lassen, 
wahrscheinlich verstanden sie, was mich bedriickte. Aber ich konnte 
keinen Ausweg finden, weil ich fiirchtete, daB es alien bekannt w r erden 
wurde; ich genierte mich sogar vor meinen Kameraden. Endlich 
brach das Jahr 1914 an. Ich war damals 28 Jahre alt. Die poli- 
tischen Ereignisse fiihrten mich nach Petersburg. Hier beschloB ich, 
all meinen Leiden ein Ende zu machen, wuBte aber nicht, wie ich 
es anfangen sollte. Bekannte Frauen hatte ich nicht, aber so tief 
sinken, eine Frau von der StraBe zu nehmen, konnte ich nicht. 
Endlich bot sich mir eine Gelegenheit, Beziehungen zu einer Bekannten 
zu haben. Ich befand mich in diesem Moment in einer so nervosen 
Erregung, daB, als ich kaum ihren Korper beriihrt hatte, die Samen- 
ejaculation erfolgte. Ich begriff in dieser Minute, daB alle meine 
Traume bis dahin ein Abbild der Wirklichkeit dessen, was mit mir 
in dieser Minute passierte, gewesen waren. Ich begriff, daB ich an 
dieser Krankheit schon 9 bis 10 Jahre gelitten hatte. Von dem Tage 
an legte sich bei mir die Erektion sogar des Nachts. Ungeachtet 
dessen, daB ich mich behandeln lasso (mit Elektrizitiit), befinde ich 
mich bis jetzt in dem gleichen krankhaften Zustande. 

Ich wurde vom Lumbalteil bis zum Geschlechtsorgan fara- 
disiert. Ungefahr l 1 ^ Monate und dann noch mit Unterbrechungen 
setzte ich diesel be Kur fort. AuBerdem hatte ich ungefahr zwei 
Monate Massage der Prostatadriise. Alles war erfolglos. Die uro- 
logische Untersuchuug ergab negative Resultate. 

Es wurden einige Versuche gemacht: Der erste im Jahre 1915, 
nach einigen Monaten der zweite, dann machte ich die letzten zwei 
Jahre keine Versuche mehr. Alle Versuche waren ebenso wie der 
erste, nur einmal war ein Versuch erfolgreicher und befriedigte 
augenscheinlich die Frau, wenigstens so sagte sie. 

Die Kniereflexe sind erhoht, deutliches Zittern der Augenlider 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


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beim SchlieBen, ein kaum merkliehes Zittern der Zunge. Das 
Ubrige ist in Ordnung, es kommen keine Nervenattacken vor, der 
Puls ist ruhig, im Herzen ist nichts Anormales. Eine Erektion 
komrat weder tags noch nachts vor, nur zuweilen koramt eine kurze 
anhaltende Erektion vor. 

Der Kranke entstaimut einer gesunden Familie, nur seine 
Schwester zeichnet sich durch Nervositiit aus, eine von Spezialisten 
gemachte Ham- und urologische Untersuchung ergab negative Re- 
sultate, infolgedessen in besagteui Falle die Perversion ausschlieB- 
lich durch eine erhohte Erregbarkeit des assoziativen Ejaculations- 
reflexes, der sich noch vor der vollstiindigen Einfiihrung des Ge- 
schlechtsglieds in die Vagina oder deren Eingang entwickelt, erklart 
werden kann, weswegen man eine solche Perversitat eine ,,Eingangs- 
perversitiit“ nennen konnte. 

Um den Ursprung dieser Perversitat zu erkhiren. miissen wir 
daran denken, daB es in der Reflexologie eine Regel gibt, nach der 
ein durch die grundreflexogene Reizung hervorgerufener Reflex sich 
in Gestalt eines Assoziationsreflexes mit der vorhergehenden und 
sie begleitenden assoziativen Reizung verbindet 1 ). 

VVenn z. B. einer elektrischen Hautreizung der Finger der Hand 
oder der FuBsohle, die ein Wegziehen des FuBes verursacht, eine 
vielmalige Lautreizung vorhergeht, so stellt sich der Assoziations- 
reflex in Verbindung mit dieser Lautreizung nicht in der Periode 
der Wirkung der elektrischen Hautreizung, sondern friiher, im 
Moment des Beginns der Wirkung der Lautreizung ein. 

Dasselbe wird augenscheinlich auch bei der Geschlechtssphiire 
bei einer sie reizenden Schwache beobachtet. 

Der assoziative Ejaculationsreflex, der gewohnlich den Samen 
im Moment der stiirksten, durch die mechanische Reibung an den 
Lippen und dem Clitor der Vagina hervorgerufenen Schwellung des 
Geschlechtsorgans auswirft, kommt jetzt schon im Moment der vor- 
lauflgen, durch die Vorbereitung zum Geschlechtsakt bedingten 
Reizungen oder beim Einfiihron des Geschlechtsorgans in die Vagina 
zustande. 

Die oben genannte Storung wird gewohnlich bei erhohter Er¬ 
regbarkeit des Ejaculationsreflexes, die oft von entsprechenden, 
durch urologische Untersuchung entdeckte phyeische Veranderungen 
bedingt ist, beobachtet. 

In andern Fallen steht die Sache anders. Wie oben erwahnt, 
fiihrt der Onanismus dazu, daB die natiirlichen, gewohnlich die 


1 ) W. Bechterew: Allgemeine Grundlagen der Reflexologie. Obosr. Psychiatr. 
1917 u. Einzelausgabe. Petrograd (russiscb). 


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\Y. Bechterew: Die Perversitaten und Inversitaten 


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Geschlechtserregung verursachenden Bedingungen nieht immer ge- 
niigen, um den Erektionsreflex hervorzurnfen. Im Resultat miB- 
lingt der Geschlechtsakt, was bei einer an und fur sich deprimierenden 
Wirkung aufs Allgemeinbefinden eine asketische Reaktion, die sich 
noch mehr bei neuen Versuchen zum Coitus verstarkt, hervorruft. 
SchlieBlich verfolgt einen der Gedanke an ein eventuelles MiBlingen. 
was in geschlechtlicher Beziehung zu einem weiteren Fiasko fiihrt, 
Uber die andern Folgen eines solchen MiBlingens werde ieh hier 
nicht weiter reden, will nur als Illustration eine solcher Beobach- 
tungen anfiihren. 

„Ich war, wenn ich mich nicht irre, 17 Jahre alt, als ich mich 
mit Onanismus zu beschaftigen begann, was ich 3 bis 3 1 / 3 Jahre fort- 
setzte. In dieser Zeit verw r andelte ich mich aus einem energischen 
und befahigten Jiingling in ein welkes, unzuversichtliches Subjekt, 
das beinahe alle Lust zur Arbeit verloren hatte. Es stellten sich 
oft Kopfschmerzen ein: als sie nicht aufhorten, und ich zu fiihlen 
begann, daB das besagte Laster, von dem ich mich durchaus nicht 
frei machen konnte, mein Untergang w r erden wiirde, w’andte ich 
mich an einen Arzt und gestand ihm alles. Dank der Hilfe dieses 
Arztes gelang es mir mein Laster zu unterdriicken, aber die Schw r ache 
des Organismus und der Verlust der Zuversichtlichkeit blieben, mein 
Gediichtnis w r ar geschwacht. Mit 22 Jahren hatte ich zum ersten 
Male Verkehr mit einer Frau — einer Prostituierten. Von der 
Zeit an bis ungefahr zum 25. Lebensjahr hatte ich oft Verkehr mit 
kauflichen Frauen und immer erfolgreich. Als ich 25 Jahre alt war. 
erkrankte ich an Gonorrhoe und etwas spater am Ulcus molle. 
Bald damach ereilte mich beim Versuch zum Geschlechtsakt das 
erste MiBgeschick. Ich muB hinzufiigen, daB ich vom 22. Lebens¬ 
jahr an ein stiirmisches Leben zu fiihren begann und oft mit meinen 
Kameraden zechte. Als die erwahnten Fehlschliige sich zu wueder- 
holen begannen, verlor ich den Glauben an meine Geschlecbtskraft 
und fing an mich zum Geschlechtsloben fiir impotent zu halten. Der 
Zweifel, ob es mir gelingen w r iirde, den Geschlechtsakt zu vollfiihren, 
die Furcht angesteckt zu werden, schlieBlich das Gefiihl des Ekels, 
das ich mit der Zeit bei Versuchen mit kauflichen Frauen Ge- 
schlechtsverkehr zu haben zu empfinden begann, brachten oft Fehl- 
schlage. Wenn ich eine Frau, w ? enn auch eine kiiufliche, aber mehr 
oder weniger sympathische traf, oder in nicht niichternem Zustande 
mit ihr Verkehr hatte, war oft der Erfolg zufriedenstellend 1 ). Ich 
halte es fiir notig hinzuzufiigen, daB ich niemals einen Verkehr mit 

Die Erektion ist auch in positiven Fallen keine vollstandige, und die Samen- 
ejaculation geht schnell vor sich. 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


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einer nicht kauflichen Frau hatte, aber wenn ich eine solche, d. h. 
eine nicht kaufliche, die mir gefiel, beriihren muBte, stellte sich 
mehrmals die Erektion ein, die jedoch merklich verschwand, sobald 
ich daran zu denken begann, ob ich notigenfalls imstande sein 
wiirde den Geschlechtsakt zu vollfiihren. 

Das dauert so bis jetzt. 

Im Jahre 1900, als ich 26 Jahre alt war, fiihlte ich heftige 
Schmerzen im Lumbalteil und dann auch in den iibrigen Korper- 
teilen, diese Schmerzen stellten sich im Laufe von 3 Monaten 
periodisch ein und verschwanden wieder, gleichzeitig bemerkte ich, 
daB mein Haar stark auszufallen begann. Da fing mich der Ge- 
danke an zu qualen, daB ich die sogenannte Tabes dorsalis habe. 
Ich hatte irgendwo gelesen, daB diese Krankheit eine Folge des 
Onanismus sei. Als ich mich an den Arzt, der mir geholfen hatte 
mich von meinem Jugendlaster zu befreien, wandte und ihm von 
meiner Krankheit und den mich verfolgenden Gedanken erzahlte. 
beschwichtigte er meine Zweifel, beruhigte mich, und die Schmerzen 
horten sofort auf. 

Im Jahre 1907 stellten sich nach anstrengender Arbeit, groBen 
Aufregungen und ordentlichen Zechereien die Schmerzen, die ge- 
driickte Stimmung und die zudringlichen Gedanken an die Tabes 
wieder ein. Als der Arzt, an den ich mich wandte, mich unter- 
sucht hatte, beruhigte er mich und sagte, daB meine Befiirchtungen 
unbegriindet waren. Die Schmerzen horten auf, die Stimmung 
besserte sich, und ich begann mich wieder frisch und gesund zu 
fiihlen. Nach einiger Zeit geriet ich in schwere Lebensverhaltnisse 1 ), 
und die Symptome meiner Krankheit zeigten sich wieder. Ich fing 
an an Schlaflosigkeit zu leiden, und der Gedanke an Tabes verlieB 
mich nicht. Das Gedtichnis war ganz schwach geworden, die Zu- 
versicht geschwunden. Ich bekam die Hautkrankheit „psoriasis“. 
Das war 1909. Im Jahre 1910, als ich endlich anting eine regel- 
mafiige Lebensweise zu fiihren, lieB ich die Zwangsvorstellungen von 
Tabes fallen, die Schmerzen im Riicken, in den Handen und FiiBen 
stellten sich seltener ein, aber die Stimmung war zuweilen ohne 
jeglichen sichtlichen Grund einem Wechsel unterworfen. Im all- 
gemeinen fing ich an. mich zufriedenstellend zu fiihlen. obgleich das 
Gedachtnis schwach und die Arbeitsfahigkeit vermindert blieb; ich 
habe keine Zuversicht, bin sehr zerstreut, transpiriere stark, wenn 
ich mich bewege und zuw'eilen auch ohne irgendeinen Grund, wenn 
ich nervos bin. In letzter Zeit (Februar, Marz und April d. J.) 


l ) Oft muBte ieh auf Eisenbahnfahrten schlaflose Xiichte verbringen, auch 
Trinkgelage kamen vor. 

Archlv ftlr Psychiatric. Bd. 68. 10 


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14b 


\V. Bechterew: Die Perversitaten unci Inversitaten 


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hatte ich eine starke Gemiitsbewegung, verlor meinen Schlaf unci 
die Fahigkeit der Selbstbeherrschung, die Schmerzen stellten sich 
wieder von Zeit zu Zeit beim geringsten Kummer und der Er- 
innerung an das mich betreffende Leid ein, ich bin nicht imstande 
meine Tranen zuriickzuhalten. Der Gedanke an meinen letzten 
Kummer verfolgt mich unablassig.“ 

Es ist bei dem Kranken nichts besonders Ererbtes zu be- 
merken. ebenso nichts im Korperbau und in der somatischen 
Sphare. 

Wie aus vorhergehendem ersichtlich, wirkt ein MiBlingen in 
geschlechtlicher Beziehung auf Kranke, indem es ihnen die Hoffnung 
nimmt, jemals einen normalen Geschlechtsakt zu haben, infolge- 
dessen sich allem dem die aufdringliche Furcht eines moglichen 
MiBlingens in geschlechtlicher Beziehung auch in Zukunft bei- 
gesellt. 

Dieser Zustand der Furcht in Gestalt eines befestigten Asso- 
ziationsredexes erneuert sich auch bei den folgenden Versuchen zum 
Coitus, indem er den Erektionsreflex im Beginn unterdriickt, was 
noch mehr die Lage solcher Kranken verschlimmert. 

Als Beispiel will ich noch folgenden Fall, bei welchem wir zeit- 
weilig auch einen vorzeitigen SamenerguB und einen ungeniigenden 
Erektionsreflex haben, der oft unter dem EinfluB einer allgemeinen 
Gedriicktheit aus Furcht vor MiBlingen gehemmt wird, anfiihren. 

„Soviel ich mich jetzt (der Kranke ist fiber 30 Jahre alt) er- 
innem kann, begann sich bei mir das Geschlechtsgefiihl in meinem 
12. bis 13. Lebensjahr einzustellen. Dieses Gefiihl auBerte sich im leb- 
haften Wunsch, vielmehr in der Neugier, verborgene Stellen und 
Organe zu betasten. Da ich nicht die Moglichkeit hatte, meine Neu¬ 
gier zu befriedigen, reproduzierte ich in meiner Einbildung die ge- 
wiinschten Bilder, wodurch ich bei mir eine wolliistige Empfindung 
hervorrief, letztere brachte mich zum Onanismus. 

Damals wuBte ich noch nicht, was Onanismus sei, gab mich 
demselben unbewuBt hin, ohne an Schaden zu denken, bis ich ein 
religioses Buch fand, aus dem ich ersah, daB das, womit ich mich 
beschiiftigte, eine groBe Siinde sei. Leider brachte mich selbst diese 
Entdeckung nicht zur Vernunft, und ich setzte das Onanieren fort. 
Es halfen auch nicht die Ratschliige dieses Buches, sich nicht auf 
den Riicken oder Bauch, sondern ausschlieBlich auf die Seite schlafen 
zu legen. Ich versuchte diese Mittel, als ich 14 bis 15 Jahre alt war, 
aber die gereizte Neugier rief allerhand Bilder und Vorstellungen 
hervor, und ich konnte nicht die Angewohnheit bekampfen. Nach 
einigen VVochen der Enthaltsamkeit gab ich mich dem Laster mit 
noch groBerer Leidenschaft hin. Als ich 15 Jahre alt war, erzahlte 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


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mir mein alterer Bruder, vom Wunsche, mich vor Gefahren zu warnen, 
beseelt, von seinem Geschlechtsleben. Wie er, von seinen Kameraden 
beredet, Frauen in offentlichen Hausern besucht hatte, wie er ge- 
trunken hatte, und dann wie die meisten von ihnen hart biiBen 
muBte, indem er an allerhand venerischen Krankheiten erkrankte. 
Die Erzahlung des Bruders machte einen starken Eindruck auf mich, 
wonach ich durch die religiose moralische Erziehung, die ich ge- 
nossen hatte, einen noch starkeren Widerwillen vor dem Geschlechts- 
akt empfand. 

Bis zu meinem 20. Jahre fiihlte ich, ob infolge der oben er- 
wahnten Griinde oder durch die Befriedigung durch Onanisri us. 
faktisch einen Widerwillen vor dem Geschlechtsakt. Das zeigte sich 
in bestimmter Weise hei den giinstigsten Umstanden einer Ge- 
schlechtsannaherung, als ich nicht nur keine Neigung, sondern sogar 
einen Abscheu vor dem Geschlechtsakt empfand. Mich zog aus- 
schlieBlich die fast nie befriedigte Neugier an, und anstatt durch 
den normalen Akt befriedigte ich meine Neugier durch die Ein- 
bildung und setzte das Onanieren fort. 

Im Alter von 20 bis 25 Jahren ting der normale Verkehr mit 
Frauen an mich anzuziehen, vielleicht deshalb, weil es mir teilweise 
gelungen war, meine Neugier zu befriedigen, die Griinde weiB ich 
schon nicht mehr. 

Ich beschiiftige mich mit Literatur iibers Geschlechtsleben. Aus 
Forel erfuhr ich, daB der Verkehr des Mannes mit der Frau eine 
angeborene Eigenschaft des Menschen sei, und mich begann der 
normale Verkehr anzuziehen. Aber ich hatte keine Moglichkeit in 
diesen Verkehr zu treten und mein Bediirfnis zu befriedigen, da 
mich ein besonderer Ekel und die Furcht vor Ansteckung vom 
Verkehr mit einer professionellen Frau zuriickhielt. Zu einer Be- 
kannten Beziehungen zu haben, lieB meine Angstlichkeit nicht zu. 
wesw'egen ich wieder unbefriedigt blieb und meine einzige Be¬ 
friedigung im Onanismus fand. 

In dieser Zeit traf ich wieder meinen Bruder, der mich wieder 
einen Blick in sein Geschlechtsleben tun lieB. Es hatte sich heraus- 
gestellt, daB trotz groBen Erfolges sich doch seine .lugendsiinden, 
d. h. der Onanismus, mit dem er sich friiher abgegeben hatte, jetzt 
bemerkbar machten, trotzdem er sich im Auslande von den Folgen 
dieser Krankheit kuriert hatte. Er war nicht immer imstande ge- 
wesen den Geschlechtsakt auszufiihren und hatte auch nicht die Ge- 
legenheit ausniitzen konnen, wenn sich ihm ein Madchen hingegeben 
hatte, und er nicht die natiirlichen Hindemisse hatte bewaltigen konnen. 

Er hielt sich in gewissem Grade fiir impotent, war deshalb 
deprimiert. fiirchtete sich zu heiraten, weil er nicht geniigend seine 

10 * 


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W. Bechterew: Die Perversitaten und Inversitiiten 


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Frau befriedigen konnte, und prophezeite mir, als er erfuhr, daB ich 
mich mit dergleichen beschaftigte, dieselbe Zukunft, wenn ich nicht 
rechtzeitig zur Besinnung kiime. Soviet ich mich erinnern konnte, 
fiihlte ich mich nach seiner Erzahlung ebenso wie er, um so mehr 
als ich mich doch nicht meiner Angewohntheit enthalten konnte. 

Weiterhin gelangten meine nahen Beziehungen zu einem be- 
kannten Madchen bis zur gegenseitigen Geschlechtsberiihrung, doch 
nicht bis zum Geschlechtsakt und glichen mehr Onanismus. Wenn 
ich den Geschlechtsakt vermied, erklarte ich es dadurch, daB ich 
nicht wiinschte sie ihrer Jungfraulichkeit zu berauben. 

Der erste normale Verkehr mit einer professionellen Frau hatte 
wegen der schnellen Samenejaculation keinen Erfolg. Dasselbe 
wiederholte sich einige Jahre nachher mit einer ebensolchen Frau. 
Es ist mir im Gedachtnis, daB, als ich mit ihnen verkehrte, ich mich 
bestandig fiirchtete angesteckt zu werden. Moglicherweise wirkte 
auch das, aber vielleicht auch die Schwachung nach dem anhalten- 
den Onanismus aufs MiBlingen des Verkehrs. Letzteres ist eher an- 
zunehmen, da ich ganz ebenso nach einigen Jahren bei einem be- 
kannten Madchen, wo ich keinerlei Zweifel iiber die Unmoglichkeit 
einer Ansteckung hatte, keinen Erfolg hatte. 

Die angefiihrten Falle und Umstande brachten mich zur tJber- 
zeugung, daB ich die natiirlichen Hindernisse bei den Madchen nicht 
iiberwinden konne und mich zur Wiederherstellung meiner verloren 
gegangenen Kraft kurieren miisse. Ich wandte mich an Dr. Sch. in 
Moskau, der mich dadurch kurierte, daB er mir mit einer elektrischen 
Walze iiber das Riickgrat fuhr, ich fiihlte keine Erleichterung, lieB die 
Kur sein und beschloB, mich durch Suggestion bei einem Spezialisten 
zu kurieren. Nach zwei in Enthaltsamkeit zwischen Onanismus und 
befriedigter Neugier verbrachten Jahren traf ich eine bekannte Frau, 
die nach langerer Bekanntschaft einen Geschlechtsverkehr mit mir 
suchte. Ich deutete ihr an, daB ich nicht imstande sei, sie zu be¬ 
friedigen, doch setzte sie wahrscheinlich nichts Derartiges voraus 
und verstand nicht, wovon ich sprach. Da beschloB ich, meine 
Fahigkeit zu priifen, und sie war zu meiner groBen Befriedigung 
vollkommen zufriedenstellend, und zwar derart, daB ich imstande 
war, den Akt 2 bis 3mal mit Pausen von 1 /„ bis 1 Stunde zu wieder- 
holen. Es ist mir in Erinnerung geblieben, daB mir nach dem ersten 
Erfolg auch kein Gedanke an ein MiBlingen in den Sinn kam, und 
unser Verkehr ganz normal, sogar im Laufe eines Jahres zn eifrig 
war, was erschopfend auf mich zu wirken begann. Gerade in diese 
Zeit fiel eine Bekanntschaft mit einem Madchen, das zu mir in 
Verkehr zu treten wiinschte. Unsere Annaherung wahrte nur bis zum 
Geschlechtsakt. Vollfiihron konnte ich ihn wegen der vorzeitigen 


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vom Standpunkt tier Keflexologie. 


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Samenejaeulation nicht, der darauf folgende Krafteverfall war recht 
anhaltend. und die Erektion wiederholte sich an diesem Abend nicht. 
Es gelang mir weder am nachsten noch am dritten Abend, die 
naturlichen Hindernisse entweder wegen der friihen Samenejaeulation 
oder wegen ungeniigender Spannung bei der Erektion zu uberwinden. 
Das Madchen war hiibsch und gefiel mir. Vielleicht spielte auch das 
hier eine Rolle, daB ich sie nicht ihrer Jungfriiulichkeit berauben 
wollte, ich lieB das nicht mal in den Minuten der hochsten Wollust 
aus dem Auge. Doch scheint es mir, daB das bei geschlechtlich ge- 
sunden Menschen nicht der Fall ist, sie bleiben nicht auf dem halben 
Wege stehen. 

Zur selben Zeit machte ich die Bekanntschaft einer jungen 
Witwe. Am Abend erzahlte sie mir, daB das Leben nach dem Tode 
ihres Mannes ein schw*eres sei. Er war impotent, sie dagegen ,,toll- 
gewesen, was wahrscheinlich eine erhohte Leidenschaftlichkeit be- 
deutete. Wir verabredeten uns, uns in der nachsten Nacht zu treffen. 
Auch dann, als ich mich mit ihr in der folgenden Nacht vereinte, 
war absolut kein Effekt, keine Erregung zu bemerken. Vollige Ira- 
potenz. Durch kiinstliche Reizung wurde die Ejaculation erreicht, 
doch ohne jegliche Spannung und Kraft. Den nachsten Abend 
wiederholte sich dasselbe. Das w'irkte derart auf mich, daB ich un- 
w illkiirlich auf den Gedanken kam, ob ich noch normale Beziehungen 
zur ersten haben konne. Bei Gelegenheit stellte sich wirklich die 
Storung heraus — zu schnelle Samenejaeulation, schlechto Span¬ 
nung usw. Bis unlangst hielt dieser Zustand an. In letzter Zeit 
jedoch wurde die Sache mit der ersten wieder hergestellt. Ub es 
deswegen geschah, daB das Vorliergehende aus meiner Erinnerung 
schwand oder daB ihre Mixtur und Chinin mit Phosphor eine gute 
Wirkung auf mich ausiibten, weswegen ich mich bedeutend kraftiger 
fiihle. Aber wenn die Sache mit der einen wieder hergestellt worden 
ware, so veranderte sie sich hinsichtlich der andern nicht. Ungeachtet 
meines Alters bin ich iiberhaupt etwas angstlich, besonders in Gegen- 
wart von Frauen, auBerdem habe ich unwillkurlich den Gedanken — 
plotzlich kann ich nicht zurecht kommen? Wenn ich bei der Frau, 
bei welcher ich auf Erfolg rechne, bleibe, iiberkommt mich ein ner- 
voses Zittern, oin Fieber, das ich nicht zuriickhalten, anhalten kann, 
und jeder Geschlechtstrieb vergeht, und in meinen Sinn schleicht 
sich der Gedanke, plotzlich werde ich Fiasko erleiden. AuBerdem 
bedriickt mich die Heiratsfrage sehr. Werde ich noch schw'erere 
Hindernisse uberwinden konnen? Ich denke, daB die Erzahlungen 
meines Bruders und anderer auf meinen Zustand einen EinfluB ge- 
habt haben. Mein Onkel war auch impotent und hatte ein Familien- 
drama erlebt. Dann dachte ich iiberhaupt lange, daB der Onanism us 


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W. Bechterew: Die Perversitaten und Inversitaten 


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eine unheilbare Entkraftigung nach sich zieht, und erst in der letzten 
Zeit erfuhr ich, daB das nicht der Fall sei. 

Das ist die Geschichte moines Geschlechtslebens. Vielleicht haben 
einige der angefiihrten Ursachen keine so wichtige Rolle gespielt. 
Doch denke ich, die Uberzeugung, daB eine andauernde Beschaftigung 
mit Onanismus eine unheilbare Geschlechtsirapotenz zur Folge hat, 
eine der wichtigsten, meinen jetzigen Zustand hervorgerufenen Ur- 
sachen war. 4 ’ — Der Kranke ist iibrigens ein gesunder Mensch, die 
Geschleehtsorgane sind weaentlich unverandert. In einigen Fallen 
unterdriickt die aufdringliche Uberzeugung vom bevorstehenden MiB- 
lingen nach erfolglosen Versuchen zum Geschlechtsverkehr mit einer 
Frau nicht die Erektion, wie es sich zeitweise schon im vorher- 
gehenden Fall gezeigt hat. Hier haben wir ein Beispiel: Die Eltern 
sind ganz normal, sowohl physisch wie auch psychisch. Der Vaber, 
der Beschaftigung nach ein Pachter, starb im 7B. Lebensjahr und 
war bis an sein Lebensende ungewohnlich riistig und energiseh. Die 
Mutter ist noth jetzt am Leben, 65 Jahre alt und fiir ihr Alter riistig 
und arbeitsfahig. Sowohl der Vater wie auch die Mutter hatten 
sich einer guten Gcsundheit erfreut und keine ernsteren Krankheiten 
durchgemacht. Bei der Heirat war der Vater 86 und die Mutter 
17 Jahre alt gewesen. Ihr ganzes Leben hatten sie friedlieh und 
gut verbracht. Obgleich die Mutter fast bis zum Tode des Vaters 
eifersiichtig gewesen war, konnte man an den Ursachen einer solchen 
Eifersuclit zweifeln. Ihrer Heirat entsprangen 14 Kinder, H Knaben 
und 6 Miidchen. Sechs Kinder starben an verschiedenen Kinder- 
krankheiten (Infektionskrankheiten und Erkiiltungen), die iibrigen 
sind gesund und haben an keinen besonderen Krankheiten gelitten. 

Der Kranke ist jetzt 85 Jahre alt. In der Kindheit hatte er 
etwas gestottert, besonders wenn er aufgeregt war, aber mit den 
Jahren hatte sich das gegeben. Im Vergleich zu seinen anderen 
Briidern und Schwestern war er von schwiicherer Gesundheit gewesen. 
Das Geschlechtsleben hatte er im 17. Jahr mit Onanismus begonnen. 
Er hatte maBig, gewohrilich nur in den Perioden der Geschlechts- 
erregung onaniert. Seines Lastors hatte er sich geschamt und es 
verheimlicht. Von den Kameraden hatte er gehort. daB der Onanis¬ 
mus schiidlich sei. Den ersten Verkehr mit Frauen hatte er mit 
17 Jahren gehabt, und dieser Verkehr war wegen ungeniigender 
Erektion erfolglos gewesen. An dieses erste Mifilingen hatte er immer 
bei den folgenden Versuchen einer Anniiherung an Frauen gedacht, 
was ihm jegliche Zuversicht an sich selbst geraubt hatte. Es hatte 
ihn der unablassige, liistige Gedanke, daB er nichts machen konne, 
keine Erektion sein vviirde, verfolgt. Und es hatte sich keine Er- 
regung, keine Erektion eingestellt. Wenn auch eine geniigende Er- 


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voni Standpunkt der Reflexologie. 


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regung und Erektion schon wiihrend der Versuche zum Verkehr 
vorhanden gewesen waren, so hatte er doch gedacht: „es wiirde ja 
nichts dabei herauskommen, die Erektion wiirde gleich schwinden 4 *. 
Und wirklich, die Erregung und die Erektion hatten sich sofort g *- 
geben. Und je groBer der Wunsch zur Annaherung und Befriedigung 
der Frau gewesen war, urn so geringer war die Fahigkeit gewesen. 
Und dieses MiBlingen hatte ihn zuweilen in hello Verzweiflung 
versetzt. 

Die Geschlechtserregung und Erektion waren erst nach der Ge- 
wohnung an eine Frau wiedergekehrt, und dann waren alle friiheren 
Fehlschlage vergessen, und alles war wieder gut gewesen. So war 
es fast bei jeder Veranderung der Frau. So geschah es auch vor 
einem Jahr. Aber diesmal war der Gedanke an seine Unfahigkeit 
so hartnackig und stark, daB trotz raehrmaliger Geschleehtsversuche 
nichts dabei herauskam. Diese Beharrlichkeit und Unablassigkeit 
der Gedanken verhinderte auch die Entwicklung der Gewohnheit. 

In letzter Zeit kam es so weit, daB jede Erektion. sogar in Ab- 
wesenheit einer Frau denselben Gedanken an Unfahigkeit hervorrief. 
Dieser Gedanke begleitete die Erektion und unterdriiekte sie von 
Anfang an. In den letzten 2 bis 3 Monaten war nur ein ganz ge- 
lungener Verkehr mit geniigender Erregung und sehr guter Erektion 
zu verzeichnen, das war, als sein Kopf mit ganz anderen Gedanken 
(an einen nahestehenden Schwerkranken), die auch, wenn er allein 
mit der Frau war. nicht verschwanden und starker als der gewohn- 
liche Gedanke waren und ihn, wenn auch nicht ganz, so doch so 
betiiubten, daB er machtlos war. die beginnende Erregung und Erek¬ 
tion zu unterdriicken. 

Wenn der fruher beschriebene Zustand mit dem Begriff der 
sog. ..Geschlechtsneurasthenie 44 bezeichnet wird, so ist es richtigor, 
den eben angefiihrten und teilweise den vorhergehenden Fall mit 
„Geschlechtspsychasthenie 44 zu bezeichnen. in Anbetracht dessen, daB 
die Geschlechtsunvollstandigkeit hier durch eine aufdringliche, sich 
unter dem EinfluB der ersten MiBerfolge entwickelten Folie von Ge- 
schlechtsimpotenz bedingt wird. Der vorhergehende Fall kann in 
dieser Beziehung als ein gemischter betrachtet werden. 

In einigen Fallen kann sich eine besondere Folie in Gestalt 
qualender Fureht vor Geschlechtsimpotenz auch aus anderen Griinden 
entwickeln. So habe ich die ..Fureht vor Geschlechtsimpotenz 4 *, die 
sich bei einem Manne deswegen entwickelt hatte, daB er den Ge- 
schlechtsakt nach iiberstandener Pleuritis wegen Stiche in der Seite 
nicht beenden konnte, weil die Erektion sich abschwachte, beschrieben. 

Von der Zeit an verfolgte den Kranken die Fureht, daB er den 
Geschlechtsverkehr nicht auf normale Weise werde vollbringen konnen, 


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\Y. Bechterew: Die Perversitaten und lnvereitaten 


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weswegen er zur Behandlung durch Suggestion greifen miiOte. Einige von 
mir geraaehte Seancen geniigten, um dieseFurcht schwinden zu lassen 1 ). 

Bei den Frauen kann die „Furcht vor dem Geschlechtakt u exi- 
stieren, aber aus einem anderen Grunde. Bei ihnen entwiekelt sich, 
wie ich in dieser Arbeit gezeigt habe, zuweilen die Furcht vor 
einer gewissen Vergewaltigung beim Einfiihren des mannlichen Or- 
ganz ins Innere ihres Korpers, wie das durch meine Beobachtungen 
dargestellt worden ist. Die Behandlung durch Suggestion hatte aueh 
hier Erfolg-). 

In anderen Fallen handelt es sich bei anhaltendem MiBbrauch 
von Onanismus wegen Geschlechtserschopfung und anderer durch uro- 
logische Untersuchungen aufgedeckter Grunde nicht mehr um eine er- 
hohte, sondern umgekehrt — eine erniedrigte Geschlechtserregbarkeit. 

Des weiteren sind bei ofterem und dauemdem MiBbrauch von 
Onanismus natiirlich auch schwere Folgen, die wegen Atrophie der 
Geschlechtsdriisen zu einer hartnackigen Erschopfung der Geschlechts- 
sphare und schlieBlich mehr oder weniger vollstiindigem Aufhoren 
der Erektion fiihren konnen, moglich. 

Bekanntlich benutzten schon die Azteken den Onanismus in 
friihester Kindheit bei der Erziehung von Knaben, die zu religiosen 
Zwecken ihrer Geschlechtsgeluste beraubt werden. Dadurch entstand 
quasi ein kiinstlicher Eunuchoidismus mit entsprechenden physischen 
V eranderungen. 

Sogar im Jiinglingsalten, wenn die Gewohnheit zur Masturbation 
besonders stark eingewurzelt ist, wird das Geschlechtssystem erschopft, 
und es entwiekelt sich bei einigen Onanisten infolge der oben er- 
wahnten Atrophie der Samendriisen, selbst bei einer so kiinstlichen 
Art der Selbstbefriedigung des Geschlechtstriebs — Impotenz. Wenn 
dagegen keine vollstandige Erschopfung der Geschlechtssphiire ent- 
steht, so kann sich solch ein Zustand ergeben, daB nur eine kiinst- 
liche Reizung des Geschlechtssj’stems durch Onanismus den Erektions- 
reflex hervorrufen kann, wahrend eine Befriedigung des Geschlechts¬ 
triebs auf natiirliche Weise durch einen Verkehr mit dem kontraren 
Geschlecht zur Anregung des Erektionsreflexes, der sich gewohnt hat, 
sich nur unter dem EinduB entsprechender Reizungen mit der Hand 
zu entwickeln, schon ungeniigend ist. 

Hier stoBen wir schon auf eine besondere Art von Perversitat, 
die Onanismus oder Masturbationsperversitat genannt werden kann, 
die daran leidenden Personen dagegen konnen ,,Masturbasiten“ oder 
„Onanisten“ genannt werden. 


*) Siehe W. Bechterew: Obosr. Psychiatr. 1907. S. 85. 
*) W. Bechterew: Obosr. Psychiatr. 1907. S. 85. 


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Da sie nicht die Moglichkeit haben, den normalen Geschlechts- 
akt auszufuhren, fahren sie fort, sich mit Onanismus zu beschaftigen 
und fiiklen sich oft dadurch vollkommen befriedigt, ohne selbst Mittel 
zu suchen, sich von der Perversitat freizumachen, da das kontrare 
Geschlecht sie nicht mehr anzieht, oder ihnen sogar zu wider ist. 
Zuweilen greifen sie beim Onanismus zur Hilfe eines anderen Ob- 
jekts, indem sie zu diesem Zweck sogar offentliche Hauser besuchen 
oder sich mit gegenseitigem Onanismus abgeben. 

Ich kannte ein Ehepaar, wo beide gar nicht den nattirlichen 
Geschlechtsakt benutzten, sondern jeder fur sich sich mit Onanismus 
beschaftigte, ohne sich iibrigens der gegenseitigon Liebkosungen zu 
enthalten und selbst den Wunsch zu haben diese Perversitat zu 
kurieren. 

Doch ist zu bemerken, daB es Falle geben kann, wo auch un- 
abhangig vom fruhern Onanismus bei bestimmten Frauen eine Ge- 
schlechtsimpotenz eintreten kann, wahrend man sie bei andern nicht 
tindet. In diesem Falle hat man es mit einer bestimmten Differen- 
zierung oder Feststellung des Geschlechtserektionsreflexes zu einem 
bestimmten Frauentypus zu tun, was auch wieder von verschiedenen 
in der Periode der Geschlechtsreife erlebten Eindriicken abhangt. 
So kann bei einigen Personen der Erektionsreflex beim Umgang mit 
leichtsinnigen und nicht beim Umgang mit bescheidenen Frauen 
entstehen. Bei andern dagegen entsteht er nur beim Umgang mit 
ehrlichen Frauen und auBert sich iiberhaupt nicht oder wird beim 
Umgang mit Prostituierten unterdruckt. Solche Falle kommen iiber- 
haupt selten in der Praxis vor. Zuweilen geht die Saehe mit gut 
bekannten Frauen gliicklich vonstatten und miBHngt mit wenig be- 
kannton, wie man das an folgendem Beispiel sehen kann: 

„Ich bin 30 Jakre alt. Mein Vater war ein sehr nervoser und 
aufbrausender Mann, machte Liirm und Geschrei iiber jede Kleinig- 
keit und lieB niemand in Ruhe. Meine Mutter dagegen war eine 
stille, ruhige Frau. Von den Kindem sind zwei meiner Briider auch 
nervos und gereizt. Die Schwestern sind alle normal. Ich halte 
mich fur den ruhigsten der Fainilie. Ich hatte von Kleinheit an 
mich mit Onanismus abgegeben (ungefahr vom 9. Jahr). Ich tat es 
nicht immer, sondern mit groBen Unterbrechungen und auf ver- 
schiedene Weise. Als ich 18 Jahre alt war, vorkehrte ich zum erston- 
mal mit einer Frau, aber erfolglos. Bei aller Erregung und allem 
Verlangen gab es keine Erektion. Nach diesem Mai war ich fest 
davon iiberzeugt, daB ich die Fiihigkeit zum Coitus verloren habe. 
Aber doch bemiihte ich mich noch einige Male mit einer Frau zu ver- 
kehren,- urn mich vollstandig von meiner Impotenz zu iiberzeugen, 
und erlitt jedesmal Fiasko. Bei starker Erregung entstand keine 


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W. Bechterew: Die Perversitaten und Inversitaten 


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Erektion und bei der Berii lining des Korpers der Frau nach einigen 
Sekunden die Samenejaculation, und damit war es aus. Nach meinem 
Militardienst, als ich 25 Jahre alt war, verkehrte ich mit einer Frau 
sehr erfolgreich und auf natiirliche Art. 

Aber diese Frau war mir nicht neu. Ich war mit ihr zusammen 
aufgewachsen, liatte mit ihr zusammen gegessen, getrunken und sogar 
geschlafen. Als ich anfig mich mit Onanismus abzugeben, war ich 
auch mit ihr zusammen, und diese Beziehungen dauerten einige Jahre 
mit Unterbrechungen. Zu dieser Frau stand ich bis zu letzter Zeit 
in Beziehung. Dann heiratete sie aus Liebe einen andern, ich be- 
schloB auch zu heiraten, wollte aber meine Fahigkeiten erkonnen 
und kam wieder zu dem traurigen SchluB. daB ich nichts machen 
konne. Solch einen Fall hatte ich wahrend meines Zusammenlebens 
mit dieser Frau. Ich kam zufallig mit einer andern Frau zusammen, 
und wieder kam nichts heraus.“ 

Aus folgendem Beispiel kann man ersehen, was fiir ein Drama 
durch diese Perversion, die man Wahlperversion nonnen kann, in 
dem Falle hervorgerufen wird, wenn der Erektionsreflex bei der 
eigenen Frau verfohlt. 

„Ich war immer ein schrecklicher und auBerst nervoser Knabe 
(ein Erbteil meiner Mutter). Schon von friihester Kindheit an 
(14 bis 15 Jahre) fiihlte ich mich sehr zu Frauen hingezogen, aber 
das war damals noch sehr unbestimmt, hauptsachlich zog mich die 
Nahe einer Frau und irgendeine Beriihrung ihres Korpors (Kiisse usw.) 
an. Da ich unter bestandiger Aufsicht meiner Eltern war und fleiBig 
im Gymnasium lernte, so konnte von einom Beginn von Geschlechts- 
beziehungen auch keine Rede sein. Ungliicklicherweise hielt bei mir 
dieser Zustand auch dann an, als ich die Mittelschule verlieB und 
die Universitiit bezog. Obgleich ich damals der elterlichen Kontrolle 
entriickt war und die Moglichkeit hatte, meine Lebensweise zu andern, 
muB ich offen bekennen, daB Geschlechtsbeziehungen zu einer Frau 
fiir mich gar keinon Reiz hatten, dafiir zog mich wie auch vorher 
das in der Einbildung zu idealisierte Bild der Frau rein auBerlich 
an. DemgemiiB bemiihte ich mich nach Moglichkeit, meine freie Zeit 
in Gesellschaft anstiindiger Frauen, die mir gefiolen, zu verbringen. 
Hierbei muB ich bemerken. daB bei mir zwei Umstande auf den 
Beginn rein geschlechtlicher Beziehungen ungiinstig wirkten: 1. Ich 
fiihlte einen Widerwillon gegen Prostituierte und fiirchtete mich sehr 
vor venerischen Krankheiten, und mit einer Frau aus einetn andern 
Milieu konnte ich als Neuling nicht dergleichen Beziehungen an- 
kniipfen. 2. Durch Beredung meiner Kameraden hatte ich bisweilen 
mit Prostituierten Verkehr, aber alle diese Versuche endeten erfolglos. 
In solch einem Zustande verbrachte ich viele Jahre (ungefahr 15). 


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In dieser Zeit erkannte ich das Anormale meiner Lebensweise, da 
ich konkrete Beweise der Regelrechtigkeit meiner Geschlechtsorgani- 
sation vor den Augen hatte (ziemlich oft Erektionen tags und nachts, 
oft sogar auf der Strafle beim Anblick oder nur einer rein auBer- 
lichen Beriihrung einer Frau, meistenteils mit darauffolgender Samen- 
ejaculation. Pollution u. a.). 

Ich war natiirlich sehr um meine Gesundheit besorgt, wandte 
in ich oft an Spezialisten-Neurologen. aber obgleich ich immer die 
beruhigenden Versicherungen. daB ich keine Fehler habe und heiraten 
konne usw. usw. erhaltcn hatte, brachten mir ihre Ratschlagq und 
Kuren (Hydrotherapie u. a.) doch keinen wesentlichen Nutzen. Erst 
als ich 35 Jahre alt war. entschloB ich mich auf den Rat des War- 
schauer Arztes F. zu heiraten und wahlte mir als Lebensgefiihrtin 
ein Madchen. das mich wohl nicht durch sein AuBeres. aber als 
Mensch wegen seiner moralisch-geistigen Eigenschaften anzog. Im 
ersten Jahr unsores Ehelebens fiihlte ich eine recht geringe physische 
Neigung zu ihr. doch liatte jedenfalls das Resultat unseres Zusammen- 
lebens eine mehr oder weniger richtige Geschlechtsbeziehung, wonach 
meine Frau schwanger wurde und nach 9 Monaton ein Madchen 
zur Welt brachte (letzteres ist jetzt 5 l /o Jahr alt). Schon wahrend 
der Schwangerschaft wie auch spiiterhin batten unsere Geschlechts- 
beziehungen keinen normalen Charakter, wenigstens kam ein richtiger 
Coitus auBerst selten zustande, und dann nahm unser gauzes gegen- 
seitiges Geschlechtsleben ein Ende. Ich muB gestehen, daB meine 
Frau mich phvsisch nicht anregt. ich habe mich zu sehr an ihr 
AuBeres gewohnt, und sie verkorpert nicht den Frauentypus, der 
nur durch sein AuBeres mein Geschlechtsempfinden erregt. 

Dagegen muB ich zu meiner Schande bekennen, daB jede andere 
hochgewachsene, reinliche und nicht libel aussehendo Frau aus einem 
beliebigen Milieu mich jederzeit anregen kann. ich kann natiirlich 
nicht mit Bestimmtheit sagen, ob ich mit einer solchen Frau unter 
giinstigen Umstanden sogleich normale Geschlechtsbeziehungen liaben 
konnte, zweifle aber durchaus nicht daran, daB, wenn ich die Moglich- 
keit hatte. mit solch einer Frau so zu leben wie mit meiner eigenen, 
diese Beziehungen sich in kurzer Zeit einstellen wiirden. Aber ich 
habe keine solche Moglichkeit, ich hatte nur zufallige Begegnungen 
mit Prostituierten haben konnen, da aber verstiirken sich dieselben 
Gedanken der Furcht vor Ansteckung, die mich auch friiher von 
ihnen fern hielten, was fiir mich als Familienvater ein unverbesser- 
liches Ungliick ware. Anderei'seits muB ich sagen, daB ich meine 
Frau sehr liebe und achte, und daB es mir unendlich leid tut, sie 
unter meinem anormalen Geschlechtszustand leiden zu sehen. Das 
macht sich wahrend der letzten Jahre besonders fiihlbar (vorher 


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W. Bechteiew: Die Perversitaten und Inveraitaten 


auBerte meine Frau keine besondere Unruhe iiber das Fehlen unserer 
Geschlechtsbeziehungen), sie sagt, daB das sehr auf ihr Nervensystem 
und ihren Organismus wirke, daB sio friihzeitig welke und daB der 
VVunsch einer zweiten Mutterschaft ihr weder tags noch nachts Ruhe 
lasse. Obgleich ich schon so viele Jahre anorinal gelebt habe (ich 
werde bald 43 Jahre alt sein), hiitte ich inich im fiuBersten Falle 
mit meiner Lage ausgesohnt und so bis zu meinem Tode gelebt, aber 
der beiingstigende Zustand meiner Frau zwingt mich, alle Krafte 
anzustrengen und kein Mittel unversueht zu lassen, um ihr die 
Gescljlechtsbefriedigung zu gewahren, mit andem Worten, um 
regelrechtere Geschlechtsbeziehungen zwischen uns fortsetzen zu 
konnen. 

Gewolmlich nachts, nachdem ich mich. physisch miide, schlafen 
gelegt habe, stellt sich im Schlaf oder im Traum die Erektion ein, 
aber sobald ich mich meiner Frau mihere, ist die Erektion zu schwach 
oder zu kurz anhaltend, um es zu einem regelrechten Coitus kommen 
zu lassen. Andererseits kommt es zuweilen vor, daB sich bei einer 
zufalligen Begegnung mit einer fremden Frau oder irgendeiner Be- 
ruhrung mit ihr eine ziemlich starke Erektion einstellt, die iibrigens 
bald aufhort und sofort von einer Samenejaculation begleitet wird.“ 

So hat ein Mensch, der seinerzeit einen bestimmten Frauentypus 
idealisierte, dafiir biiBen miissen, daB er schlieBlich unfahig war, 
Beziehungen zu seiner Frau mit Beibehaltung der Geschlechtsfahig- 
keit zu haben. Hier hat der assoziative Geschlechtsreflex eine be- 
stimmte Differenzierung erhalten, infolgedessen er unter gewohnlichen 
Verhaltnissen einer systematischen Henunung unterlag. 

In einigen Fallen kann eine durch irgendwelche Ursachen hervor- 
gerufene Geschlechtsschwiiche zu einer andern Perversion fiihren, bei 
der die Befriedigung infolge der Schwachung der Geschlechtsfunktion 
nur durch Betasten des Geschlechtsobjekts ohne Versuch zu normaler 
Geschlechtsbeziehung erlangt werden kann. 

Solch eine Perversion kann man mit dem Namen „Tastung8- 
perversion“ bezeichnen, und die zu einer solchen Befriedigung greifen- 
den Menschen konnen „Taster“ genannt werden. 

Bei dieser nicht selten in vorgeriickteren Jahren bei Fehlen 
eines geniigend starken Erektionsreflexes zum Vornehmen des natiir- 
lichen Geschlechtsakts beobachteten Perversion bleibt der mimisch- 
somatische Reflex allgemeinen Charakters oder die sogenannte Libido 
noch erhalten, und er unterstiitzt den Geschlechtstrieb zum kontriiren 
Geschlecht, besonders wenn er fruher durch natiirliche Beziehungen 
zu8tande gekommen war, aber hier wird der Geschlechtsakt (lurch 
tastende Reizungen ersetzt resp. kompensiert, die freilich auch bei 
natiirlichen Geschlechtsbeziehungen fast unvermeidlich sind, aber 


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untcr normalen Verhaltnissen keinenfalls den Geschlechtsakt ein- 
schlieBlich der Samenejaculation ersetzen, sondern nur in Form eitier 
vorlaufigen Prozedur dazu zulassig sind. 

Die Art der Entstehung der obengenannten Perversion verlangt 
kaum besondere Erklarungen. Wir wollen nur das bemerken, daB 
dureh Betasten eines Objekts kontraren Gesehlechts solche Perver- 
sionen gewohnlich bei einem nicht vollstandigen Erektionsreflex seine 
Vollendung auf sekretorische Art erreichen und sich so befriedigt 
fiihlen, daB sie auch bei einer Besserung der Geschlechtsfunktion ihr 
nicht entsagen. Es ist iiberflussig zu sagen, daB sie ihrer Art nach 
Quiilgeister fiirs andre Objekt sind und bei ihm oft zur Entwicklung 
von schwerer Neurasthenie beitragen. wie das auch beim Coitus 
interruptus geschieht. 

Dem Charakter der Geschlechtsbeziehungen zwischen Mann und 
Frau nach ist diese Perversion gewohnlich den Mannem eigen. 

Doch uniangst traf ich eine verheiratete Frau, die keine Ge- 
schlechtsbefriedigimg ohne vorhergehende Prozeduren von Betasten 
haben konnte. Vor den Beziehungen nahm sie das Gesehlechtsorgan 
des Mamies in die Hiinde, fiihrte es um den Eingang in die Vagina 
herum, indem sie mit seinem Kopfchen die groBen und kleinen 
Schamlippen beriihrte und es nur nach dieser Prozedur gestattete, 
mit ihr einen Coitus zu haben. 

Sie erkliirte die Entstehung dieser Perversion durch friihem 
langjahrigen Onanismus vor der Verheiratung und die Notwendig- 
keit dieser Prozedur dadurch, daB sie sonst gar keine Geschlechts- 
befriedigung erhalte. 

Der Mann muBte sich mit dieser Sachlage aussohnen und er- 
kliirte diese Eigentiimlichkeit seiner Frau durch ihre Leidenschaftlich- 
keit, wahrend in der Tat seine Frau ohne diese vorliiufige Prozedur 
keine Befriedigung erlangen konnte. Ihren Worten nach zeichnete 
sich gerade ihr Mann durch besondere Leidenschaftlichkeit aus. In 
einem andern Falle konnte eine sich wirklich durch Leidenschaftlich¬ 
keit auszeichnende Frau eine von reichlichem sekretorischen Effekt 
begleitete Geschlechtsbefriedigung nur dann erlangen, wenn der Mann 
sie betastete. In genanntem Falle klagte die Frau dariiber, daB der 
Maim sie mit seinen Liebkosungen quale. In alien diesen Fallen 
fanden auch normale Geschlechtsbeziehungen statt. 

Bei den ebengenannten Perversionen besteht die Sache nicht so 
sehr in der Geschlechtsimpotenz Oder in der Storung der Geschlechts- 
erregbarkeit, als darin, daB zuerst der mimisch-somatische Reflex 
mit der Geschlechtserektion und Samenejaculation einschlieBlich aus 
irgendeinem Grunde unter ungewohnlichen Verhaltnissen zustande kam, 
und das genugte, um ihm das nachste Mai wie einen Assoziations- 


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W. Bechterew: Die Perversitaten und Inversitaten 


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reflex unfcer ebensolchen Verhaltnissen entstehen zu lassen, was schlieB- 
lich auch die Perversion eines besonderen Typus bestimmt. In andern 
Fallen von Perversionen ist die Sache analog, aber unter andern 
Verhaltnissen. 

Der Mangel an Geschlechtserregung — eine gewbhnliche Folge 
des Onanismus — oder der Wunsch, eine starkere Geschlechtserregung 
zu haben, fiihrt dazu, daB man Mittel zu ihrer Verstarkung sucht. 
Das wird in einigen Fallen durch Kiimpfen erreieht. 

Wir wissen, daB starke Muskelbewegungen zur Entwicklung der 
Geschlechtserregung fiihren, die mit einer Pollution enden kann. 

Es handelt sich in solchen Fallen nicht selten um eine Person, 
die das Objekt der Geschlechtsgeliiste ist, weswegen hierbei leicht 
eine Erektion entsteht. Eine Wiederholung solcher Falle bedingt 
auch eine Perversion von Kampfesart oder Kampfperversion, und 
die an soldi einer Perversion leidenden Personen konnen „Kampfer“ 
genannt werden. Einer meiner Kranken konnte dieser Perversion 
wegen keinen Geschlechtsverkehr mit seiner Frau ausfiihren, ohne 
mit ihr vorher zu kiimpfen, wozu er sie durch Oberredung und zu- 
weilen auch durch Drohungen brachte. 

Die Sache war die, daB er sich nicht nur mit den eigenen An- 
strengungen im Kampf begnugte, sondern das Bediirfnis hatte. daB 
auch die andere Seite ihm Widerstand leistete. 

Ohne diesen vorhergehenden Kampfesakt empfand er keine Be- 
friedigung. AuBerdem regte ihn auch die Eifersucht an, und des- 
halb ermunterte er seine Frau zuin Flirt mit anderen Mannern. 
worin sie nicht einwilligen konnte und der Sache schon eine Scheidung 
drohte. Die bei dieser Perversion angewandten Heilmittel besserten 
die Lage dieser Familie. 

Man konnte denken, daB es sich bei den Kampfem um einen 
Atavismus oder eine Wiederkehr zum Zustande der Tierexistenz 
handle, wo das Erlangen des Geschlechtsaktes nicht ohne gewalt- 
tiitigo Besitzergreifung des Weibchens vor sich ging. Wahronddessen 
handelt es sich in Wirklichkeit, wie es auch in besagtem Falle heraus- 
kam, um eine Erschopfung und gewisse Schwache der Geschlechts- 
sphare, die zu ihrer Befriedigung quasi einen Ansporn bedurfte, und 
wo sich die Sache dann nach dem Gesetz der Assoziationsreflexe 
befestigte. 

Schon im vorhergehenden Falle konstatierten wir einen Zustand 
von Eifersucht als Erreger der Geschlechtsfunktion. Ich fand Falle, 
wo solch eine Perversion selbstandig war, wobei die Sache nicht 
nur zu Forderungen von Flirt an die Frau abging, sondern sogar 
Forderungen, Beziehungen zu einem anderen Mann zu haben, gestellt 
wurden, wonach dann der eigene Geschlechtsakt stattfand. Solch 


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eine Perversion konnte „Eifersuchtsperversion“ genannt werden, und 
die sich ihr ergebenden Personen verdienen die Bezeichnung von 
^ifersiichtlem". Auch diese Perversion entwickelt sich in Ver- 
bindung mit Geschlechtserschopfung und wird durch eine Geschlechts- 
erregung unter Verhiiltnissen, die zur Eifersucht anregen, bedingt. 
Es ist iibrigens moglich, dab sowohl diese Perversion, als auch die ihr 
vorhergehende Kampfesperversion nicht unbedingt mit Geschlechts- 
impotenz verbunden ist, sondern einfach das Resultat einer wiihrend 
eines Kampfes oder Eifersucht empfundenen Geschlechtserregung ist, 
und dab diese Beweggriinde wiihrend der Zeit zur Entwicklung der 
Geschlechtserregung erforderlich geworden sind. 

In einem meiner Falle entdeckte ich folgenden Grund zur Eifer- 
suchtsperversion: Der Mann hatte plotzlich gehort, wie im Schlaf- 
zimmer seiner jungen Frau mehrere herzhafte Kiisse erschallt waren. 
Er verdachtigte seine Frau des Verrats, brauste vor Eifersucht auf, 
geriet in grobe Erregung, drang in ihr Zimmer und uberzeugte 
sich dort von seinem Irrtum. Das war von einer solchen Geschlechts¬ 
erregung begleitet gewesen, die unter anderen Verhiiltnissen nicht 
vorgekommen war. Dieses einerseits und die Verleitung seines 
Freundes andererseits, der ihm seine Frau anbot und sagte, dab die 
Benutzung derselben ihm „der hochste Genub“ wiire, bedingte die 
im angefuhrten Falle eigenartige Geschlechtsperversion. 

Eine andere Form von Perversitiit ist der schon friiher be- 
kannte Exhibitionismus, der im Entbloben der Geschlechtsorgane vor 
anderen besteht. Soviel ich nach einigen meiner Falle urteilen kann, 
wird die Entstehung dieser „Demonstrationsperversion i< durch den 
mimisch-somatischen (erektionelle) Zustand bedingt, der von Kindem 
bei Ungezogenheiten geiiubert wird, wenn andere Kinder oder sogar 
Erwachsene ihre Geschlechtsorgane entbloben. 

Wenn der derartig hervorgerufene mimisch-somatische Zustand 
von einem stiirkeren oder schwiicheren Erektionsreflex begleitet wird, 
sucht das Kind, bei dem auf diese Weise der Assoziationsreflex ent- 
standen ist, nachher wieder Gelegenheit, dab man es entblobt und 
greift dann selbst zu diesem Mittel der Geschlechtserregung. 

Bei den in meiner Praxis vorkommenden Fallen handelte es 
sich um Personen, wollen wir sie „Demonstranten“ nennen, die beim 
Entbloben ihrer Geschlechtserregung mit den Handen nachhalfen 
und dadurch die Erektion des Geschlechtsorgans bis zur Samen- 
ejaculation brachten. 

Nach der Meinung Freuds zeigen die Exhibitionisten ihre Ge- 
.schlechtsorgane quasi in der Hoffnung, dann die Geschlechtsorgane 
einer anderen Person zu sehen, aber ich kann das auf Grund meiner 
eigenen Beobachtungen nieht bestiitigen. 


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W. Bechterew: Die Perversitaten und lnversitaten 


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Die „Demonstranten u kiiraraern sich um nichts anderes als 
nur um die Betrachbung ihrer Geschlechtsorgane, weil sie dadurch 
ihre Geschlechtsbofriedigung erlangen. 

Freilich kommt das gegenseitige Zeigen der Geschlechtsorgane 
nicht sehr selten im Kindesalter vor und ist anfangs eine dumme 
Kinderei, die als Grund zur Perversion dienen kann, aber nur, wenn 
der mit dom eigenen EntbloBen verbundene mimisch-somatische 
Reflex dabei zustande kommt. Deshalb ist es auch in diesem Falle 
nicht zulassig, daB die Perversion mit der Erwartung des Ent- 
bloBens anderer verbunden sein muB. Wie dem auch sei, in keinem 
meiner Falle konnte bei dieser Perversion von einer Hoffnung die 
fremden Geschlechtsorgane entbloBt zu sehen, um eine Geschlechts- 
erregung oder Befriedigung zu erlangen, die Rede sein. 

Uberhaupt denke ich nicht, daB man mit der Meinung Freuds, 
daB jede aktive Perversion quasi von einem passiven Paar begleitet 
wird, einverstanden sein kann. Wer, seinen Worten nach, in einem 
unbewuBten Gebiet Exhibitionist ist, der ist auch gleichzeitig ein 
voyeur 4 (1. c. S. 39). Eine faktische Bestatigung dieses Satzes habe 
ich jedoch nicht gefunden. 

Indem ich zu dieser letzten Perversion, die man ..anschauende" 
nennon konnte, iibergehe, will ich bemerken, daB nach Freud es zur 
Leidenschaft zum Schauen wird: a) wenn diese Leidenschaft nur die 
Geschlechtsorgane zum Objekt hat, b) wenn sie sich mit einer t)ber- 
windung des Widerwillens (voyeurs-Amateure). die Defakation und 
das Urinieren anzusehen, verbindet, und c) wenn diese Leidenschaft, 
anstatt als vorbereitender Akt zur Erreichung des sexuellen End- 
zieles zu dienen, letztere verdrangt. Diese Perversion verdankt meiner 
Meinung nach ihre Entstehung der kindlichen Neugier fur die Ge- 
schlechbssphare Erwachsener, weswegen Kinder oft Gelegenheit su- 
chen, die Geschlechtsorgane Erwachsener wiihrend der Defakation 
oder des Urinierens oder unter irgendwelchen anderen Umstanden. 
z. B. in der Badestube beim Waschen, zu sehen. 

Dieses Anschauen erregt gewohnlich auch die eigene Geschlechts- 
sphare und wird von einer entsprechenden Geschlechtserregung be¬ 
gleitet. Wenn sie sich mehrmals wdederholt hat und besonders zur 
Entwicklung der Pollution gefiihrt hat, so kann die Perversion eine 
anhaltende werden. Bei der Erklarung dieser Perversion muB man 
nicht unberiicksichtigt lassen, daB sogar der Anblick des von Tieren 
ausgeiibten Geschlechtsaktes die Geschlechtserregung in Form eines 
Assoziationsreflexes hervorruft. 

In der menschlichen Gesellschaft dagegen ruft der Anblick eines 
entbloBten Korpers oder eines seiner Teile, z. B. beim Auskleiden, 
auch die Geschlechtserregung hervor. 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


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Eine noch groBere Erregung ruft selbstverstandlich der Anblick 
der Geschlechtsorgane und noch mehr der des Geschlechtsaktes hervor. 
Diese durchs Anschauen erreichten Bedingungen liegen auch der 
von mir genannten anschauenden Perversitat zugrunde. In einigen 
dieser Falle kommt es nach solch einer vorlaufigen erregenden 
Prozedur dazu, daB man sich durch den Onanismus befriedigt, zu- 
weilen stellt sich als Resultat der entstandenen Geschlechtserregung 
Pollution ein. 

Ich will eine meiner zu einer solchen Perversitat gehorenden 
Beobachtungen anfiihren, die Vertreter dieser Perversitat konnen 
„voyeurs" genannt werden. Der Kranke B. schrieb iiber seinen Zu- 
stand folgendes: 

„Ich bin jetzt 33 Jahre alt. Ich leide an einer besonderen Form 
von pathologisch-psychischer Erkrankung, die darin besteht, daB 
mich des Abends, wenn es dunkelt und die Hauser beleuchtet werden, 
der unbezwingbare Wunsch erfaBt, in die erleuchteten Fenster zu 
blicken und zu warten, ob ich nicht irgendeine pikante Szene, so 
wie das Auskleiden von Frauen oder das Hofmachen von Liebes- 
paaren, sehen konne; im Sommer wandere ich deshalb in den Parks 
umher, wobei ich mich beim Hinschauen mit Onanismus beschaftige, 
unabhangig davon, ob eine pikante Szene oder nichts, was nur den 
geringsten Anflug von Pikantheit hatte haben konnen, vorfallt. Wenn 
mich solch ein Zustand iiberkommt, so habe ich, obgleich ich weiB, 
daB solch eine Beschaftigung mit Gefahr verbunden ist (man kann 
in mir einen Dieb oder irgendeinen schlechten Menschen vermuten), 
und daB meine Frau, die mit meiner Verspatung sehr unzufrieden 
sein und mir Szenon machen wird, und daB ich am nachsten Tage 
im Dienst ganz zerschlagen sein werde und Bemerkungen und Aus- 
putzer bekommen wiirde, nichtsdestoweniger nicht die Kraft, die mich 
iiberkommene Krankheit zu bekiimpfen und gebe mich diesem Laster 
hin, indem ich irgendwo oben auf der Treppe eines Hinterhofes 
irgendeines bewohnten Hauses oder im Gebiisch des Parkes drei oder 
mehr Stunden stehe und erst nach der durch Onanismus oder Pollution 
erfolgten Samenejaculation, welchen Moment ich auf jegliche Weise 
aufzusehieben suche, gegen Morgen ganz erschopft heimkehre. 

Solche anormale Erscheinungen hatte ich fast schon zu Beginn 
meines Jiinglingsalters (18 Jahre), und ich machte die besagten 
Spaziergange jedenfalls nicht weniger als viermal in der Woche, zu- 
weilen auch ofter, und das dauerte so bis zum vergangenen Jahr 1914, 
wo ich unter dem EinfluB der von mir angewandten Wasserkur 
wenn auch „schaute“, so doch bedeutend seltener, nicht mehr als 
einmal im Monat. In diesem Jahr (1915) fingen die Anfillle der 
besagten Krankheit an starker zu werden, besonders in letzterer Zeit. 

Archiv fiir Psychlatrie. Bd. 68. U 


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W. Bechterew: Die Perversitiiten und Inversitaten 


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So versuchte ich z. B. im April jeden freien Abend, das war 6- bis 
7mal, in die Hofe zu gehen und aufzulauern. 

Meine Krankheit hatte sich schon in meiner Kindheit entwickelfc. 
Als ich ein 6- bis 9jahriger Junge war, verbrachte ich die ganze Zeifc 
in einer meinem Alter nicht passenden Gesellschaft, wo ich alle 
moglichen, meine vorzeitige Geschlechtsempfindsamkeit erweckenden, 
anstoBigen Erzahlungen und Goschichten horte, und obgleich ich bis 
zum 13. Jahre mein Geschlechtsorgan zur Masturbation noch nicht 
beriihrt hatte, schien mir auch dann schon der Gedanke an eine 
Geschlechtsbeziehung zu einer Frau etwas ungewohnlich Lockendes 
und Anziehendes; ich versuchte schon damals oft die Geschlechts- 
organe meiner Schwestern zu sehen und auch im Sommer am FluB 
zu beobachten, wie sich die Frauen und Madchen entkleideten. 

Vom 13. bis 17. und 18. Jahre beschaftigte ich mich eifrig mit 
Onanismus, was oft 3- bis 4mal im Laufe von 24 Stunden vorkam. 
SchlieBlich wurde ich es iiberdriissig, mich mit Onanismus abzugeben, 
und ich begann Mittel ausfindig zu machen, dieses Gefiihl zu ver- 
scharfen. Darnach hatte ich nicht lange zu suchen, ich brauchte 
nur zu beobachten, was bei den Nachbarn vis-k-vis vorging. Es 
geschah einmal. daB dort die Magd des Hauses sich auskleidete, und 
das wiederholte sich einigemal. Ich praparierte des Abends, meine 
Lektionen, niemand storte mich, und da ich nun allein war und die 
voile Moglichkeit hatte, mich zu beschiiftigen, wozu ich Lust hatte, 
lieB ich mich immer mehr zur Gewohnheit des Spiihens hinreiBen, 
mich gleichzeitig mit Onanismus beschaftigend. Einen gleichen Ein- 
druck wie das Spiihen macht auf mich das Anhoren irgendwelcher 
wolliistiger Seufzer aus den Zimmern der Nachbarn. In letzter Zeit, 
als ich 16 Jahre alt war, trat ich zu einer Prostituierten in Ge¬ 
schlechtsbeziehung, und als das neue Gefiihl mir nicht das Vergniigen 
bereitete, welches ich vom Onanismus erlangt hatte, setzte ich letztere 
Beschaftigung wieder fort, um so mehr, als sie keine besondere 
Miihe erforderte, wahrend ein Verhiiltnis mit einer Frau anzubahnen 
gewisse Anstrengungen und einige Erwartung erforderten, was hier 
auch nicht zu sein brauchte. AuBerdem ist ein Verkehr mit einer 
Prostituierten mit Ansteckungsgefahr verbunden; nachher erlag ich 
auch derselben, erkrankte am weichen Schanker (Ulcus molle) und 
Tripper und kurierte mich bei einem Arzt. Ich bin vom 26. Jahre 
an verheiratet, ungeachtet dessen dauert die Krankheit an. desgleichen 
der Onanismus.” 

Periodenweise ist eine V’erscharfung des anormalen Triebes zu 
verzeichnen. Wenn ich mich eifrig demselben hingebe, wird er 
immer starker und wirkt, nach den Worten des Kranken, eine Liebes- 
szene, die er irgendwie erlauschen kann, besonders auf ihn. 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


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Der Kranke erganzte seine Aussage durch ein Schreiben, das 
er mir gab, um durch Suggestion folgendes zu beseitigen: 

1. Furcht vor psychischer Erkrankung, da zwei Briider im Irrsinn 
gestorben sind: der eine von ihnen war ein Trinker, der andere war 
wegen irgendwelcher mir unbekannter Fehlschlage im Leben an 
Nervenzerriittung erkrankt und wahrend einer Herzattacke gestorben. 

2. Das Erspahen von allerhand pikanten Szenen, sogar jetzt 
fim 33. Lebensjahr), was auch durch das Unbefriedigtsein mit dem 
Geschlechtsleben mit meiner Frau (38 Jahre alt) und dem Wunsch 
zu jiingeren Personen weiblichen Geschlechts in Beziehung zu treten 
erklart wird, letzteres gelingt nicht und ist auch nicht gut. 

3. Das Onanieren von Kindheit an (1- bis 2mal wochentlicb, zu- 
weilen auch lmal in 2 Wochen) und das damit verbundene Spahen. 

4. Die Nervositat, Gereiztheit, Schwachung des Gedachtnisses und 
der Einbildungskraft, Stoning des geistigen Gleichgewichtes. 

5. Es verfolgt mich der Gedanke, daB ich ein Pechvogel bin, 
und daB ich in allem, was ich unternehme, Fehlschlage und Ent- 
tauschungen habe. 

Einige Seancen geniigten, um den Kranken von seiner Perversitiit 
zu kurieren. 

Analoge Beobachtungen werden von mir auch in andern Fallen 
gemacht. Ein Kranker erzahlte unter anderm, daB ihn ein Kamerad 
zu seiner Frau gebracht habe, damit er mit ihr verkehre, und als 
er ihm sagte: „Was tust du, das ist doch deine Frau, es wird dir 
doch unangenehm sein,“ antwortete ihm der: „Nein, das ist mir der 
hoehste GenuB.“ SchlieBlich wurde der Geschlechtsakt mit der Frau 
ausgefiihrt, wobei sich der Mann nur als Zuschauer beteiligte. 

In einem andern meiner Fiille regte der Mann seine eigene 
Frau an, sich einem andern Manne hinzugeben, er selbst dagegen 
begniigte sich damit, den Geschlechtsakt seiner Frau mit einem 
fremden Manne durch eine Spalte des andern Zimmers zu beobachten. 
In einem andern meiner Fiille gab solch ein Bereden der Frau zu 
einer Geschlechtsbeziehung mit einem andern Mann AnlaB zu einer 
Familientragodie, weil die Frau auch nicht mal in Gedanken einen 
einfachen Flirt mit einem fremden Manne haben wollte und eine 
Scheidung von ihrem Manne solch einem Leben vorzog 1 ). 

Es ist ganz natiirlich, daB die Unmoglichkeit sich in geschlecht- 
licher Beziehung auf gewohnliche Art zu befriedigen zur entsprechen- 


J ) Aus der Erzahlung eines Arztes erfuhr ich, daB man in einigen offentlichen 
Hausern von Paris durch eine enksprechende Stellung der Spiegel Amateuren, die 
wahrsclieinlich zu solchen Perversitaten geneigt sind. die Moglichkeit gibt, den von 
andern Besuchern ausgefiihrten Geschlechtsakt fiir Bezahlung zu beobachten. 

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W. Bechterew: Die Perversitaten und Inversitaten 


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den Form des Lebens fiihrt, das, wenn es eingewurzelt ist, zu einem 
unbezvvinglichen Bediirfnis wird. 

Eine besondere Form von Perversitat stellen die „Lecker“, die 
die Zunge als Katalisator der Geschlechtserregung benutzen, vor, was 
unter anderm bekanntlich auch von den Tieren ausgeiibt wird. Es 
handelt sich hier um eine direkte Beriihrung der Schleimhaut der 
Zunge mit dem Korper des andern Objekts und speziell seiner 
Geschlechtsorgane, wodurch auch die Geschlechtserregung angeregt 
wird. 

Diese Perversitat in Form von Lecken (sog Minette) entsteht 
wahrscheinlich durch das mit der Geschlechtserregung verbundene 
„schmatzende“ Kiissen verschiedener Korperteile einschlieBlich der 
Geschlechtsorgane. AuBerdem wird in der Kindheit aus Unart das 
Lecken von Tieren zugelassen, das auch zur Geschlechtserregung 
und Pollution beitragen kann, Bei dieser Perversitat wird die 
Zunge eigentlich nicht als Geschmacksorgan, sondern als Organ, mit 
dessen Hilfe eine entsprechende Reizung sowohl des leckenden, als 
auch geleckt werdenden Objekts erreicht w'ird, benutzt. Deshalb 
handelt es sich bei dieser Form nicht selten um gegenseitiges Lecken 
(soixante-neuf) 69. 

Als Perversitat kann diese Form nur in den Fallen betrachtet 
werden, wo das Lecken nur die einzige oder wenigstens Hauptform 
der Geschlechtsbefriedigung ist, oder wo es das unvermeidliche Stadium 
der Geschlechtsbefriedigung ist. Soviel ich auf Grund meiner Be- 
obachtungen urteilen kann, wird Benutzung des Mundes anstatt des 
weiblichen Geschlechtsorgans zur Geschlechtsbefriedigung dadurch 
gerade ausgedriickt. 

Wie eine meiner Beobachtungen zeigt, entstand die Perversitat 
in Form einer Neigung zum Lecken bei einem Manne dadurch, daB 
in seiner Kindheit ein junger Hund an seinem Geschlechtsorgan gesogen 
hatte, was bei ihm einen Zustand von Orgasmus und Samenejacu- 
lation liervorgerufen hatte. 

In einzelnen Fallen w r ird die Zunge zum Katalisator der Ge¬ 
schlechtserregung geinacht, das sind die Falle, wo man zur Ent- 
stehung derselben Urin trinkt, Fakalien iBt usw. Es handelt sich 
hier wieder um die Falle, wo dadurch die Geschlechtserregung, die 
unter andern Verhaltnissen entweder gar nicht oder wenigstens nicht 
in einem solchen Grade eintritt, zustande kommt. 

In diesen Fallen handelt es sich bei der Geschlechtserregung 
augenscheinlich nicht nur um das Geschmacks-, sondern auch das 
Geruchsorgan. Und wirklich muB man es zugeben, daB dieses 
Organ, das ein gewohnlicher Erreger des Geschlechtstriebs bei vielen 
Tieren, sogar Insekten (Schmetterlingen) ist, eine nicht unwichtige 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


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Rolle auch als Erreger des Geschlechtstriebs beim Menschen spielen 
kann. Bekannt ist ein Beispiel, wo ein junger Mensch ein Madchen 
auf einem Ball verfiihrte, nachdem er ihr Taschentuch genommen 
und es einige Zeit bei sich unter dem Arm gehalten hatte. 

Ich hatte unter meiner Beobachtung einen ungefahr 6 Jalire 
alten degenerierten Knaben, bei dem sich als Perversitat eine starke 
Neigung den Korper seines weiblichen Pflegepersonals und selbst 
seiner Mutter zu beriechen, auBerte. 

Andererseits gibt es Falle, wo der Geruch der Fakalien und 
des Urins ein Erreger des Geschlechtstriebs ist. Alles hangt von der 
Entwicklung und Befestigung des Assoziationsreflexes, der eine Ver- 
bindung zwischen der genannten Reizung und der Geschlechtserregung 
besonders in einer friihen Kindheitsperiode herstellt, ab. 

Sehr bekannt ist jene Form der Perversitat, die mit dem All- 
gemeinnamen „Algolagnie“ bezeichnet wird und sich sowohl in aktiver 
als auch passiver Form auBern kann. Fiir die aktive Form wurde 
von Krafft-Ebing die Benennung Sadismus, nach dem Namen des 
Marquis de Sade, der an dieser Form von Perversitat im hochsten 
Grade litt und in Verbindung damit eine Reihe schwerer Verbrechen 
veriibte, vorgeschlagen, fiir die passive dagegen „Masochismus“ nach 
dem Namen des Schriftstellers Sacker-Masoch, der diese Form von 
Perversitat oft in seinen Werken reproduziert hatte. 

In der russischen Literatur wurde fiir die eine Form von Per¬ 
versitat die Benennung Aktivismus, fiir die andere Passivismus (Ste- 
fanotvsky) vorgeschlagen. Von meinem Standpunkt aus miiBte man 
die Gruppe von Personen der ersteren Perversitat „Geschlechts- 
folterer“ und die der letzteren „Geschlechtsmartyrer u nennen. 

Die Wurzeln des aktiven Algolagnie-Sadismus, der in besonders 
ausschlieBlichen Fallen bis zum Morde und Ausschneiden von Ge- 
schlechtsorganen und anderen Korperteilen geht, kann man nach 
Freud leicht bei normalen Menschen finden. 

Das soxuelle Gefiihl der meisten Manner hat seiner Meinung 
nach einige Mischung von Aggressivitat und Neigung zu Gewalttatig- 
keit. Die biologische Bedeutung dieser Neigung liegt zweifellos in 
der Notwendigkeit, den Widerstand des sexuellen Objekts nicht nur 
durchs Hofmachen zu bezwingen. Der Sadismus entspricht bei 
einem solchen Begriff dem aggressiven Komponenten des Geschlechts¬ 
triebs, der selbstandig atriert geworden ist und durch den Ersatz 
den Hauptplatz einnimmt. 

Ebenso leicht kann man wenigstens die eine der Wurzeln des 
Masochismus verfolgen. Diese Wurzel entspringt der Uberschatzung 
des sexuellen Objekts, als einer unvermeidlichen psychologischen 
Folge der Wahl des Objekts. Der Schmerz, den man dabei uber- 


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W. Bechterew: Die Perversitaten und Inversitaten 


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winden muB, ist dem auf dem Wege der Libido zu seiner Befriedigung 
stehenden Widerwillen und der Scham gleich. 

Doch ist der Autor auch selbst nicht mit der Erklarung der 
Folterperversitat vom Standpunkt der aggressiven Komponenten 
Libido, dieses Uberrests des alten Kannibalismus nach der Meinung 
einiger zufrieden gestellt. Mit Hinsicht auf die Meinung anderer, 
daB „in jedem Schmerz an und fur sich ein Element des Genusses 
istbemerkt er: ,,Wollen wir uns damit begniigen, daB diese In- 
versitat noch keine befriedigende Erklarung hat, und daB es sehr 
moglich ist, daB sie das Resultat einiger seelischer Bestrebungen ist.“ 

Ich meinerseits meine, daB wir es hier mit einer Entwicklung 
von Assoziationsreflexen zu tun haben. 

Oben habe ich schon gesagt, daB der Geschlechtsakt fur die 
Madchen anfangs unbedingt und fur die Manner zuweilen, wegen 
des ReiBens des Hymens in ersterem Falle und des zuweilen vor- 
kommenden EinreiBens des Frenulum des Geschlechtsorgans in letz- 
terem Falle oder wegen irgendwelchor Verwundungen z. B. durch 
Einschneiden mit einem Haar usw. mit qualvollen Reizungen ver- 
bunden ist. Diese Tatsache kann schon an und fiir sich als Grund 
der Entwicklung der Algolagnie dienen. Andererseits habe ich schon 
gesagt, daB Muskelspannungen, z. B. beim Kampfen, von einer Ent¬ 
wicklung der Geschlechtserregun g begleitet werden. Aber das Kamp¬ 
fen wird oft von qualvollen Reizungen begleitet, was den zweiten 
AnlaB zur Entwicklung der Assoziationsreflexe in Form von Algo¬ 
lagnie bildet. Weiterhin gibt es noch einen Grund der Entwick¬ 
lung des Assoziationsreflexes zur Erklarung des Ursprungs der 
Algolagnie. 

Das ist die iible Angewohnheit vieler Halbwiichslinge, einander 
zum SpaB zu kneifen. Ich habe Grund zu sagen, daB diese Ge- 
wohnheit zum Kneifen zusammen mit Beriihrungen in einer Periode, 
wo sich zuerst die Geschlechtsreife zu entwickeln beginnt, zur Ent¬ 
wicklung des assoziativen Geschlechtsreflexes in Verbindung mit dem 
Foltern des Geschlechtsobjekts fiihren kann. 

Noch schadlicher kann in dieser Beziehung das GeiBeln sein, 
welches den Ursprung einer besonderen, unter dem Namen „Flagel- 
lanten“ bekannten Gruppe von Masochisten erkliirt. Ich hatte einige 
Flagellanten unter meiner Beobachtung und habe Grund zur An- 
nahme, daB eine der Ursachen dieser Art von Algolagnie in einzelnen 
Fallen das Peitschen mit Ruten ist. Das ist unter anderen in einem 
indezenten ,,Abenteuer eines Pagen" 1 ) betitelten Gedicht, das auf 
die vierziger Jahre Bezug hat, und wo das unaufhorliche Peitschen 


l ) Zogling des Pagenkorps in Petersburg. 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


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der Pagen von ihrem Vorgesetzten, einem Sadisten, beschrieben wird, 
zum Ausdruck gebracht worden: 

Und es war mir so angenehm 
In den weichen Kissen zu liegen, 

Und voll siiBer und neuer Wonne 
Das voile Vergniigen zu genieBen. 

Das Sausen der Ruten ertonte regelmaBig, 

Aber mir war es nicht mehr schrecklich, 

Ich gliihte vor maBloser Begier . . . 

Dieses dem Inhalt nach indezente Gedicht ist von einem der 
Paderasten A. F. Sch. verfaBt und dadurch bemerkenswert, daB 
darin die dazumal im Pagenkorps und andern hoheren Privatlehr- 
anstalten in Bliite stehende Paderastie und der Homosexualismus 
beschrieben werden. Das Ubel war so verbreitet, daB es eine Ver- 
fiigung des Kaisers Nikolai iiber eine strenge Bestrafung der Paderastie 
in den hoheren Lehranstalton hervorrief. 

Endlieh gibt es Falle, wo der urspriingliche AnlaB nicht so sehr 
das einfache Beispiel der direkten Reizung, als sozusagen eine er- 
habenere Reizung ist, wo der Triumph der Frau iiber den Mann 
stattfindet, wie es in folgendem Falle ist: 

„Mein Vater starb an der Schwindsucht, die sich aus dem Alko- 
holismus entwickelt hatte. Ich selbst trinke nicht, richtiger gesagt, 
trinke sehr wenig, rauche nicht und fiihre iiberhaupt eine regelmaBige 
Lebensweise. Ich muB geistig viel arbeiten. 

Die Vorboten meiner Krankheit zeigten sich sehr friih. Als ich 
6 bis 7 Jahre alt war, sah ich das Ballett „Konjek-Gorbunjek“, und 
bis jetzt ist mir vom ganzen Ballett nur die Szene im Gediichtnis 
geblieben, wo die Krieger die Konigstochter, die mir sehr gefiel, auf 
ihren Schultern trugen. Soviel ich meine damaligen Empfindungen 
reproduzieren kann, beriihrte mich der Triumph einer Frau iiber eine 
Menge Manner angenehm. Spater, als ich ‘J Jahre alt war, muBte 
ich in einer Familie, wo einige interessante junge Madchen waren, 
leben. Man betrachtete mich als ein Kind, liebkoste mich und ge- 
stattete auch Liebkosungen meinerseits, was ich auch benutzte, indem 
ich mich einem wolliistigen GenuB hingab, wenn ich die Hiinde der 
Damen kiiBte. 

Die jiingern Madchen zerrten mich oft, ich gab immer nach, 
und es gefiel mir sehr, wenn sie sich auf mich spreizten, mich 
quetschten und kitzelten, besonders den Hals. Ich liebte es, mit den 
Madchen Puppen zu spielen, wobei ich die Rolle eines Dieners iiber- 
nahm, und ich erfiillte bereitwilligst die Befehle meiner Herrinnen. 
Alle diese wolliistigen Empfindungen konnten natiirlich nicht eine 
Samenejaculation zur Folge haben. Ich kann mich keiner Episode 


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W. Bechterew: Die PerversitAten und Inversitaten 


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erinnern, bei welcher bei mir die frit her nicht existierende Inversitat 
hatte entstehen konnen, im Gegenteil alle obengenannten Episoden 
fanden in meiner Seele einen schon vorbereiteten Boden. Gleich- 
zeitig mit den Vorboten des Masochismus waren bei mir auch sadi- 
stische Neigungen zu bemerken, aber sie waren gewohnlich auf Tiere, 
Insekten, zuw'eilen auch auf Knaben und Frauen gerichtet. Ich er- 
innere mich, daB ich rneinen Hund auf raffinierte Weise qualte und 
dabei eine wahre Wollust empfand. Mit meinen Kameraden gab ich 
mich Phantasien iiber einen uns untergebenen Knaben, der in unserer 
Einbildung existierte, und den wir verspotteten, hin. Die sadistischen 
Neigungen verschwanden schnell und spurlos. 

In der Periode der Geschlechtsreife, die bei mir eintrat, als ich 
14 bis 15 Jahre alt war, zeigten sich meine friiheren Neigungen ganz 
deutlich. Meine Wiinsche richteten sich immer auf eine Selbst- 
erniedrigung vor Frauen, und niemals hatte ich selbst ein Atom 
einer natiirlichen Neigung, obgleich ich ihre Theorie schon seit den 
ersten Klassen der Mittelschule kannte. Da ich damals sehr schiich- 
tern war und mich meiner Neigungen schamte, ohne es zu wissen, 
daB sie ganz bestimmte Inversitaten waren, griff ich zur Befriedigung 
meiner Wiinsche zu Surrogaten: kiiBte Schuhe und Handschuhe von 
Damen, fing an zu onanieren, groBtenteils mit Hilfe von Bildern 
masochistischen Inhalts. Spaterhin gelang es mir, die FiiBe einer 
schlafenden Frau zu kiissen, was bei mir die starkste Erregung ver- 
ureachte. Natiirlich ware mein GenuB gewachsen, wenn die Frau 
meine Erniedrigung vor ihr gesehen und sich dazu aktiv verhalten 
hatte, indem sie bemiiht gewesen ware mich noch mehr zu erniedrigen, 
aber zu einem offenen Auftreten entschloB ich mich erst, alB ich 
23 Jahre alt war, als ich zum erstenmal eine Prostituierte benutzte. 
Erst dieses erste Debiit zeigte mir, daB ich fur den normalen Ge- 
schlechtsakt unfahig war (oder iichtiger gesagt, nur in sehr seltenen 
Fallen fahig). Von diesem Moment an trat eine Periode ein, die bis 
heute dauert. 

Ich habe nur mit Prostituierten zu tun und ziehe Sadistinnen 
selbst haBliche, hiibschen aber normalen Frauen vor. Von den 
richtigen Masochisten unterscheide ich mich dadurch, daB ich keinen 
starken Schmerz vertrage, ein leichter, mir von einer Frau verur- 
sachter ist mir angenehm. In der ganzen Periode der Geschlechts¬ 
reife hatte ich nicht mehr als lOmal einen richtigen Geschlechtsakt, 
zuweilen erreichte ich ihn infolgo sonderbarer Posen, die mir die 
Moglichkeit gaben, wahrend des Coitus die FiiBe der Frau zu kiissen, 
zuweilen durch den Wunsch, mich an einen richtigen Verkehr mit 
Frauen zu gewohnen; in den letzteren Fallen w r ar die Pose eine 
normale, die notige Anregung rief ich hervor, indem ich die Hande 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


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der Frau kiiBte. Zum Gelingen war ein starkes Verlangen er- 
forderlich, das Vergniigen war aber nicht so groB. Ich kurierte 
mich einen Monat lang durch Hypnose, eine Stunde tiiglicb, schlief 
aber keinmal ein, die mir geraachten Suggestionen hatten aber trotz 
des Fehlens des hypnotischen Schlafes keinerlei Resultat. Bei der 
Hypnose wurden narkotische Mittel angewandt, doch vergeblich.“ 

Man muB hierbei bemerken, daB schon eine Reihe von Autoren, 
wie Colin, Scott, Fere, Ellis 1 ) darauf hinweist, daB beide Arten von 
Algolagnie, das heiBt ihre aktive und passive Form, gewohnlich zu- 
sammen auftreten und nur die eine Art der Algolagnie in diesem 
oder jenem Falle vorherrschend ist. 

Eine Erklarung dieser Vereinigung der beiden Arten von Algo¬ 
lagnie in einer Person hat es noch nicht gegeben. 

Freud sagt dariiber folgendes: Wir sehen, daB man die gleich- 
zeitige Existenz von beiderlei Sadismus-Masochismus nicht ohne 
weiteres durch ein Element der Aggressivitat, die zum Geschlechts- 
trieb gehort, erklaren kann. Aber man konnte versuchen, das gleich- 
zeitige Vorhandensein entgegengesetzter Bestrebungen zur Bisexuali- 
tat, die in einem Individuum mannliche und weibliche Elemente 
vereinigt, in Verbindung zu bringen. 

Doch was das hier mit Bisexualitiit zu tun hat, ist schwer zu 
begreifen. 

Meiner Meinung nach lassen die Ursache der „qualvollen 
Reizungen“ dem andem und das Empfinden derselben an sich 
selbst wahrend des Kampfens und besonders beim gegenseitigen 
Kneifen diese kontraren Eigentumlichkeiten der Perversitat in ein 
und derselben Person vom Standpunkt der Entwicklung nach dem 
Typus des Assoziationsreflexes ganz erklarlich scheinen. 

Uberhaupt wird jede Reizung, welcher Art sie auch sein moge, 
nach einer mehr oder weniger dauerhaften Verbindung mit der Ge- 
schlechtserregung unter den verschiedensten Verhaltnissen schlieB- 
lich ein gewohnlicher Erreger der Geschlechtsfunktion und ersetzt 
das gewohnlich erregende kontrare Geschlecht oder gewinnt im 
Sinne ihrer Einwirkung einen Vorzug vor diesem Erreger. 

Vom besagten Standpunkt wird auch die Tatsache verstandlich, 
daB das Foltern als Perversitat in der russischen Literatur auch 
von Frauen beschrieben worden ist, was weder vom Standpunkt 
Freuds noch vom Standpunkt des Atavismus verstandlich wiire. 

Man muB hierbei im Auge haben, daB diese anormale Ent¬ 
wicklung des assoziativen Geschlechtsreflexes sich besonders leicht 

*) La confession von Kossea u gibt zur Entstehung dieser Form von Perversitat 
ein ganz klares und iiberzeugungsvolles Material. 



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W. Bechterew: Die Perversitaten und Inversitilten 


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im Kindesalter befestigt, nicht nur wegen der starken Eindrucks- 
fahigkeit dieses Alters, sondern auch deshalb, weil bei der anfang- 
lichen Entwicklung des Erektionsreflexes seine Beziehungen zum 
kontraren Geschlecht sich noch nicht hergestellt haben und er selbst 
mit nichts auBer den erogenen Einfliissen, die ihn physiologisch her- 
vorrufen, fest verbunden ist. 

Deshalb wird die Herstellung einer Verbindung durch eine As¬ 
sociation des Geschlechtsreflexes mit verschiedenen andern Reizun- 
gen leicht im Kindesalter dauerhaft, unabhangig clavon, ob diese 
Reizung auf einen selbst gerichtet ist oder in Handlungen, die einer 
andern Person eine Reizung verursachen, ihren Ausdruck findet. 
Gleichzeitig erhalt auch der Geschlechtstrieb, der sich zur Periode 
der Geschlechtsreife vollstandig formiert hat, eine der Natur des 
Geschlechts nicht entsprechende Richtung, indem er in seiner Ent¬ 
wicklung auf einem falschen Wege geht. 

In diesen und ahnlichen Fallen ist es sogar unwesentlich, welcher 
Erreger — ein auBerer oder innerer — mit dem Geschlechtsreflex 
assoziiert war. Es geniigt, daB dieser Erreger einmal seine Wirkung 
gehabt hat, in kurzer Zeit kann er gewohnheitsmaBig werden, in¬ 
dem er ein Erreger wird, der mit der Zeit sogar die Wirkung der 
zu einem normalen Geschlechtsakt fiihrenden Erreger hemmen kann. 

Daim muB man noch den erregenden EinfluB der mimisch-soma- 
tischen Zustiinde gemischten Charakters in Form von Seham und 
Verlegenheit auf die Geschlechtssphare im Auge haben, was wahr- 
scheinlich durch die diese Zustande begleitende Erregung der Ge- 
faBerweiterer erklart wird. Wenn es in der Periode der Geschlechts- 
entwicklung schnell zur Samenejaculation kommt, so kann dieser 
Umstand einer eigenartigen Perversitat in Form von Leidenschaft 
zum Empfinden solcher Zustande, die eine Atmosphiire „geistiger“ 
Erniedrigung, eine Art geistigen Martyrertums schaffen, zugrunde 
liegen. 

Bei Fallen von sogenanntem Fetischismus handelt es sich um 
einen ahnlichen Ursprung der Perversitat, nur mit dem Unterschied, 
daB hier anstatt der normalen Verhaltnisse zur Erregung des Ge- 
schlechtstriebes, das das Objekt ersetzende als Geschlechtserreger 
dienende Symbol ist, infolgedessen diese Perversitat mit nicht ge- 
ringerem Recht „Symbolismus“ genannt werden kann. Friiher war 
schon die Rede davon, daB Binet darauf hingewiesen hatte, einen 
wie anhaltenden EinfluB die sexuellen Eindriicke im Kindesalter 
auf den Ursprung dieser Perversitat haben. 

Aber das Wesen dieses Einflusses muB wiederum nicht anders 
als vom Standpunkt der Entwicklung der assoziativen Geschlechts- 
reflexe in Verbindung mit symbolischen Reizungen aufgefaBt werden. 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


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Nach Freud ist ein erniedrigter Trieb zum normalen sexuellen 
Ziel (funktionelle Schwache des Geschlechtsapparates) augenschein- 
lich eine unumgangliche Bedingung der genannten Perversitat. 
Meiner Ansicht nach ist darin jedoch nichts Obiigatorisches, denn 
als Bedingung der Entwicklung dieser Perversitat dient nicht nur 
die Geschlechtsschwache, sondern auch die seltene Gelegenheit zur 
Befriedigung des Geschlechtstriebes auf normale Weise. Wenn diese 
Perversitat nichtsdestoweniger zuweilen von einer Geschlechtsschwache 
begleitet wird, so ist sie oft eine Folge der Perversitat selbst wegen 
ihres Charakters, der eine Geschlechtsbefriedigung durch Onanismus 
oder sogar einfach durch Pollution bei einer mit Hilfe des Fetlsch 
als Symbol hervorgerufenen Geschlechtserregung zulaBt. 

Schon unter normalen Verhiiltnissen der Geschlechtsanhanglich- 
keit, die auch durch eine Befestigung des assoziativen, mit einer be- 
stimmten Person verbundenen Gescblechtsreflexes bedingt wird, geht 
es nicht ohne Symbohsmus ab. Es handelt sich darum, daB nach 
deni in meinem Laboratorium erforschten Gesetz der auf irgendeine 
komplizierte Reizung erzogene Assoziationsreflex bis zu seiner voll- 
standigen Differenzierung auch auf irgendeinen Teil dieser Reizung 
wirksam ist. Folglich ersetzt bzw. symbolisiert in diesem Fall ein 
Teil gleichsam das Ganze. Wenn auf diese Weise ein Objekt der 
Geschlechtsanhanglichkeit den mimisch-somatischen (emotionellen) 
Zustand erregt, indem es gleichzeitig den Erektionsreflex und iiber- 
haupt alle mit dem Geschlechtstrieb verbundenen Erscheinungen 
hervorruft, so muB auch jeder Korperteil und sogar jeder Teil der 
Toilette, der dem Objekt der Anhanglichkeit angehort, denselben 
mimisch-somatischen Zustand und den ihn begleitenden Erektions¬ 
reflex hervorrufen. Sogar die in den Handen eines geliebten Wesens 
gewesenen Gegenstiinde konnen ahnliche Erscheinungen hervorrufen. 
Daher stammt auch die Bedeutung der Geschenke vor der Hochzeit, 
da das Geschenk bis zu einem gewissen Grade das Objekt der An¬ 
hanglichkeit reprasentiert und es gewissermaBen symbolisiert. 

Nach Freud wird die Sache in solchen Fallen durch die psycho- 
logisch notwendige tjberschatzung des sexuellen Objekts, die sich 
auf alles mit demselben assoziativ Verbundene erstreckt, erklart. 

Doch bringt diese ausschheBlich subjektive Erklarung ganz un- 
notigerweise ein Element der t)bersehatzung des sexuellen Objekts, 
die bier nicht von Bedeutung ist. 

Ich muB sagen, daB die Freud sche Psychologie uns in dieser 
Frage an einer erstaunlich seltsamen Kette von Assoziationen leitet. 
In seiner Theorie des Geschlechtstriebes sagt er (S. 25—30, Anm.) 
unter anderem, daB die Psychoanalyse eine Liicke im Verstehen des 
Feti8chismus ausgefiillt hat, nachdem er auf die Bedeutung der 


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W. Bechterew: Die Pervereit&ten und Inversitfiten 


Wahl des Fetisch des Vergniigens, das man beim Brechen der 
Fakalien, die durch die Verdrangung beseitigt sind, hingewiesen hat. 
Da die FiiBe und das Haar einen starken eigenen Geruch haben, 
werden sie auch nach der Verdrangung des unangenehm gewordenen 
Geruches zum Fetisch. Bei der Perversitat des Fetischismus des 
FuBeswird nach dem Gesagten nur ein schmutziger und iibelriechender 
FuB zum Fetisch. 

Einen anderen Gedanken fur den beim Fetischismus bevorzugten 
FuB kann man den infantilen sexuellen Theorien entnehmen. Der 
Fuji ersetzt den bei der Frau fehlenden Penis, womit sick das Be- 
ivufitsein des Kindes schwer abfindet 1 ). 

MuB man es sagen, daB diese besondere, einem Kinde zu- 
geschriebene Duramheit sich schlecht mit der Wirklichkeit vertragt, 
weil im friihesten Kindesalter das Kind vom Penis als vom Ge- 
schlechtserreger keinen Begriff hat und spater sich sein BewuBtsein, 
wenn auch mit dem Fehlen des Penis bei der Frau (wenn es nicht 
selbst weiblichen Geschlechts ist) nicht abfinden kann, woran es 
iiberhaupt gestattet ist zu zweifeln, so doch bestimmt nicht der 
FuB den fehlenden Penis bei der Frau ersetzt. 

Meiner Meinung nach fiihrt uns im gegebenen Fall, wie auch 
in vielen andern, die Psychoanalyse in die Briiche des assoziativen 
Spiels des Subjektivismus, indem sie dem BewuBtsein des Kindes 
das zuschreibt, wovon es augenscheinlich nicht mal einen Begriff 
haben konnte. Wo ist tatsachlich der objektive Beweis dafiir, daB 
das BewuBtsein des Kindes sich schwer mit dem Fehlen des Penis 
abfindet, und warum fiihrt gerade dieser Umstand dazu. daB der 
FuB einen Ersatz fiir den Penis bietet? 

In bezug auf die Geschlechtsontwicklung der Kinder ist Neu- 
gier natiirlich ein Faktum, aber dariiber hinauszugehen, heiBt viel- 
leicht seine eigenen Gedanken, wenngleich nach der Methode der 
Psychoanalyse, einem Kinde aufbinden, was iiberhaupt unzulassig 
ist. Wahrenddessen ist bei der obengenannten Perversitat die Sache 
so bestellt, daB das einem geliebten Wesen gehorende (wirkliche 
oder vorausgesetzte) Symbol oder der Fetisch den Erektionsreflex 
mit entsprechendem mimisch-somatischen Zustand und iiberhaupt 
alien mit dem Geschlechtstrieb verbundenen Erscheinungen hervor- 
ruft. Die Eigenschaft des Symbols oder Fetisch' hat keine wesent- 
liche Bedeutung. Es kann ein Pantoffel, Schuh, eine Schiirze, ein 
Biindchen, FuB (reiner oder schmutziger ist nicht wesentlich), Haar 
usw. sein. Die Hauptsache ist die, daB sich zwischen diesem Ob- 
jekt als Erreger einerseits und dem Geschlechtsreflex und dem ihn 


*) Von mir unterstrichen. 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


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begleitenden mimisch-somatischen Zustand andererseits eine Verbin- 
dung herstellt — eine Verbindung, durch welche dieser oder jener 
Gegenstand nach dem Gesetz der Assoziationsreflexe fahig wird, eine 
sexuelle Erregung hervorzurufen. Diese Verbindung wird auch durch 
die Assoziationsreflexe oft schon im Kindesalter hergestellt, doch 
augenscheinlich nicht friiher, als bis der Geschlechtstrieb in einer 
Periode besonderer Eindrucksfahigkeit des Kindes beim Fehlen 
eines Geschlechtsobjekts zu erwachen beginnt. Doch ist jedenfalls 
die Entstehung des Fetischismus oder Symbolismus im Kindesalter 
durchaus nicht obligatorisch, weil diese Perversitat sich auch in 
einem spateren Alter wegen Unzuganglichkeit eines Objekts der 
Liebe und des Unbefriedigtseins in Geschlechtsbeziehung oder infolge 
einer aus irgendwelchen Griinden sich auBernden Geschlechtsschwache, 
die den Menschen die Moglichkeit, normale Geschlechtsbeziehungen 
mit dem Gegenstand seiner Leidenschaft zu haben, nimmt, ent- 
wickeln kann. 

Unter den Verhaltnissen geschlechtlichen Unbefriedigtseins auf 
normalem Wege kann sich diese Art von Perversitat in besonders 
monstroser Form, z. B. in Form von Leichenschandung auf den 
Kirchhofen usw., auBern. 

Es ist selbstverstandlieh, daB in diesen wie auch in andern Fallen 
die Entwicklung der Perversitaten als anormal eingeimpfter Asso¬ 
ziationsreflexe auf einen Widerstand aller iibrigen durch Erfahrung 
vom Standpunkt der sozialen Sittlichkeit gewonnenen Normen des 
Betragens stoBt, aber indem sich der anormale Reflex trotz alien 
Widerstandes der von der Person als im Leben erworbenen Mengen 
von Assoziationsreflexen ungeoigneten Normen des Betragens immer 
mehr und mehr befestigt, bahnt er sich einen Weg zur Existenz. 

Vom Standpunkt der Assoziationsreflexe erhalt auch die eigen- 
artige Stoning des Geschlechtstriebs, die sich durch liebevolle An- 
hanglichkeit an alte Frauen und Manner charakterisiert, eine Er- 
klarung. Das ist eine spezielle Art von „Antiquaren“ in geschlecht- 
licher Beziehung. Ich hatte die Moglichkeit, typische Falle dieser 
Art zu beobachten. Vor einigen Jahren wurde ein solcher Fall von 
Professor L. V. Blumenau beschrieben. Indem er von diesem Fall 
erzahlt, spricht er unter anderm die Vermutung aus, daB man in 
der Puschkinschen Maria Mnischek etwas einer solchen Perversitat 
Entsprechendes sehen kann, obgleich man beriicksichtigen muB, daB 
zur Perversitat nicht solche Falle gerechnet zu werden brauchen, 
wo sich junge Madchen in alte Manner verlieben, weil es einem 
klugen, durch Erfahrung weise gemachten alten Mann, speziell in 
hoher gesellschaftlicher Stellung, iiberhaupt nicht schwer ist, ein 
junges unerfahrenes Madchen in sich verliebt zu machen und in ihr 


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W. Bechterew: Die Perversitfiten und Inversit&ten 


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den Geschlechtstrieb, der sich bis dahin noch nicht geauBert hat. 
zu erwecken. Das hat jedoch nichts mit einer Perversitat, bei der 
man nur eine Neigung fiirs Alter hat und sich fast ganz gleichgiiltig 
zur Jugend verhalt, gemein. 

Diese Ziige haben wir in keinem Falle bei Maria Mnischek. 
Zweifellos jedoch ist es, daB eine solche Perversitat auch bei Per- 
sonen weiblichen Geschlechts moglich ist. Ich habe soeben im Kreise 
meiner Beobachtungen eine stattliche, angesehene und hiibsche Frau, 
die, trotzdem daB junge Leute ihr den Hof machen und sie einen 
Briiutigam hatte, der sie wahnsinnig liebte, ungeachtet der dringen- 
den Bitten der Eltern, ibn zu heiraten, seine Liebe verschmahte und 
es vorzog. aus ihrem Eltemhause und von einer streng patriarchali- 
schen Familie fortzugehen, um einen alteren, verheirateten Mann, 
der sich ihretwegen von seiner Familie scheiden lassen muBte, zu 
heiraten. Nachdem sie einige Jahre mit ihm gelebt hatte, wurde 
sie Witwe, aber in der Witwenzeit verliebte sie sich wieder in einen 
alteren Mann, ungeachtet dessen, daB sie eine ganz andere Auswahl 
haben konnte. Ihrer Aussage nach ziehen junge Leute sie gar nicht 
an, und sie zieht unbedingt altliche Manner alien jungen vor, indent 
sie sich in ersterem Falle durch die Soliditat, Bestandigkeit und 
andere einein hoheren Alter eigene Eigenschaften verlocken liiBt. 
Sogar Hinfalligkeit zieht sie dermaBen an, daB sie bereit ist, ihre 
Seele zur Erleichterung dieses schwachen, durchs Alter bedingten 
Zustandes hinzugeben. Bei der Untersuchung der Vergangenheit 
wurde in diesem Falle keine ungiinstige erbliche Belastung gefunden, 
aber sie hatte ihrer Aussage nach einen seltr alten Onkel gehabt, 
der sie in ihrer Kindheit sehr geliebt, oft liebkost und auf seinen 
Knien gehalten hatte, wodurch sich auch die bei ihr entwickelte 
Perversitat erkliiren laBt. Hiernach ist es klar, daB die gesunde 
Perversitat vom Standpunkt der Reflexologie durch den Eindruck, 
den iiberhaupt das Alter auf die friihe Jugend macht, erklart werden 
kann. 

Man hat vollen Grund zur Annahme, daB in solchen Fallen die 
ersten Keime der Geschlechtserregung sich in Verbindung mit der 
Behandlung und der Pflege des Kindes von alten Warterinnen 
dauernd befestigt haben, besonders wenn letztere zur Beruhigung 
des Kindes zu solchen Mitteln, wie Streicheln des Magens usw. 
greifen. 

Schwerer schiene es, die kontrare Perversitat zu Knaben und 
iiberhaupt Jiinglingen, die „Kinderliebhaber“ iiuBern, zu erkliiren. 
Nach den Worten Freuda sind Kinder nur in sehr seltenen Fallen 
ein ausschlieBlich sexuelles Objekt. GroBtenteils erfiillen sie diese 
Rolle entweder dann, wenn das Individuum sich aus Schiichternheit 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


175 


und Impotenz mit solch einem Surrogat begnfigt, oder wenn es in 
einem Moment eines unbezwingbaren, impulsiven Triebs sich kein 
passenderes Objekt finden kann. Er betrachtet diesen Trieb, den 
wir mit Liebhaberei von Kindem oder „Infantomanie“ bezeichnen, 
als eine Verringerung des Wertes des Geschlechtsobjekts wegen 
Geschlechtshunger und fiihrt als Beispiel einer solchen Verringerung 
des Wertes des Geschlechtsobjekts haufige Falle von Geschlechts- 
befriedigung der Dorfbewohner durch Haustiere, wo schon die Grenze 
des Artencharakters iiberschritten wird. Er bemerkt ferner, daB mit 
erschreckenswerter Haufigkeit der geschlechtliche MiBbrauch von 
Kindem bei Lehrem und Dienstboten nur deshalb beobachtet wird, 
weil diesen Leuten eine leichte Moglichkeit fiir solchen MiBbrauch 
gegeben wird (1. c. S. 17 —18, russisch). 

Man findet keine Worte dafiir, daB sich dort, wo es keine Mog¬ 
lichkeit der Geschlechtsbefriedigung durch ein entsprechendes Ge- 
schleehtsobjekt gibt, die Geschlechtserregung einen Ausweg finden 
kann und wirklich durch ein unpassendes Geschlechtsobjekt findet, 
und deshalb konnen bei weitem nicht alle Falle von Infantomanie 
wie auch Geschlechtsverkehr mit Frauen zu Perversitaten gerechnet 
werden. Doch ist auch eine wirkliche Perversitat mit einem Ge- 
schlechtstrieb zu Kindem nicht so selten. In diesen Fallen ent- 
wickelt sie sich je nach der Geschlechtserregung in Verbindung mit 
dem Umgang mit Kindern, wozu als Beispiel gewisse gerichtliche 
Prozesse dienen. 

Einer meiner Patienten, ein junger Mensch, der noch keine Ge- 
schlechtsbeziehungen zu Frauen gehabt hatte, befand sich einmal 
zufallig, als er sich mit einem Kinde beschaftigte, im Zustande der 
Geschlechtserregung. Er nahm das Kind ohne jegliche Gelfiste in 
seine Arme. Aber in diesem Moment empfand er, wie er dachte, 
unter dem EinfluB der physischen Anstrengung, den Orgasmus und 
die darauf folgende Pollution. Von der Zeit an zog es ihn zu 
Kindem, d. h. zu einem Mittel der Befriedigung des Geschlechtstriebs, 
der auch entsprechendenfalls. wenn er zufallig ein auf der StraBe 
entgegenkommendes fremdes Kind auf die Arme hob, zustande kam. 

So fing er an, sich bei jeder Gelegenheit zu iiben. Aber dann 
wandte sich der arme, junge Mann, voll Schreck fiber sein Be- 
nehmen, an mich um Rat und Hilfe, weil er selbst mit seiner Sucht, 
Kinder, die er fiberall in der groBen Stadt traf, auf seine Arme zu 
nehmen, nicht fertig werden konnte. 

AuBerdem bemerkte er, daB er beim Umgang mit Frauen auch 
keine Spur von Geschlechtserregung hatte. 

In diesem, nebenbei gesagt auBerst hartnackigen Fall von Per¬ 
versitat ist, wie auch in andern ahnlichen Fallen, ihr Ursprung ganz 


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W. Bechterew: Die Pervereitaten und Inversitaten 


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klar, namlich im Sinne der Theorie der Assoziationsreflexe, unerklar- 
bar aber im Sinne der andern Theorien, einschlieBlich der Freud- 
schen. Der Fall vom Aufheben des Kindes im ersten Falle war 
nicht nur von Geschlechtserregung, sondern auch ihrer Entladung in 
Form von Pollution begleitet, und das geniigte, um beim eindrucks- 
fahigen jungen Menschen den entsprecbenden assoziativen Geschlechts- 
reflex beim Aufheben des Kindes sich in Form eines Erektions- 
reflexes mit nachfolgender Pollution befestigen zu lassen. 

Hiemach ist es klar, daB auch in andern als im oben ange- 
fiihrten Falle der Umgang mit Kindern zur Entwicklung der Infan- 
tomanie beitragen und etwas Ahnliches im Sinne von Geschlechts¬ 
erregung, wenn auch mit anderen Eigentiimlichkeiten in den AuBe- 
rungen, ergeben kann. Wenn auch die Nahe von Lehrem und Dienst- 
boten oft ein Grund der Ausnutzung der Kinder als Geschlechtsobjekte 
wegen Mangel eines normalen Objekts — einer Frau — ist, so kann 
doch diese Ausnutzung in gewissen Fallen zur Perversitat fiihren, 
wenn sich durch eine hiiufige Praxis in genannter Beziehung die Ver- 
bindung des Geschlechtsreflexes mit Kindern in einem solchen MaBe 
befestigt, daB ein normaler Geschlechtsakt nicht mehr zustande 
kommen kann oder wenigstens nicht befriedigen wird. 

Dasselbe haben wir auch beim Geschlechtsverkehr mit Tieren. 
Er kann entweder das Resultat von Geschlechtshunger oder auch 
eine eigenartige Perversitat und nicht nur eine Gewohnheit sein, 
sondern auch durch Befestigung eines irgendwie anormalen asso¬ 
ziativen Geschlechtsreflexes entstehen. 

So kann z. B. die Entwicklung des Erektionsreflexes beim An- 
blick des Coitus von Tieren den AnlaB zu Perversitaten geben. 

Wie dem auch sei, wir stoBen, wenn auch nicht oft, beim Ver- 
kehr mit Tieren auBer auf Falle von Benutzung von Tieren wegen 
Mangels an einem Geschlechtsobjekt auf eine dem Ursprung nach 
der vorhergehenden ahnliche Perversitat. 

Man muB ferner bemerken, daB der assoziative Erektionsreflex 
sich leicht zusammen mit dem anormalen Geschlechtsakt als einer 
bestimmten Handlung fortsetzt und deshalb, obgleich dieser Akt, 
als eine auf nicht naturlichem, d. h. normalem Wege ausgefiihrte 
Handlung eines der Objekte ohne sichtliche Befriedigung laBt, es tat- 
sachlich eine entsprechende Geschlechtserregung, die zuweilen mit 
Onanismus endet, empfinden kann. 

Darauf ist das begriindet, daB der Geschlechtsakt von seiten 
des Mannes nicht mit Hilfe der Geschlechtsorgane der Frau, sondern 
z. B. des Mundes, Arms, der zusammengelegten Briiste, zusammen- 
geriickten Hiiften usw. zustande kommen kann. Beim Mann wird 
dieser einfache Ersatz fur den normalen Geschlechtsakt, der die 


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vom Standpunkt tier Reflexologie. 


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Geschlechtserregung durch ihren ungewohnlichen Ersatz des Ge- 
schlechtsorgans der Frau steigert, bei letzterer die Hingabe dem 
Manne zur Benutzung, wenn auch auf ungewohnliche Weise, von 
einem entsprechenden Geschlechtsreflex und iiberhaupt alien AuBe- 
rungen der Geschlechtserregung begleitet, die sich noch mehr bei der 
aktiven Beteiligung der Frau, z. B. bei der Benutzung des mannlichen 
Geschlechtsorgans mit dem Munde, steigert. Es ist selbstverstiind- 
lich, daB es sich hier um Manner und Frauen, die in geschlecht- 
licher Beziehung alles Mogliche durchgemacht haben, und zu dieser 
unnatiirlichen Art der Befriedigung des Geschlechtstriebes anfangs 
vom Interesse der Neuheit oder Ungewohnlichkeit der Art getrieben 
sind, handelt. 

Es handelt sich hier groBtenteils nicht um Perversitaten, d. h. 
um Erscheinungen krankhaften Charakters, doch muB man beriick- 
sichtigen, daB eine anhaltende Geschlechtsbefriedigung mit Benutzung 
unnatiirlicher Mittel auch bei Erwachsenen die anormale Art der 
Geschlechtsbefriedigung zur Gewohnheit macht und dabei oft so sehr, 
daB ein natiirlicher Verkehr nicht mehr die entsprechende Befriedi¬ 
gung gewahrt. 

In diesem Fall wird die Gewohnheit zur krankhaften Perversi¬ 
tat im Sinne einer befestigten Neigung zur Benutzung nicht ent- 
sprecliender Organe oder Korpergebiete zu Geschlechtsbeziehungen. 
Dieser, wenig die Aufmerksamkeit der Autoren auf sich lenkende 
Zustand kann heterotopische Perversitat genannt werden. 

Die Entwicklung einer solchen heterotopischen Perversitat kann 
augenscheinlich den sich in einigen Fallen bei der Erziehung ein- 
geimpften Widerwillen gegen den normalen Geschlechtsakt begiinsti- 
gen, weswegen miter geeigneten Umstanden der Geschlechtstrieb auf 
eine natiirliche Befriedigung gelenkt wird, wie das folgender Fall 
zeigt: 

.,Es ist mir im Gedachtnis, daB ich vom 13. Jahre an ein sehr 
■eindrucksfahiger Knabe war. Die Oper Eugen Onegin iibte in diesem 
Alter einen starken EinfluB auf mich aus. Xach dem Besuch des 
Theaters verliebte ich mich gleich in meine 22jahrige Kusine. 

In der ausschlieBlich aus Frauen bestehenden Familie wurde 
systematisch die Abneigung gegen das Laster eingeimpft, wobei man 
dabei gar keine Ausnahme mit dem normalen Geschlechtsakt machte. 
Im Resultat bekam ich von demselben eine Vorstellung wie von 
etwas Unreinem. Bei meinen jugendlichen Verliebungen vermied 
ich es sogar, an solche Sachen zu denken, und diese Verliebungen 
hatten ausschlieBlich einen geistigen, romantischen Charakter. 

Schon im Gymnasium horte ich Gesprache iiber Onanismus, sie 
wirkten auf mich, und mit 15 Jahren wurde ich Onanist. 

Archiv fiir Puychiatrle. BU. 68. 12 


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W. Bechterew: Die Perversitaten und Inversitaten 


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Meine auf Widerwillen gegen normale Befriedigung des Ge- 
schlechtstriebs gestemrate Psyche wurde invers. 

Fast bis vor kurzem erregten mich die HinterfiiBe von Pferden, 
und bei Frauen, wenn meine Wollust erweckt war, ihr Torso. Es 
entwickelte sich der Trieb zu einem unnatiirlichen Verkehr mit 
Frauen per anum, wozu es natiirlich nie kam, da ich immer durch 
meine Willenskraft solche Triebe unterdriickte. 

Im Resultat bekam ich einen Widerwillen gegen den Geschlechts- 
trieb und bemiihte mich in Kunst und Wissenschaft Vergessenheit 
zu finden. 

Meine Dissertation wurde angenommen und ich bestand in 
Heidelberg mein Exainen mit dem Grade eines Dr. juris. 

Jetzt habe ich mich vollkommen beruhigt, und wenn ich nicht 
das BewuBtsein hatte, daB ich durch meine Ruhe in geschlechtlicher 
Beziehung die Gesundheit moiner Frau untergrabe, daB unserem 
gemeinschaftlichen Leben ungeachtet der groBen geistigen Niihe irgend 
etwas selir Wichtiges fehlt, und daB ich gerade damit ein gesunderes 
Selbstgefuhl erlangen wiirde, wurde ich nicht angefangen haben, mich 
zu erinnern.“ 

Zum SchluB muB ich noch iiber eine, zuerst in meiner Arbeit 
„Von den Inversitaten als pathologischen Assoziationsreflexon" *) be- 
schriebenen Form von Perversitat sprechen. Ich halte es fur richtig, 
dieso Perversitat „autoerotisehe‘‘ zu nennen. Sie besteht darin, daB 
der Pervertierte kein Geschlechtsobjekt notig hat, sondern sich selbst 
durch Reproduktion des mimisch-somatischen Reflexes, der an einen 
mit Schamgefiihl gemischten, der Verlegenheit iihnlichen Zustand, den 
einer meiner Patienten mit dem Namen „erregte Scham“ bezeichnete, 
erinnert, bis zur Pollution erregt. 

Eine solche Perversitat habe ich bis jetzt einigemal gefunden. 
In einem Falle handelte es sich um einen 10- bis 12 jahrigen Knaben 
aus gesunder Familie, der angefangen hatte das Gymnasium zu be- 
suchen. Unter irgendwelchen Umstiinden muBte er sich mit einer 
Klassenarbeit beeilen. Er war erregt und fiihlte, daB er die Arbeit 
nicht endigen konnte. In diesem Zustande der Verwirrung bekam 
er eine von wolliistigen Empfindungen begleitete Pollution. Nachher 
fing das Kind an die Moglichkeit zu suchen, ebensolche Umstande 
wie friiher zu finden. um eine gleiche Pollution zu haben. Das ge- 
lang ihm einigemal, wonach es, fur seine Gesundheit fiirchtend, sich 
an mich um Rat wandto. Er wurde mit Hilfe der von mir ange- 
wandten Psychothorapie in Form von Wiedererziehung 2 ) kuriert. 

*) Siehe Obosr. Psychiatr. 1914 u. 1915. Xr. 7, 8 u. 9. 

2 ) IP. Bechterew: Hypnose, Suggestion u. Psychotherapie. Westnik Snanija 
u. Einzelausgabe. Petersburg. 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


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Einen anderen Fall analoger Perversitat kann ich mit raehr 
Details wiedergeben, da der Kranke selbst schriftlich seinen Zustand 
beschrieben hat. „Ich erinnere mich genau“, sagt der Kranke, „meiner 
ersten Pollution, die unter folgenden Umstanden stattfand: In der 
zweiten Klasse des Gymnasiums wurde uns in der Arithmetikstunde 
eine schriftliche Arbeit aufgegeben. Da ich spat eine richtige Losung 
der Aufgabe fand, konnte ich erst unmittelbar vor dem Klingeln 
die erforderlichen Ausrechnungen machen. Als der Lehrer die Hefte 
einzusammeln anting, konnte ich meins lange nicht geben und schrieb 
in groBer Aufregung die letzten Zeilen nieder. Der Gedanke, daB 
der Lehrer gleich weggehen wurde, ohne meine Arbeit abzuwarten, 
und daB ich, der beste Schuler, eine Zwei bekommen wurde, rief in 
mir eine furchtbare Aufregung hervor. Ich empfand Schande, hatte 
das BewuBtsein der Emiedrigung, die ein Reicher empfunden haben 
wurde, wenn er vor den Augen der Menge im Hemde hatte einher- 
gehen sollen; aber es war keine Furcht, sondern nur ein passiver 
Zustand; zur Schande gesellte sich eine siiBe, brennende Erregung, 
die mir ganz unbekannt war und fiir die ich erst spater eine Er- 
klarung fand. Dieser Zustand der Erregung dauerte einige Stunden, 
bis die Pollution eintrat. Ich habe bei dieser Episode deshalb so 
lange verweilt, weil sie viel Charakteristisches fiir die Zukunft hatte. 
Der Charakter des geistigen Empfindens war ein Zustand erregter Sch^im. 

Von dieser Zeit an stellte sich bei mir von Zeit zu Zeit eine 
Neigung zu Geschlechtserregungen ein, die einen ebensolchen selt- 
samen Charakter hatten. Im Laufe der niichsten drei .Jahre hatte ich 
ein groBes Interesse fiir eine sehr einfaltige Beschiiftigung. Ich schrieb 
auf kleine Billette Nummern: auf eins eine Eins, auf ein anderes 
eine Drei usw., dann nahm ich, nachdem ich sie gemiseht hatte, eins 
nach dem andern wie aus einem Lotteriekasten hervor. Die auf 
diese Weise erhaltenen Nummern stellte ich nach einem Schiiler- 
verzeichnis, in dem gewohnlich ich und meine Kameraden verzeichnet 
waren, aus. Wenn luerbei eine mir ungiinstige Kombination eintrat, 
entstand eine ebensolche Erregung wie die, von der ich schon sprach. 

Gewohnlich brachte ich diese Lotterie der Nummern zu einer 
mir ungiinstigen Wendung. Sobald die allmahlich wachsende Erregung 
mit einer Pollution endete, wurde diese Beschiiftigung mir gleichfalls 
widerlich und ich unterlieB sie. Ich war nicht ein sehr dummes 
Kind und sah die Absurditat dieser sonderbaren Zerstreuung ein; 
wenn ich keine Lust dazu hatte, erstaunte ich iiber mich selbst und 
begriff nicht, wie ich daran ein Vergniigen finden konnte. Wenn 
aber die Lust sich einstellte, konnte ich wie ein Berauschter ihr 
nicht widerstehen. Ich kam zufiillig auf diese Beschaftigung, arran- 
gierte einmal einfach solch eine Lotterie und empfand unerwarteter- 

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W. Bechterew: Die Perversitaten und Inveraitaten 


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weise dabei eine gliihende Erregung, nachher zog sie mich an. Ich 
kann schwerlich sagen, wie oft sich das wiederholt hat, ungefahr 
einmal in 2 bis 3 Monaten, zuweilen seltener, zuweilen viel ofter. 
Solch eine Begier dauerte einige Tage und schwand dann. Wenn 
ich im Sommer auf dem Lande lebte, hatte ich ein Boot zur Ver- 
fiigung, beschaftigte mich mit Angeln, spazierte im Walde usw. und 
hatte gar kein Interesse fiir diese Lotterie. In dieser Zeit entstand 
bei mir die Geschlechtserregung aus einem andern, ebenso sonder- 
baren AnlaB. Ich erinnere mich, daB bei mir zeitweilig eine starke 
Geschlechtserregung beim Anblick schmutziger Nagel entstand. Als 
ich 12 Jahre alt war, spielte ich im Sommer auf dem Lande mit den 
Kameraden ,,Festung verteidigen und nehmen“; als Angreifender der 
Festung heranschleichend, legte ich mich zuweilen auf den Bauch 
ins Gras, bei anhaltendem Liegen stellte sich bei mir die Geschlechts¬ 
erregung ein. 

Spaterhin, als ich ungefahr 14 bis 15 Jahre alt war, machte 
sich ein neuer Erreger geltend, der allmahlich alle anderen verdrangte. 
Das waren rasierte Mannergesichter. Wann und unter welchen Um- 
stiinden rasierte Gesichter zuerst auf mich erregend einwirkten, weiB 
ich gar nicht. Die Erregbarkeit beim Anblick und bei der Vorstellung 
von Rasierten war im Laufe vieler Jahre die einzige AuBerung meines 
Ge^chlechtsgefiihls. Wie auch in der Geschichte mit der Lotterie war 
die Erregbarkeit unbestandig und stellte sich nicht in einem beliebigen 
Moment, sondem von Zeit zu Zeit ein, dauerte einige Tage, selten 
1 anger als eine W 7 oche und stellte sich wieder, nachdem sie fiir einige 
Zeit verschwunden oder sehr abgeschwiicht war, nach sehr ungleichen 
Zeitabschnitten von einem Monat bis zu einem halben Jahre wieder 
ein. Im allgemeinen kam es nicht zu dieser Erregbarkeit, w'enn ich 
mit etwas Interessantem beschaftigt war, dagegen entstand sie bei 
geistigem MiiBiggang, beim Fehlen leitenden Interesses. Dieses Emp- 
finden kommt dem gleich, wovon ich anfangs gesprochen (erste 
Pollution), es ist gespannte, erregto Scham beim Anblick oder der 
Vorstellung einer kahlen Stelle um die Lippe herum. Vielleicht hatte 
ich auch dasselbe beim Anblick irgendeines offentlichen Zynismus, 
z. B. beim Anblick einer vor die Augen der Monge herausgefiihrten 
(besonders gewaltsam herausgefiihrten), entkleideten Frau empfunden. 
Wahrscheinlich hatte ich ein Gefiihl der Scham und des Protestes 
bei einem solchen Schauspiel gehabt und vielleicht hatte es mich 
gleichzeitig aDgezogen.“ 

In diesem Falle war kein Onanismus, auch kein Homosexualis- 
mus. Nach den Worten des Kranken war in dieser seltsamen Erreg¬ 
barkeit auch kein homosexueller Zug, obgleich augenscheinlich etw r as 
Annaherndes hatte sein konnen. Freilich zeigte sich beim Kranken 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


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zuweilen auch ein Aufflammen von Homosexualismus, aber er sagte 
mit Bestimmtheit, daB diese Erscheinungen ganz vereinzelt gewesen 
seien. ,,t)berhaupt war die Erregbarkeit beim Anblick und der Vor- 
stellung rasierter Mannergesichter in gar keinem Grade von einer 
Neigung zum mannlichen Geschlecht begleitet. Zu Frauen hatte ich 
auch trotz entsprechender „Aufklarung“ in der Schule seitens der 
Kameraden keine Neigung. Ich machte den Hof, aber ganz platonisch. 
Noch mehr, ich hatte eine starke Antipathie gegen den Geschlechts- 
akt. Sie zeigte sich von dem Moment an, als ich erfuhr, wie Kinder 
geboren wurden und schwiichte sich erst unlangst ab.“ Nur 2 bis 
3 mal auBerte sich ein normaler Geschlechtstrieb, einmal, als der 
Kranke mit einem Madchen auf der Schaukel saB und sie urn die 
Taille faBte, fiihlte er eine Erregung, die mit einer Pollution endete, 
ein anderes Mal konnte er sich kaum beruhigen, als er eine bekannte, 
hiibsche Kursistin sah. 

Spaterhin empfand er auch eine traumerische, platonische. wunsch- 
lose Liebe zu einer Frau. Als er erfuhr, daB die Frau ihn liebte, 
..betaubte mich das vollstiindig", sagte er, „ich wurde ganz verwirrt**. 
Scheinbar gestaltete sich alles sehr gut. Ich fand Gegenliebe, aber 
es war mir ganz klar, daB dabei nichts herauskommen konne. Ich 
fiihlte, daB ich zu einer physischen Anntiherung ganz unfahig war 
und noch mehr, daB ich keine Lust zu einer solchen Anntiherung 
hatte, daB ich kalt war. Dann wurden die Pollutionen zufallig bald 
durch eine Ansichtskarte mit einem offenherzigen Sujet, bald durch 
den Anblick einer sehr effektvollen. sehr „auffallend“ gekleideten 
Frau hervorgerufen, dann stellten sich nachtliche Pollutionen mit 
aufregenden Bildern weiblicher Korper ein. SchlieBlich blieb der 
Kranke ungeachtet der zeitweilig eintretenden Pollutionen und aller 
Aufmerksamkeit zu den Frauen als einem Geschlechtstypus mit all 
ihren Formen und ihrer eingebildeten Nacktheit bei der platonischen 
Liebe. „Alles zu nehmen, bin ich nicht fahig,“ sagt der Kranke. 
Daran hindert ihn einerseits seine Unsicherheit, die Voraussetzung, 
daB er im entsoheidenden Moment „entwaffnet u und unverstandig 
sein wiirde „alles zu nehmen“. ^Zeitweilig fiihie ich, daB meine Be- 
gier zur Frau, mein Bediirfnis fur eine weibliche Liebkosung irgend- 
einen passiven Charakter hat. Es scheint mir zuweilen, daB ich genug 
an Liebesworten und siiBen Umarmungen habe, daB die Erregung, 
die in mir entsteht, wenn ich eine Frau beriihre. wenn ich die Um- 
risse ihrer Figur sehe, daB diese Erregung gleichsam das Ziel ist, ich 
habe quasi nicht genug Anregung zu aktiven Handlungen, zur Besitz- 
ergreifung der Frau . . .“ Die rasierten Gesichter sind jedoch nicht 
vergessen. Als der Kranke einen Kameraden traf und ihn uner- 
warteterweise glatt rasiert sah, entstand bei ihm wieder die Erregung, 


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\V. Bechterew: Die Perversitfiten und Inversitaten 


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und er hatte im Laufe einiger Tage zweimal eine Pollution mit dem- 
selben Empfinden wie fruher und wieder ohne jegliche homosexuelle 
Geliiste, wie das der Kranke selbst betont. Zum SchluB muB man 
die ungiinstige erbliche Belastung von seiten des Vaters in Form 
verschiedener geistiger und nervoser Storungen hervorheben, von 
seiten der Mutter hat man keinerlei solche Hinweise. 

Es ist mehr als wahrscheinlich, daB sich hier die Perversitat 
nach dem Typus der Assoziationsreflexe entwickelt hatte. Dieser in 
einer meiner vorhergehenden Arbeiten genau besprochene Fall war 
schon von dieser Seite beurteilt worden 1 ). 

Die einmal hervorgerufene, von einer Pollution begleitete Auf- 
regung in Form von Verlegenheit hatte zum Bestreben, diese Auf- 
regung unter ahnlichen Verhaltnissen zu erneuern, gefiihrt, was auch 
durch das eigenartige Spiel gelungen war. Spater war ein besonderer 
Erreger durch das Festungsspiel, wahrscheinlich unter dem EinfluB 
des Reibens des Geschlechtsorganes an der Erde mit Beschmieren 
der Hande und der nachher empfundenen Pollution beim Anblick 
schmutziger Nagel hinzugekommen, noch spater war ein Erreger in 
Form von rasierten Mannergesichtern in Aktion getreten, der als 
Resultat der gewesenen Pollution beim Anblick des rasierten Gesichtes 
desselben Lehrers gewesen war. Femer fiihrten die zufallig eine 
Pollution hervorrufenden Momente, wie das Ergreifen der Hande des 
jungen Madchens und der Anblick der ausgestreckt liegenden hiibschen 
Kursistin dazu, daB der Anblick des weiblichen Korpers eine Ge- 
schlechtserregung und Pollution hervorzurufen- begann, der Kranke 
aber keine Aktivitat im Sinne eines Wunsches zum Besitz der Frau 
iiuBerte und auch nicht auBern konnte. 

In diesem Falle ist es interessant zu bemerken, wie ein Erreger 
des Geschlechtsreflexes entsprechend dem Prinzip oder Gesetz der 
Kompensation den andem ihn ersetzenden durch Verdrtingung ab- 
loste. Hierbei hemmte der neue Erreger die friiheren, obgleich doch 
der friihere dauernd eingewurzelte Erreger, wie rasierte Manner - 
gesichter, in entsprechenden Fallen wieder auflebte und wie vorher 
zur Entwicklung der Pollution fiihrte. 

Wenden wir uns jetzt den Anomalien des Geschlechtstriebs, die 
den Namen „Inversitiiten“ tragen und unter dem allgemeinen Namen 
Homosexualismus bekannt sind. zu. Sie umfassen gewohnlich Falle 
mannlichen Homosexualismus, am haufigsten in Form von gegen- 
seitigem Onanismus, zuweilen auch von Coitus interfemora, oder mit 
einem Charakter von Paderastie und bei Frauen in Form der so- 
genannten Lesbischen Liebe. 

1 ) IF. Bechtereir: Obosr. Psychiatr. 1914. Nr. 7, 8 u. 9, S. 371—379. 


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voin Stand punkt der Reflexologie. 


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Das Wesen der Inversitat besteht darin, daB die im Sinne des 
Geschlechtstriebs invertierten Manner sich zu Mannern so verhalten. 
wie sich ein normaler Mann zu einer Frau verhalt, und andererseits 
eine invertierte Frau zu einer Frau, so wie eine normale Frau zu 
einem Manne. 

Die Verbreitung dieser Inversitat im Orient ist allbekannt. Sie 
kommt ebenso bei den Wilden, als auch zivilisierten Europaern, bei 
denen sie schon im Altertum — in Sparta, Rom und andern Gegenden — 
bekannt war, vor. In letzterer Zeit war sie in den Privatlehranstalten 
verbreitet, was sogar offizielle Akten bezeugen. 

Einen besondern Ruhm genossen in dieser Richtung bei uns in 
der Mitte des verflossenen Jahrhunderts die Internate der Militar- 
lehranstalten. Aber auch in der freien Gesellschaft fand diese Inver¬ 
sitat eine ziemliche Verbreitung. Das bezeugt die sich in Deutsch¬ 
land in der zweiten Halfte des verflossenen Jahrhunderts entwickelte 
Bekampfung des Gesetzes, das eine Bestrafung der Homosexualitat 
beantragt. 

Nach den Aussagen der Vertreter der Kriminalpolizei sind gegen- 
wartig im ganzen ungefahr 1000 mannliche Homosexualisten in 
Petrograd, bei einer Abnahme der Bevolkerung urn 500 bis 600000. 
Unlangst wurde hier ein ganzer Klub von Homosexualisten — 98 Mann 
— wahrend seiner Festversammlung zu einer Hochzeitsfeier verhaftet. 

Es war beschlossen worden, daB ungefahr 60 Personen Zuschauer 
sein sollten, die iibrigen sollten die bei der Hochzeitszeremonie aktiven 
Personen, von denen der eine Teil in Frauen-, der andere in Manner- 
kostiime gekleidet war, vorstellen. Darunter befanden sich die Braut, 
die Kupplerin und der Brautvatsr. Was den Brautigam betraf, so 
liatte er zur Zeit der Arretierung noch nicht eintreffen konnen. 

Aus dieser Veranlassung telephonierte mir sofort der Chef 
der Kriminalpolizei und bat mich, diese Personen wissenschaftlich 
zu untersuchen. Leider fiel diese Aufforderung mit meiner Ab- 
kommandierung zusammen, am andern Tage muBte ich nach Moskau 
fahren, weswegen ich einen der Assistenten des von mir geleiteten 
Institute fur Gehirnforschung bat, die Arrestanten zu untersuchen. 
Aber ich benutzte doch den mir zur Verfiigung stehenden Vorabend 
meiner Abreise und untersuchte personlich zusammen mit Dr. Miscliutzky 
sieben der interessantesten Personen dieser Kompagnie. 

Leider hielt Dr. Miscliutzky, ungeaehtet meiner mehrmaligen 
Bitten, aus irgendeinem Grunde das nach meinem Diktat gemachte 
Protokoll dieser Untersuchung zuriick, weswegen mir gegenwartig die 
Krankheitsgeschichte der von mir untersuchten Personen fehlt, und 
ich genotigt bin. mich nur auf die allgemeinen Hinweise zu be- 
schranken. 


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184 


W. Bechterew: Die Perversitaten und Inversitaten 


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Diese im allgemeinen bunte Menge der interessantesten Glieder, 
die meiner genauen Untersuchung unterlagen, bestand aus Verbrechern 
verschiedener Professionen rait einem groBen Ubergewicht von In- 
telligenz, worunter eine kleino Anzahl weiblicher Paderasten waren, 
die meisten befriedigten sich entweder mit gegenseitigem Onanismus, 
oder begniigten sich mit Kiissen oder platonischer Liebe. Es ver- 
dient ein ziemlich groBer Prozentsatz von Homosexualisten aus Artisten- 
und Matrosenkreisen hervorgehoben zu werden. Ich will noch be- 
merken, daB die meisten der Arrestanten nicht ganz invertiert waren, 
da sie Geschlechtsbeziehungen zum kontraren Geschlecht haben konnten, 
obgleich sie dem miinnlichen Geschlecht den Vorzug gaben, und nur 
ein relativ geringer Teil war ganz invertiert, d. h. fahig, den Geschleehts- 
akt nur mit dem eigenen Geschlecht auszufiihren. Ein verhiiltnis- 
miiBig kleiner Teil gehorte zu den passiven Typen, der groBte da- 
gegen war in geschlechtlicher Beziehung aktives Element. 

Die Resultate der detaillierteren Untersuchung eines bedeutenden 
Teils der Arretierten kann man an anderer Stelle finden 1 ). Ich will 
noch bemerken, daB bei alien von mir untersuchten Personen man 
den Grund zur Entwicklung des Homosexualismus entweder im gegen- 
seitigen Onanismus zwischen Knaben im friihen Kindesalter oder der 
Ablenkung zur Paderastie, oder in irgendwelchen andern Mit- 
beziehungen zwischen Knaben zum miinnlichen Geschlecht finden 
konnte. 

Es verdient auch beriicksichtigt zu werden, daB viele von ihnen 
erotische Traume hoinosexuellen Charakters wiihrend ihrer nacht- 
lichen Pollution hatten. Die objektive Untersuchung zeigte keine 
wesentlichen Eigentiimlichkeiten im Bau des Organismus, mit Aus- 
nahme einiger Personen mit nicht scharf ausgepriigten degenerativen 
Merkmalen. AuBerdem konnte man bei den passiven Paderasten 
einen erweiterten Ring des Sphincters des Anus bemerken, und bei 
den aktiven hatte der Penis ein schmales, dem Hundepenis iihn- 
liches Kopfchen. 

Der Ursprung des Homosexualismus ist bis jetzt noch nicht fest- 
gestellt werden. Die urspriingliche Voraussetzung war die, daB wir 
es hier gleichsam mit einem „psychisch“ bisexuellen, sich auf Grund 
phvsiologischer Bisexualitiit entwickelnden Typus, als einer Basis der 
Geschlechtsentwicklung eines jeden Individuums zu tun haben, aber 
diese Voraussetzung hat sich nicht gerechtfertigt, weil tatsachlich kein 
Zusammenhang zwischen der Inversitiit und dem somatischen Herm- 
aphroditismus besteht. Nur in einzelnen Fiillen beobachten wir bei 


l ) Siehe Rechensehaftsbericht d. Gelehrtenkonferenz d. von mir geleiteten 
Institute fur Gehirnforschung u. psychische Fahigkeit. 28. II. 1921. 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


185 


den Invertierten eine Unentwickeltheit der Geschlechtsorgane mit 
einer Schwachung des Geschlechtstriebs, in andern Fallen dagegen 
bot. die Geschlechtssphare der Invertierten keinerlei Abweichungen 
von der Norm. 

Man bemxihte sich unter anderm, die Theorie des psychischen 
Hermaphroditismus durch Hinweise darauf, daB auch die Eigen- 
tiimlichkeiten des Charakters der Invertierten gleichsam Ziige eines 
andern Gesehlechts tragen, zu befestigen. Wenn dieses Faktum auch 
vorkommt, so doch bei weitem nicht in den meisten, sondem in den 
wenigsten Fallen und eigentlich bei invertierten Prostituierten, wes- 
halb man es anders erklaren kann. Dasselbe muB man auch von 
den sekundaren Geschlechtsmerkmalen, die gewohnlich die typischen 
Eigentiimlichkeiten des andern Gesehlechts beibehalten, sagen. 

Nach Kraffl-Ebings Ansicht fiihrt die bisexuelle Natur des mensch- 
lichen Organismus nicht nur zur Bildung mannlicher und weiblicher 
Geschlechtsorgane, sondem auch entsprechender Gehirnzentra, deren 
Entwicklung zur Periode der Geschlechtsreife unter dem EinfluB der 
Geschlechtsdriisen abgeschlossen wird. Die Inversitat setzt eine nicht 
entsprechende Entwicklung der Gehirnzentra voraus. 

Ulrich driickte diesen Satz so aus, daB die invertierten Manner 
ein .,weibliches Gehim“ in einem mannlichen Korper, und demgemaB 
augenscheinlich die invertierten Frauen ein ..mannliches Gehirn u in 
einem weiblichen Korper haben miissen. 

Die Anatomen bemiihten sich ihrerseits, die morphologischen 
Eigentiimlichkeiten des weiblichen und mannlichen Gehims ausfindig 
zu machen. So beschrieb sogar Professor Betz eine charakterologische 
Furche zur Unterscheidung des Gesehlechts von den im Grunde der 
Fossae Silvii verborgenen Furchen. Aber dieser Versuch wurde nicht 
von den spatern Forschern bestatigt und fand keine Nachahmer. 

Und was fiir einen Gewinn wiirde man auch von der Auf- 
klarung der Frage eines Ersatzes des psychologischen, durch einen 
anatomischen, auf keinem Faktum begriindeten Standpunkt haben? 
Die Sache ist die, daB, wenn wir nun auf Grund einer Reihe bei 
uns gemachter Untersuchungen die Lage der Geschlechtszentra in der 
Gehirnrinde kennen, wir noch keine Daten haben, die Existenz des 
Ersatzes des mannlichen Gehirns durch ein weibliches, oder der 
mannlichen Zentra durch weibliche bei invertierten Mannern und 
umgekehrt zu beseitigen *). 

Die an die bisexuelle Theorie sich haltenden Autoren sagen, daB 
jeder gesunde Mensch sowohl mannliche als auch weibliche Gehirn- 


W. Bechterew: Gnindlehren d. Gehirnfunktionen. Ausg. VI. Die Gehim- 
zentra. Bd. 3. Jena. 


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W. Bechterew: Die Perversitaten und In verm ta ten 


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zcntra besitzt. ( Gley : Les aberrations de h instinct sexuel. Revue 
phil. 1884. Chevalier : Inversion sexuelle, 1893. Arduin: Die Frauen- 
frage und die sexuellen Zwischenstufen. Jahresb. f. sex. Zwischenst., 
1900. Hermann: Genesis d. Gesetzes d. Zeugung. Bd. 9. Libido u. 
Mania, 1903 u. a.) 

Wie man sich aber von der Existenz der Zentra beiderlei Ge- 
schlechts iiberzeugen soil, bleibt sogar physiologisch ein Ratsel. 

Uberhaupt ist die ganze „Gehirntheorie“ der Geschlechtsunter- 
schiede jetzt erschiittert und hat der Hormonentheorie Platz gemacht. 
VVir haben schon fruher die Versuche Dr. Steinachs erwahnt, der, an 
Ratten und Meerschweinchen arbeitend, schon 1911 eine vollstandige 
Inversitat der Geschlechter erreichte. Er nahm junge kastrierte 
Mannchen und transplantierte ihnen subcutan Ovarien ein. Bei einigen 
dieser Tiere wuchsen die Ovarien an, und obgleich in letztem bei 
der Entwicklung der Tiere keine Eierzellen zu bemerken waren, so 
traten doch die gewohnlichen Hormonen sichtbar hervor. 

Im Resultat entwickelten sich bei den Mannchen Milchdriisen 
und Brustwarzen, die dieselbe Entwicklung wie bei den Weibchen 
erreichten, wobei die Milchdriisen einen ebensolchen Bau wde bei den 
Weibchen hatten. Das allgemeine Aussehen solcher feminisierter 
Mannchen war dem der Weibchen gleich. Der Umfang des Korpers 
wur kleiner, das Skelett diinner und leichter. AuBerdem auBem sich 
bei ihnen im Verhalten Ziige des andern Geschlechts. Sie entfliehen, 
wenn sie von den Mannchen verfolgt werden. und kampfen nicht mit 
ihnen. Bei ihnen wird .,das Nervensystem in weiblicher Richtung 
erotisiert“. 

Alles das wird durch die Wirkung der Hormonen, die aus den 
Ovarien, oder eigentlich aus den Tektoluteinzellen ins Blut aus- 
geschieden werden, bedingt. Bei mannlichen Wesen handelt es sich 
um die Ausscheidung der Hormonen durch die Ley dig scUen Zellen. 
Steinach meint, daB der Homosexualismus durch die gleichzeitige 
Existenz von Zellen beider Typen in den Geschlechtsorganen, die 
entsprechende Hormonen ausscheiden, bedingt wird. 

Wie ich friiher gesagt habe, wurden diese Versuche noch mehr 
durch die spatern Untersuchungen vertieft und konnten Erscheinungen 
„psychischen“ Hermaphroditismus bei Kastrierten, denen mannliche 
und weibliche Driieen gleichzeitig transplantiert worden waren, ex- 
perimentell hervorgerufen werden. 

In einem Falle zeigte sich bei einem an Tuberkulose der Hoden 
leidenden Homosexualisten, dem eine Transplantation der von einer 
an Kryptorchismus leidenden Person genommenen Hoden gemacht 
worden war, die Untersuchung der angewachsenen Hoden, daB in 
den Pubertatsdriisen mannliche und weibliche Elemente waren, mit 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


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andcrn Worten, es fanden sich hier Pubertatsdriisen beiderlei Ge¬ 
schlechts vor (Munch, med. Wochenschr., 1918, Nr. 6), die vorgenommene 
Operation hatte den entsprechenden Effekt gehabt, und der Operierte 
heiratete bald nachher. Hiernach ist es klar, daB die Honnonen- 
theorie den Schwerpunkt der morphologischen Grundlage der Inver- 
sitaten auch aus dem Gehirn in die Geschlechtsorgane iibertragt. 

Aus diesen Daten ist ersichtlich, daB nicht nur die sekundaren 
Geschlechtsmerkmale im engen Sinne des Wortes, sondern auch die 
Charakterologie des Geschlechts mit dem Hormonismus der Samen- 
driisen in einem Falle, im andern der Ovarien und dem durch diesen 
Hormonismus bedingten Blutbestand, der auf die Tatigkeit des Nerven- 
systeins wirkt, in Zusammenhang steht. 

Die neusten Untersuchungen zeigen, daB Wesen mannlichen und 
weiblichen Geschlechts sich nicht nur durch die morphologischen 
Eigentiimlichkeiten ihres Baus, sondern auch durch den chemischen Be- 
stand der GefaBe und speziell des Bluts, als eines Ubertragers der 
Hormonen durch die verschiedenen Teile des Organismus, voneinander 
unterscheiden. In dieser Hinsicht verdienen unter anderm die Unter¬ 
suchungen von Dewiiz (Zoologische Jahrbiicher 1916, Bd. 36, Heft I) 
hervorgehoben zu werden. Der Autor nahm nach einer vorher- 
gehenden Entfernung der Eingeweide das Blut und verschiedene 
Organe der Puppen von Schmetterlingen mannlichen und weiblichen 
Geschlechts zur Untersuchung und zerrieb nach dem Trocknen den 
Rest zu Pulver. Eine bestimmte Menge solchen Pulvers (0,15 bis 
0,2 g) loste er in einer bestimmten Menge (25 ccm einer 0,001 °/ 0 igen 
Losung von Methylblau) auf. Zu dieser Losung wurde dann eine 
gewisse Menge Toluol, zum Schutz vor Bakterien aus der Luft, bei- 
gemengt. Es erwies sich, daB im Laufe einiger Tage eine allmah- 
liche Entfarbung der Losung, aber mit ungleicher Schnelligkeit, ent- 
stand. Die dem Blut und den Geweben der Mannchen entnommene 
Losung entfiirbte sich schneller als die dem Blut und den Geweben 
der Weibchen entnommene; das gleiche Resultat erhielt man bei der 
Bearbeitung einiger zehn mannliclier und weiblicher Puppen ver- 
schiedener Arten von Schmetterlingen. Hierbei zeigte die Unter¬ 
suchung, daB bei der Entfarbung der Losung es sich in beiden Fallen 
um ungleiche chemische Reaktionen handelt, weil aus den Losungen 
Kristalle verschiedener Form und GroBe wegfallen. Es ist interes- 
sant, daB auch bei den zweihausigen Pflanzen (Lichnis divica) die 
getrockneten Knospen und Blatter der mannlichen beim Mischen mit 
derselben Losung eine schnellere Entfarbung. im Vergleich zu den 
getrockneten Knospen und Bliittern der weiblichen, ergeben. 

Es ist somit klar, daB die Geschlechtsunterschiede nicht nur in 
den morphologischen Geschlechtsdriisen und sekundaren Geschlechts- 


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W. Bechterew: Die Perversit&ten und Inversit&ten 


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merknialen bestehen, sondem auch im Blut und in den Saften des 
Organismus enthalten sind. 

So stehen die charakterologischen Eigentiimlichkeiten unstreitig 
mit nichts anderem als dera Hormonismus in Verbindung und sind 
folglich ein Bestandteil des Bluts. 

Man kann denken, daB der Zug zum kontraren Geschlecht im 
Tierreich in bedeutendem MaBe deshalb erklart werden kann, daB 
solche natiirliche Erregor, wie z. B. der vom kontraren Geschlecht, 
besonders in der Brunstzeit oder iiberhaupt der Geschlochtserregung 
ausgehende Geruch durch seine Wirkung zu einem Erreger. der einen 
verstiirkten Hormonismus der Gesehlechtsdriisen des kontraren Ge- 
schlechts hervorruft und folglich der Grund der Geschlechtserregung 
und Hinneigung zum kontraren Geschlecht ist, werden kann. 

Neben dem Geruch konnen nach dem Gesetz der Assoziations- 
roflexe auch andere tiuBere Einwirkungen der Wesen kontraren Ge- 
schlechts, z. B. sekundiire Geschlechtsmerkmale, Mimik, Beriihrung 
durch Lecken, Stimme usw. zu Erregern werden 1 ). 

Was den Menschen betrifft. so andert, wie schon fruher gesagt 
worden ist, die Kultur sehr die Verhaltnisse der unmittelbaren natiir- 
lichen Einwirkungen seitens des kontraren Geschlechts. Vor allem 
wird der Geruch durch Waschungen, Abreibungen und Parfiim be- 
seitigt oder abgeschwiicht. Die sekundaren Geschlechtsmerkmale 
dagegen, mit Ausnahme des Gesichts, werden durch die Kleidung 
unsichtbar gemacht. Andererseits ist der Geruchssinn beim Menschen 
schwach entwickelt. Dafiir aber schafft die Kultur zur gioBeren 
Entwicklung und AuBerung der reflexologischen oder charaktero¬ 
logischen Geschlechtsmerkmale Bedingungen, die nicht weniger und 
zuweilen sogar wichtigore Geschlechtserreger als die sogenannten phvsi- 
schen Geschlechtsmerkmale sind. Und da diese charakterologischen 
Merkmale sich in bedeutendem MaBe durch individuelle Eigentiim- 
lichkeiten auszeichnen und gleichzeitig die Geschlechtserregbarkeit 
durch diesolbe Kultur hinsichtlich dieser charakterologischen Merk¬ 
male bei verschiedonen Menschen bei weitem nicht gleich ist. und 
gleichzeitig die sozialen Verhaltnisse friihe Heiraten verhindern. so 
ist es klar, warum im Leben des Menschen die Perversitaten und 
Inversitaten im Vergleich dazu, was wir im Tierreich beobachten, so 
verhiiltnismaBig haufig sind. Bei letztern werden jedoch die Per¬ 
versitaten nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern sind vollkommen 
moglich. So beobachten wir z. B., daB Hunde zuweilen Geschlechts- 


l ) Bei den Vogeln spielen die Rolle eines priniilren Grunderregers, der die 
Tiitigkeit der Gesehlechtsdriisen anregt, augenscheinlich hauptsachlich das Aus- 
sehen, die Stimme und die Mimik. 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


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bewegungen an dem FuB ihres Herrn machen, andererseits steigen 
Hiindinnen in der Brunstzeit zuweilen auf Hunde oder Wesen eines 
andern Geschlechts und machen dabei die mannlichen Geschlechts- 
bewegungen. Wenn man vom Standpunkt des Hormonismus den 
heterogenen Geschlechtstrieb erklaren kann, so fragt es sich, ob man 
nicht durch Veranderungen des Hormonismus die Entwicklung der 
Inversitat beim Menschen, die sich durch eine Neigung zum ent- 
sprechenden Geschlecht charakterisiert, erklaren kann. Aber erstens 
ist diese Veriinderung des Hormonismus bei den Invertierten nicht 
bewiesen worden, und man hat keiijen Grund, sie in Anbetracht der 
normalen Entwicklung ihrer Geschlechtsorgane, Driisen und sekun- 
daren Geschlechtsmerkmale vorauszusetzen, andererseits ist es bekannt, 
daB die Invertierten auch die charakterologischen Eigentiimlichkeiten 
ihres Geschlechts beibehalten. 

Aus diesem Grunde sagt Freud: „Es ist unzweifelhaft, daB ein 
bedeutender Teil der invertierten Manner die mannliche Psyche bei- 
behalt und verhaltnismaBig wenig sekundare Merkmale des weiblichen 
Geschlechts auBert“. 

Hierbei suchen die invertierten Manner in ihrem sexuellen Ob- 
jekt die psychischen Ziige von Frauen. Wenn das nicht so ware, so 
wiirde es unverstandlich sein, weshalb die mannlichen Prostituierten, 
die die Invertierten benutzen, sich jetzt wie auch im Altertum in 
ihrem AuBern, ihrer Kleidung, der Art sich zu halten usw., „be- 
miihen, Frauen zu gleichen. Solch eine Nachahmung miiBte das 
Ideal der Invertierten beleidigen“. Auch im alten Griechenland regten 
nicht der mannliche Gharakter des Knaben, „sondern seine physische 
Ahnlichkeit mit Frauen und auch seine weiblichen geistigen Eigen- 
schaften — seine Schiiohternheit, sein Bediirfnis, geleitet und geholfen 
zu werden, die Invertierten an. Sobald der Knabe erwachsen ist. 
hort er auf, ein Geschlechtsobjekt fur Manner zu sein und fangt oft 
selbst an, Knaben zu lieben.“ 

Hierbei zeichnen sich die aktiv invertierten Manner, wie Beispiele 
der Alten zeigen, nicht selten durch Tapferkeit aus. 

Freilich haben auch aktiv invertierte Frauen oft die charakte- 
ristischen Ziige des mannlichen Typus, aber bei w'eitem nicht so oft, 
in einem Wort, in dieser Beziehung finden wir nicht geniigend iiber- 
zeugende Fakta. 

Aber wenn auch zuweilen etwas Ahnliches, d. h. eine Inversitat 
der charakterologischen Eigentiimlichkeiten des Geschlechts beobachtet 
wird. so entweder bei den invertierten Prostituierten, wo sie durch 
die Lobensverhiiltnisse und das feststehende Bestreben, den Personen 
ihres Geschlechts zu gefallen, erkliirt werden konnen, oder sie sind 
mit den Bedingungen der Erziehung verbunden. In dieser Beziehung 


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W. Bechterew: Die Perversitaten und Inversitaten 


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habe icb wenigstens ganz bestimmte Fakta. So wurde in einer aristo- 
kratischen Familie wider Ervvarten anstatt eines Madchens, welches 
sich beide Eltern wiinschten, ein Knabe geboren. Infolgedessen lieB 
man dem neugeborenen Knaben weibliche Pflege angedeihen und 
umgab ihn mit einem entsprechenden Milieu. So trug er wahrend 
der ersten und zweiten Periode der Kindheit Mildchenkleider, war 
von Madchen, mit denen er Puppen spielte, umgeben, dann geriet er 
in Gesellschaft von Kameraden — Paderasten, die ihn verdarben. 
und er wurde ein passiver Paderast. Bei einer Untersuchung als 
Erwachsener waren seine Samendriisen ein wenig kleiner, was wahr- 
sclieinlich mit dem Onanismus in Zusammenhang stand, im ubrigen 
zeigte die Entwicklung des Organismus keine Abweichungen. 

Auf den dringenden Wunsch seiner Eltern heiratete er, erwies 
sich aber in geschlechtlicher Beziehung als auBerst schwach, weil die 
Samenejakulation beim Eingang in die Scheide stattfand, weswegen 
er seiner Frau so lastig wurde, daB es zu einem Familienbruch kam. 
Doch gebar die Frau ein Kind, und da bei der Scheidung das Kind 
das Vermogen der reiehen Eltern erben sollte, entstand ein Streit, ob 
dieses Kind ihm oder einem anderen Vater gehore. Diesen Streit 
konnte man nicht anders schlichten, als sich ausschliefilich an die 
formelle Seite der Sache halten, d. h. den Mann als Vater anzu- 
erkennen, obgleich er geschwiichte Geschlechtsfunktionen hatte, weil 
keine Daten fiir einen andern BeschluB vorhanden waren. 

Als ein anderes Beispiel kann eine der friiher von mir publi- 
zierten Beobachtungen, die ich hier in Kiirze anfuhren will, dienen. 

Es handelt sich um einen 18jahrigen jungen Mann. In seiner 
Beschreibung erwahnt er, daB die homosexuellen Neigungen vom 
12. Jahre an datierten. Als er mit 12 Jahren in die Schule kam, 
hatte er keinen Begriff vom Geschlechtsleben. Letzteres wurde ihm 
von den Kameraden in auBerst grober Art erklart. Es entstand bei 
ihm ein Abscheu vor dem Geschlechtsakt (zwischen Mann und Frau). 
Bald nachher fing er an, sich mit Onanismus, dem er sich zufallig 
beim Waschen in der Badestube hingab und dessen Bedeutung und 
Schiidlichkeit ihm unbekannt waren, abzugeben. Dann hatte er mit 
15 Jahren seinen ersten Geschlechtsverkehr mit einem 15jahrigen 
Kameraden, der ihn schon friiher in einen erregten Zustand versetzt 
hatte, weil er ihn zur gegenseitigen Masturbation bewogen hatte. 
Mit 14 Jahren hatte er eine kurze Liaison mit einem andern Kame¬ 
raden und beschaftigte sich mit Onanismus fast bis zum Jahre 1909. 
Diese erste Verbindung dauerte 6 Jahre lang, und er hatte wahrend der- 
selben Beziehungen in os, intra femora. Im Traum hatte er wahrend 
der Pollutionen immer Beziehungen zu Mannern. Er empfand Wider- 
willen gegen die Paderastie. Es handelt sich jedoch hier nicht nur 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


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um Inversitaten, sondern zu gleicher Zeit auch um Perversitilten. 
Vom 8. Jahre an, sagt der Kranke, wurde meine Psyche krankhaft 
eindrucksfahig bei den Begriffen „Gekettet- und Gebundensein“. Diese 
Eindrucksfahigkeit hatte damals noch keine geschlechtliche Grund- 
lage. AuBerdem konnte die reelle Verwirklichung des Inhalts dieser 
Begriffe 1. Manner, 2. Frauen und schliefllich 3. Tiere betreffen. 
Der Grund dieser Beeinflussung durch obengenannte Begriffe des 
„Gekettet- und Gebundenseins“ ist leider bis jetzt unaufgeklart ge- 
blieben. Man kann voraussetzen, daB es sich hier um irgendeinen, 
irgendwann als Kind erlebten Fall, wiihrend dessen das Gebunden- 
und Gekettetsein einen tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen hat, 
durch die dadurch hervorgerufene Erregung am wahrscheinlichsten 
mit einem sexuellen Anstrich, handelt. 

So konnte ein Eindruck vom Schniiren der weiblichen Taille 
durchs Korsett und dem Schniiren der Brust und der FUBe hinter- 
bleiben, eine Anspielung darauf man aus folgendem ersehen wird. 
Aber laBt uns in der Erzahlung des Kranken fortfahren: 

In diesem dazwischenliegenden Jahre bemerkte ich in meiner 
Geschlechtspsj'che zwei Stromungen: 1. einerseits erregte mich wie 
friiher eine ungewohnliche, hiibsche Form der weiblichen FuBbeklei- 
dung. 2. andererseits fing ich an, beim Anblick einer schlanken Frau 
mit hfibschem Gesicht mich ein wenig aufzuregen. 

Meine Erregbarkeit auf diesem Gebiet wurde immer starker, und 
endlich begann ich mich einer anschaulich klaren Illustration des 
„Gebunden- und Gekettetseins* zu den FiiBen von Frauen, deren 
FuBbekleidung die genauesten Forderungen der Form, Farbe (schwarz) 
und Glanz (lackiert) befriedigen muBten, zu streben, und da fing ich 
an, wahrend meiner Spaziergange, Balle und Gesellschaftsabende, mich 
ziemlich intensiven Phantasien fiber das Gebunden- und Gefesseltsein 
der Dainen hinzugeben und gleichzeitig unabliissig ihre eleganten 
Stiefel zu betrachten. Im Moment des Phantasierens und der un- 
mittelbaren Betrachtung fing ich zuerst an, eine, wenn auch unvoll- 
standige, Geschlechtsbefriedigung durch die allgemeine Spannung des 
Nervensystems in der Geschlechtssphiire zu empfinden. 

Zuweilen folgte ich vorfiberziehenden Etappen von Straflingen 
und horchte besonders scharf aufs Klirren ihrer Ketten hin, besonders 
durch diesen Laut gereizt. Zu gleicher Zeit entging keine einzige 
elegant gekleidete „Dame“ mit „lackledemen Stiefelchen“ meiner 
Aufmerksamkeit. 

So stand die Sache bis zu meinem 16. Jahre. Dann folgte 
eine Bekanntschaft mit einer nieht jungen Dame, an der der Kranke 
seine Phantasien zu verwirklichen begann. Einst berfihrte der FuB 
dieser Dame beim Schniiren des Stiefels sein Geschlechtsorgan, und 


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YV. Bec-hterew: Die Perversitaten und Inversitaten 


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es entstand zum erstenmal eine Samenejaculation. In dieser Weise 
dauerte das Geschlechtsleben ein ganzes Jahr. Nachdem wandte sich 
der Kranke an Professor Sch. (der ihn auch beschrieben hat), der 
ihm eine Behandlung durch Hypnose vorschlug und 53 Seancen vor- 
nahm. Wahrend der Kur handelte es sich um eifte Besserung durch 
Unterdriickung der Vorstellungen von geschniirten FrauenfiiBen und 
„lackledernen“ Stiefeln und durch Belebung des norraalen Geschlechts- 
triebs. Doch wurde nach den Worten des Kranken „die Tendenz 
der Unterhaltung mit Frauen liber Fesseln und Gebundensein fort- 
gesetzt". Der Kranke hatte einen Geschlechtsakt, da aber „keine 
geniigende Erregung des Nervensystems vorkam“, muBte man das 
Gesprach mit Frauen iibers Gebundensein und liber Fesseln unter 
allerhand Variationen dieser Begriffe ausnutzen. Nach dem ersten 
miBlungenen Geschlechtsakt folgte eine venerische Erkrankung, die 
eine entsprechende Behandlung erforderte. Nach einem Jahr wurde 
wieder ein Versuch mit einem norinalen Geschlechtsakt vorgenommen, 
„aber wieder war ich impotent, und wieder w'aren die bestandigen 
Gesprache iiber Gegenstande, die mich reizten, erforderlich“. 

In letzter Zeit zwang ich unmittelbar vor dem Akt die Frau, 
mich zu binden oder band mich selbst. Unter solchen Verhaltnissen 
kamen iiber zw r anzig Geschlechtsakte, vom Mai 1910 bis jetzt zu- 
stande. Hierbei muB ich hinzufiigen, daB ich in diesen 8 Monaten 
einigemal zu den natiirlichen Akten der Beriihrung der weiblichen 
FuBbekleidung mit dem FuB mit meinem Geschlechtsorgan griff. 

Bei solch einem Geschlechtsleben wahrend der letzten 8 Monate 
empfand ich teilweise ein physiologisches Vergniigen, bei voller 
Schwachung und Storung des psychischen Selbstgefiihls. 

Endlich reprasentiert eine 7 YVochen wahrende Periode (November- 
Dezember 1910) eigenartigen Onanismus den dritten Abschnitt meiner 
Krankheit. Indem ich intensiv dariiber nachdenke, wie Frauen mit 
lackierter FuBbekleidung (schon unabhangig welcher Form) die Er- 
scheinungen und Prozesse des allgemeinen „Gebunden- und Gefesselt- 
seins“ betrachten oder beurteilen, beginne ich mein Geschlechtsorgan 
zu reiben, und nach einiger Zeit entsteht eine Samenejaculation. 
Notwendige Bedingungen sind zwei Momente: 1. Der technische — 
die Einheit und Ununterbrochenheit der erregenden Ideen, 2. der 
mechanische — die giinstigen Bedingungen zum Reiben. Ich hatte 
im Laufe von 7 YVochen liber 20 onanistische Akte gehabt. Ob- 
gloicli die erregenden Begriffe des Gebundon- und Gefesseltseins, wie 
ich schon erwahnt habe, ursprlinglich keine Geschlechtsbasis hatten, 
vorband doch irgendein reeller Grund den Eindruck der Gebunden- 
heit mit irgendeiner erlebten, anregenden Emotion. „Dann verband 
sich, wie ich es schon in der angefiihrten Arbeit gesagt habe, die 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


193 


Reproduktion eines solchen Gebundenseins mit deru ProzeB des Ge- 
bunden- und Gefesseltseins zu den FiiBen von Frauen. “ lm Alter von 
16 Jahren kam es beim Kranken schon zur Pollution beim Schniiren 
des Stiefels und bei der Beriihrung des Geschlechtsorgans mit dem- 
selben. Nach der Behandlung wurde der normale Geschlechtsakt 
doch nieht von einem geniigenden Orgasmus begleitet, infolgedessen 
der Kranke mit Frauen zu demselben Thema des Gebunden- und 
Gefesseltseins greifen muBte; nachher kam es schon dazu, daB er 
selbst oder die Frau gebunden vverden muBte, und schlieBlich wurde 
der Onanismus von intensivem Denken ans Gebunden- und Gefesselt- 
sein begleitet. Hier fand man folglich Fetischismus und Masochismus. 
Bei alledem hatte man hier zuerst Homosexualismus. der in der 
Folge von der obengenannten eigenartigen Perversitat verdrangt wurde. 

Ein etwas anderer Fall von Homosexualismus, aber auch mit 
einer Neigung zu einer weiblichen Rolle hinsichtlich anderer Manner, 
wurde von mir schon fruher in der Obosrenije Psychiatric (N. Z. 8 
und 9, 1914—1915) beschrieben. In diesem Falle erzahlt der Kranke 
selbst folgendes von sich: Bis zum 7. bis 8. Jahr ging ich als Miidchen 
gekleidet, liebte Puppen, Nahen, Ausnahen, in einem Wort alle weib¬ 
lichen Arbeiten. Ich liebte sehr Frauenmoden und qualte die Mutter, 
mir dieses oder jenes Kleid, Hut oder Putz zu machen. Ich liebte 
es auch, mich als Dame herauszuputzen. Ich liebe es noch jetzt, 
mich mit weiblichen Arbeiten zu beschaftigen. Dann lehrte mich ein 
Schulkamarad das Onanieren und dabei, mit meinein Geschlechtsorgan 
das seinige zu beriihren. So nahm das Laster seinen Fortgang, und 
dann stellte er beim Onanismus schon Mann und Frau vor, wobei 
es ibm gefiel, wenn der Mann eine gleichsam untergeordnete Rolle 
spielte, z. B. wenn ihn die Frau schlug und biB und er sich ihr fiigte. 
Hierbei stellte er sich den Mann besonders klar vor. SchlieBlich 
wurde er passiver Homosexualist und suchte Gelegenheit, wo Manner 
ihn onanierten. Bei Beziehungen zu Frauen waren in erster Zeit 
die Empfindungen schwach, dann horten sie ganz auf und wurden 
durch homosexuelle Akte mit passiver Beteiligung des Kranken er- 
setzt. aber nicht in Form von Piiderastie, sondem in Form von ona- 
nistischen Akten. 

So ist es ganz klar, daB auch die passive Rolle durch Verhalt- 
nisse der Erziehung oder Lebensverhaltnisse den Invertierten auf- 
gedriingt wird, folglich wieder durch Einimpfen von Assoziations- 
reflexen, die dem besagten Geschlecht nicht eigen sind. 

Wenn wir gleichzeitig berucksichtigen, daB eine ganze Reihe von 
Beobachtungen mit voller Bestimmtheit vom Ursprung der Inversitat 
durch den EinfluB nicht entsprechender Verhiiltnisse in der Periode 
des ersten Erwachens und der Entwicklung des Geschlechtsinstinkts 

Archlv fUr Pnychiatrie. Bd 68. 13 


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\V. Bechterew: Die Perversit&ten und lnversit&ten 


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spricht, wodurch die Inversitat, wie auch verschiedene Falle von 
Perversitat zu erworbenen warden, wir andererseits, wenn wir die 
Heilbarkeit der Inversitat durch hypnotische Suggestionen und regel- 
maBige Geschlechtsbeziehungen in Betracht ziehen, wie ich es schon 
bewiesen babe, indom ich meine Beobachtungen in dor Obosrenije 
Psychiatric und im Zentralbl. f. Psychiatrie u. Nervenhoilk. publiziert 
habe, und was durch andere Falle bestiitigt wird, so wird es klar, 
daB man keinen Grund hat fiber angeborene Formen von Inversitat 
zu sprechen. Sogar noch mehr bei Fallen von Feminismus bei Mtinnern, 
wenn dor Geschlechtstrieb nicht ganz fehlt, hat er das kontriire Ge- 
schlecht als Objekt. So fand sich in einem Falle scharf ausgespro- 
chenen Maskulismus bei einer Frau mit Atrophie der Ovarien, des 
Utems, dor Brustdriisen und nicht geniigender Entwicklung des 
Haaros an den Geschlechtsstellen und unterm Arm ein starker Zug 
zum kontraren Geschlecht. 

Alles oben Gesagte liiBt uns die bisexuell© Inversitatstheorie des 
Gehirns, die von nun an ins Archiv getan werden muB, ausschlieBen. 

Aber wollen wir sehen, wie Freud , der zu diesem Zweck die 
Psychoanalyse benutzte, die Inversitat erkliirt. Nach dem Bekenntnis 
Freuds hat die Psychoanalyse nicht den Ursprung der Inversitat 
aufgeklart. An einer Stelle seines Werkes sagt der Autor ausdriick- 
lich folgendes (S. 9): „Das Wesen der Inversitat wird uns weder im 
Falle des Zugestiindnisses, daB die Inversitat eine angeborene Eigen- 
schaft des Geschlechtstriebs, noch im Falle des Gegonteils, daB sie 
eine erworbene sei, klarer.“ 

Aber scheinbar hat die Psychoanalyse den Mechanismus ihrer 
Entstohung ontdeckt. Worin besteht nach Freud dieser Mechanismus 
der Entstohung der Inversitat? „Alle psychoanalytisch untersuchten 
Falle,“ sagt dieser Autor, „beweisen, daB die in der Folge invertiert 
gewordenen Personen in ihren ersten Kindheitsjahren eine Phase 
sehr intensive!-, wenn auch kurzer Anhiinglichkeit an die Frau 
IgroBtenteils an die Mutter) durchlebt haben, nach dem Durchleben 
dieser Phase haben sie sich mit der Frau identifiziert und in diesem 
Falle sich selbst als ihr sexuelles Objekt erwahlt, d. h. vom Nar- 
zissismus ausgehend, sich als sexuelles Objekt junge, ihnen selbst 
ahnliche Manner, die auch so geliebt wordon waren, wie sie ihrer- 
seits ihre Muttor geliebt hatte, gesucht. Ferner haben wir sehr oft 
gefunden, daB Personen, die fur invertiert galten, ausgezeichnet die 
Reize der Frau gefiihlt, aber die durch die Frau hervorgorufene 
Wirkung bostiindig auf ein mannliehes Objekt iibertragen haben. 
Sie haben somit im Laufe ihres ganzen Lebens den Mechanismus. 
durch welchen bei ihnen die Inversitat entstanden ist, wiederholt. 
Ihre Zudringlichkeit zu Miinnern war durch ihre ewige Furcht vor 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


195 


Frauen bedingt" (1. c. S. 15, russisch). Der Autor bemerkt hierbei 
daB bis jetzt nur ein Typus der Inversitiiten mit geschwiichter Ge- 
schlechtstatigkeit, deren Rest sich als Inversitat iiuBert, der Psycho¬ 
analyse unterworfen ist. 

So tragt die Psychoanalyse Freud# auBer Hinweisen auf eine 
groBe Anhiinglichkeit an Frauen, wahrscheinlich an die Mutter oder 
Wiirterin in der Kindheit, weiter als eine Identifizierung mit sich 
selbst, nicht zur Erklarung dieser Zuversicht bei. Diese Daten lassen 
den Autor schlieBlich die wenig iiberzeugungsvolle und verwirrte 
Hypothese begriinden. 

Nach meinen Daten spielen immer bestimmte Vcrhaltnisse bei 
der Entstehung der Inversitat eine Rolle. Zu solchen muB man 
rechnen: die Nahe von Kindern ein und desselben Geschlechts, wie 
das in der Periode der Geschlechtsreife in Internaten beobachtet 
wird, besonders das Schlafen von Madchen in einem Bett mit der 
Mutter, den Schwestern oder Altersgenossinnen, das Schlafen von 
Knaben mit Knabon oder erwachsenen Mannern, das gemeinsame 
Waschen in der Badestube, besonders die gegenseitige Geschlechts- 
reizung von Kindern, eine friihe Paderastie, weibliche Erziehung bei 
Knaben — das sind die Hauptgriinde, die zur Entwicklung und 
Befriedigung der Inversitat fiihren. 

Man darf auch nicht vergessen, daB oft Kinder ihre Inversitat 
gewissenlosen Dienstboten verdanken, die bekanntlieh zuweilen, um 
die schreienden Kinder einzuschlafern, ihnen den Magen und die 
Geschleehtsorgane streicheln, zuweilen sogar wirklich onanistische 
Akte veriiben. 

Einen enormen EinfluB speziell auf die Entwicklung der In¬ 
versitat bei Mannern hat nicht nur der nahe Umgang von Knaben 
miteinander, besonders in Internaten beim Schlafen in einem Bett. 
sondem auch das Kampfen miteinander und eine wirkliche phy- 
sische Annaherung in Form gegenseitigen Betastens der Geschlechts- 
organe, des gegenseitigen Onanismus und auch die Benutzung von 
Knaben und erwachsenen Mannern zu sexuellen Zwecken usw. End- 
lich ist beim Baden in Badestuben die Hilfe von Badewartern fiir 
Knaben und Badefrauen fiir Madchen schadlich. Alle diese Momente 
sind besonders im Kindesalter, aber auch spiiter, solange der Ge- 
schlechtstrieb noch nicht entsprechend gefestigt ist, von Bedeutung. 

Als Beispiel kann folgender Fall, der einer der zahlreichen 
Objekte meiner Beobachtung im letzten Zeitabschnitt gewesen ist. 
dienen. Der Kranke schreibt folgendes: 

„Ich wurde in einem der nordlichen Gouvernements geboren. 
Meine Kindheit verbrachte ich in lasterhafter Gesellschaft am Tichwin- 
schen Kanalsystem. Vom zehnten Jahre an hatte ich alle Zweige 

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\V. Bechterew: Die Pervensitaten und Inversitaten 


des Lasters aus eigener Anschauung studiert und trank sogar. Den 
Winter verbrachte ich auf dem Lande als Laufbursche bei Auf- 
kaufern, die meiner Erziehung keine Aufmerksamkeit schenkten. Alit 
dieser schweren Periode ist mein gauzes Leben nicht durch freund- 
liche Erinnerungen, sondern verschiedene Bilder der Gemeinheit ver- 
kniipft. Alles Niedrige, Sehreckliehe, HaBliche wurde mir eingeimpft 
und erstiekte alles Gute und Schone. Einmal im Herbst muBte ich 
mit einem erwaehsenen, ungefahr 25 Jahre alten Arbeiter in den 
Wald zum Holzhacken gehen. Es waren da viele solcher Jungen 
wie ich beisammen. Wir schleppten das kleine Holz zu einem Hau- 
fen, der Arbeiter war mit dem Fallen beschaftigt. Dann sammelten 
wir uns zur Rast, auf den Hiimpeln des Morasts um den Holzhaufen 
herumsitzend. Der Arbeiter verteilte unter uns Mahorka (einfachen 
Tabak), und wir rauchten. Dann knopfte er seine Beinkleider auf, 
nahm seinen Penis heraus und sagte: ,,Nun schaut her, Kinder, ich 
werde reiben, und aus meinem Geschlechtsorgan wird eine weiBe 
Fliissigkeit flie8en. u Wirklich entstand nach einiger Zeit ein Samen- 
erguB. Da w'ollten wir das uns Gezeigte wiederholen, aber es kam 
bei uns nichts dabei heraus. Dieser Moment war der erste AnstoB 
zum verderblichen Laster fur mich. Oft bemiihte ich mich im Allein- 
sein, den Penis zu reiben, aber immer resultatlos, bis zu einer ge- 
wissen Zeit. Mit 15 Jahren trat ich in einen Klein- und Spezerei- 
ladeu als Handlanger. Einmal brachte der Eigentiimer des Ladens 
aus Petrograd eine Kollektion pornographischer Karten, die mir in 
die Hande gerieten, und eine Menge verschiedener Arten von Ge- 
schlechtsbeziehungen zeigten. Am meisten frappierten mich die Be- 
ziehungen des Mannes zum Mann, in Form eines anormalen physio- 
logischen Akfcs. Von diesem Moment an kam mir der Gedanke, 
selbst solch einen Akt auszuiiben, ohne etwas von den Folgen zu 
verstehen. Zu der Zeit begann meine Geschlechtserregbarkeit sich 
zu erhohen und ich extrahierte die Samenfliissigkeit auf die von 
mir beschriebene Weise, d. h. durch Onanismus. Wir alle, Dienende 
und Arbeiter, schliefen zusammen (im Sommer in Seheunen und im 
Leutezimmer) und bemiihten uns. Junge mit Jungen zusammen zu 
liegen. Naturlich war die Pornographic alien bekannt, und so nahmen 
wir an ihr ein Beispiel und setzten sie in Taten um. GroBtenteils 
geschah das per os. Andere Formen der Anwendung batten wir nicht. 
Nach einiger Zeit fing ich an, Neigung fur Manner zu empfinden 
und bemiihte mich, sie zu gegenseitiger Liebe zu bewegen, ohne des 
schrecklichen Lasters gewahr zu werden. Naturlich wurde das alles 
mit groBer Vorsicht bewerkstelligt. Mit 18 Jahren reiste ich nach 
Petrograd und trat als Angestellter auf einer der Sagefabriken ein. 
Die anormalen Akte muBten sich wiederholen, weil ich ein unbe- 


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vom Stand pun kt der Reflexologie. 


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zwingbares V T erlangen dazu hatte. Oft vollzog ich bei gespannter 
Erregbarkeit und Einbildung geliebter Personen mannlichen Ge- 
schlechts den Akt, der sich wenig von einem anormalen Akt unter- 
schied, durch Onanismus. Es kam vor, dad lange keine Wirkung 
eintrat, aber es war geniigend, einen Mannerpenis zu sehen, momen- 
tan stellte sich hochgradige Geschlechtserregbarkeit ein, und ohne 
Anwendung von Onanismus fand eine reichliche Samenejaculation 
statt. Es kam mir niemals in den Sinn, dad es eine krankhafte 
Erscheinung sei, die man kurieren miisse, und deshalb ging ich tag- 
aus, tagein, jahraus. jahrein auf schiefer Bahn. Dann wurde ich in 
Militardienst genommen und fand dort einen geeigneten Boden fur 
meine Befriedigung. Doch im Militardienst hatte ich auch Verkehr 
mit Frauen und versuchte zu ihnen in Beziehung zu treten, erlitt 
aber immer Fiasko. 

Neigung zu Frauen hatte ich niemals gehabt. Zu Ende der 
Militarzcit begann ich Schwache und Gereiztheit der Nerven zu 
fiihlen, wonach ich pessimistische Anwandlungen bekam. Nach dem 
Militardienst ting ich an an Enthaltsamkeit zu denken, hatte aber 
keine Willenskraft mehr. Oft kampfte ich mit mir, und oft kam 
mir der Gedanke, durch Selbstmord meinem Leben ein Ende zu 
inachen. Da erfolgte die Kriegserklarung, und ich wurde mobilisert. 
Ieh wurde nach Krassnoje Sselo zum Einexerzieren junger Soldaten 
bestimmt, aber ich sprach den Wunsch aus, an die Front geschiekt. 
zu werden. Im Kampf muBte ich natiirlich alles vergessen, weil ich 
jede Stunde zwisehen Tod und Leben schwebte. 

Den Tod fiirchtete ich nicht, weil ich nichts Erfreuliches im 
Leben gefunden hatte. Schwere Gedanken bedruckten mich. Es 
echien mir, daB ich so ungliicklich wie niemand anders war. Unter 
den Eindriicken der Front vergaB ich die Trivialitat der Vergangen- 
heit, das war mir ein Trost. Als ich ein Georgsheld, d. h. Georgs- 
ritter, wurde, schamte ich mich meiner, als einer niedrigen und 
schlechten Person. Und nun bin ich in einer deutschen Tranchee an 
drei Stellen verwundet, an der Brust, dem Riicken, und ein Bein 
ist mir abgerissen. Ich freute mich, daB mein seltsames Leben nun 
ein Ende haben wiirde. Aber vier Stunden nach der Verwundung 
hob man mich auf und brachte mich in Lodz im Stadtlazarett unter. 

In der ersten Nacht brachte man mir einen Geistlichen, dem 
ich alles beichtete und mein Ende voller Befriedigung und Gemiits- 
ruhe erwartete. Ich hatte eigentlich alles dor Heimat getan, was 
ich tun konnte, mehr tun konnte ich nicht. 

Leider hielt mein Organismus aus, und ich Hehte nach zwei 
Operationen um den Tod, aber es kam wieder das so dunkle und 
schwere Leben. Nach 11 Monaten in deutscher Gefangenschaft 


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W. Bechterew: Die Perversity ten unci Inversitaten 


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kehrte ich in die Heimat zuriick und sprach den Wunscb aus. wieder 
an die Front zu gehen, wo ich den Offiziersrang erhielt. Das be- 
friedigte mich nicht, ich fing an mich noch mehr zu qualen und einen 
Ausweg zu suchen. 

Bei einem solchen Gesundheitszustande konnte ich nicht lange 
an der Front bleiben. Meine VVunde offnete sich, und ich kehrte 
nach Petrograd zuriick, um mich auskurieren zu lassen. In Petro- 
grad wurde ich aus einem Offizierslazarett ins andere iibergefiihrt. 
SchlieBlich lag ich im Lazarett an der Moska, wo ich ganz gesund 
wurde und zunt Dienst an die Sudwestfront nach Lutzk, Gouveme- 
ment Wolhynien, fahren muBte. Aber in dieser Zeit brach die Re¬ 
volution aus, die Armee zerfiel, der Dienst war uninteressant, und 
deshalb gab ich meinen schwachen Gesundheitszustand als Motiv an 
und nahrn meinen Abschied. Nach alledem muBte ich an meine 
weitere Existenz denken. Eine staatliche Sicherstellung gab es nicht, 
und wenn es sugar eine gab, so waren es traurige Groschen. Zu 
physischer Arbeit bin ich nicht fahig. aucli durch Geistesarbeit kann 
ich nicht meinen Unterhalt verdienen. Ich kam auf den Gedanken 
zu lernen, d. h. das Niveau meiner geistigen Entwicklung bis zu 
einem solchen Grade zu heben, um dadurch existieren zu konnen. 
Die Verwandten billigten meinen EntschluB und versprachen zu 
lielfen, aber das war nur mit Worten, nicht mit der Tat. Jetzt 
habe ich eine mein Leben vollkommen sicherstellende Spezialitat. 
aber mein Wissensdurst trieb mich, bis zur hochsten Stufe der All- 
gemeinbildung zu lernen. Die lasterhafte Angewohnheit dauerte, 
wenn sie auch seltener vorkam, fort, groBtenteils unter dem EinfluB 
der Einbildung, mit Hilfe des Onanismus. Vorigen Herbst muBte 
ich ganz zufiillig mit einem Arzt des Psycho-Neurologischen Institute, 
der den Onanismus eine anormale Erscheinung nannte, iiber ein 
abstraktes Thema sprechen. Von diesem Tage an entstand bei mir 
ein Geistesumschwung, und ich beschloB, meinem Leben ein Ende 
zu machen oder die lasterhaften Angewohnheiten bleiben zu lassen. 
Letzterer BeschluB behielt die Oberhand, ich fing an zu kampfen, 
und es gelang mir. Einmal in zwei Wochen hatte ich im Schlaf 
Halluzinationen iiber Manner, und dann folgte eine Samenejaculation. 
Jetzt stehe ich vor dem heimatlichen Altar der Wissenschaft und 
habe den heiBesten VVunsch, durch ihn eine vollstandige Heilung 
zu erlangen. Gegenwartig ist eine Reaktion des Ubergangs von der 
anormalen Form zur normalen eingetreten.“ 

Der Kranke war in der Periode der Beobachtung ungefahr 
25 Jahre alt und hatte keine ungiinstige erbliche Belastung. Er 
war ein korpulenter Mann ohne irgendwelche andere Storungen auBer 
der Inversitat. Die Geschlechtsorgane waren normal. Unter anderem 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


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gestand er ein, daB eine Dame ilim den Hof geniacht und sich ihm 
quasi aufgedriingt hatte, da er sich aber zum Akt mit einer Frau 
fur impotent gehalten hatte. hatte er beschlossen, nicht mit ihr zu 
verkehren, und schlieBlich hatte sich die Frau mit ihm verzankt 
und ihn einen Wisch und nicht einen Mann genannt. Der Kranke 
klagte iiber Pollutionen, die oft im Schlaf vorkamen und von ero- 
tischen Traumen bei seinem Verkehr mit Mannern begleitet gewesen 
waren. Ieh verschrieb ihm gegen die Pollutionen Lupulin mit Brom- 
kampfer, meine Mixtur (Adonio, Brom und Codein) und behandelte 
ihn durch Suggestionen. Nach wenigon Seancen besserte sich sein 
Zustand derart, daB die erotischen Trtiume iiber Manner ganz auf- 
horten, es stellte sich bei ihm Neigung zu Frauen ein, und unlangst 
fuhr er aufs Land mit der Absicht, dort eine gewisse Frau, die 
schon langst bereit war, ihn mit offenen Armen zu empfangen, aber 
seinerseits kein Entgegenkommen gefunden hatte, fur sich zu ge- 
winnen. 

Die vom Kranken gemaehte Beschreibung der Krankheit laBt 
keinen Zweifel daran. daB der Beginn seiner Inversitiit zu den ur- 
spriinglichen, mit dem mannlichen Element verbundenen Geschlechts- 
erregungen gehort. Wenn ich die Pornographic betraehtete, sagte 
der Kranke, frappierten mich am meisten „die Beziehungen in Form 
eines anormalen physischen Akts von Mannern untereinander. Von 
diesem Moment an kam ich auf den Gedanken, denselben Akt aus- 
zufiihren, ohne etwas von den Folgen zu verstehen, w und dann ging der 
Akt in Wirklichkeit vor sich. Die Jugend, in Scheunen und Leute- 
zimmer zusammenliegend. nahm sich auch die Pornographic zum 
Vorbild. GroBtenteils wurde das „mit dem Munde“ bewerkstelligt. 
..Nach einiger Zeit ling ich an, eine Neigung zu Mannern zu emp- 
pfinden und sie zu gegenseitiger Liebe zu bewegen, ohne des schreck- 
liehen Lasters gewahr zu werden.“ Damit war alles gesagt. 

Ich will ein anderes Beispiel anfiihren. 

,,Es begann,“ sagt der Kranke in seiner Krankheitsbeschreibung, 
„wie es meistenteils geschieht, mit dem zwolften Jahr. Die groBen 
Knaben fingon an, mir den Onanismus zu lehren, anfangs war es 
mir unangenehm, dann aber, als der Same kam, empfand ich ein 
Vergnugen. Dann ling ich an mit Knaben meines Alters Coitus zu 
haben. In dieser Zeit beschaftigte ich mich mit Onanismus. Mit 
Madchen hatte ich keinen Geschlechtsverkehr. So dauerfce es ziem- 
lich oft ein ganzes Jahr. Dann kamen keine solchen Falle mehr 
vor, ich fuhr aber fort mich mit Onanismus zu beschaftigen, ob- 
gleich es fur mich Zeiten gab, wo ich mich monatelang desselben 
enthalten konnte. Ich hatte Lust mit Madchen zu verkehren, fand 
aber keine Gelegenheit. 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


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dieser Zeit beschaftigte ich mich mit Onanismus. Mit Madchen hatte 
ich keinen Geschlechtsverkehr.“ Dann fing mit 16 Jahren die Ver- 
liebung in Manner an. 

Hier haben wir noch einen Fall von Inversitat: „In friiher 
Kindheit, als ich ungefahr 5 Jahre alt war, fiihlte ich eine Leiden¬ 
schaft fiir Madchen, ich erinnere mich sogar, daB ich eine Beziehung 
zu einem Madchen hatte. Dann erinnere ich mich, daB ich, als ich 
6 bis 7 Jahre alt war, folgende Spiele mit Knaben zu spielen liebte: 
ich kletterte mit den Knaben auf ein Dach; und da maehte es mir 
das groBte Vergniigen sie zu priigeln, den Sitzteil zu streicheln und 
dann Beziehungen zu haben, die in folgendem bestanden: Ich naherte 
mein Geschlechtsorgan dem des andern Knaben, dann naherte ich 
es dem Anus. Hierbei kommt keine Samenejaculation vor, weil 
keine Reibung stattfindet, ich empfinde nur das groBte Vergniigen. 
Leidenschaft fiir Knaben empfand ich ungefahr bis zum 13. Jahre. 
AuBerdem habe ich eine Leidenschaft fiir alte Manner, zu denen es 
mir keine Beziehungen zu haben gelang, zu Mannem von 20 bis 
40 Jahren bin ich dagegen gleichgiiltig. Beziehungen zu Frauen 
zu haben ist mir widerlich. Mir ist iiberhaupt der Bau der 
Geschlechtsteile der Frauen widerlich. Ich liebe ein Frauen- 
gesicht oder eine Frau als Mensch, aber Beziehung zu ihr sind mir 
ekelhaft. Weder eine Frauenbrust noch eine Beriihrung ihrer 
Geschlechtsorgane ruft bei mir eine Erektion hervor. Ich habe mich 
mit Onanismus 3 Jahre — vom 15. bis 18. Jahre — beschaftigt und 
gelangte auf folgende Weise dazu: Wenn ich Beziehungen zu einem 
Knaben hatte, hielt er mein Geschlechtsorgan in der Hand, rieb es, 
und nach einigen Minuten fiihlte ich, daB es mir sehr angenehm 
wurde; ich bat ihn noch langer zu reiben und brachte es schlieBlich 
zur Samenejaculation. Die erste Zeit dachte ich, daB man den 
SamenerguB, d. h. das angenehme Gefiihl, nur mit Hilfe eines andern 
Knaben hervorrufen konne, dann aber fing ich an mich selbst damit 
zu beschaftigen. Aber nachdem ich mich 3 Jahre mit Onanismus 
abgegeben hatte und dann fiber die schrecklichen Folgen desselben 
las, nahm ich mich zusammen und beschloB ihn aufzugeben, was 
ich auch ausgeffihrt habe, denn vom 18. Jahre an beschaftige ich 
mich nicht mehr damit. Aber jetzt habe ich Pollutionen. Wenn 
ich traume, daB ich eine Beziehung zu einem Knaben oder alten 
Mann habe, sofort ist die Pollution da, Eine Pollution habe ich 
einmal in der Woche, zuweilen einmal in zwei Wochen, mit einem 
Wort — unbestimmt. Wenn ich einen wollfistigen Traum habe, so 
habe ich auch eine Pollution. 

Der Vater des Kranken ist etwas nervos, die Mutter leidet auch 
auBerdem an Migrane. Zwei Brfider sind gesund, ein Bruder ist 


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\V. Bechterew: Die Perversitaten und Inversitaten 


tuberkulos, zwei Schwestern sind gesund, aber eine von ihnen leidet 
an Migrane, die dritte ist tuberkulos. Der Kranke selbst. von 
Kindheit an nervos, fiirehtet sieh von Kindlieit an vor Dunkelheit, 
vor dem Alleinsein und vor Leichen. Der Kranke hat epileptische 
Anfalle, die vom 19. Jahre an anfingen und sich ungefahr einmal 
monatlich einstellen. Die Eltern beschaftigten sieh nicht mit Inversi¬ 
taten. Der Vater hat noch jetzt eine Neigung fur Frauen, ebenso 
die Briider. Mein Kranker hatte auch Beziehungen zu seinem Bruder, 
doch „verging es bei ihm,“ sagt er, .,aber bei mir nicht. 4 * 

Dieser Fall ist besonders dadurch interessant, daB der Kranke 
anfangs eine Neigung zum kontraren Geschlecht hatte, was im Ver- 
hiiltnis zum 5jahrigen Madchen zum Ausdruck kommt und dann erst 
unter dem EinfluB des Umgangs mit Knaben und gegenseitigen 
Onanismus Homosexualismus zu auBern begann. 

In letzter Zeit hatte ich im Pathologisch-Reflexologischen In- 
stitut in Petrograd einen kranken jungen Mann mit einer Neigung 
zu passiver Paderastie, wobei auch sein AuBeres verriet, daB er 
passive Paderastie zur Profession hatte. Die Erkliirung der Um- 
stiinde zeigte. daB er im Kindesalter von einem Knaben verdorben 
worden w'ar und dann in den Caf 6-Chan tan ts arbeitete, wo er tanzte 
und augenscheinlich von den Mannern benutzt w r urde. Der Kranke 
ist jedoch nicht der Fiihigkeit beraubt, normale Beziehungen zu 
liaben und beschloB sogar, eine der Patientinnen desselben Instituts, 
die an Hysterie litt, zu heiraten. Jetzt hat er seine Absicht aus- 
gefiihrt und ist mit seiner Frau aufs Land gefahren, aber die Heirat 
ist keine gliickliche geworden. So gab auch hier wie gewohnlich 
der Verderb von Knaben im Kindesalter den AnlaB zur Inversitat. 

In einem der friiher von mir beschriebenen Falle von Inversitat 1 ) 
war die Sache so: Anfangs Saugen des Gliedes von einem Hunde 
und dann Verkehr mit Vogeln. Weiterhin iiberlasse ich es dem 
Kranken selbst, zu sprechen: „Mein Vater, der sich mit Ackerbau 
beschaftigte, hatte einen Arbeiter, der sich zur Erholung an Feier- 
tagen oder Werktagen hinlegte und mir, vvahrscheinlich wohl, weil 
ich mich lange um ihn herumrekelte, den Vorschlag rnachte, mich 
auch nebenbei hinzulegen, wobei er mich umarmte, an seine Brust 
driickte und mich bat, sein Geschlechtsorgan und die Testiculae zu 
halten. Bei den folgenden Arbeitern schmeichelte ich schon, kam 
des Abends und legte mich zu ihnen, einige trieben mich argerlich 
fort, unter andern hielt ich aber zwei am Penis. Spater, als ich 
ungefahr 14 Jahre alt war, befreundete ich mich mit einem gleich- 


’) In der Obosr. Psychiatr. u. in den Neurol, u. Psychiatr. Beobachtungen 
Ausg. I, S. 53—54. 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


203 


altrigen Nachbarsknaben; ich kann nicht sagen, ob er mich dazu 
brachte oder ich vielleicht selbst der Grund war, seinen Geschlechts- 
teil zu ergreifen, aber wie dem auch sein moge, er gebrauchte mich 
zu einem Verkehr per anus, soviel ich mich erinnern kann, zu ver- 
schiedenen Zeiten nicht mehr als 4mal. Wenn ich wahrend der 
Zeit oder nachher mich mit Onanismus beschaftigte, stellte ich 
mir in Gedanken irgendjemand, mit entbloBtem Glied stehend vor 
und vergroBerte den Umfang des letzteren bis zu schrecklichen, un- 
natiirlichen Dimensionen. Bald ling ich an. mein Augenmerk auf 
meine Kameraden zu richten, einige von ihnen liebte ich als Frauen 
oder als Frau leidenschaftlich. Ich bemiihte mich, einige bei mir 
iiber Nacht zu behalten, um wahrend des Schlafens ihre Geschlechts- 
teile zu betrachten, was mir auch gelang. Nach Ableistung der 
Wehrpflicht liebte ich einen groBen schlanken Mann, dem ich es 
sogar gestand. Ich zitterte in seiner Gegenwart wie im Fieber und 
wollte furchtbar gern seine Geschlechtsteile betasten, was mir auch 
gelang. Als ich einmal bei ihm nachtigte. kiiBte und umarmto ich 
ihn; nachher, als er einschlief, lag meine Hand auf seinem Ge- 
schlechtsteil. Er lieB sich von mir kiissen und umarmen, aber er- 
widerte die Liebkosungen nicht. AuBer dieser Person liebte ich 
viele andere, konnte mich aber ihnen nicht nahern." Auch hier 
liegt die Entwicklung der Inversitat auf der Hand und ist dieselbe. 
Das Verderben eines Knaben von einem Erwachsenen, um ihn zu 
einem Objekt zu macheu, das seine Geschlechtsorgane befiihlt. Das 
hat zum Suchen ebensolcher Geschlechtserregungen mit Mannern ge- 
fiihrt. 

Ich will mich noch auf einen friiher von mir veroffentlichten 
Fall berufen. Es handelt sich um einen Kranken, der sich mit 10 
bis 11 Jahren mit einem Sehulkameraden befreundete. Der Kame- 
rad lehrte ilm zuerst den Onanismus. „Anfangs gefiel mir das 
alles nicht“, sagt der Kranke, „besonders das, was er liebte, nam- 
lich: mit seinem Gliede meins zu beriihren. und es war mir sogar 
widerlich, aber allmahlich kam ich in Geschmack. Die Empfindung 
war natiirlich rein mochanisch, da psychisch die Sinnlichkeit noch 
nicht erwacht war." 

Nachher reproduzierte der Knabe beim Onanismus in Gedanken 
Mann und Frau. Proben mit Frauen waren auch moglich, die 
Empfindungen waren aber schon schwach, weshalb der Kranke 
den Onanismus vorzog. Dann fiihrte das Leben in einem Quartier 
mit Seminaristen dazu, daB er mit einem von ihnen in einem Bett 
schlief. r Ich liebte es", sagte er, „mit ihm zusammen zu schlafen, 
seinen Kopf zu streicheln und ihn zuweilen am Glied zu halten — 
nur zu halten und weiter nichts." Aber sein Kamerad verzankte 


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204 


W. Bechterew. I>io Perversitaten und Inversit&ten 


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sich mit ihm. Er betrauerte ihn tief, da er von seiner Liebe zu 
ihm iiberzeugt war. „Als ich im Hospital krank lag, stellte ich mir 
beim Onanismus einen Soldaten, den Diener der Abteilung 1 * vor, 
der ihm gefiel. „Ich liebte so sehr“, sagt der Kranke, „das Ge- 
schlechtsorgan eines Soldaten des Jamaslowschen Regiments, der ge- 
wohnlich mit mir gleichzeitig verbunden wurde und der ein hiibscher, 
starker und groBer Bursche war, zu betrachten. Im Sappeurbataillon 
(wo der Kranke als Offizier seinen Dienst hatte) liebte ich zuzu- 
sehen, wie die Soldaten sich aus irgendeinem Grunde auskleideten, 
liebte des Nachts die Rotten zu inspizieren, wobei mich“, sagte er, 
„der Anblick eines entbloBten FuBes, Bauches und besonders des 
Geschlechtsgliedes irgendeines der Soldaten erregten . . . “ Dann 
kam es zu gegenseitigem Onanismus mit einem Soldaten, Pferde- 
knecht vmd Burschen, der ihn in der Wanne wusch. Auf diesem 
Wege weitergehend, kiiBte er seinem Burschen, der mit ihm ona- 
nierte, Brust, Hande und FiiBe, nahm sein Geschlechtsorgan in den 
Mund usw. „SchlieBlich kam es so weit, daB ich nicht gleichgiiltig 
einen beliebigen Soldaten sehen konnte, ohne ihm bereitwilligst ab- 
solut alles zu tun, um ihm nur ein Geschlechtsvergniigen zu be- 
reiten. Ich kiiBte ihn, wohin er es nur wiinschte, in einem Wort, 
ich tat alles, was er befehlen mochte, auBer Paderastie, was ich 
inehrmals tatsachlich ausgefiihrt habe. u 

Die Atiologie der Inversitat ist hier ganz klar. Wieder kommt 
es auf eine kiinstliche Erweckung des Geschlechtstriebes beim Ver- 
kehr mit einer Person mannlichen Geschlechts heraus. Es verdieut 
die auch in anderen Fallen vorkommende Erklarung des Kranken, 
daB anfangs die Manipulationen mit den Geschlechtsorganen nicht 
gefielen, daB aber nachher ,,der Kranke in Geschmack kam“. be- 
riicksichtigt zu werden. 

Ganz ebenso kann auch die Benutzung von Badewartern fiir 
Manner und Badefrauen fiir Frauen, wie oben gezeigt, eine ver- 
hangnisvolle Bedeutung fiir die Entwicklung der Inversitat haben. 

Unter anderen ist von mir ein Fall publiziert worden, wo ein 
Halbwiichsling in einer allgemeinen Badestube die Dienste eines 
Badewarters in Anspruch nahm. Das Waschen rief bei ihm eine 
starke Geschleehtserregung mit Erektion hervor; ohne lange zu 
denken, loste der Badewarter den Erektionsreflex, indem er das 
Organ ergriff und an ihm einige masturbierende Bewegungen machte, 
bis die Samenejaculalion eintrat. 

Der unter solchen Umstanden zum erstenmal entstandene Or- 
gasmus reizte diesen Halbwiichsling an, immer wieder diese Bade¬ 
stube aufzusuchen und jedesmal die Dienste desselben Badewarters 
in Anspruch zu nehmen und wieder mit denselben Folgen der Ge- 


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vom Stand pun kt der Reflexologie. 


205 


schlechtserregung rait Erektion und Entladung derselben durch den 
vom Badewarter angewandten Onanismus. Das bedingte die In¬ 
versitat, mit der er dann kampfen muBte und sich endlich zu mir 
um Rat und Behandlung durch Suggestion wandte 1 ). 

Auf diese Weise fiihren gegenseitiger Onanismus. Befiihlen der 
Geschlechtsorgane von Personen ein und desselben Geschlechts, der 
Geschlechtsakt mit ihnen, Onanismus in der Badestube oder in der 
Wanne mit Personen desselben Geschlechts, die das Waschen be- 
sorgen und schlieBlich sogar nur die physische Nahe beim Schlafen 
in oinem Bett zur Entwicklung der Inversitat. In diesem Fall hat 
der Umstand, daB das Erwachen des Geschlechtstriebes unter Ver- 
hiiltnissen physischer Annaherung zum entsprechenden Geschlecht 
entsteht, eine groBe Bedeutung. Hierbei wird die Entwicklung der 
Inversitat noch dadurch begiinstigt, daB die Geschlechtserregung mit 
dem Erektionsreflex beim Umgang und der gegenseitigen Nahe von 
Personen ein und desselben Geschlechts nicht nur zuerst entsteht, 
sondern sich auch oft entladet. Das tragt zur Befestigung des ent¬ 
sprechenden Assoziationsrefiexes bei und bedingt fernerhin die Ent¬ 
wicklung einer raehr oder tveniger anhaltenden Inversitat. 

Einer meiner Patienten verlor seine Mutter, als er 5 Jahre alt 
war. Die Stiefmutter liebte die Kinder nicht und sorgte nicht fur 
ihre Erziehung. Mit 14 Jahren machte er die Bekanntschaft zweier 
Knaben, die ihn oft besuchten, „wir muBten zusammenschlafen, wir 
grassierten im Bett, es kam so weit, daB wir uns mit gegenseitigem 
Onanismus zu beschaftigen begannen". 

„Bei Tag und bei Nacht“, sagt der Kranke, ,,horten wir nicht 
auf, dies verderbliche Spiel zu spielen, das, o weh, mir eine endlose 
Holle wurde. Als ich 15 Jahre alt war, konnte ich nicht mehr 
lernen, ich litt an namenlosem Kummer, versteckte mich die ganze 
Zeit vor den Menschen, um mich mit Onanismus zu beschaftigen." 
Dann zog er nach Kanada zu seiner Schwester. Dort muBte er 
iiber seine Kriifte arbeiten. Nach dem Tode der Stiefmutter kehrte 
er nach Hause zuriick, ,,ich ging schon ins 21. Jahr“, schreibt der 
Kranke. „Mit Madclien kam ich niemals zusammen, ihre Anwesen- 
heit machte mich verlegen. Ich fing an, junge, gesunde, starke 
Leute mannlichen Geschlechts zu lieben, ich war bereit, sie zu 
kiissen." 

Das letzte Jahr beschiiftigte sich der Kranke nicht mehr mit 
Onanismus und hatte sogar einigemal Beziehungen zu einer Frau, 
wobei bei der Behandlung die Neigung zu Miinnern verschwand. 


1 ) W. Bechterew: Obosr. Psychiatr. u. Neuropathol. u. Psychiatr. Beobach 
tungen. Ausg. I, S. 60 . 


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206 


W. Beehterew: Die Perversitaten uiul Inversit&ten 


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Hie folgt noch eine Beobachtung, die alles oben Gesagte bestatigtr 

Der 39 .Jahre alte, aus einer gesunden Familie stammende 
Kranke ist ein alter Homosexualist, der iibrigens nicht die Moglich- 
keit verloren hat, zum kontraren Geschlecht Beziehungen zu liaben, 
obgleich Frauon ihn iiberhaupt nicht anziehen und er sieh nicht fiir 
sie interessiert. Die Geschichte fing wie immer in der Kindheit, 
ungefii.hr im 12. Jahre an, als er zuerst mit einem Bauern zusammen- 
kam, der ihm das Onanieren lehrte. Der Bauer bemiihte sich, einen 
paderastischen Akt auszuiiben, aber es gelang ihm nicht, es kam 
hauptsachlich zu gegenseitigem Onanismus. Von dieser Zeit an be- 
kam er eine Leidenschaft fiir die Goschlechtsorgane von Mannern, 
von groBen, groben (aus der Hefe des Volkes), jungen, aber nicht 
Knaben. Die Intelligenten waren ihm im allgemeinen wenig an- 
ziehend. Piiderastie wird und wurde nicht betrieben. Es ziehen 
ihn eigentlich nur dio Geschlechtsorgane, mit andern Worten gesagt, 
der Penis an. Aber auch die ganze Bauart des Mannes scheint 
ihm anziehender als die der Frau zu sein. 

Sein anormale8 Geschlechtsleben blieb nicht ohne Folgen. Der 
Kranke schreibt von sich, daB sich infolge seines anormalen Ge- 
schlechtstriebes entwickelt hatten: 

1. allgemeine Neurasthenic, 

2. Apathie und vollstandige Willenlosigkeit, 

3. ein schworor, immer gedriickter Seelenzustand, 

4. Verdacht zur Umgebung, falsche Furcht, Halluzinationen und 
Verfolgung sogar von den Nachsten und summa summarum ein 
^C'ercle vicieuse u , aus dem der Tod der einzige Ausweg ist, 

5. wiihrend der Attacken schworer seelischer Zustande und 
Rummers MiBbrauch von Alkohol, Cocain und starkes Rauchen, 
was das Leiden noch vergroBert, 

6. die Behandlung im Sanatorium milderte alle krankhaften 
Erscheinungen, aber es ist vorauszuschen, daB das zeitweilig ist und 
die krankhaften Gesehlechtstriebe fast dieselben bleiben. 

Man konnte auch bei alien von mir untersuchten Homosexua- 
listen des arretierten ,,Klubs der Paderasten" bei der Untersuchung 
der zu ihrer Homosexualitiit beitragenden Umstande entsprechende 
Griinde dieser oder jener Art, die den angefiihrten Fallen analog 
sind, finden. 

Ich will hier auch ein anderes Beispiel in otwas anderer Art 
anfiihren, das aber auch den EinfluB der Naho des entsprechenden 
Geschlechts im Kindesalter als Ursache der homosexualistischen Be- 
strebungen nachweist. 

Eine meiner verheirateten Patientinnen war unglucklich ver- 
heiratet, weil der Mann ein harter Mensch war und sie schlug. In- 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


207 


folgedessen empfand sie solch einen HaB und physischen Wider- 
willen gegen ihn, daB sie nach einer schweren Nervenzerriittung in 
Form einer schweren Neurasthenic sich von ihm scheiden lieB. In 
diesem Zustand befand sie sich einige Zeit in einem Sanatorium, 
wo sie sich viele Wochen mit Frauen homosexuellen Charakters und 
Pollutionen qualte. Sie konnte keine Griinde fur diese Inversitat 
angeben, aber es erwies sich bei der Erforschung der Verhaltnisse 
ihrer Kindheit, daB ihr die Warterin, als sie 7 Jahre alt war, ge- 
sagt hatte, daB, wenn die Mutter krank sei, es nur deshalb ware, 
weil der Vater etwas mit ihr angebe, und dabei machte sie, indem 
sie sich auf sie legte, die mannlichen sexuellen Bewegungen. Sie 
sagt, daB das einmal war, obgleich sie auch nicht die Moglichkeit leug- 
net, daB die Warterin das auch mehreremal machte, aber dessen 
erinnerte sie sich schon nicht mehr, sie gibt es sogar zu. daB die 
Warterin eine Homosexualistin gewesen sei. 

Die sich infolge dos Verhaltens des Mannes in der Periode der 
Neurasthenic entwickelte Inversitat verging jedoch mit der Neu¬ 
rasthenic, und die Kranke heiratete dann wieder und lebt mit dem 
zweiten Mann gliickiich. 

In einigen, freilich selteneren Fallen tragen Tatsachen, die einen 
physischen Widerwillcn zur Frau erregen, zur Inversitat der Manner 
bei, nehmen ihnen die Moglichkeit, sich ihr geschlechtlich zu nahern, 
wie das bei der oben beschriebenen Frau mit dem physischen Wider- 
willen zum Mann der Fall war; wenn der Geschlechtstrieb iiber- 
haupt nicht. wenn auch durch Onanismus befriedigt wird, kann er 
sich ein anderes Geschlechtsobjekt suchen und auf den Homosexualis- 
mus gelenkt werden. Als Beispiel einer solchen Wendung kann 
folgender Fall dienen: 

Ich war 17 Jahre alt, als ein junges Madchen mir sehr gefiel. 
Es war meine erste, heiBe Liebe. Ich gefiel ihr nicht; mein Cour- 
schneidon rief bei ihr Kalte und sogar Hohn hervor und schlieBlich 
wurde mir gesagt, daB ich sie ganz in Ruhe lassen mochte. Das 
war in beleidigender Weise gesagt, bei mir erwachte HaB gegen alle 
Frauen und, um mich nicht zum zweitenmal zu verlieben, fing ich 
an vollstandige Gleiehgiiltigkeit fur sie zu entwickeln, und das ge- 
lang mir. Ich bekam einen Widerwillen zum Coitus mit ihnen; 
bald nachher fiihlte ich in mir die Leidenschaft, ich ging zu einer 
Frau; als ich ihre vollige Schamlosigkeit, ihren Korper und das 
ganze Milieu sah, entstand in mir Abscheu und Angstlichkeit, was 
auch bis jetzt geblieben ist. Ich ging fort, ohne den Akt zu voll- 
fiihren, fing aber von der Zeit an mich mit Onanismus zu beschiiftigen. 
Ich wollte so sehr lieben, aber ich konnte mich nicht zw’ingen, 
Frauen zu lieben. Ich sehnte mich nach Anhiinglichkeit und Freund- 


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208 


W. Bechterew: Die Perversitaten und Inversitaten 


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lichkeit, fing an mich am Manner zu bemiihen und liebte viele von 
ihnen sehr, aber ich machte allem ein Ende, als ich raich uberzeugt 
hatte, daB sie keine guten Beziehungen zu mir hatten und nur nach 
Frauen strebten. Nun traf ich vor 6 Jahren meine wirkliche groBe 
Liebe. Er war sehr herzlich mit mir, vertraute sich mir ganz an, 
liebte mich, und es kam selten ein Tag vor, wo wir nicht zusammen 
waren. Im Aufflammen der Freundschaft muBte ich mich zuweilen 
Liebkosungen hingeben, und die Kiisse erweckten meine LeidenBchaft 
fiir ihn. Und nun fiihle ich, daB ohne ihn mein Leben ode ist, ich 
muB ihn basttindig sehen, und wenn er nicht kommt, kann ich nicht 
achlafen, essen, arbeiten und leide sehr. Ich sehe ihn bestandig im 
Schlaf und fast immer nackt. Seine Nahe hat mich wunschlos ge- 
macht und ich kann durchaus nicht meine Gleichgiiltigkeit gegen 
Frauen und meinen Widerwillen gegen ihren Korper bezwingen. 
Eine Zeitlang verliebte ich mich, indent ich mir einbildete eine 
Frau zu sein, und als ich mich mit Onanismus beschaftigte, malte 
mir meine Phantasie aus, daB meine bekannten Manner mich um- 
gaben, aber das war selten. immer, wenn ich mich dem Onanismus 
hiDgab, stellte ich mich mit einer Frau vor, obgleich ich im Traunt 
nientals Frauen gesehen habe und auch jetzt nicht sehe. 

Auch hier ging natiirlich die Apnaherung des jungen Menschen 
an einen Mann nicht ohne besondere Griinde, die dite urspriingliche, 
einem Assoziationsreflex gleiche Geschlechtserregung hervorriefen, ab. 
Doch ist immerhin auch das zweifellos, daB der durch die Lebens- 
verhaltnisse aufgedrungene Assoziationsreflex zum contraren Geschlecht 
in der Periode, als der Geschlechtsinstinkt erwachte, hier in der 
Wurzel gehemmt war. Im Resultat fand ein Ersatz durch einen 
homosexuellen Geschlechtsreflex unter entsprechenden Verhaltnissen 
statt, der sich dann auch befestigte. 

Aus oben Gesagtem ist es klar, daB hinBichtlich der Atiologie 
zwischen der Perversitat und Inversitat kein wesentlicher Unterschied 
besteht. Sowohl dort als auch hier handelt es sich um die Ent- 
stehung, Entwicklung und Befestigung des assoziativen Geschlechts- 
reflexes unter unnatiirlichen oder der Natur nicht entsprechenden 
Verhaltnissen. Es ist wesentlich wichtig, daB es sich in den meisten 
Fallen hier um die Entwicklung eines der Natur nicht entsprechen¬ 
den Geschlechtsreflexes beim ersten Erwachen des „Geschlechts- 
instinktes“ handelt, was zu einer besonderen Festigung eines solchen 
Reflexes und des mit ihra anormal verbundenen Geschlechtstriebes 
beitragt. Wenn in einer Reihe diese oder jene Perversitat oder In¬ 
versitat iiuBernden Falle die Kranken nicht den Ursprung ihrer Per¬ 
versitat oder Inversitat erklaren konnen, so hat man, von oben ge- 
nannten Fallen geleitet, vollen Grund zur Annahme, daB er zu der 


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vora Standpunkt der Reflexologie. 


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Periode der Kindheit, von deren Erlebnissen wenig oder nichts in 
der Periode der Reife reproduzierfc vvird, gehort. Dali auch kein 
weitgehender Unterschied zwischen der Atiologie der Perversitaten 
und Inversitaten besteht. beweisen Falle gemischten Charakters, wo 
gleichzeitig Inversitaten und Perversitaten vorkommen, und wo ein 
krankhafter Zustand den anderen verdrangt. 

So bleibt uns noch iibrig die Frage von der Bedeutung der 
Degeneration in der Entwicklung der Perversitaten zu betrachten. 

„Die Degeneration ruft, nacli den Worten Freuds, die Zweifel, 
die uberhaupt beim aussichtslosen Gebrauch von YVortern entstehen. 
waeh. Bekanntlich ist man schon gewohnt, jeder Degeneration krank- 
hafte AuBerungen nicht traumatischen und nicht infektiosen Ursprungs 
zuzuschreiben. Die Maniansche Theorie der Degeneration hat dazu 
gefiihrt. dali es moglich geworden ist von einer Degeneration sogar 
schon bei einem vollkominen guten Funktionieren des Nervensystems 
zu sprechen“ 1 ). 

Selbst Freud gelangt zum Sehluli, dali es zweekmaBiger ware 
nicht iiberall, wo nicht viele schwere Abweichungen von der Norm 
vorhanden sind, und wo die Arbeitsfahigkeit und uberhaupt die 
Fiihigkeit den Lebenskampf auszuhalten nicht gestort sind, von 
Degeneration zu reden. 

Auf diesem Standpunkt stehend, leugnet Freud dio Degeneration 
bei den Inversitaten, weil Inversitat beim Fehlen schwerer Ab¬ 
weichungen von der Norm und bei guter Arbeitsfahigkeit der an 
Inversitat leidenden Personen beobachtet wird. 

Hierfiir spricht auBerdem die Tatsache der weiten Verbreitung 
der Inversitat bei den alten Kulturvolkern und Urvolkern unter 
anderem im Orient, wahrend der Begriff der Degeneration gewohn- 
lich bei hoch kultivierten Volkern Anwendung findet. Endlich haben 
das Klima und die Rasse ihren EinfluB auf die Entwicklung der 
Inversitat. 

Es wiire jedoeh besser liber die Lebensverhaltnisse dieses oder 
jenes Stammes und V T olkes und nicht iiber die einer Rasse zu sprechen. 

Von den Autoren wird eigentlich angeborene Inversitat nur in 
dein Falle anerkannt, wenn es sich uin absolute Unfahigkeit zu Be- 
ziehungen zum kontriiron Geschlecht (absolut Invertierte) handelt 
und nicht dort. wo der Trieb Beziehungen zu beiden Geschlechtern 
(analogen Invertierte) und uni so mehr zufallig invertierte Akte 
zulaBt. 

Freud bestreitet uberhaupt das Angeborensein der Inversitiit, 
und nur in dieser Beziehung stello ich mich auf seinen Standpunkt. 

l ) Freud: Theorie d. Gesehlechtstriebs. S. (5 (russisch). 

Archiv fUr Payclilatrie. UU. 08. 14 



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W. Bechterew: Die Perversity ten un<l Inversitaten 


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Das Nichtzugoben des Angeborenseins der lnversitat ist nach Freud 
auf folgendem begriindet: „1. darauf, daB man bei vielen sogar 
absolut Invertierten die Tatsache, daB ein in friiher Kindheit 
wirkender sexueller Eindruek durch seine Dauer den Grund zum 
Homosexualismus legte, feststellte; 2. darauf, daB man bei violen 
anderen das Vorhandensein auBerlich giinstiger oder hemmender 
Verhaltniese, die friih oder spat zum Forcieron der lnversitat ge- 
fiihrt haben, nachweisen kann; 3. darauf, daB die lnversitat durch 
hypnotische Suggestion beseitigt werden kann, was bei angeboroner 
lnversitat erstaunenswert ware u . Ubrigens ist eine solche Beobach- 
tung der Heilbarkeit der lnversitat durch Suggestionen von mir ein- 
mal vorgestellt worden. Ich muB noch dazufiigen, daB alle in der 
Literatur vorkommenden Hinweise auf das Angeborensein der In- 
versitat unbegriindet sind. 

Doch ist uns ein Faktum bekannt, daB auf einige Personen in 
friiher Kindheit dieselben Einfliisse. die bei anderen zur lnversitat 
beigetragen haben, und die bei ihnen in genannter Beziehung macht- 
los waren, gewirkt haben. Hiernach ist es klar, daB man den Ein- 
fluB der erblichen Faktoron der Invertierten nicht ganz absprechen 
kann, abor natiirlich nicht im Sinne einer angeborencn Richtung des 
Geschlechtstriebes auf sein eigenes Geschlecht. 

Unter den Fallen von Inversitaten und auch Perversitaten kann 
man eine ungiinstige Erblichkeit bemerken, die darin besteht, daB 
in ihren Familien Geistes- und Nervonkranklieiten verschiedenen 
Grades vorkamen. Hierboi zeigten die Invertierten und Pervertierten 
bei weitem selten Erkrankungen dieser Art, sondern zuweilen nur 
verschiedene Formen von Nichtausgegliehenheit. Obgleich sogar die 
degenerativen Morkmale bei ihnen zuweilen vorkommen, so doch in 
unbedeutendorom MaBe und nicht so scharf markiert. Ihre Ge- 
schlechtsorgane sind gewohnlich normal. t)ber eine direkte Erblich¬ 
keit, z. B. im Sinne der erblichen Ubertragung des Homosexualismus 
oder andere Formen von Perversitaten sind noch koine bestimmten 
Hinweise vorhanden. Von den H2 im Klub arretierten Homosexualisten 
wurden nur in 5 Fallen einige Geschlechtsabvveichungen bei den 
nachsten Verwandten bemerkt, aber ihre Entstehung bleibt unauf- 
geklart, und es ist nicht die Mbglichkeit ausgeschlossen, daB es sich 
liicr uni besondere Griinde zur Entwicklung der Perversitaten handelte. 
Aber das. was in diesen Fallen mehr oder weniger haufig gefunden 
wird, ist uberhaupt eine erhohte Eindrucksfahigkeit und speziell 
eine Verscharfung der geschlechtlichen Erregbarkeit und der in 
einigen Fallon verhaltnismaBig friih erwachende Geschlechtstrieb. 
Diese hauptsachlieh ein Resultat der Degeneration bildenden Er- 
scheinungen liegen augenscheinlich dem zugrunde, daB sich bei den 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


211 


Kranken nach dera Gesetz der Assoziationsreflexo in besonderen 
Lebensverhaltnissen in direr Kindheit verhaltnismaQig leicht ver- 
schiedene Perversitaten oder Inversitaten entvvickeln. Wenigstens 
kann das in einer Reihe von Fallen unzweifelhafb nachgewiesen 
werden. Fiir das Angeborensein dagegen als direkte Erblichkeit der 
Inversitat sind nicht geniigend gepriifte Facta vorhanden. 

Beziiglich der Heilung habe ich hier nicht die Moglichkeit, mich 
weiter auszusprechen, halte es aber fiir notwendig zu bemerken, daB 
im allgemeinen die MaBregeln, die die Moglichkeit geben, den ge- 
heraniten normalen Geschlechtsreflex zu enthemmen, ergriffen werden 
miisson und gleichzeitig alles das, was die Perversitat oder Inversitat 
der AuBerungen dieser Roflexe unterstiitzt, zu unterdriicken oder zu 
hemmen. Sogar die Formen der Perversitaten oder Inversitaten, die 
friiher zu den degenerativen Fiillen gerechnot und fiir unheilbar ge- 
halten werden konnen, konnen unter giinstigen Verhiiltnissen gute 
Resultate zeitigen. wie ich es in einer besonderen Arbeit gezeigt habe. 

Die Grundbedingungen einer erfolgreichen Heilung sind ent- 
sprechende Lebensverhaltnisse, die Moglichkeit, Bedingungen fiir 
normale Geschlechtsfunktionen zu schaffen, eine systematisch dureh- 
gefiihrte Psyehotherapie und Suggestion, hauptsachlich in Form des 
von mir angewandten Systems der Umerziehung 1 ) und endlieh ver- 
schiedene dem Falle entsprechende pharmakologische und physio- 
therapeutische MaBnahmen. 

Ein Haupthindernis bei der Behandlung solcher Storungen ist, 
wie ich mich iiberzeugt habe, in vielen Fallen keinesfalls die Macht- 
losigkeit unserer Therapie, sondern die Unmoglichkeit der Erlangung 
entsprechender Lebensverhiiltnisse. die nicht vom Arzt und der 
Apotheke abhiingig sind. 

Zum SchluB will ich die HauptschluBfolgerungen dieser Unter- 
suchung, die sowohl auf den oben als Beispiel angefiihrten, als auch 
an einer ganzen Reihe anderer mir zur Verfugung stehender, alier 
nicht zitiert gewesener Beobachtungen begriindet sind. anfiiliren. 

1. Die Geschlechtsdifferenz in der Form der sekundiiren Ge- 
schlechtsmerkmale wird durch die Entwicklung der Geschlechts- 
driisen und ihrer Hormonen bedingt, was sich aus alien experi- 
mentellen Daten ergibt. 

2. Im Tierreich dient bei don Wirbeltieron, die auf dem Lande 
leben, als Hauptleiter des Gesohlechtstriebs der von den Wesen 
kontriiren Geschlechts ausgehende und durch die Tiitigkeit ihrer 
Geschlechtsdriison bedingte Geruch, wobei durch die Assoziations- 
reflexe auch andere sexuelle Erroger, wie das Aussehen, die Mimik, 


') W. Beehterew: Hvpnose, Suggestion u. Psyehotherapie. St. Petersburg. 

14* 


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W. Bechterew: Die Perversitaten und Inversit&ten 


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Stimme, die Beriihrung eines Wesens kontraren Geschlechts, noben 
den Erscheinungen der Nachahmung entstehen. 

3. Beim Menschen dient dank der Kultur nicht der Geruch, 
der durch hygienische MaBregeln und Kosmetik beseitigt wird, son- 
dern eine Reihe anderer Erreger, wie das AuBere, die Mimik, 
Stimme, Sprache, Beriihrung, Nachahmung und alle kulturell-sozialen 
Verhaltnisse, die die Konzentrierung der Vertreter des einen Ge¬ 
schlechts aufs kontrare lenken, als Erreger des Geschlechtsreflexes. 

4. Zu Perversitaten muB man alle Falle einer eingewurzelten 
Neigung zu unnormalen Geschlechtsbeziehungen mit Objekten kon¬ 
traren Geschlechts und andern, sowohl belebten, als auch unbelebten 
Objekten rechnen. Zu Inversitaten muB man Falle einer einge¬ 
wurzelten Neigung zu Objekten seines Geschlechts rechnen. Beide 
konnen bei der Unmoglichkeit. normale Geschlechtsbeziehungen zu 
haben — totale, und bei der Moglicheit normaler Geschlechts¬ 
beziehungen — partiale sein. 

5. Der Onanismus entwickelt sich nicht nur durch mechanisches 
Reiben der Geschlechtsorgane, sondern auch durch die Entwicklung 
der Geschlechtserregung in Form von Assoziationsreflexen. Wenn 
die Geschlechtserregung keine natiirliche Befriedigung haben kann, 
entladet sie sich im Onanismus, der auch zur Gewohnheit wird. 

6. Als Folgen des Onanismus entwickeln sich Perversitaten in 
Form von vorzeitiger Samenejakulation bei Geschlechtsbeziehungen. 
was durch die Entwicklung des sekretorischen Assoziationsreflexes 
erklart wird. 

7. Nach dein Typus der AssoziationsreHexe entwickelt sich auch 
„die von mir beschriebene „Furcht vor Geschlechtsiinpotenz 44 , und 
bei den Frauen ,,die Furcht vor dem Coitus 4 *. 

8. Unter dem EinfluB des Onanismus kann sich eine besondere 
Inversitat, die in der Neigung zur Befriedigung des Geschlechts- 
triebs durch Masturbation bei Schwachung odor Fehlen der Neigung 
zu normalen Geschlechtsbeziehungen besteht, entwickeln. 

1). Es gibt viel mehr Forrnen von Perversitiit, als man es 
bisher zugegeben hat. So kann man auBer den schon bekannten 
Forrnen von Perversitiit in Form von Fetischismus, Algolagnie 
(Sadismus und Mazochismus), Exhibitionismus, eine Kampfes-, an- 
schauende, leckende, presbiomanische, infantomanische, autoerotische 
und einige andere Forrnen von Perversitaten unterscheiden. 

10. Alle diese Arten von Perversitiit entwickeln sich nach dem 
Typus der AssoziationsreHexe unter dem EinfluB von Wirkungen, 
die die Geschlechtstatigkoit errogen, besonders in der Periode der 
ersten Geschlechtsreife. Ebenso haben auch die sogenannten In¬ 
versitaten verschiedene auBere Verhiiltnisse, die die Geschlechts- 


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vom Standpunkt der Reflexologie. 


213 


funktion schon in der Anfangsperiode der Gesehlechtsreife auf einen 
unnatiirlichen VVeg lenken, als Ursache. 

11. V r on diesen Formen der Perversitiit und Inversitat muB 
man die Gewohnheitsformen dieser und jener Art, die sich durch 
anhaltende Benutzung der Geschlechtsfunktion unter unnatiirliehen 
Verhaltnissen entwickeln, unterscheiden, was sich allmahlich als Ge- 
wohnheit festsetzt. 

12. Bei diesen Gewohnheitsformen der Perversitat und In¬ 
versitat handelt es sich uni unvollstandige Formen, d. h. solche, wo 
nur einer imnatiirlichen Form von Geschlechtsbeziehungen der Vor- 
zug gegeben wird, aber auch normale Formen der letztern nicht 
ausgesehlossen werden, wahrend bei den Perversitaten und Inversi- 
taten der ersten die Fiille sowohl vollstandiger Perversitaten und 
Inversitaten, als auch unvollstiindiger, d. h. solcher, die bei einer 
Neigung zu unnatiirlichen Geschlechtsbeziehungen die Moglichkeit 
geben, auch normale oder natiirliche Beziehungen zu haben, inog- 
lich sind. 

13. Fur viele Fiille von Perversitat und Inversitat sind dem 
Charakter der Perversitat entsprechende Triiume, die von Pollu- 
tionen begleitet werden, charakteristisch. 

14. Die bisexuelle „Gehirntheorie‘ < , durch welche man den 
Ursprung der Inversitat zu erkliiren bemiihte, kann nicht an- 
genommen werden, weil sie ihrem Wesen nach nicht riehtig ist. 

15. Die Perversitat und Inversitat sind in Wirklichkoit er- 
worbene Stdrungen und werden am haufigsten durch verschiedene 
Umstande, die aufs Kind in der Periode seiner Gesehlechtsreife ge- 
wirkt haben, erklart. Die allgemeine neuro-psychopathische Erblich- 
keit ist nur ein priidisponierendes, aber nicht bedingendes Moment. 

16. Die Entwicklung der Perversitaten und Inversitaten erhii.lt 
cine richtige Erklarung vom reflexologischen Standpunkt durch Ent- 
wieklung und Befestigung des assoziativen Geschlechtsretlexes, be- 
sonders der Gesehlechtsreife bei der anfiinglichen Entwicklung. 

17. Verhaltnisse ungiinstiger Erblichkeit bewirken nicht selten 
eine friihe Geschlechtsentwicklung und erhohte Geschlechtsorregbar- 
keit, was auch einen giinstigen Boden fiir die Entwicklung ent- 
sprechender Perversitaten und Inversitaten schafft. 

18. Fiille von Perversitaten und Inversitaten sind. mit Aus- 
nahme vielleicht zu veralteter Fiille, heilbar. Ein Haupthindernis 
bei der Heilung ist am hiiutigsten die Unmogliehkeit entsprechende 
Lobensverhiiltnisse zur Durchfiihrung normaler Geschlechtsbeziehungen 
zu schaffen. 


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Bucherbesprechungen. 

Theodor Kirchhoff, Der Gesichtsausdruck nnd seine Bahnen beini Gesunden 
und Kranken, besonders beiin Geisteskranken. Mit 68 Textabbildungen. 
Berlin, .Julius Springer, 1922. 

AIh letztes Work aus seiner Feder legt uns Kirchhoff diese eingehende Studie 
liber den Gesichtsausdruck vor als die Frucht langjahriger Arlieit. Man merkt 
an der umfassenden Darstellung. daB ilin dieses Thema schon viele Jahre be- 
schiiftigt hat. Es ist beachtenswert, daB zu der bekannten Schrift Krukenbergs , 
„Der Gesichtsausdruck des Menschen", sich innerhalb kurzer Zeit diese Arbeit, 
die den Nachdruck auf den Gesichtsausdruck l>eim Geisteskranken legt, hinzu- 
gesellt. 

Nach eingehender Besprechung der einschltigigen Literatur wird der Gesichts¬ 
ausdruck in zwei Komponenten zerlegt, in die der unbewegten, der Physiognomie, 
und der bewegten. der Miniik. Den nur kurzen Betrachtungen bei kbrjierlichen 
Erkrankungen im allgenieinen folgen Beobaehtungen bei psychischen Erkran- 
kungen. 

Diese betrachtet er als „Storungen im gesamten Biotonus und in Reflexkreisen“. 
Zur Begriindung seiner Anschauung greift er zuriick auf die Br7/schen Theorien 
der Nervenkreise, die von Jessen weitergefiihrt sind, und auf die Reflexkettentheorie 
von KatMountz ; auBerdem stiitzt er sich auf die alten Ansiehten iiber den Tonus 
und auf Griesiiigern Theorie iiber den psychischen Tonus, die er mit den neueren 
Anschauungen iiber den Biotonus (Schade) zu vereinigen sucht. Den Gesichts¬ 
ausdruck denkt er sich „entstanden aus einer Aneinanderreihung zahlreicher. 
dem mimischen Reflexkreis benachbarter Reflexkreise 1 '. — Diese theoretiscken 
Betrachtungen nehmen einen breiten Raum ein in der mit Literaturangabe reich 
ausgestatteten Arbeit. Sie bestimmen auch die Dreiteilung der psychischen 
Krankheiten (wie Verf. sie bereits in seinem GrundriB der Psychiatrie 1899 vor- 
genommen hat) in: 

I. Funktionelle oder diffuse Storungen im ganzen Nervensystem, unter 
starker Beteiligung des Muskel- und Serumtonus. 

II. .Spannungsverttnderungen. vorzugsweise des Stammhims und Klein- 
hims, der Himrinde und des ganzen Zentralhims. 

III. Herdformige oder organische Veranderungen im ganzen Nervensystem. 

Die darauf folgenden Besprechungen iiber den Gesichtsausdruck bei den 
einzelnen psychischen Krankheiten sind dureh gute Abbildungen erlflutert. 

In einer Betrachtung der nervosen Bahnen des Gesichtsausdruckes sucht 
Verfasser die heutigen Anschauungen iiber die Anutoinie und Physiologic des 
Nervensystems mit seiner Theorie der Nervenkreise in Einklang zu bringen. 
Auch werden pathologisch-anatomische Ergebnisse als Beweis fiir die Richtigkeit 
der vertretenen Anschauungen angefiihrt. — In einem kurzen „Ausblick auf die 
Behandlung der Geisteskrankheiten“ wird den Reflexkreisen auch cine Ijesondere 
therapeutische Bedeutung zugesprochen. Es wird angenommen. daB von jedem 
einzelnen Reflexkreis ein EinfluB auf die Personlichkeit des Kranken ausgeiibt 
werden kann, da alle Reflexkreise durch sensible, inotorische und vegetative 
Nervenkreisbahnen eng aneinander gekettet und mit alien Organsystemen ver- 
bunden seien. 

Die Ausstattung des Werkes ist eine vorziigliche. Kchafgen-K\e\. 


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Biicherbesprechungen. 


215 


Die Versorgung asozialer Personen, gekiirzter Bericht iibcr die Tagung der 
vorbereitenden Kommission zur Priifung der Frage der V T er8orgung asozialer 
Personen, 7. u. 8. VII. 1922 in Bielefeld. (Zu beziehen bei der Geschaftsstelle 
des Deutsch. Ver. f. offentl. u. priv. Fiirsorge, Frankfurt a. M., Stiftstr. 30.) 

Die immer mehr hervortretende Notwendigkeit der Versorgung asozialer 
Personen ist von einem besonderen Fachausschusse eingehend erortert worden. 
Als Psychiater hat Asehaffenburg die lie form bed it rftigkeit der herrschenden Metho- 
den vom Standpunkte der Kriminalpolitik und Sozialhygiene beleuchtet und die 
Grenzfalle eingeteilt in: Schwachsinnige, Stumpfe, Haltlose, Erregbare, Impulsive, 
Moralische, Anasthetische, Antisoziale. Die wertvollste Prophylaxe ware ein 
Eheverbot fur Trinker, Geschlechtskranke, Tuberkulose, Geisteskranke usw. 
Fursorgeerziehung sollte iiber 21 ausgedehnt werden konnen. Dauernde Hilfe 
und Aufsicht, Anlegung von Lebenslisten werden empfohlen. Neben Besserungs- 
und Abschreckungsstrafen wiirde Verpflichtung zu Schadenersatz als zweck- 
maBige Abschreckung in Frage kommen. Letztes Mittel bildet die Ausscheidung 
der Unverbesserlichen. 

Pastor ProscAI-e-Berlin behandelte das gleiche Thema vom Standpunkte der 
Sozialjkidagogik und Volkswirlschaft: Wichtig sei vor allem, den Willen der Aso- 
zialen zu wecken, ihre Freude am Unterricht, Korpsgeist bei individueller Ent- 
wicklung. Begeisterung fiir Ideale, Verantwortlichkeitsgefuhl. Gefordert wiirden 
Arbeiterkolonien und Wanderarbeitsheime, in letzter Linie Verwahrung. Aber ohne 
Alkoholbekiimpfung keine wirksame Asozialenfiirsorge! Erschreekend ist die 
heutige Belastung der Gesellschaft durch Trinker, Bettler, Vagabunden und 
Dimen. Sie leisten nur in Anstalten nutzbare Arbeit. Zu erstreben sei Neuvertei- 
lung der Kosten unter Entlastung der Gemeinden. 

Die praktische Durchfuhrung der Verwahrung der asozialen Personen auf Grand 
der geltenden Bestimmungen des bffentlichen und privaten Rechts erlautertc 
Landesrat Dr. Fossea-Dusseldorf vom Standpunkte der Provinzialverwaltungen, 
Magistratsrat Dr. Jfai'er-Frankfurt vom Standpunkte der Kommunen. Vossen 
legte dar, wie das in Aussicht genommene neue Bewahrungsgesetz sich liaupt- 
sachlicli auf Personen beziehe, die vermoge ihrer geistigen Minderwertigkeit fiir 
die Allgemeinheit zugleich nutzlos und schadigend seien, ohne sich zu Kriminellen 
im strafrechtlichen Sinne ausgewachsen zu haben. Entmiindigung wegen Geistes- 
krankheit oder Geistesschwache muB vorliegen oder Erfolglosigkeit der Fiirsorge¬ 
erziehung. Anordnung und Aufhebung der Verwahrung sollen durch ein gericht- 
liches Verfahren geregelt werden. Bedeutsam ist der Gedanke der Vorsorge, so 
daB nicht erst eine Bestrafung abgewartet werden muB. ZweckiiuiBig waren zwei 
Drittel der Kosten auf den Staat, ein Drittel zu gleichen Teilen auf Land- und Orts- 
armen ver band umzulegen. 

Xach Maier handelt es sich in der Praxis numentlieh uni Landstreicher und 
Dimen. Bei Mannern unterscheide man 1. die weniger gefiihrlichen „echten“ 
Wanderer, bei denen sich periodische Ruhelosigkeit bemerkbar mache, und die 
leicht in Arbeitskolonien unterzubnngen seien, 2. verwahrloste Jugendliche, die 
sich zu Verbrechern, politischen Putschen und alien Abenteuem nur allzu geneigt 
zeigten, aber oft noch durch Erziehung auf geordnete Bahnen gelenkt wiirden, 
3. von Haus aus Asoziale, die in keiner Stelle blieben und allmahlich der Zuhalterei 
anheimfielen. Fiir die letzteren kommen Dauerverwahrung in Frage. Femer 
werden fiir sittlich gefahrdete Miidchen Obergangsheime als Sichtungsstellen, 
Schutzheime fiir auBerhalb Arbeitende und Dauerverwahrungsanstalten gefordert. 
Schon heute konne der Eintritt in Bewahrangsheime freiwillig bzw. auf Veranlas- 
sung des V T ormundes geschehen cxler bei Gemeingefkhrlichkeit erzwungen wer¬ 
den. Das neue Gesetz sei mehr zur Regelung der Kostenfrage erforderlich. In 
Wahrheit entstehc aber nicht Neubelastung, nur Umschichtung. 


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216 


Biicherbespreohungen. 


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la der Aussprache erapfahl als Vorsitzender Polligkeit, zu priifen, ob nicht ein 
einheitliches Gesetz fiir die Verwahrung aller Arten von Asozialen einschlieBlich 
der gemeingefiihrlichen Verbrecher anzustreben sei. Allein es zeigte sich, daB 
die Meinungen durch den Gegensatz „Schutz der Gesamtheit“ und „Schutz des 
Individuums 11 stark auseinandergingen. Nach Klumker h&ngt Asozialitat nicht 
nur von Anlage, sondem auch von jeweiliger Konstruktion der Gesellschaft ab; 
nach Quarck bedeutet „asozial“ nicht stets „anormal“. Nach Aschaffenburg ist die 
Fiirsorgebedurftigkeit mehr in den Vordergrund zu riicken als das Pathologische. 
Wahrend der Begriff der Verwahrung verschieden aufgefaBt wurde. herrsehte 
Einigkeit iiber die Wichtigkeit der Kostenregelung. Das vorlaufige Ergebnis 
lautete: Die Versorgung asozialer Personen ist vora Standpunkte des Fiirsorgers 
anzugreifen, die gesetzliche Regelung komnit zunaehst nur fiir einen begrenzten 
Kreis Asozialer in Betracht, die erste Aufgabe bildet zweckmfiBige Kostenregelung. 

Fiir jeden Arzt, der sich mit Psychopathenfiirsorge beschaftigt, diiifte die 
kleine Schrift, die auBerdem ein Doppelreferat von Frau Abg. Neuhaus- Dortmund 
und Dr. Qaarc/fc-Frankfurt iiber die Bedeutung des Gesetzes zur Bekampfung der 
Geschlechtskrankheiten fiir die Versorgung asozialer Personen enthalt, von ganz 
besonderem Interesse sein, zumal sie lehrt. welche Fiille von Vorarbeit von der 
sozialen Psychiatrie noch zu leisteu ist, damit geniigend klare Richtlinien den 
inannigfachen Reformbestrebungen vorgezeichnet werden konnen. Jiaeckc. 

Hans Prinzhorn, Bildnerei des Geisleskranken. Ein Beitrag zur Psychologic 
und Psyohopathologie der Gestaltung. Berlin, Julius Springer. 1922. 

Ein interessantes Werk mit seinen 187, zum Teil farbigen Abbildungen im 
Text und auf 20 Tafeln, vorwiegend aus der Bildersammlung der Psychiatrischen 
Klinik Heidelberg, das als Beitrag zu einer kiinftigen Psychologic der Gestaltung 
ein Grenzgebiet lebendig darstellen soil. 

Nach einer Einleitung, in der die Ziele der Untersuchung, das Grenzgebiet 
zwischen Psyohopathologie und Kunst, der Gestaltungstrieb besprochen werden, 
folgt ein theoretischerTeil, in dem diepsychologischenGrundlagenderbildnerischen 
Gestaltung erortert werden. Den breitesten Raum nehmen dann die Bildwerke 
und die Leljensliiufe der sehizophrenen Bildner ein. 

Die Zusammenfassung der Einzel betracht ungen an den Bildwerken befalit 
sich mit den Merkmalen der Kritzeleien, der einfachsten Zeiehnungen und der 
komplizierten Bildwerke, sowie mit dem seelischen Wurzelbereieh des Ausdrucks- 
bedurfnisses. Die Heranziehung der Vergleichsgebiete, der Kinderzeichnungen. 
der Bildwerke Primitiver und iilterer Kulturen usw. stellt die ganze Untersuchung 
auf breitere Basis. Der Eigenart schizophrener Gestaltung werden besondere Ab- 
schnitte gewidmet. Aus der Zusammenfassung sci hervorgehoben: ,ungeiibte 
Geisteskranke, besonders Schizophrene, schaffen nicht selten Bildwerke, die weit 
in den Bereich ernster Kunst ragen und im einzelnen oft iiberraschende Almlich- 
keiten zeigen mit Bildwerken der Kinder, der Primitiven und vieler Kulturzeiten. 
Die engste Verwandtschaft aber besteht zu der Kunst unserer Zeit und beruht 
darauf, daB sie in ihrem Drange nach Intuition und Inspiration seelische Ein- 
stellungen bewuBt erstrebt und hervorzurufen sucht, die zwangslfiufig in der 
Schizophrenic auftreten.“ 

Die ganze Ausstattung, Druck und Wiedergabe der Zeiehnungen sind hervor- 
ragend. 

S’. 


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Verehrter und lieber Herr Kollege! 

An dem Tage, an dem Sie das sechzigste Lebensjahr voll- 
enden, bringen mit der groBen Zahl Ihrer Freunde und Schuler 
auch wir Ihnen unsere herzlichsten Gliickwunsche dar und 
sprechen die Hoffnung aus, daB dieses Archiv, mit dem Sie 
als Sohn eines seiner Begriinder besonders eng verbunden sind, 
sich noch lange Zeit Ihrer wertvollen und tatkraftigen Mit- 
arbeit erfreuen moge. 

Der Herausgeber und die Mitarbeiter 
des Archivs fiir Psychiatrie und Nervenkrankheiten. 


/ 


Archiv fflr Psychiatric. Bd. »JH. 


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Hochverehrter Herr Geheirarat! 

Zu Ihrem sechzigsten Geburtstage sprechen Ibre Freunde, Mit- 
arbeiter und Schuler Ihuen die herzlichsten Gliickwiinsche aus und 
iiberreichen Ihnen als sichtbares Zeichen ihrer freundschaftlichen Ge- 
sinnung und Dankbarkeit diese Festschrift. 

Mit berechtigtem Stolz konnen Sie an diesem Tage auf die Vergan- 
genheit zuriickblicken. Die Forscherarbeit, die Sie in vier Jahrzehnten 
geleistet haben, hat im In- und Auslande voile Anerkennung gefunden. 
Ihre Pupillenuntersuchungen bei der Hysteric, der Dementia praecox 
und der Encephalitis haben weitgehende praktische Bedeutung erlangt. 
Auf jahrelang beobachtete und anatomisch sorgfaltig untersuchte 
Falle gestiitzt, haben Sie die schwierige Frage der Differentialdiagnose 
zwischen der progressiven Paralyse und Gehirnsyphilis erneut zur Dis- 
kussion gestellt. Dem Aphasieproblem und der Pathologie des Gedacht- 
nisses haben Sie mehrere umfangreiche Studien gewidmet. Ihre ana- 
tomischen Untersuchungen, denen Sie viel Zeit und Geduld geopfert 
haben, brachten unter anderem nahere Aufklarung iiber die bis dahin 
fast unbekannten Zelleinschliisse bei der Myoclonusepilepsie. Sie er- 
weiterten ferner die Kenntnis der amaurotischen Idiotie und der Pseudo- 
sklerose. 

Der extrapyrainidale Symptomenkomplex war es in den letzten 
Jahren, dessen Bedeutung fiir die Psychopathologie Sie friihzeitig er- 
kannten und dessen Aufklarung Sie durch mehrere klinische und ana- 
tomische Arbeiten erfolgreich forderten. 

Wahrend Ihrer nun fast zwanzigjahrigen Tatigkeit in Bonn haben 
Sie zielbewuBt dahin gewirkt, daB die Forschungsmbglichkeiten den 
neuzeitlichen Bcdiirfnissen entsprechend ausgestaltet wurden. 190o 
wurde das AnatomischeLaboratorium in derProv.-Heilanstalt eingerich- 
tet. Im Oktober 1908 konnte die nach Ihren Planen gebaute Universi- 
tatsnervenklinik eroffnet werden. Im Jahre 1919 wurde das Institut 
fiir Klinische Psychologie und Berufsberatung den vorhandenen psychia- 
trischen Einrichtungen durch die Provinzialverwaltung angegliedert, 
und gegenwiirtig sind ein Institut fiir Experimented Pathopsychologie 
und eine Abteilung fiir Kriminalpsychologie im Entstehen begriffen. 


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in denen unter anderen auch Erblichkeitsprobleme und sexualpatholo- 
gische Fragen studiert werden. Damit sind Forschung und Lehrtatig- 
keit auf eine breite Basis gestellt. 

Dali in alien Teilen dieses groBen Betriebes freudig und erfolgreich 
gearbeitet wird, und daB die Grenzgebiete unseres Faches in Spezial- 
vorlesungen so vollstandig vorgetragen werden konnen, wie das geschieht, 
das verdanken wir Ihnen. 

Ihre Mitarbeiter und Schuler danken Ihnen aber nicht allein fur 
die u'issenschnfiliche Forderung, sondern ebensosehr fiir das groBe 
personliche Wohlwollen und Entgegenkommen, das Sie ihnen immer 
bewiesen haben. In dienstlichen wie in Privatangelegenheiten waren Sie 
stets bereit, zu raten und zu helfen, und haben sieh dadurch viel Ver- 
ehrung und Anerkennung bei Kollegen, Schiilern und Ihren Kranken 
erworben. 

So schon die zehn Friedensjahre w'aren, die Sie am Rhein verleben 
durften, so ernste Anforderungen stellte die Kriegs- und Revolutions- 
zeit und mehr noch die Zeit nach dem Kriege an Sie. Und jetzt bringt 
jeder neue Tage neue Sorgen. Moge es Ihnen beschieden sein, trotz 
aller Schwierigkeiten wissenschaftlich ebenso erfolgreich wie bisher 
weiterzuarbeiten, und moge auch der Ausbau der Ihnen unterstellten 
Institute rasch zum AbschluB kommen, damit Sie sich des Geschaffenen 
noch recht lange freuen konnen. 

Hiibncr. 


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(Aus tier Psychiatrischen unci Nervenklinik tier Universit&t Kiel 
[Geh. Rat Siemerling ].) 

Bronzekrankheit nnd sklerosierentle Encephalomyelitis. 

(Diffuse Sklerose.) 

Von 

E. 8101110111111? und II. G. Crcutzfeldt. 

Mit 10 Textabbildungen. 

(Eingegangen am 28. Dezembe.r 1922.) 

Die bei der Addisonschen Krankhcit auftretenden Krankheitsvor- 
giinge sind nach der herrschenden Auffassung auf eine krankhafte 
Modifizierung resp. auf eine Aufhebung der fur das norrnale Verhalten 
des Organisnius notwendigen Funktionen des chromaffinen Systems, 
in erster Linie der Nebennieren und der mit diesen eng verbundenen 
Nervenbezirke zuriickzufiihren. Die anatomischen Untersuchungen 
richteten sich ganz wesentlich auf den Sympathicus und seine Bauch- 
geflechte, besonders tlas Ganglion semilunare. Es ist begreiflich, da II 
bei der Bronzekrankheit die fortschreitende Pigmentierung der Haut 
als hervorragendes Symptom das Hauptinteresse auf sich lenkte. In 
dem bekannten Werk von L. R. Muller iiber das vegetative Nerven- 
system weist Zierl (S. 257) auf die Abhangigkeit der Pigmentation der 
Haut von nervosen Einfliissen hin und fiihrt des weiteren aus, wie das 
Nebennierenmark, wie alles chromaffine Gewebe, dem Sympathicus 
sehr nahe steht. und da(3 die Funktion des Nebennierenmarks, die 
Produktion des Adrenalins, unter dem Einfluli zahlreicher sympathischer 
Ganglienzellen steht. Alexander beschaftigt sich in seinem Referat iiber 
die Nebennieren und ihre Beziehungen zum Nervensystem mit dieser 
Frage. Die in dem Sympathicus und in den Ganglien beschriebenen 
Veranderungen werden einer Kritik unterworfen und in Anlehnung an 
v. Kahlden darauf hingewiesen, dal] die Anzahl der Fiille, in denen 
eine Affektion der Ganglien (Ganglion semilunare, coeliacum) nach- 
gewiesen wurde, eine verhaltnismalJig geringe ist, und dab die An- 
gaben iiber das histologische Verhalten meist iiberaus ungenau und un- 
bestimmt sind. In dieser ganzen Frage werden erst weitere Unter¬ 
suchungen mit Anwendung der modernen Methoden der Histopathologic 
Kliirung bringen konnen. 

Archiv fiir Ps>xhiatric. Bil. OS. J5 



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218 


E. Siemorling imd H. G. Creutzfeldt: Bronzekrankheit 


Uber Veranderungen des Zentralnervensystems bei der Bronze- 
krankheit ist .sehr wenig bekannt. Heimeberg erwahnt bei dor Atiologie 
der Myelitis im Abschnitt ,,die Myelitis 4 ' im Handbuch der Neurologic 
die von v. Kahlden erhobenen Befunde in Gestalt von myelitisehen 
Herden. Sie stehen aber mit deni Addisonschen Symptomenkomplex 
in keiner naheren Beziehung, sondern sind in Abhangigkeit von der zu- 
grunde liegenden Tuberkulose bzw. der dnreh diese bedingten Kaehexie 
zu denken. 

In seiner Arbeit iiber atypische Gliareaktionen wirft Jakob die Fra ye 
auf. ob sieh aus den atypischen gliosen Einzelsymptomen Schliisse auf 
die Pathogenese des betreffenden Prozesses ziehen lassen. Die Frage ist 
dahin zu beantworten, daB man aus gliosen Einzelerscheinungen die 
Genese eines Gehirnprozesses nicht mit Sicherheit ableiten konne. 

Die atypischen Gliareaktionen im Sinne der groBen Gliazellen 
(Alzheimer) konnen uns kein Hinweis sein auf etwa vorliegende oder 
mitspielende Entwicklungsstbrungen oder blastomatose Prozesse. Sie 
sind offenbar der Ausdruck eigenartiger. wohl sturmisch verlaufender 
pro- und regressiver Veranderungen, die sich besonders haufig in Ver- 
bindung mit schweren Parenchymstorungen rein toxischer Art ent- 
wickeln. Er teilt dann die Untersuchung eines Falles von Addisonseher 
Krankheit sine pigmentatione mit. 

2+jahrige Patientin, die am 12.XIT. 1919 in einem heftigen Yer- 
wirrtheits- und Erregungszustand aufgenommen wurde. In den Ent- 
wicklungsjahren traten zeitweilig Krampfe (wahrscheinlich hysterisehe) 
auf. In den letzten Jahren bestanden Klagen iiber allgemeine Mattig- 
keit, Gliederschmerzen, Storungen, die auf Blutarmut zuriickgefuhrt 
'wurden. Viel Kopfsehmerzen. In einem Erholungsheim erkrankte sie 
plotzlieh sch\ver. behauptete niehts mehr sehen zu konnen. In den 
letzten Tagen Fieber. das auf eine Angina zuriickgefuhrt wurde. 2 Tage 
vor der Gberfiihrung naeh Fricdrichsberg wurde sie besonders auf- 
geregt und leicht benommen. klagte iiber Kopfdruck. Es traten Er- 
regungs- und Verwirrtheitszustande auf. Bei ihrer Aufnahme ist sie 
sehr erregt. widerstrebend. Temp. 36,3. Puls 88, sehr weich. Unruhe 
mit Schlaflosigkeit. Pupillen sind gleich weit, gute Reaktion. Keine 
Anzeiehen einer korperliehen Erkrankung. Unruhe halt an, verweigert 
Nahrung. Plotzlicher Kollaps, in dem der Tod erfolgt. 

Anatomisch findet sich bei einer restlosen doppelseitigen tuber- 
kuldsen Verkasung der Nebennieren eine ausgesprochene Hirnschwel- 
lung. die histologisch neben einem deutlieh nachweisbaren Rindenodem 
durch allgemeine protojilasmatische Gliawueherungen auffallt. Da- 
neben zeigen sich Verodungsherde in dcr Rinde, kleine Rindenherde mit 
atypischer protoplasmatischer Gliawucherung und vereinzelt in die 
Rinde eingestreut groBe, atypische, protoplasmareiche Gliazellen von 


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und sklerosierende Encephalomyelitis. 


219 


ganz bizarrer und ungewohnlicher Form. Die Abbauprodukte sind im 
ganzen Zentralnervensystem vermehrt. Der sympathische Grenz- 
strang zeigt eine lipoide Entartung der Ganglien. 

Der maskrokopisehe Befund der Hirnschwellung und die mikro- 
skopisch erhobenen Veranderungen im Zentralnervensystem gaben eine 
hinreichende Erklarung fiir das schwere klinische Krankheitsbild. Der 
eerebrale Zustand der Kranken, der in akuter Progression den Tod 
herbeifiihrte und rein klinisch sehr an Pseudotumor erinnerte, kann im 
Sinne der Addisonschen Krankheit gedeutet werden. 

Die gefundenen Veranderungen im Zentralnervensystem werden als 
durch den schweren KrankheitsprozeB des Morbus Addisonii bedingt 
aufgefaBt. 

Ob diese Anschauung zu Recht besteht, erscheint zweifelhaft. 

Eigenc Beobachtung. 

K. M., 7 Jahre, Backermeisterssohn. 

Aufgenommen am 11. VI. 1920, gestorben am 14. VI. 1920. 

7 jdhriger Knabe, fruiter gesund, sett 3—4 Jahren Bronzefdrbung, bc- 
ginnend an Gesicht und Hdnden, auf den ubrigen Kor-per fortschreitend. 
Ende 1919 Zusttindc von Unruhe, Verschlechterung der Sprache und des 
Ganges. Starke Abmagerung. Zunehmcnde Verschlechterung: Steifigkeit 
der Beine mil Schwdche, scit April 1920 Gang unmoglich. Sprach- und 
Schluckstorung. Spastische Ldhmung auch der oberen Extrcmitaten. 

Status: Starke Bronzefdrbung des ganzen Korpers. Schleimhdute frei. 
Hochgradige Abmagerung. Tetanische Starre des ganzen Korpers. Chvostek 
beiderseits positiv. Sprache unverstdndlich. Starke Schluckstorung 
Spastische Parese der u. E. mil Steigerung der Kniephanomene, Ba- 
binski, Oppenheim. Stehen und Gehen unmoglich. Einmal Krampfanfall 
epileptischer Natur. Tod unter Erschopfung. 

Anatomisch: Atrophie der Nebennieren, sklerosierende Encephalo¬ 
myelitis. 

Der Vater, der mit der Frau in Ehescheidung wegen ehelicher Un- 
treue der Frau liegt, berichtet, daB K. der mittelste von 3 Kindern sei. 
eine lojahrige und 4jahrige Tochter sind gesund. Der Vater beschuldigt 
die Frau, daB sie die Kinder (er selbst war lange im Felde) vernach- 
lassigt habe. Von Tuberkulose in der Familie des Vaters oder der 
Mutter ist nichts bekannt. Der Knabe ist anfangs gesund gewesen, hat 
mit eineru Jahr laufen und sprechen gelernt, hat sich gut entwickelt. 
Seit 3—4 Jahren ist er zuerst im Gesicht, dann an den Handen ,,braun" 
geworden, die Braunfiirbung trat dann auch an den FiiBen und deni 
ubrigen Korper auf. Die Farbung nahm langsam zu. Unbekleidet in 
der Sonne habe er nie gelegen. Einmal vor Jahren hatte er Mandel- 
entzundung. Weihnachten 1919 wurde er verandert: er wurde ,,wild", 

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220 


E. Siemerling und H. G. Creutzfeldt: Bronzokrankheit 


d. h. es trat eine Unruhe ein, er blieb nicht ruhig sitzen. lief viel umber. 
Zuckungen, Anfalle sind nicht beobachtet. Kein Erbrechen. Die 
Sprache wurde schlechter. Zu seinen Bediirfnissen meldete er sich. 
selten verunreinigte er sich mit Urin. Der Schlaf war gut. Der Gang 
verschleehterte sich langsam. Die Beine wurden steif, lahm und seit 
April 1920 konnte er nicht mehr gehen. Fieber nicht. Die Sprache ist 
immer undeutlieher geworden, nur einzelne Worte, wie ,,Papa il , ..Mama", 
..ja“, ,,nein" konnte] er noch sagen. Das Schlucken ging sehr langsam. 
verschluckte sich leicht. 

Herr Dr. Ohl in Tarstedl beric-htete in einem Attest void 9. VI. 1920. 
< 1 a 13 der Knabe seit Februar 1920 an spastischen Lahmungen litte. an den 
unteren Extremitaten beginnend, die sich dann auch auf die anderen 
Korperteile fortpflanzte. 

In den letzten Woehen haben die Krafte infolge der mangelhaften 
Nahrungsaufnahme sehr abgenommen. 

Aufnahine am 11. VI. 1920. 

Status: Die ganze Haut des Korpers auch im Gesicht ist auIJer- 
ordentlich stark braun gefarbt. Die dunkle Farbung im Gesicht kon- 
trastiert auffallend mit dem Weill der Augapfel, das Aussehen hat direkt 
etwas Negerhaftes. Die Farbung ist gleichmaIJig dunkelbraun, nur die 
Gegend der Leistenbeuge, die Fulisohlen und die Handteller sind etwas 
heller, aber auch noch braun gefarbt. Im Nacken. in der Achselhohle. 
in den Leistenbeugen sind bohnengrolic, harte Lymphdriisen ftihlbar 
Sehr diirftiger Ernahrungszustand. Rippenbogen stark hervortretend 

Der Kleine hat eine GroBe von 1,08 m. Gewicht 17 kg. Die Tem- 
peratur 37.1. Er liegt mit zuruckgebogenem Kopf in steifer Haltung, 
die Knie sind angezogen. die FiilJe in SpitzfuBstellung. Zuweilen be- 
wegt er den Kopf, als wollte er sich aufrichten. bringt aber den Kopf 
nicht von der Unterlage ah. Mit den Armen macht er dauernd leicht 
ausfahrende Bewegungen. Aufgetragene Bewegungen werden nicht 
ausgefiihrt. nur die Zunge zeigt er. nachdem ihm die Bewegung vor- 
gemacht ist. Bei lauten Gerauschen wendet er sich nach der Seite des 
Schalls hin. Die Sprache ist vollkommen unverstandlieh. es werden 
nur einige unartikulierte Eaute herausgebracht. Das Schlucken geht 
sehr langsam vor sich. nur fliissige Nahrung. 

Die gesamte Muskulatur befindet sich in einem Spannungszustand. 
Der Kopf ist schwer beweglich, keine Schmerzen dabei. 

Der Schadel ist nicht klopfempfindlich. Schadelmasse: liings 16,5, 
tpier 14.5: Umfang 53 cm. Die Pupillen sind gleich. mittelweit. rund, 
Lichtreaktion erhalten. Konvergenzreaktion nicht zu priifen. Augen- 
bewegungeu frei. Der Augenhintergrund zeigt keine Veranderungen 
(Prof. Oloff). Corneal- und Conjunctivalreflex schwach. Die Lid- 
s]>alten gleiehweit. t v ber der rechten Augenbraue eine 4 cm lange Narbe 


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imd sklerosierende Encephalomyelitis. 


221 


(in friihester Kindheit zugezogen). Trigeminus nicht druckempfindlich. 
Linker Facialis ist etwas starker innerviert als der rechte. Gesichts- 
ausdruck starr. nur selten eine leicht zuckende Bewegung in der Mund- 
muskulatur. Chvostek deutlich beiderseits positiv. Lidschlag sehr 
verlangsamt. Boim Stirnrunzeln bleibt die rechte Halfte zuriick. Die 
Zunge weicht eine Spur nach links ab, ist stark belegt. In den o. E. 
starke Spasmen, die Finger werden in Beugestellung gehalten. 

Starke Spannung der Rumpfmuskulatur. Aufrichten sehr sehwierig. 
Der Leib ist stark gespannt. Abdominalreflex nur spurweise. An den 
u. E. sehr starke Spasmen. Kniephanomene sehr gesteigert. Patellar- 
klonus. Achillessehnenreflex beiderseits stark gesteigert, FuBklonus, 
rechts mchr als links. Babmski beiderseits deutlich. Oppenheim positiv. 
Die aktiven Bewegungen in den Beinen sind goring. Beim Beugen des 
Oberschenkels SchmerzauBerung. Wirbelsaule nicht klopfempfindlich. 
Die Nervenstamme nicht druckempfindlich. Keine Vcrmehrung der 
Muskelspannung. Kein Trousseau. Die Spannung in der Muskulatur 
bleibt von gleicher Ausdehnung. Brust- und Bauchorgane ohne Be- 
sonderheiten. Puls 86. regelmaBig. Die Atmung ist nicht beschleunigt. 
Herzgrenzen nicht verbreitert. Stehen und Gehen unmoglich. Die Beine 
bleiben steif, auch mit starker Unterstiitzung werden die Beine nicht 
vom Boden gebracht. Im Urin kein EiweiB, kein Zucker. 

In der Nacht vom 12. VI. tritt ein kurzer Krampf auf mit lautem 
Aufschreien, schmerzhaftem Verziehen des Gesichts. Die Pupillen sind 
dabei erweitert, reagieren. Die Bulbi sind nach oben gerollt. Vor dent 
Munde blutiger Schaum. Nachher liegt er ruhig mit angezogenen 
Beinen. Temperatur 37 und 37.2. 

13. VI. Sehr geringe Nahrungsaufnahme. Erbrechen. Nahrklistiere. 
Temp. 36,8 und 37,6. 

Puls klein. unregelmaBig, 110. Benommenheit. Unter zunehmen- 
der Benommenheit tritt am 14. VI. der exitus ein. 

Die von Hcrrn Prof. Berblinger ausgcfuhrtc Sektion ergibt folgenden 
Befund: 

Kleine magere Knabenleiche. Haut bronzefarben, Sehleimhaut der 
Lippen braun. Bauchhbhle trocken. Bauchfell glatt, glanzend. grau. 
Netz ausgebreitet, fettarm. Wurmfortsatz in das kleine Beckon herab- 
hangend. Pleurahohlen trocken. Lungen mit sparliehen. strang- 
formigen Verwachsungen zwischen den Lappen links. Herzbeutol ent- 
halt wenig klare Fliissigkeit. Epikard glanzend. Herz von mittlerer 
GroBe. Myokard dick, graurot. In den Hohlen, die rechts weit sind 
fliissiges Blut, Cruor und Speckhautgerinnsel. Klappen und Endokard 
zart. Foramen ovale geschlossen. Kranzarterien glatt. ebenso die In- 
tima der Aorta. Lungenoberflache glatt, spiegelnd blaurot. Lungen 
ubcrall lufthaltig, trocken dunkelgraurot. Tonsillen klein. Schlund und 


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E. Siemerling und H. G. Creutzfeldt: Bronzekrankheit 


Rachen zeigen cine glatto Schleimhaut von gratiroter Farbe. Oesophagus- 
mucosa gran. Luftwegc haben cine blasse Schleimhaut. Schilddriise 
3 zu 1,5 cm messend, beiderseits derb graurot. Thymus 30 g schwer, 
weich, blaBgelblichrot. Bronchiale Lymphdriisen klein, derb, graurot. 
Milz 6 zu 2,5 zu 9 cm messend. Oberflache glatt, Gewebe derb. braun- 
rot, Follikel klein. 

Nebennieren klein, Cewicht je 1.8 g betragend. Makroskopisch Rinde 
und Mark voneinander zu unterseheiden. 

Nieren von mittlerer GroBe. Kapsel leicht abzuziehen. Oberflache 
glatt, braunlich-rot, ebenso die Schnittflache. Zeichnung wenig deut- 
lich. Gewebe derb. Schleimhaut des Nierenbeckens hlaB, von gewohn- 
licher Weite, ebenso verhalten sich die Ureteren. Harnblase enthiilt 
wenig Urin, Mucosa blaB. Rectum leer. Schleimhaut etwas venos- 
hyperamiseh. Magen wenig Inhalt aufweisend, Mucosa blaB und glatt, 
im Fundus einige Blutaustritte. Gallenwege (lurehgiingig. In der 
Gallenblase nur wenig dunnfliissige Galle. Pankreas 14 zu 3 zu 1 cm 
messend. derb, blaBgraurot. Leber von mittlerer GroBe. braunrot, derb. 
Diinndarm enthiilt wenig galligen Ohymus, Schleimhaut zum Teil blaB. 
zum Teil gerotet. zum Teil gallig inhibiert. Solitarfollikel und Peyersehe 
Plaques geselnvollen. Dickdarmfollikel klein, mesenteriale und retro- 
peritoneale Lymphdriisen klein. hart. Meningen des Riickenmarks 
durchsclieinend und nicht verdickt. Auf Querschnitten sieht man in den 
Pyramidenvorder- und -seitenstrangen graue Flecken. 

Anatomische Diagnose: E.rtrem starke Melaninpigmentation der Haul 
ude der sichtbaren Schleimhdute. Atrophie der Nebennieren. Strain/- 
form ige Degeneration im Riickenmark. 

Die mikroskopische Untersuehung der Haul ergibt reichliche Pig- 
mentansammlung in den Basalzellen der Cutis. Die Hypophysis weist 
keine Veranderungen auf. 

An den Nebennieren ist eine Hypoplasie von Rinde und Mark vor- 
handen. 

Die Hirnsektion (Dr. Creutzfeldt) weist folgenden Befund auf: 

Gehirn im Ganzen in Formalin eingelegt. 

Nach der Formalinhartung sieht man folgendes: Auf Frontal- 
sehnitten (lurch die Hemispharen sind in der Hohe der Bulbi olfaetorii 
keine Veranderungen des Marks oder der Rinde. Erst 2 cm dahinter. 
etwa entsprechend dem Kopf des Schwanzkernes. ist das Heniispharen- 
mark in der Mitte sehr weich und macht den Eindruck, als sei es sehwam- 
mig grobfaserig zerfallen. Besonders die linke Hemisphare und der 
Balken sind erkrankt. wahrend in dem Centrum semiovale nur eine 
geringe keilartige mit der Basis nach der Seite geriehtete Erweichung 
besteht. Die groBte Ausdehnung des Herdes sieht man im hinteren 
Stirnlappen und im Sehlnfenlappen. Wahrend er sich vorn mehr nach 


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und sklerosierende Encephalomyelitis. 


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oben gegen die erste Stirnwindung ausdehnt, erstrcckt er sich nach 
hinten mehr auf die Markmitte und besonders die auHere Seitenven- 
trikehvand. Der Balken scheint in seiner ganzen Ausdehnung, links 
writer. erkrankt zu sein als rechts. Die innere Kapsel weist einige rbt- 
lich-graue Herde auf. Die Abgrenzung gegen das Gesunde ist an den 
Bogenfasern durchschnittlieh seharf. im iibrigen nieht ganz deutlieh. 
Und zwar er- 
seheint das Ge- 
webe hier etwas 
kompakter aLs der 
Herd, aber doch 
weich, gelblieh- 
grau. Im Hirn- 
stamm ist die ge- 
samte Briicken- 
faserung rotlieh- 
grauglasig ver- 
farbt unter Ver- 
waschung der 
normalen Struk- 
tur. Im Bereiehc 
des hinteren 
Corp. quadr. be- 
ginnt diese quer 
(lurch die Briieke 
reichende Veriin- 
derung sich zu ver- 
kleinern. Estreten 
an den Kleinhirn- 
schenkelnund bei- 

derseits neben der Abb. 1. Linke GroChimhalfte (Weigert-Markscheiden). 
Raphe isolierte, 

den Pyramidenbahnen entsprechende Herde hervor. In der Medulla 
oblongata und ini Bulbus ist der Bezirk der Pyramiden grau verfarbt, 
teilweise etwas blutreicher. In den Klcinhirn-Hemispharen. rechts 
starker .als links, erseheint das gesamte Mark schwammig erweicht und 
gelblichgrau gefiirbt. Der Nucl. dent, ist rechts nieht niehr erkennbar, 
links ist er noch deutlieh abgcsetzt. Auch zeigt das ihn umgebende Mark 
nieht den kriimelig-faserigen Zerfall wie das an den Windungen liegende. 


M ikroskopische Unter such ung. 

Frontalschnitte aus deni Frontallappen, aus der Hbhe der Para- 
zentralwindung und aus deni Hinterlappcn werden zur Gewinnung von 


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224 


E. Siemerling und H. G. Creutzfeldt: Bronzckr&nkheit 


Cbersichtspraparaten nach Weigert-Pahl eingelegt und gcfarbt. Ebenso 
behandelt werden Stiicke aus deni Hirnstamm, Horizontal- und Sagittal- 
schnitte aus dem Kleinhirn und Querschnitte des Riickenmarks. AuBer- 
dera vvird nach Nissl , Bielschowsky, Weigert (Elastica und Glia), Mallory 
(Dreifarbcngemisch), Alzheimer-Mann, Spielmeyer (Markscheiden), Herx- 
heimer und Jahnel gefarht. Dazu kommen die Mikroreaktionen auf 
Eisen und Kalk. Cbersiehtsbilder der linken Hemisphere nach Weigert 

zeigen in dem hin- 
teren Drittel des 
Stirnhirns cine zen- 
trale Aufhellung des 
Marks, die besonders 
im Bereiche des Bal- 
kenknies deutlicher 
hervortritt. Diese 
Aufhellung scheint 
von einer in der 

Mitte des Marks lie- 
genden, etwa man- 
delformigen, beson¬ 
ders niarkscheiden- 
armen Stelle nach 
der Mitte zu facher- 
formigauszustrahlen. 
Auf dem Schnitte 

weiter hinten, in der 
Hbhc des Parazen- 

trallappchens, sieht 
man mit hloBem 

Abb. 2. RechteKleinhirnhfilfte (Weigert-Markscheiden). tintn sfhi aus 

gedehnten Ausfall 

des Hemispharenmarks. Es ist groBenteils ungefarbt, auch die Bal- 
ken und fleckweise die innere Kapsel zeigen keine Markscheiden- 
farbung. Dieser marklose Bezirk setzt sich am Sei ten vent rikel ent- 
lang bis weiter ins Unterhorn reichend fort und hildet ein Trapez. 
tlessen Grundflache nach auBen oben gerichtet ist, und von dessen 
Seiten aus sich Strahlen in das Mark erstrecken. Am deutlichsten 
sind Zacken nach oben, wahrend nach unten zu mehr eine ein- 
fache Aufhellung. wie die Abhildung zeigt. besteht (Abb. 1). Isolierte 
kleine Herde finden sich auBerdem im Gyr. lingualis, im Mark der 
Calcarinagegend und in der Capsula interna. Auf Nisslbildem erkennt 
man einen groBen Herd, tier beide Hirnstiele inne hat, sich in die 
innere Kapsel hinein ausdehnt und die Substantia nigra umschlieBt. Er 




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und sklerosierende Encephalomyelitis. 


225 


laBt sich, wie aus den von der Briicke hergestellten Serienschnitten 
hervorgeht, distalwarts weiter verfolgen. In der Briicke sieht man in 
der Hohe der Augenmuskelkerne ein breites niarkloses Band die 
gesamte Briickenfaserung, einschlieBlich der Pyramiden, einnehmen, 
nur die basalsten Teile des Stratum 

__ j i 

profundum scheinen verschont zu sein 
(Abb. 3). Dorsal ist in geringer Aus- 
dehnung die mediale Schleife aufgehellt. 

Nach hinten zti sieht man, wie die volligc 
Entmarkung, rechts starker als links, auf 
das Kleinhirn iibergreift. Im Anfangsteile 
des T.Ventrikels sind zwei etwa den Pyra- 
midenbahnen entsprechende Bezirke und 
die Kleinhirnbriickenarme marklos. Wei¬ 
ter distal findet sich ein auf die Pyra- 
midenbahn beschrankter, markloser Be- 
zirk, der sich auch nach der Pyramiden- 
kreuzung nur an diese Bahnen halt 
(Abb. 3). Wahrend in der rechten Klein- 
hirnhemisphare (Abb. 2) fast das gauze 
Mark, mit Ausnahme einiger mehr oder 
weniger stark aufgehellten Windungs- 
strahlen, verloren gegangen zu sein 
scheint, sieht man links noch um den 
gezahnten Kern herum ein, wenn auch 
stark aufgehelltes, so doch noch deutlich 
gefarbtes MarkvlieB. Die mikroskopisehe 
Untersuchung lalJt in den oben beschrie- 
l>enen Bezirken fast ii be rail noch einzelne 
zumTeil sehr zarte, zumTeil aber miiehtig 
aufgetriebene oder rosenkranzartige Mark- 
scheiden und geschwiirzte Klumpen er- 
kennen. Im GroBhirn sowohl aLs auch 
im Kleinhirn und in den Teilen der 
Briicke. wo der diffuse Herd sich fin¬ 
det, ist von einer scharfen Abgrenzung 
nicht immer zu reden. Ebensowenig fin¬ 
det sich ein Beschranktbleiben auf bestimmte Bahnen (Abb. 3). Man 
sieht vielmehr nicht selten gauze Faserziige wie die Borsten eines 
Besens amHerde abbrechen und andere an derHerdgrenze allmahlich sich 
lockern und aufhellen. Ebenso unvermittelt treten kompakte markhaltigc 
Fleckenin den groBen Herden auf. Im Riickenmarke besteht eine starke 
Aufhellung in den Pyramidenseiten- und Vorderstrangen. im Halsmark 



Abb. 3. Herd in der Briicke und 
seine Ausbreitung in Kleinhrrn- 
briickenarmen und Pyramiden, 
unten sekundare Degeneration 
der Pyramidenseiten- und -vor- 
derstrfinge im Brustmark. 


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E. Siemerling und H. G. Creutzfeldt: Bronzekrankheit 


ist sie am starksten, im Lendenmark am schwachsten. Die Aufhellung 
ist strong an die Pvramidenbahn gebunden. Andere Horde kommen 
nicht vor (Abb. 3). 

Die feinere histologische Untersuchung der in ihren Hauptziigen 
iibereinstimmenden Horde ergibt zunachst an Markscheidenpraparaten 
ein fast volliges Zugrundegehen der Markscheiden. Nur sehr sparliche, 
moist gequollene und ungleichmaBig geschwarzte Markscheiden lassen 
sich nachweisen, nach dem Rande zu sind sie reichlicher, aber weit aus- 



Abb. 4. (Capsula interna.) Herd in der inneren Kapsel. Thionin, Planar 35, 
Plattenabst. 34 cm. Zell vermeil rung (Glia) und init Plasmazellen infiltrierte GefaBe. 


einandergedrangt und teilweise aufs schwerste erkrankt. Man sieht 
Quellungen, ballon- und spindelartige Aultreibungen, Vakuolisierung, 
Abblassung, Schlangelung, rosenkranzartige Bildungen, unvermittelte 
Endigungen, wie wenn die Markscheiden abgebrochen seien. Sie sind 
auBerdem auseinandergedrangt durch Kornchenzellen, die mit nach 
Weigert und Spielmeyer schwarzgefarbten Kornehen prall gefiillt sind. 
Audi in den Adventitialscheiden von Pracapillaren und kleineren Venen 
findet man solche Kornchenzellen. Diese den Eisenlack annehmenden 
Abbaustoffe sieht man vorzugsweise am Rande der Horde, wahrend 
die in seiner Mitte liegenden Kornchenzellen ungefarbt bleiben. 

Die AchsenzyUnder sind auf B i'Axrh ou'sky -1 ’riiparat(‘n im ganzen er- 


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und sklerosierende Encephalomyelitis. 


227 


heblich an Zahl vermindert, in der Mitte der Herde auch in Bezirken 
mit reichlichen Kornchenzellen fehlen sie fast vollig. nur hier und da 
sieht man einige zarte, stark geschwarzte, teilweise auch hlassere band- 
artig verbreiterte, kurze oder langere gcschliingelte Axone (Abb. 6). 
Doch ist der Bezirk, in dem sie fehlen, entschieden kleiner als der der 
Entniarkung. Am Herdrande sind mannigfache Veranderungen an den 
Nervenfasern festzustellen, Auftreibungen von spindeliger und dick- 



Abb. 5. Pyramidenbahn in der Medulla oblongata. Thionin, ZeiB-Planar 35. 
Plattenabst. 49 cm. Lebhafte Gliazellvermehrung. GefaBe stark infiltriert mit 

Lymphocyten und Plasmazellen. 


kolbiger Art, Schlangelungen. Fragmentierungen. doch sieht man in 
Randteilen, wo schon zahlreiche Kornchenzellen liegen. die auseinander- 
gedrangten Axone meist nicht erkennbar geschadigt. Regenerations- 
erseheinungen sind nicht mit Sicherheit festzustellen. 

Im Nissl- Bilde zeichnet sich der Herd durch seinen auBerordentlichen 
Zellreichtum und durch die Weitmaschigkeit und starkere Farbbarkeit 
seines retikularen Grundgewebes aus (Abb. 4). Bei starkerer Ver- 
grolierung erblickt man eine starke Vermehrung der gliosen Elemente 
und das Auftreten der mannigfachsten Zellformen. von denen zunachst 
die in dem Maschemverk ruhenden Gitterzellen (Abb. 7) auffallen. so 
dann Monstregliazellen bzw. die Nissl schen gemasteten Gliazellen 


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E. Siemerling und H. G. Creutzfeldt: Bronzekranklieit 

hervortreten und weiterhin pro- und regressive Gliaeleraente in alien 
Formen sich finden. In manchen Herden stellen die GiUerzellen die 
iibenviegende Mehrzahl der glibsen zelligen Elemente dar. Sie sind die 
(lurch die Alkoholbehandlung ihrer Fettladung beraubten Kornchen- 
zellen, haben einen abgerundeten gut begrenzten Zelleib und nur selten 
einige wenige (2—5) kurze starre oder leicht geschlangelte Fortsatze. 
Ihr Cytoplasma ist feinmaschig, la.Bt aber auch hier und da groliere 



Abb. 6. Kleinhirnmark. Bielschowskyimpragnation. ZeiBHomog. limners. Apochr. 
nun, Projektionsokular Nr. 2. Plattenabst. 39 cm. Starker Aehsenzylinderausfall 
in verhaltnismfiBig frischem Zerfallsbezirk. 
axz Achsenzylinder kz Komchenzellen gllc Gliakerne. 

Vakuolen erkennen. Ihr Kern zeigt die verschiedensten Bilder. Stets 
liegt er am Zellrande. Bald sieht man ihn als runde Scheibe mit gutem 
Chromatingeriist und gleiehmafJig gefarbter Membran, meist aber bietet 
er Zeichen deutlicher regressiver Veranderungen \vie Schrumpfung und 
Randhyperchroraatose oder diffuse Dunkelfarbung seines Inhalts oder 
ist ein unregelmaliig gestaltetes, fast leeres Blaschen mit einer ver- 
haltnismaBig derben Membran. Zwei. hier und da mehr Kerne sind 
keine Seltenheit. Das beste Bild der Komchenzellen liefert das Fett- 
jiriiparat. Nach der Anordnung der Fetttropfchen sind hier die voll 
ausgebildeten Komchenzellen, die bei weitem die Mehrzahl darstellen. 


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unci sklerosierende Encephalomyelitis. 


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unterschieden von einzelnen Elementen, bei denen nur eine mehr oder 
weniger breite Randzone scharlachgefarbte Korner enthalt. Der Kern 
dieser unvollstandig infiltrierten Zellen ist oft noch zentral gelagert 
und zeigt vortreffliche Chromatinzeichnung bei gut erhaltener Kugel- 
form. Der Leib dieser Elemente ist nicht so gleichmaBig abgerundet, 
wie der der anderen Kornchenzellen, sondern ahnelt mehr den plasma - 
reichen Faserbildern. Naeh der GroBc sind die Kornchenzellen nicht 



Abb. 7. Pedunculus cerebri. Thionin, Zeill Apochr. .‘5 nun. Proj.-Ok. 4. Platten- 
ab.st. 35 cm. Gliose iStiibchenzellen (s-tz) und Kornchenzellen (kz). 


scharf gegeneinander abzugrenzen, nur so viel moehten wir erwahnen, 
dall es unter ihnen aulierordentlich umfangreiche Einheiten gibt, die 
wie riesenzellenartige Gebilde aussehen. und in denen bis zu 6 Kernen 
gezahlt werden konnten. Die Kornchengrolie liefert keine Anhalts- 
punkte bestimmter Art. Wohl sieht man gro(3e Fetttropfen haufig 
gerade in kleineren, epitheloiden Zellen, die in den fettarmen Zentren 
groBer Herde liegen, vorwiegen. wahrend an den Orten lebhaften Zer- 
falls die feinere Kornelung bis zur staubartig feinen Verteilung be- 
obachtet wird. GroBere Fettkugeln scheinen auch haufiger in der Niihe 
von GefaBen vorzukommen. deren Wandungen selbst in it Fett be- 
laden sind. Doch ist da eine RegelmaBigkeit nicht sicher festzustellen. 


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E. Siemerling und H. G. Creutzfeldt: Bronzekrankheit 


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Ini Alzheimer -3/emn-Praparat werden auBerdem in den Kornehen- 
zellen rotliche, nicht selten eine blaue Masse umschlieBende Kiigelchen 
gefunden, die in der Farbung und Beschaffenheit den zugrunde gehenden 
Myelinscheiden sehr ahneln, so daB man wohl bereehtigt ist, sie als 
Marktriimmer aufzufassen. Das von ihnen manchmal umschlossene 
blaue Kiigelchen ist nicht sicher zu deuten. Um Axonreste diirfte es 
sich schwerlich handeln, weil ja ofters unversehrte Achsenzylinder an den 
Zellen vorbeiziehen. Nicht selten sieht man eine zugrunde gehende. ab- 
geblaBte und fragmentierte Markfaser sich tief in eine Kornchenzelle 
einfurchen. Diese Kornchenzellen in ihren zahlreichen Verschieden- 
heiten bezeichne ich als Abbau- und Abraumelemente. 

Ihnen gegeniiber stellen wir zunachst die Stiitzglia, dcren Haupt- 
vertreter die Monslrezellen bzw. gemasteten Zellen sind. Sic kommen in 
den bekannten Typen vor, haben einen groBen, feinschaumigen Zelleil) 
mit zahlreicheren dickeren und diinneren Fortsatzen, die sich zum Teil 
weit ins Gewebe erstrecken. Auf iVissZ-Bildern sind die Fortsatze nicht 
recht dargestellt, aber in AIzhcimer-Mann -Priiparaten sieht man sie sehr 
schiin und kann deutlich Faserbildung in ihnen erkennen. Gelegentlich 
sieht man Kornchenzellen von ihnen uinspannt, besonders kriiftige 
Fortsatze ziehen an die GefaBe, wo sie mit breiten FiiBen an der Mem- 
brana limitans ansetzen. Je nacli dem Bau des Grundgewebes konnen 
die Zelleiber verschiedene Formen annehmen. So wird bei dessen ein- 
seitiger Liingsrichtung auch eine vorwiegend langgestrcckte Zellform 
gefunden. Einige von ihnen zeigen im Alzheimer-Mann- Praparat eine 
Vakuolisierung, die sich bis in die allerdings teilweise fragmentierten 
Fortsatze ausdehnt. In diesen Elementen haben wir keine Fasern 
finden konnen. Man sieht sie in zahlreichen Cbergangen bis zur fort- 
satzlosen, abgerundeten Kornchenzelle, wie oben beschrieben ist. Die 
groBen, oft vielfach gelappten, fast immer exzentrisch liegenden. meist 
randstiindigen Kerne sind im A T i'.s,></-Bilde hell, zeigen ein mehr oder 
weniger deutliches Chromatingeriist, ein oder zwei, selten mehr, blaue 
oder metachromatische nucleolenartige, der scharf gezeichneten Kern- 
membrane genaherte oder angelagerte Korperchen. Manchmal sieht 
man zwei runde dunkle oder helle, blaschenartige Kerne in ihnen, die 
den Eindruck erwecken. als sei eine (amitotische) Kernteilung vor sich 
gegangen, auch schmale karyoplasmatische Bander verbinden nicht 
allzu selten zwei Kerne. AuBer diesen Kernformen finden sich nur an- 
scheinend besonders in der inneren Kapsel, dem Striatum und den 
Hirnstielen machtige Plasmaleiber von sehr feinkorniger Beschaffen¬ 
heit, in denen zwei bis vier groBere Kernblasen liegen, deren Inhalt ein 
bis vier mit Toluodin tiefblau gefarbte Kugeln von der GroBe kleinerer 
Gliakerne sind, wahrend sie sonst chromatinleer erscheinen. Ferner gibt 
es Zellen. in denen bis zu fiinfzehn kleine Blaschen liegen, deren einige 


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und sklerosierende Encephalomyelitis. 


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wie ausgebildete Kerne aussehen, andere nur eine oder zwei Chromatin* 
kiigelehen enthalten, wieder andere blab nnd leer als Kernchenschatten 
iraponieren. Diese symplasmatischen Gebilde erinnern an Abbildungen 
wie Anton und Wohlwill sie gegeben haben, zeigen aber auch Ahnlich- 
keit mit den von Neubiirger letzthin beschriebenen ,,Riesenzellen“. 
Fast menials aber fehlen die StabchenzelUn (Westphal und andere) die 
dem Faserverlauf des Grundgewebes folgend fischschwarmartig das 
Bild durchziehen (Abb. 7). Ihre Kerne sind birnformig, kolbig, moist 
aber sehr langgestreckt und schlank, haben ein schones Chromatinnetz 
und gut gefarbte Membran, sie liegen in der Mitte oder sehr hiiufig mehr 
nach dem Ende des lang ausgezogenen im A T m7-Bilde blab metachroma- 
tischen, feinkornigen Zelleibs, der nicht selten kurze Auslaufer nach den 
Seiten entsendet. Die Stabchenzellen sind in Anordnung und Form der 
Ausdruck der urspriinglichen nervtisen Struktur des Grundgewebes, wie 
sich besonders iiberzeugend an Praparaten aus dem Balken und den 
Hirnschenkeln erkennen labt. 

Auber diesen Elementen sieht man die gewohnlichen sogenannten 
freien Gliakerne und die einen mehr oder weniger ausgebildeten meta- 
chromatischen Leib besitzenden epitheloiden Gliazellen. Progressive 
Veranderungen scheinen hier vorzuherrschen. Oft liegen kleine Glia- 
elemente den groben Faserbildnern trabantzellenahnlich an. Im Fett- 
priiparat sind feine Fetttrbpfchen ott sternartig unter Freilassung der 
unmittelbaren Kernnahe um den Kern angeordnet. Atypische Glia¬ 
zellen haben wir nicht gefunden, was mit Rucksicht auf A. Jakobs 
belangvolle Mitteilung iiber einen Fall von Addison zu betonen ist. 
Mitosen haben wir ebenfalls nicht gesehen, wohl aber Bilder, die auf 
amitotische Teilung hinwiescn. Eine eigentliche perivasculare Ver- 
mehrung der Glia labt sich nicht feststellen, es handelt sich in den 
Herden mehr um eine machtige allgemeine Gliaproliferation von an- 
scheinend raschem Entwicklungstempo. 

Die Verteilung der verschiedenen Formen ist so. dab man zwar 
iiberall Abbau- und Stiitzelemente findet, dab aber in der Herdmitte 
die Stutzzellen iiberwiegen, wahrend sonst die Abbau- und Abriium- 
zellen das Bild beherrschen. Dieser Anordnung der Zellarten entspricht 
die Starke der Gliafaserentwicklung in den verschiedenen Herden oder 
Herdteilen. Nur sind in vollig vernarbten, von einem dichten, derben 
F’aserfilz erfiillten Bezirken die Gliazellen und -kerne anscheinend in 
der Zahl reduziert. In den kornchenzellenreichen Gebieten sind die 
Fasergespinste zarter und sparlicher als in den spinnenzellreichen Teilen. 
die bei groberen Herden die Mitte des Hordes ausmachen. In den erst- 
erwahnten ist das Bild des Status spongiosus oft sehr schon ausgepragt, 
besonders an der Grenze zum gesunden Gewebe. 

Besonders auffallend sind die Veranderungen an den Gefdfien. Auf 


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232 E. Siemerling und H. G. Creutzfeldt: Rronzekrankheit 

alien Praparaten sieht man zahlreiche Gefalie (Abb. 4 und ;>) deutlich 
hervortreten. Doch ist diese scheinbare GefaBvermehrung mehr einer 
starken Zellvermehrung in den Wandungen der grolieren und kleineren 
Venen, der Pracapillaren und Capillaren zuzuschreiben, wie auch 
andere Untersucher des ofteren betont haben. Die adventitiellen Raume 
zeigen eine starke Infiltration mil Plasma- vnd Lymphzellen (Abb. 9). 
Diese Infiltrate konnen auBerordentlich umfangreich werden, so dad das 



Abb. 8. Pedunculus cerebri. Thionin, Obj. 16. Proj.-Ok. 4. Plattenabst. 75 cm. 
Gefiili. das in seiner oberen Hiilfte Rundzelleninfiltration der Adventitia, in der 
untercn vonviegend adventitielle Kornchenzellen zeigt. I Lumen mit Leuko- und 

Erythrocyten. 

GefaBluinen nur einen kleinen Teil des GefalJdurchmessers einnimmt. 
An Capillaren sitzen die Plasmazellen fast epithelartig den Endothelien 
auf oder sind zwischen Adventitialzellen eingelagert. Sie liegen alter 
auch hier und da in der Niihe von Gefalien anscheinend frei im ekto- 
dermalen Gewebe. Neben diesen Infiltrationszellen finden sich plasma- 
reir/ie epitheloide Elemente (Makrophagen) mit gut gefarbtem chromatin- 
reichen Kern. Das Plasma dieser Zellen ist feinkornig, mit Thionin und 
Toluidinblau metachromatisch gefarbt und enthalt mehr oder weniger 
feine Vakuolen, die besonders peripher im Zelleib auftreten und dadurch 
den Eindruck erwecken, als handele es sich hier um Ubergange zu meso- 


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und sklerosierende Encephalomyelitis. 


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dermalen Gitterzellen. Ausgebildete Gitterzellen sind nun sehr zahlreich 
vorhanden, und zwar liegen sie in den Mesenchymmaschen der Adven¬ 
titia. Sie sind in Pracapillaren und Capillaren oft die einzigen Infiltrat- 
zellen und beherrschen in solchen Bezirken das Bild, wo auch die ekto- 
dermalen Kornchenzellen vorw'iegen. Im Markscheidenpraparat nach 
Weigert und Spielmeyer erscheinen sie als mit blaulichschwarzen Korn- 
chen gefiillt, wahrend das Scharlachrot- und Sudanpraparat sie dicht 



Abb. 9. Alter Herd, Glia. Ranke-Farbung. ZeiB Homog. I miners. 3 mm, Proj.-Ok. 2. 
Plattenabst. 68 cm. Glianarbe, unten perivascularer Filz, dariiber leichte Aut- 
hellung, in der 2 Spinnenzellen (glz) sichtbar sind. 


beladen mit Fetttropfchen darstellt. Im Alzheimer-Mann- und Biel- 
schoirt 9%-Praparat sieht man sie nirgends aus dem Faserverband der 
GefaBw'and austreten, ebensowenig geraten sie in den Bereich der 
Intiina. Liegen Plasma- und Lymphzellen mit den Kornchenzellen zu- 
sammen, so scheinen diese mehr die auBeren Lagen der GefaBscheiden 
einzunehmen, dann kommen nach innen zu jene kleinen Infiltratzellen 
und dann nicht selten noch eine oder mehrere Lagen von Kornchen- 
zellen. Doch gibt es auch GefiiBe, in denen ein Teil der Wand mit 
Kornchenzellen, ein anderer mit lymphocytaren Elementen erfiillt ist 
(Abb. 8). Die Intimazellen sind vielfach stark gequollen, haben groBe 

Arctilv fUr Psychiatric. Bd. 68 . 16 


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E. Siemerling uirl H. G. Creutzfeldt: Bronzekrankheit 


geblahte Kerne mit zarter Chromatinzeichnung, in den adventitiellen 
Elementen sind Kernzerfallsbilder hiiiifig, besonders karyorektische 
Prozesse scheinen da eine Rolle zu spielen. GefaBsprossung haben wir 
nicht einwandfrei feststellen konnen. Wenn auch hier und da einzelne 
GefaBwandzellen —sensu strictiori •— ins Gewebe abbiegen. so sind es 
doch stets nur Adventitialzellen, und es ist nicht sicher, ob sie nicht der 
Wand einer auf dem Schnitt nicht ganz getroffenen abzweigenden 
Pracapillare oder Capillare angehoren. 

Mit der Achucarro-Klarfeldschen lmpragnierung erkennt man in 
frischen Herden ein Hineinreichen von mesenchymalen Silberfibrillen 
in das ektodermale Gewebe, wo sie ein Maschenwerk, das von den Go- 
fa Ben ausgeht. bilden. In diesem Maschenwerk liegen Kornchenzellen 
von gleicher Form wie im iibrigen Gewebe. Es laBt sich nicht sicher ent- 
scheiden. ob ps sich um gliose oder mesodermale Zellen handelt. Wenn 
es auch fiir die iiberwiegende Mehrzahl der Kornchenzellen sicher ist, 
daB sie aus der Glia entstanden sind, so scheinen doch diese von Mesen- 
ehymfasern umsponnenen Elemente zum Toil mesodermaler Herkunft 
zu sein. Sicher beweisen laBt sich diese Annahme nicht, aber es spricht 
vielleicht fiir ihre Richtigkeit der haufiger zu erhebende Befund. daB 
einzelne Zellen (Plasmazellen), die in das Nervengewebe ausgewandert 
zu sein scheinen, ebenfalls im Achucarro-Klarfeld- Praparat von feinen 
Silberfasern eingefaBt sind. In den Verodungsbezirken besteht ebenfalls 
mancherorts eine mesenchymale Faserwucherung, wobei gerade im 
Balken deutlich wird, daB die Silberfibrillen in die vorgebildeten ekto- 
dermalen Strukturen hineinwachsen. Diese Beteiligung der Mesenchym- 
fasern am frischen ProzeB und an der Narbenbildung haben wir aber 
nur in Gegenden gefunden, wo Herd und Pia sich unmittelbar beriihren. 
In solchen Bezirken scheinen die GefriBe ebenfalls vermehrt zu sein. 

Einige Venen sind von einer amorphen etwas kriimeligen Masse uni- 
geben, so daB der Eindruck eines starken Odems der adventitiellen 
Raume erweckt wird. Derartige GefaBe sind mehr in der Umgebung 
der Herde als in ihnen selbst anzutreffen. Sie werden vorzugsweise in 
den basalen Ganglion nahe den Ventrikelwanden gesehen. Blutungen 
werden ganzlich vermiBt. 

Wo die Pia in unmittellmre Beziehung zu einem Herde tritt, zeigt 
sie einen enormen Zellreichtum, ^lakrophagen, die anscheinend zum Toil 
zu Kornchenzellen werden bzw. geworden sind, Polyblasten und Lymph- 
zellen erfiillen sie, auch in den GefaBwanden liegen Infiltratzellen. 
Plasmazellen finden sich auBerst sparlich. Die Abgrenzung gegen das 
nervose Gewebe ist nirgends aufgehoben. 

In einem Bezirk des glidsen Narbengewebes findet man eigenartige 
Kliimpchen und Schollen (Abb. 10), die ohne erkennbare Beziehung zu 
den GefaBen in Maschen des Grundgewebes liegen. Sie impriignieren sich 


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und sklerosierende Encephalomyelitis. 


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gilt nach Bielschowsky , fiirben sich mit Hamotoxylin und anderen basi- 
schen Farbstoffen orthochromatisch, sind irn Markscheidenpraparat 
die einzigen Elemente des narbigen Bezirks, die gesehwarzt sind, sie 
geben Fibrinreaktion, nehraen aber keine Fett- und keine Eisenfarbung 
an. Es sind oft Korper von der GroBe einer Spinnenzelle, sie sind deut- 
lich geschichtet. Eine blassere Grundsubstanz enthalt entweder eine 
groBe Scholle, die nicht selten nach der Mitte zu aufgehellt ist. oder die 



Abb. 10. Einlagerungen im Xarbenbezirk. Bielschowskyimpragnation. ZeiB 
Homog. Immers. 3 mm, Proj.-Ok. 2. Plattenabst. 71 cm. Die groBcn silber- 
geschwftrzten Scheiben und Nchollen sind Konkremente. 
axz inkrustierter Achsenzylinder gr Kornchen der Einlagerungen. 


Einlagerung zeigt regelmaBige konzentrische Schichtung von nach der 
Mitte zu zunehmender Fiirbbarkeit. Ein Achsenzylinderrest ist mit 
kleinen Kiigelchen dieser abnormen Substanz besetzt(Abl). 10«a:z). Auch 
liegen kleinste Kornchen in Gliazellen der Umgebung. Manchmal liegen 
drei bis vier solche Schollen in einer homogenen blassen Grundsubstanz. 
manchmal scheinen kleinere oder groliere Klumpen zusammengeballt, 
wie man es bei Kalkkonkrementen sieht. Einmal sah ich einen groberen 
Ring dieser Art, der etwa den Durchmesser einer Capillaren besaB, aber 
ihn sicher als GefaBwandinkrustat anzusprechen wage ich nicht. Es 
diirfte sich hier nicht urn Kalk handeln, weil eine liber zwei Jahre 

16 * 


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E. Siemerling und H. (J. Creutzfeldt: Bronzekrankheit 


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dauernde Formolbehandlung des Materials vorausgegangen war. Manche 
der Gebilde erinnern an Querschnitte von Markseheiden, doch glaube 
ich nicht, dab eine Markscheideninkrustation erfolgt ist. Vielmehr 
scheint. hier ini Grundgewebe und wohl auch in den Gliazellen ein Stoff 
sich niedergeschlagen zu haben, der eine Inkrustation aus liegen- 
gebliebenen Abbaustoffen darstellt oder unvollstandig zerstorten Ge- 
websstrukturen (Achsenzylinder, Capillaren ?). Welcher Art diese Massen 
sind, laBt sich nicht sieher sagen. Mit dem Corpora amylacea haben sie 
nichts zu tun. Vielleicht sind sie den neuerdings viel beredeten pseudo- 
kalzinosen Stoffen zuzurechnen. 

Rindenherde haben wir nicht gesehen, wohl aber ini Kleinhirn ein 
Gbergreifen der Herde auf die Kornerschicht und den Nucleus dentatus, 
im Bereiche der basalen Ganglien eine Ausdehnung derselben auf das 
Striatum, den vorderen Teil der Substantia nigra, des Corpus Luysi ( ?). 
das Pulvinar, die Ponsganglien. 

Die Ganglicnzellen dieser Bezirke kbnnen ganz unverandert sein. 
Bei manchen von ihnen sind aber auch Trigroidzerfall, Kernschiidi- 
gungen, Fibrillenverlust festzustellen. Indes fehlen bestimmte und 
gleichmaBige Veranderungen. Man sieht das so recht an den Kern- 
gebieten, die nur teilweise in einen Herd eingeschlossen sind. da finden 
sich die gleichen Zellformen inner- und auBerhalb des Herdes, so daB 
man von einer spezifischen Herdschiidigung nicht sprechen kann. 

Die auBerhalb der Herde auftretenden Veranderungen sind in zwei 
Gruppen zu teilen, in solche, die als Folge der durch die Herde verur- 
sachten Leitungsunterbreehungen aufzufassen sind, und in solche, die 
einen unmittelbar funktionellen Zusammenhang mit ihnen nicht er- 
kennen lassen. Die ersterwahnten finden in dem vorliegenden Falle 
ihren Ausdruck in der absteigenden Degeneration der Pyramidenbahnen. 
die histologisch durchaus dem der sekundaren Degeneration entspricht. 
wie sie von A. Jakob beschrieben ist. Zu erwahnen ist dabei nur, daB 
nicht alle corticomotorischen Fasern ausgefallen sind. vereinzelte gut 
bemarkte Axone sind in alien Querschnitten feststellbar. Lympho- 
und plasmacytare GefaBinfiltrate sieht man noch bis in die Pyramiden¬ 
bahnen des oberen Halsmarks hinein, aber schon vom proximalen An- 
fangsteil der Rautengrube ab bleibt der DegenerationsprozeB streng an 
die Pyramidenbahn gebunden. 

Die Zellen der Substantia nigra enthalten nur wenig Pigment, viele 
sind ganz pigmentlos. Doch sind keine sicheren Anzeichen fur einen 
vermehrten Abbau oder fiir eine verminderte Menge von Melanin vor- 
handen, wenn man beriicksichtigt, daB es sich um ein siebenjiihriges 
Kind handelt. 

Der mitgeteilte Fall ist durch die Schwere der klinischen Erschei- 
nungen, die in wenigen Jahren zum Tode fiihren und durch die aus- 


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und sklerosierende Encephalomyelitis. 


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gesprochenen Veranderungen im Zentralnervensystem ausgezeichiiet. 
Die Melanodermie ist eine sehr ausgebreitete und erreicht einen hohen 
Grad. Die Haut des ganzen Korpers ist dunkelbraun gefarbt, die 
Schleimhaute sind frei. Die mikroskopische Untersuchung der Haut 
ergibt eine ausgedehnte Pigmentablagerung in den Basalzellen des 
Corium. Es stellen sich starke Adynamie und Zustande von groBer 
Unruhe ein, Sprach- und Schluckstorung, spastische Parese aller Ex- 
tremitaten mit tetanischer Starre des ganzen Korpers, Steigerung der 
Sehnenreflexe, Babinski. Im AnschluB an einen Krampfanfall epilep- 
tischen Charakters tritt der Tod ein. 

Storungen von seiten des Nervensystems und der Psyche sind nicht 
selten beobachtet. V. Neusser und Wie?el erwahnen einen Fall, der 
unter dem Bilde einer spastischen Spinalparalyse verlief, Bittorf sah 
Kombination mit Paralysis agitans. Mann berichtet iiber ungewohnliche 
konstante Schmerzen in der Perinealgegend und in den Beinen bei 
einem 19jahrigen Infanteristen. In kaum vier Wochen fiihrte die Er- 
krankung zum Tode. Trotz der fast vollstandigen Zerstorung beider 
Nebennieren durch den tuberkulosen ProzeB waren die Addisonschen 
Symptome kaum angedeutet und teilweise iiberhaupt nicht vorhanden. 
Mit Riicksicht auf die Beziehungen des Status thymo-lymphaticus zum 
cbromaffinen System ist der Befund einer Thymuspersistenz als pra- 
disponierendes Moment aufzufassen. 

Chauffard, Huber und Clement beobachteten bei einem Fall von 
chronischer Malaria Addisonsche Symptome, einseitige Opticusatrophie 
und Polyneuritis. Mit Ausnahme der Augenveranderungen besserten 
sich die Storungen nach einer kombinierten Kur mit Nebennieren- 
extrakt, Chinin und Salvarsan. 

Psychische Veranderungen sind bei der Bronzekrankheit liaufig 
beschrieben. Bonhoeffer hebt hervor, daB sich vielleicht immer gewisse 
psychische Veranderungen finden. Nach ihm sind die psychischen 
Storungen bei Addison nicht einheitlich und nicht pathognomonischer 
Natur. Dem Symptom der Adynamie oder Asthenie, das oft sehr friih- 
zeitig auftritt, kommt eine groBe Bedeutung zu. 

Reizbarkeit, emotionelle Schwache, Schlafsucht und Schlaflosigkeit, 
Depressionen und angsthche Verstimmungen sind beschrieben. Er 
berichtet iiber einen Fall einer psychopathischen Patientin, bei der sich 
zunachst eine Phobie (krankhafte Angst auszugehen und mit Menschen 
zusammenzukommen) entwickelte und spater, wenige Monate vor dem 
Tode, eine zunehmende motorische Unruhe, die zeitweise einen fast 
choreaartigen Charakter annahm. Die Kranke war meist stark depressiv 
verstimmt, zeitweise ausgesprochen angstlich, mitunter auch von iiber- 
triebener Heiterkeit, halluzinierte gelegentlich und zeigte krankhafte 
Eigenbeziehung, hypochondrische Befiirchtungen. 


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E. Siemerling und H. G. Creutzfeldt: Bronzekrankheit 


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In einem Fall Porters bestanden psychiscke Storungen: Erregung, 
Verwirrtheit, Halluzinationen, ein ausgedehnter Tremor, Storungen 
der Sprache und der Schrift, so daB der Fall lange als Paralyse aufgefaBt 
wurde. 

Von alien Autoren ward berichtet, wie in dem Endstadium der Er- 
krankung sehr haufig stiirmische Erscheinungen von seiten des Nerven- 
systems in den Vordergrund treten, wie Debrien, Halluzinationen, 
meningitis- und amentiaartige Bilder, Aufregungszustande mania- 
kalischen Charakters, epileptiforme Krampfe, Kollaps, Somnolenz, 
Koma. 

In unserem Falle gesellt sich zu der.spastischen Starre des ganzen 
Korpers die Schluck- und Sprachstorung, noch ein epileptiformer An- 
fall, der in Koma iibergeht. 

Will man versuchen, die oben beschriebenen Gewebsveranderungen 
in ihrer Ausbildung in den verschiedenen Herden morphologisch zu 
ordnen mid zusammenzufassen, so darf man vielleicht die Kornchen- 
zellen einerseits, die faserbildenden Elemente andererseits, oder das 
Verhalten der Axone als Hinweise auf die Schwere und Frische des 
Prozesses benutzen. Fur alle Herde erscheint es aber wichtig, vorweg 
die Frage zu beantworten, ob es sich um entziindliche oder nicht ent- 
ziindliche Veranderungen handelt. Wir linden Alteratio des Gewebes 
— in unserem Falle Untergang der Markscheiden und groBenteils der 
Achsenzylinder —, Proliferatio — hier Gliavermehrung, Bildung von 
Kornchenzellen, Stabcbenzellen und von Faserglia —, Infiltratio — An- 
fiillung der GefaBscheiden mit histiogenen und hamatogenen (?) Ele- 
menten (Lymph- und Plasmazellen) —, d. h. die drei morphologischen 
Kennzeichen der Entziindung (Nissl , Lubarsch, Spielmeyer, Klarfeld 
u. a.). Wir diirfen also sagen, daB es sich um einen entziindlichen ProzeB 
handelt. Und zwar um eine nichteitrige Entziindung des Marlclagers. 
Denn die Rinde ist frei von Veranderungen. Die Kemgebiete, die in dem 
Be^eiche erkrankten Gewebes liegen, zeigen ebenfalls keine Verande¬ 
rungen der Nervenzellen, die in Schwere und Art als wesentlich oder kenn- 
zeichnend angesehen werden konnen. Deshalb darf man von einer 
nichteitrigen Myelitis des Gehirns sprechen, die wie die Abb. 1—4 zeigen, 
zur Bildung mehrerer Herde gefiihrt hat. Mit Ausnahme von zellarmen, 
gliafaserreichen Verddungsbezirken, die sich im Zentrum des groBen 
Hemispharenherdes und in den oberen Balkenlagern, in dem Ponsherde 
und in der Kleinhirnmitte befinden, sind iiberall die Merkmale einer 
schweren nichteitrigen Entziindung ausgesprochen. Es ist daher un- 
angebracht von jugendlichen oder frischen Herden zu reden. Als solche 
in reiner Form kommen hochstens einige kleine in der Capsula interna 
und ein subcorticaler im Gyrus lingualis in Betraclit. Alle aber lassen 
eine ausgesprochene Abhangigkeit von der GefaBverteilung erkennen. 


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und sklerosierende Encephalomyelitis. 


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besonders deutlich ist diese Erscheinung in den Hirnschenkeln und in 
der Pons (Heubner, Duret, Schimamura). Bei jenen sind es die kleinen 
Aste aus dem Ende der Arteria basilaris, vielleicht auch der Arteria 
cerebri posterior und des Ramus communicans posterior, bei diesen 
gerade die seitlichen PonsgefaBe, die zum groBen Teil wohl aus der 
Arteria cerebelli superior stammen und deren Ausbreitungsgebiet mit 
der Ausdehnung des Herdes zusammenfallt. Der Verlauf dieses GefaBes 
leitet auch weiter viber die Kleinhirnbruckenarme nach dem Kleinhirn 
selbst hin. 

Der GroBhirnherd ist dagegen nicht so zwanglos auf ein GefaBgebiet 
zu beziehen. In seinem oberen Teil und seiner Ausdehnung auf den 
Balken, der ja fast vollig entmarkt ist, entspricht er der Ausbreitung 
der Arteria cerebri anterior (Heubner usw.), auch seine Wanderung am 
Ventrikel entlang konnte (Monakow) noch moglicherweise diesem Ge- 
faBbezirk entsprechen. Nicht so einfach aber ist es mit seinen seitlichen 
Teilen, mit denen er in das Gebiet der Arteria cerebri media sive fossae 
Sylvii hineinreicht, und mit den unteren, hinteren Auslaufern, die zum 
mindesten hart an den Bezirk der Arteria cerebri posterior heran- 
kommen. Es konnen nur fur dieses Verhalten folgende Moglichkeiten 
angenommen werden: Erstens konnte es sich um ein ZusammenflieBen 
mehrerer Herde handeln, doch scheint uns gegen diese Auffassung so- 
wohl die Form des Herdes und sein innerer Aufbau als auch das Frei- 
bleiben des Windungsmarkes der Konvexitat zu sprechen (s. Abb. 1). 
Zweitens konnte die seitliche Ausdehnung des zentralen Herdes durch 
sekundare Degeneration der ihm nachstgelegenen Markteile bedingt 
sein, dagegen sprechen aber die starken entziindlichen Erscheinungen, 
die gerade in diesen Rindengebieten gefunden werden. Drittens konnte 
ein Weiterwandern der den Prozefi verursaehenden Schadlichkeit in dem 
gliosen Orundgeivebe und damit auch in den Markscheiden das Wachstum 
des Enlmarkungsherdes bedingen. Der Herd wird auf diese Weise weiter 
gegen die Konvexitat vorgeschoben und erfahrt erst an den Fibrae 
arcuatae ( Meynerts U-Fasern) seine Begrenzung, weil diese Faserziige 
eine ganz andersartige Richtung und tektonische Struktur besitzen, 
auBerdem unmittelbar mit der Blutversorgung der zugehorigen Rinde 
in Zusammenhang stehen. Das Wachstum der Gliome zeigt uns ganz 
ahnliche Verhaltnisse und macht diesen Weg einer Infiltration des 
Centrum semiovale wahrscheinlich, wie auch Neubiirgcr letzthin an- 
gedeutet hat. DaB auBerdem eine sekundare Degeneration sensu stricto 
im Centrum semiovale vorkommt, lehrt der Aufhellungsbezirk in dem 
tiefen Schlafen- und im Stirnmark (Abb. 1). 

Ein weiterer Beweis fiir die Moglichkeit der dritten Art der Aus¬ 
breitung der Myelitis scheint geliefert zu werden durch die — vom rein 
morphologischen Standpunkte aus -— echt entziindliche Pyramiden- 


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E. Siemerling und H. G. Creutzfeldt: Bronzekrankheit 


bahnenerkrankung, die von der Briicke bis in das obere Halsmark reicht 
und streng auf diese Leitungsbahn beschrankt bleibt, also eine eigent- 
liche Systemerkrankung darstellt. Weiter abwarts sind, wie oben er- 
wahnt, die Tract- corticospinales rein sekundar degeneriert und lassen 
lediglich, wie oben betont, die von A. Jakob genauer beschriebenen 
Kennzeichen dieser Art des Parenchymuntergangs erkennen. Dabei 
sind wir uns wohl bewuBt, daB gerade diese langsam abnehmende ,,ent- 
ziindliche“ Erkrankung der Pyramidenbahnen auch im Sinne einer 
einfachen Intensitatsabnahme des Destruktionsprozesses (Klarfeld) ge- 
gedeutet werden kann. Doch scheint mir ein naheres Eingehen auf diese 
Frage, zu deren Beantwortung das ganze Entziindungsproblem wieder 
aufgeriihrt werden miiBte, belanglos. Uns liegt an der Feststellung, 
daB eine Degeneration oder Entziindung in einem Fasersystem in der 
Form einer morphologisch gleichsinnigen Schadigung, d. h. als System¬ 
erkrankung, sich ausbreiten kann, also nicht nur als sekundare De¬ 
generation ( Spielmeyer). 

Eine andere Frage ist es, ob der GroBhirnherd vom Ventrikel aus 
seinen Ursprung nimmt. Obwohl das raakroskopische Bild eine solche 
Auffassung moglich und verstandlich raacht, wie ja auch bei der mul- 
tiplen Sklerose Ventrikelherde vorkommen, spricht doch in unserem 
Falle der histologische Befund gegen sie. Denn es fehlen: 1. Ependym- 
wucherung, 2. irgendwelche Reizerscheinungen von seiten der sub- 
ependymalen Glia im Bereiche der Beriihrung des Herdes mit dem 
Ependym, 3. zeigen die dem Ventrikel nachstgelegenen Herdteile die 
gleichen frisch entziindlichen Veranderungen wie andere Herdrandteile, 
wahrend Narben mehr nach der Herdmitte zu liegen. Dagegen miiBte 
man gerade subependymal Narben erwarten, wenn vom Ventrikel her 
die Schadlichkeit primftr in das Hemispharenmark eingedrungen ware. 

Es ist nach diesen Feststellungen sehr wahrscheinlich, daB auf dem 
Gefa/iwege eine Schadlichkeit in das Zentralnervensystem und an- 
scheinend nur in das Gehirn gelangt ist, die eine herdformige, nicht- 
eitrige , subakute Markentziindung verursacht hat. Ob es sich um eine 
Infektion oder eine Intoxikation gehandelt hat, laBt sich nicht sicher 
sagen. Irgendwelche patogenen Keime wurden nicht gefunden. Ins- 
besondere blieb das Suchen nach Spirochaten erfolglos. 

Die Tatsache, daB im voriiegenden Falle die herdformigen entziind- 
lichen Veranderungen des Markes mit Ausgang in gliose Narben 
(Sklerose) das histopathologische Bild kennzeichnen, laBt zunachst an 
die multiple Sklerose denken. Und in der Tat besteht eine gewisse Ahn- 
lichkeit, die sich in der entziindlichen Natur des Prozesses, seiner Ab- 
hangigkeit vom GefaBverlauf, dem Markzerfall mit Kornchenzellbildung 
und der schlicBlichen Vernarbung auBert. Was aber mit dem Bilde 
dieser Erkrankung nicht iibereinstimmt, ist die machtige Ausdehnung 


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und sklerosierende Encephalomyelitis. 


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der Herde, ihre nicht strenge Gebundenheit an ein GefaBgebiet, die nicht 
immer scharfe Begrenzung, das Fortschreiten entsprechend den vor- 
gebildeten Strukturen des Grundgewebes und der verhaltnismaBig 
starke Untergang der Achsenzylinder. Der vorliegende ProzeB ist also 
nicht nur in Starke und Ausdehnung, sondern auch in der Art seiner 
Herde besonders durch ihre unscharfe Begrenzung mit starker Neigung 
zur weiteren Ausbreitung und die fast der Markscheidenerkrankung 
entsprechende Zerstorung der Axone von der multiplen Sklerose zu 
unterscheiden. Der Prozefi in unserem Falle ist kontinuierlich, der der 
multiplen Sklerose grundsatzlich diskontinuierlich (Marburg). Auch von 
der Anton- Wohlunllachen multiplen nichteitrigen Encephalomyelitis 
diirften die oben aufgefiihrten Merkmale sie trennen. 

Nahere Beziehungen scheinen dagegen zu der von Schilder be- 
schriebenen Encephalitis periaxialis diffusa zu bestehen, die dieser Autor 
aus der unter dem Namen ,,diffuse Sklerose “ seit Heubner bekannten 
Krankheitsgruppe herausnahm. Man kann dariiber streiten, ob die von 
ihm beschriebenen Falle — wir denken an den auch von Leunj und 
Neubiirger beanstandeten Fall I — alle wirklich entziindlich sind. An 
der Tatsache, daB die Schildersche Encephalitis periaxialis ein wohl- 
umschriebenes Krankheitsbild ist, andert das nichts. Seitdem haben 
Schroder (Fall I, IV, V), P. Marie und Foix, Henneberg, A. Jacob, 
v. Stauffenberg, Neubiirger iiber Falle berichtet, die dieser Schilderschen 
Form zuzuzahlen sind, von friiheren gehoren vielleicht die Falle von 
Possolimo und Redlich hierher. Nichtentziindlich, rein degenerativ sind 
wohl die von Schroder (Fall II), Walter, Krabbe, Hermel, Kaltenbach, 
Klarfeld beschriebenen Prozesse, wahrend blastomatos vielleicht Cenis 
1890 beschriebener Fall sein diirfte, sehr wahrscheinlich aber der von 
Cassirer und Lewy neuerdings veroffentlichte es ist. 

Teilen wir sonst die als diffuse Sklerose bezeichneten Prozesse mit 
Leury, Neubiirger und Klarfeld in: 

1. Entziindliche (Encephalitis periaxialis diffusa Schilders oder 
diffuse infiltrative Encephalomyelitis Jakobs', 

2. rein degenerative; 

3. blastomatose, 

so werden wir unseren Fall zu den entziindlichen Formen rechnen 
mussen. Henneberg, Neubiirger und Jakob fanden in ihren Fallen Be- 
teiligung des Mesoderms bei der Vernarbung der Herde. Die Abbildungen 
in Jakobs Arbeit und in Spielmeyers Lehrbuch zeigen ein auBerordent- 
lich starkes Hineinwuchern mesenchymaler Ziige (Silberfibrillen) in das 
glibse Gewebe und eine innige Vermischung von meso- und ektodermalen 
Bestandteilen bei der Narbenbildung. Neubiirgers Abbildung laBt nur 
geringe perivasculare Faserung erkennen, die anscheinend auf die Rand- 
zonen beschrankt bleibt. Auch in unserem Falle war das Mesoderm in 


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242 E. Siemerling und H. G. Creutzfeldt: Bronzekrankheit 

dieser Form an frischen Herden und an der Narbenbildung beteiligt. 
Doch war dieses Verhalten anscheinend an die Nahe der Pia gebundeu. 
Im iibrigen aber haben wir bei unserer Untersuchung alle die von den 
friiheren Beobachtern beschriebenen Erscheinungen vorgefunden. 

Es ist nun die Frage, wo wir unseren Fall einzureihen haben. Er 
bietet die Zeichen der multiplen Sklerose, der Anton-Wohlivillschon 
multiplen, nichteitrigen Encephalomyelitis und der Schilderschen peri- 
axialen Encephalitis, ahnelt also am meisten den Beschreibungen 
Rossolimos, Schraders, Jakobs, Hennebergs, v. Stauffenbergs, Neubiirgers. 
Der ProzeC ist nicht aufs Hemispharenmark begrenzt, wenn er auch im 
wesentlichen auf exquisit neencephale Teile beschrankt zu sein scheint. 
Nur in der Pons greift er in unserem Falle auf die mediale Schleife iiber 
und zieht im Mittelhirn die Substantia nigra in seinen Bereich hinein. 
Spielmeyer8 Bezeichnung: Sklerosierende Encephalitis des Hemispharen- 
markes scheint uns daher zu eng gefaBt, wenn sie auch auf eine Eigen- 
tiimlichkeit des Prozesses sehr wohl hinweist. Diese liegt hier viel aus- 
gesprochener als bei der multiplen Sklerose (Brouwer) — nicht etwa in 
dem Befallensein des Hemisphere n marks, sondern allgemein der phylo- 
genetisch jiingeren neencephale n Hirnteile und trifft eigenartig zu- 
sammen mit der Unterentwicklung der Nebenniere und dem Addison- 
schen Symptomenkomplex. 

Aus diesem Zusammentreffen darf man vielleicht in unserem Falle 
die konstitutionelle Komponente der Erkrankung ersch lie lien und da- 
durch die eigenartige Anordnung der Herde verstandlich machen 
{Anton, Wohlwill, Landau u. a.). 

Ob engere atiologische Beziehungen bestehen, ist eine Frage, die sich 
nach dem heutigen Stande unseres Wissens nicht siclier beantworten 
laBt. Bei der ausgesprochen entziindhchen Art des Prozesses erscheint 
uns die Annahme, da!3 die Nebennierenerkrankung zu einer toxischen 
Encephalomyelitis gefiihrt hat, nicht geniigend gestiitzt. Zudem ist ein 
einzelner Fall keine ausreicliende Basis zur Losung derartiger Fragen. 

Zusammenfassend mochten wir den vorliegenden histopathologischen 
Prozeli also als sklerosierende Encephalomyelitis bezeichnen und dabei 
betonen, da/i sie durch eine auf dem Oefdfiwege herangetragene toxische 
oder infektibstoxische Schadlichkeit verursacht und in ihrer Lokalisation 
durch eine Vorliebe zu jiingeren Marklagen des Gehirns beeinflufit ist, die 
ihrerseits vielleicht in einer anlagemd/Sig geringeren Widerstandsfdhigkeit 
der betroffenen Gewebe ihre Ursache hat. 

Soweit war die bisherigen Veroffentlichungen iiber diffuse Sklerose 
und die Encephalitis periaxialis durchgesehen haben, fehlen genauere 
Angaben iiber den Zustand der Nebennieren. Der vorliegende Befund, 
bei dem die Nebenniereninsuffizienz im klinischen Bilde als Bronze¬ 
krankheit und im anatomisehen als Nebennierenhypoplasie klar hervor- 


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und sklerosierende Encephalomyelitis. 


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tritt, diirfte dazu anregen, in ahnlichen Fallen auf das gauze chromaffine 
System das Augenmerk zu richten. 


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244 


E. Siemerling und H. G. C'reutzfeldt: Bronzekrankheit usw. 


faserschwund und uber die polysklerotischen Formen der Paralyse. Zeitschr. f. d. 
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schr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 89, 56, 1918. — Walter: Zur Symptomatologie 
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Multiple Sklerose. Sammelreferat im Ref.-Teil der Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. 
Psychiatr. 7, 849, 1913. — Zander: Uber funktionelle u. genetische Beziehungen 
der Nebennieren zu anderen Organen, speziell zum GroBhim. Krit. Stud. usw. 
Zieglers Beitrage. 7, 439, 1890. 


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Drucksteigerung in der Schadelruckgratshohle und Sehneii- 

reflexe. 


Von 

B. Wollenberg, Breslau. 

(Eingegangen am 21. Februar 1923.) 

Gertrud S., 7 Jahre alt, bisher volhg gesund gewesen. Gut begabt, still. Im 
August 1922 Verletzung an der linken Stim, durch Gegenlaufen gegen ein zuni 
Putzen aufgestelltes Fensterkreuz. Geringe Blutung. Der Arzt verordnet Um- 
schlage mit essigsaurer Tonerde, nach 2—3 Tagen sclieinbare Heilung. Nach 
weiteren 9 Tagen Klagen iiber dauernde, zunehmende Stirnkopfschmerzen; das 
Kind will am liebsten im Bett liegen. Der Arzt offnet die Stirnwunde und ent- 
fernte ein Knochenstiickchen, die Mutter behauptet, dab Eiter aus dem Knochen 
gekommen sei. Einige Tage spa ter nachts und am Tage teils lfinger dauernde. 
teils kiirzere Kriimpfe nut BewuBtseinsverlust, Verdrehung der Augen nach oben 
und rhythmischen Zuckungen des gestreckten r. Arms und der r. Gesichtshiilfte. 
l’at. ist nach den Krampfen wieder klar, kann aber den r. Arm anscheinend niclit 
bewegen. Weiterhin Erbrechen, Klagen iiber Leibschmerzen, dauernde Stirn- 
und Scheitelschmerz, schlechtes Horen, Flimmern vor den Augen. Zuweilen nocli 
stoBende Bewegungen mit den Beinen. Etwa 5 Wochen nach dem Unfall Er¬ 
brechen seltener, Schmerzen nur nocli anfallsweise, besonders im rechten Oberarm 
und r. Hand und r. Knie. Xach weiteren 3 Wochen Aufhoren des Erbreehens, 
Miidigkeit und Sehlafrigkeit, Haltung des Kopies nach rechts. Keine Angaben 
iiber die Beweglichkeit der r. Oberextreniitat. Anfang Oktober plotzliche, fast 
vollige Erblindung. Klagen iiber Schmerzen in der r. Hand und r. FuB. Pat. 
tritt nur mit der r. FuBspitze auf, halt das Bein im Knie leicht gebeugt. Viel 
Schlaf, auch am Tage. 

Aufnahme in die Klimk am 4. XI. 1922: Allgememe Untersuchung ohne Be- 
fund, Pat. liegt apathisch im Bett. bald oberfliichlich bald tief benommen. Spriclit 
von selbst selten, reagiert auf Anreden langsam und unvollstandig. Orientierung 
durchaus erhalten. Zwei Querfinger Tiber dem 1. ftuBeren Augenwinkel cine etwa 
markstiickgroBe. stark pulsierende V'orwblbung. iiber die unten und in der Mitte 
narbig veriinderte rotliche Hautstreifen ziehen. In der Mitte fiihlt man in der 
Tiefe eine fingerkuppengroBe Knochenliicke, in die die Geschwulst zuriickgepreBt 
werden kann (Hirnprolaps). Knochen sonst ohne Befund. Puls 100. Etwas auf- 
getriebener Leib. Die ganze Muskulatur, besonders der Waden druckempfindlich. 
Kopf niclit besonders empfindlich bei Druck und Klopfen. auch in der Gegencl 
des Prolapses niclit. Pupillen von maximaler Weite, vollig reaktionslos. Bds. 
Ntauungspapille in Atrophic iibergehend, links inehr wie rechts. Amaurose. Augen- 
bewegungen nach links oben und unten beschriinkt, Unmoglichkeit zu konvergieren. 
Bds. Vorstehen der Bulbi. Die Austrittsstellen des Trigeminus druckschmerz- 
haft, Corneal- und Conjunctivalreflexe erhalten. Reehte Xasolabialfalte ver- 
strichen, rechter Mundwinkel hfingt. Beim Lachen und Spreehen wird nur die 
1. Seite innerviert. Zunge weicht nach rechts ab. Uvula liiingt nach links. Gaumen- 


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246 


R. Wollenberg: 


segel hebt sich schlecht. Kopfbewegungen nach alien Seiten, besonders nach 
hinten unausgiebig und schmerzhaft. Occipitalaustritt bds. druckschmerzbaft. 

Anne: Beweglichkeit r. selir beschrankt, aktiv nur im Ellbogen moglich 
(Beugung). GroBe Kclilaffheit der Muskulatur. Reflexe fehlen. Lks. Bewegungen 
moglich, aber selir vermindert. Keine Astereognosis, keine Adiadochokinesis. 
Druckempfindlichkeit aller Xervenstamme. Keine deutliche Ataxie. 

Beine: Bds. Hypotonie, nur im r. FuBgelenk etwas vermehrte Muskelspannung. 
Lks. alle Bewegungen moglich, aber kraftlos. Ileopsoas schwach. Rechts: aktive 
Beweglichkeit fast aufgehoben. 

Patellar- uml Achillessehnenreflexe fehlen lulu., desgleichen fehlen die Reflexe 
an den oberen Extremitaten, doch besteht. rechts Babinskisches und Oppenheini- 
sches Zeichen. 

Alle Xervenstamme druckschmerzbaft. Bds. starkes Ischiasphanomen. Die 
Beine werden meist gestreckt, das linke iiber das rechte gelegt gehalten. Keine 
deutliche Ataxie. 

Gehen und Stehen nicht moglich. 

Hyperalgesie am ganzen Korjier. 

Pat. liegt bewegungslos, Speichel flieBt aus dem Munde, ganz langsame 
Mimik. 

Die Beobachtung wird noch 2 Tage in der Xervenklinik fortgesetzt. Puls 
100. Beine meist an den Leib angezogen, Temperatur dauernd normal. Bauch- 
deckenreflexe weehselnd, wohl alle vorhanden. Wirbels&ule diffus schmerzhaft. 
Aufrichten aus liegender Stellung gelingt nicht. 

Am 7. XI. ausgedelmte temporale Trepanation in der Chirurgischen Klinik 
(Prof. Melchior). Knochen teilweise so diinn, daB er beim Abheben der Knoehen- 
jilatte bricht. Der alte Knochendefekt liegt am vorderen Rande der Trepanations- 
offnung auBerhalb des Operationsbereiches. Dura stark verdiekt und gespannt. 
Xach Eroffnung starke Vorwolbung des Gehirns. Am oberen Rande beinahe in 
der Mittellinie feste Verwachsung der Dura mit der Gehirnoberflache. Xach Ab- 
trennung der J>ura sind bier keine Hirmvindungen zu erkennen, man sieht eine 
fiinfmarkstiickgroBe, derbe, gelbliche Flflche. Diese wird incidiert, Entleerung 
von dickfliissigem gelbem Eiter aus einem flachen oberfliichlichen AbsceB. Da das 
Gehirn sich immer noch stark vorwolbt, wird dicht unterhalb des Abscesses nach 
dem Ohr hin punktiert und hier der HauptabsceB eroffnet. aus dem sich eine groBe 
Menge Eiter entleert. Dura in den hinteren unteren Partien fest mit dem Gehirn 
verwachsen. Tamponade und Drainage. — Das Kind hat den Eingriff gut viber- 
standen. In den nachsten Tagen keine wesentliche Anderung. 

Am 20. XI. apfelgroBer Hirnprolaps. Befinden subjektiv gut. Beu'uptsein 
freier. Beweglichkeit des r. Beines bedeutend besser. des r. Armes noch sehr 
mangelhaft. I erhalteu der Reflexe wit friiher. 

5. XII. 1022. Keine wesentliche Anderung. Aktive Beweglichkeit der r. 
Extremitaten bald etwas besser, bald schlechter, im Arm immer schlechter als 
im Bein. 

29. XII. 1922. Keine wesentliche Anderung. Die Beweglichkeit der r. Seite 
ist noch mangelhaft, aber 1 lesser als vor der Operation. BewuBtsein frei. Sehnen- 
reflexe trie friiher. 

1. I. 1923. Unverftndert. Die Reflexe fehlen immer noch. Babinski immer noch 
rechts deutlich. — Pat. wird gegen iirztlichen Rat abgeholt. Allgemeinbefinden 
wesentlich gebessert. 

Der mitgeteilte Fall bietet in diagnostischer Hinsicht nichts 
Besonderes. Bei dem StolJ, den das Kind erlitt. war der offenbar sehr 


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Drucksteigerung in tier Schadelriickgratshohle und Sehnenreflexe. 247 


diinne Knochen verletzt worden und es hatte eine Wundinfektion 
stattgefunden, die zu einer intrakraniellen Eiterung fiihrte. Die rechts- 
seitigen Kriimpfe und Lahmungserscheinungen wiesen auf einen links- 
seitigen Hirnabsceb hin, die Nackenschmerzen und die allgemeine 
Hyperasthesie maehten eine begleitende Meningitis nicht unwahrschein- 
lich. Die friihe Stauungspapille und Atrophie sprachen fiir eine erheb- 
liche Drucksteigerung in der Schadelhohle. Die deutlich fiihlbare 
Knochenoffnung an der Verletzungsstelle und der dort vorhandene 
kleine Hirnprolaps kamen hinzu, um die Diagnose zu sichern. Dei- 
operative Eingriff ergab das Vorhandensein von groben Abscebhohlcn 
im linken Scheitellappen, aber keine Meningitis. So vveit ist der Fall 
klinisch nicht ungcwohnlich. es sei denn, dab er ein trauriges Beispiel 
dafiir ist, welche iibeln Folgen die Vernachlassigung einer Kopfver- 
letzung nach sich ziehen kann. Der eigentliche Grund dieser Mitteilung 
ist aber der Befund einer vollkominenen Hypolonie mit dauern- 
dem Fehlen der Patellar- und Achillesschnenrcflexe beider Seiten, und es 
ergibt sich daraus die Gelegenheit zur Erorterung der Beziehung zwi- 
sehen chronischer Drucksteigerung in der Schadelriickgratshohle und 
Verhalten der Sehnenreflexe. 

Es sei rair gestattet, hier auf eine eigene Beobachtung 1 ) zuriickzu- 
kommen, die in der Literatur eine gewisse Rolle spielt, weil hier zum 
erstenmal eine Degeneration der Hinterwurzeln und Ruekenmarks- 
strange bei einem Falle von Hirntumor anatomisch festgestellt wurde. 
Der Fall stammte aus der Klinik von Karl Westphal und betraf eine 
39jahrige Frau, die infolge eines groben Tumors im Kleinhirnbrucken- 
winkel friih erblindet war. Die Beobachtung wurde von Hermann 
Oppenheim und mir durchgefiihrt, und ergab zu unserer Gberrasehung 
beiderseits Westphalsches Zeichen bei ungestorter Sensibilitat und einer 
ganz leichten Ataxie nur in der linken oberen Extremitat. Anatomisch 
fand sich vom unteren Ende der Lendenanschwellung aufvvarts bis zum 
Beginn der Schleifenkreuzung eine ausgesprochene Degeneration der 
Hinterstrange und teilweise auch der hinteren Wurzeln. Die letztere 
war besonders ausgesprochen im mittleren Brustteil und auf der einen 
Seite hochgradiger als auf der anderen. Unsere Auffassung ging damals 
dahin, dab es sich um ein Nebeneinander eines Hirntumors und einer 
Tabes handelte. Oppenheim ist spater in seiner Monographic iibcr 
die Geschwiilste des Gehirns 2 ) noch einmal darauf zuriickgekommen 
unter Aufrechterhaltung desselben Standpunktes. Heute mu 13 wohl 
angenommen werden, dab auch in unserem Falle die Degeneration 
dureh den gesteigerten Hirndruck hervorgerufen war, und dab unsere 

*) R. Wollenberg: Zwei Falle von Tumor tier hinteren Sclmdelgrube. Arch. f. 
Psychiatr. u. A'ervenkrankh. 21, 3. 

2 ) Nothnagels Handbuch. 9. 2, 1896. 


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248 R. YVollenberg: 

Beobachtung den ersten anatomisch bestatigten Fall dieser Art dar- 
stellt. 

C. Mayer') hat dann im Jahre 1893 die Frage eingehender behandelt, 
unter Zugrundelegung mehrerer Beobachtungen aus der Krafft-Ebing- 
schen Klinik. Ich gehe nur auf die erste von diesen naher ein, die einen 
Fall von groBem Stirnhirntumor betraf. Hier war etwa drei Monate 
nach dem Hervortreten der deutlichen Krankbeitserscheinungen 
beiderseits Fehlen der Patellarreflexe und der Sehnenreflexe der oberen 
Extremitaten bei deutlichein Achillessehnenreflex festgestellt worden. 
Grobere Empfindungsstdrungen fehlten. Anatomisch fand sich eine 
Degeneration der Wurzeleintrittszone im oberen Lenden- und unteren 
Dorsalmark. in erheblicherem Grade aber auch im Halsmark. In einem 
zweiten Falle (groBer Tumor beider Stirnlappen) bestanden ganz ana- 
loge Veranderungen, nur in geringem Grade. Mayer hebt besonders 
hervor. daB in seinen beiden Fallen die oberen Riickenmarkabschnitte 
erhebliche und sogar gegeniiber den unteren iiberwiegende Degenera- 
tionen zeigten. Bei der Erorterung der hier zugrunde liegenden Ur- 
sache weist er das Vorhandensein einer Tabes mit Recht zuriick, lehnt 
auch die Einwirkung einer irritativ-toxischen Schadlichkeit ab und 
spricht sich dafiir aus, daB die Drucksteigerung in der Schadelriick- 
gratshohle die hinteren Wurzeln und das Ruckenmark mechanisch in 
Mitleidenschaft gezogen babe. In seiner SchluBfolgerung begniigt er 
sich, darauf hinzuweisen, daB ein tieferer gesetzmiiBiger Zusammenhang 
zwischen dem pathologischen ProzeB in der Schadelhohle und den 
gefumlenen Ruckenmarksveranderungen zu bestehen scheine. Es 
werde von besonderem Interesse sein, zu erfahren, ob ahnliche Wurzel- 
degenerationen wie in seinen Fallen sich vielleicht auch bei intrakraniel- 
ler Drucksteigerung aus anderen Ursachen finden lasse, und ferner 
ob sie fehlen in solchen Fallen von Tumoren, in denen die Kommuni- 
kation zwischen Seiten- und mittlerem Ventrikel einerseits, Sub- 
arachnoidealraum andererseits aufgehoben ist. In Fallen dieser Art 
sei zu erwarten, daB eine Drucksteigerung in den Ventrikeln sich dem 
Spinalraum nicht werde mitteilen konnen und daB Wurzeldegeneratio- 
nen infolge des Fehlens einer Drucksteigerung im Spinalraum hier aus- 
bleiben miissen. 

Im Jahre 1899 haben dann Batten und Collier 2 ) in 29 Fallen von 
Hirntumor verschiedensten Sitzes das Ruckenmark vor allem auf V>r- 
anderung in den Hinterstrangen mit der Marchi-Methode untersucht 
und dabei festgestellt, daB Hinterstrangsdegenerationen bei Hirn- 

1 ) Pber anatomische Riickenmark.stx*fuiule in Fallen von Hirntumor. Jahrb. 
f. Psychiatr. 1894, 8. 410ff. 

■) Spinal cord changes in cases of cerebral tumour. Brain 1899. Ref. von 
L. Bruns in Neurol. Zentralbl. 1900, 8. 713 f. 


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Drucksteigerung in der Schadelriiekgratshohle und Sehnenreflexe. 249 

tumoren sehr hiiufig, etwa in 65°/ 0 der Falle, vorkommen; dad die 
Degeneration sich haufiger in der Hals- als in der Brust- und Lenden- 
gegend des Markes, und raehr in den aulJeren als in den inneren Teilen 
der Hinterstrange findet, und dad sie von den Wurzeln, und zwar 
von der Stelle ihres Eintritts in das Mark, ausgeht. Die extramedullaren 
Wurzeln seien immer weniger geschadigt als die Hinterstrange und 
konnen ganz normal sein. Die Degeneration werde hervorgerufen durch 
Zerrung an den hinteren Wurzeln von seiten der durch vermehrten 
intrakraniellen Druck ausgedehnten Arachnoidea und komme nament- 
lich zustande hei rapider Ausdehnung der Ventrikel und des spinalen 
.Subarachnoidealraums. Die Degeneration sei nicht abhiingig von Sitz 
und Art des Tumois, oder wenigstens nur insofern, als diese mehr 
oder weniger leicht die erwahnten Drucksteigerungen hervorrufe. Weiter 
sagen die Autorer, dali, wenn bei nicht bestehender Benommenheit 
die Kniesehnenreflexe fehlen, man wohl eine Hinterstrangserkrankung 
annehmen konne, dad aber umgekehrt ihr Vorhandensein diese Erkran- 
kung nicht ausschliede. 

Iiu Jahre 1903 hat dann Finkelnburg 1 ) versucht, den Einflud einer 
Drucksteigerung in der Ruckgratshohle auf das Ruckenmark experi- 
mentell zu priifen. Die Versuche wurden an Hunden und Kaninchen 
angestellt, und die Drucksteigerung in dreierlei WeLse erzeugt: 1. von 
der Schadelkonvexitat aus, 2. von der Cauda equina aus bei freier Kom- 
munikation mit der Schadelhohle, 3. von der Cauda equina aus nach 
Abbindung der Dura im oberen Brustmark. Die Ergebnisse waren die, 
dad durch Drucksteigerung im Subarachnoidealraum des Riicken- 
marks von einer gewissen Hohe an der Kniereflex abgeschwacht bzw. 
zum Schwinden gebracht werden konnte. Geringere Kompressions- 
grade, die hierzu nicht ausreichten, bewirkten in der Regel eine erheb- 
liche Steigerung des Reflexes und tonisehe Krampfe in den Hinter- 
beinen, und zwar letztere auch dann, wenn durch Abbindung der Dura 
im Brustteil des Ruckenmarks ein gleichzeitiger Hirndruck vermieden 
wurde. Es gelang aber nicht in alien Fallen durch Drucksteigerung 
den Kniereflex zu beeinflussen. Der Erfolg war meist dann negativ, 
wenn bereits bei niedrigen Kompressionsgraden starkere Hirndruck- 
symptome und vor allem friihzeitig Krampfe auftraten, wohl eine 
Folge des Wegfalls cerebraler Hemmungen und dadurch gesteigerter 
Reflexerregbarkeit des Ruckenmarks. 

Auf andere klinische Beobachtungen des gleichen Befundes bei 
Hirntumoren, die sich in der Literatur finden, gehe ich nicht ein. Das 
Vorstehende geniigt fiir einen allgemeinen Cberblick. Die Mitteilung 

*) Expenmentelle Untersuchungen iiber Drucksteigerungen im Riicken- 
markssack. Ref. im Jahresbericht (Mendel-Jakobsohn) Dtsch. Arch. f. klin. Med. 
76, 7, S. 193, 1903. 

Archiv (Ur Psychiatric. Btl. 08 . 


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250 R. Wollenberg: Drucksteigerung in der Schadelriickgratshohle usw. 

des von mir jetzt beobachteten Falles schien mir angezeigt, weil die 
Tatsache dieser Beziehungen zwischen Drucksteigerung und Sehnen- 
reflexen etwas in Vergessenheit gekommen zu sein scheint. DaB mein 
Fall hierzu gehort, ist wohl ohne anatomische Nachprufungsmdglichkeit 
zuzugeben. 

Zum Schlusse mag im Hinblick auf die vorher erwahnte Bemerkung 
von C. Mayer noch erwahnt werden, daB in einem kurzlich von mir beob¬ 
achteten Fall von erworbenem hochgradigen Hydrocephalus mit rasch 
eingetretener Erblindung, in dem die Encephalographie eine Verlegung 
der Verbindungswege zwischen Schadel- und Spinalhohle anzunehmen 
zwang, keine Abschwachung, sondern sogar eine Steigerung der Sehnen- 
reflexe bestand. 


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Empfindungstauschuiigen im Bereiche amputierter (ilieder. 

Von 

E. Meyer, Konigsberg i. Pr. 

(Eingegangen am 18. Dezember 1922). 

Beobachtungen, daB amputierte GliedmaBen als noch vorhanden 
erapfunden werden, daB in ihnen Schmerzen und Parasthesien verschie- 
dener Art, sowie unwillkurliche, ja willkiirliehe Bewegungen zur Wahr- 
nehmung koraraen, sind schon lange gemacht. Es sind insbesondere 
Mitteilungen von Weir Mitchell 1 ), an die sich Erdrtcrungen der Psycho¬ 
logic und Physiologic diescr Erschcinungen racist anschlieBen. 

Von iilteren klinischen Arbeiten nenne ich hier vor allem die von 
Pitres?). Ira einzelnen konime ich auf diese wie die physiologischen 
und psychologischen Auffassungen spater zu sprechen. 

Die groBc Zahl von Amputationcn, die, wie leider unvermeidlich, 
der letzte Krieg im Gefolge gehabt hat, gaben Veranlassung und Ge- 
legenheit, eine groBe Zahl von Amputationen verschiedener Art zu 
untersuchen. Einzelne Falle, aus anderer Zeit stammend oder auf 
anderen Ursachen beruhend, vermehren unserer Material. Im ganzen 
verfiige ich iiber ca. 60 Beobachtungen der Art 3 ). An die Spitze unserer 
Beobachtungen stelle ich einen lresonders charakteristischen Fall, der 
mir den AnstoB zu den weiteren Untersuchungen von Amputationen 
gegeben hat: 

1. E., Feldwebel. Untersuchung vom 22. IX. 1915. 

24. II. 1915 Verwundung durch Schrapnell. Zuerst init dem l’ferde um- 
geworfen, dann getroffen, und zwar von 20 Kugeln auf den rechten Arm, wurde 
bewuBtlos fiir etwa 2 Stunden. Beim Erwachen nur Schmerzen in den Finger- 
spitzen, groBe Schwere im Arm. 

1. III. 1915 Amputation im Schultergelenk. Nach der Operation gleich 
heftige .Schmerzen im Arm, besonders im Ellenbogengelenk (im Verband war der 
Arm etwas gebeugt, die gleiche Stellung habe er bei der Verwundung gehabt). 
Allmahlich wurden die Schmerzen besser, machten sich nur bei Witterungswechsel 
mehr bemerkbar. Die Schmerzen waren an del Stelle der friiheren VVunden loktvli- 
siert, die er noch deutlich fiihlte; anfangs alle, jetzt besonders zwei iilrer dem 
Ellenbogen, wo sich 2 Kugeln auf dem Knochen getroffen hatten. 

*) Zit. nach Ferrier: Die Funktionen des Gehirns. Deutsch von Obersteiner, 
1879. 

*) Pitres: Ann. med.-psychol. 15. 

a ) Dieselben stammen zumeist aus dem Jahre 1915. Ihre Bearbeitung war 
mir erst jetzt moglich. 

17* 


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252 


E. Meyer: 


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Von Anfang an habe er den amputierten Arm noch als vorhanden wahr- 
genonunen, und zwar dauemd das Stuck unterhalb des Ellenbogens, das dariiber 
liegende nur bei Witterungswechsel. Spontane Bewegungen im amputierten Arm 
habe er nie bemerkt, dagegen war es ihm, als ob er die Hand bewegen konne, 
und zwar etwas beugen im Handgelenk wie in den Fingem. Er tue das, wenn 
ihm die Hand unbequem zu liegen scheine, z. B. auf dem Riicken. Pat. bemerkt 
dazu. daB er nach der Verwundung so aufgefunden sei, daB die verwundete Hand 
unter dem Riicken lag. Er konne aber sonst willkiirlich das Gefiihl hervorrufen. 
daB Finger und Hand sich bewegen, z. B. konne er Daumen und Mittelfinger. 
die er nach der Verletzung gegeneinander stiitzte und die er in dei Weise stets 
fiihle. iibereinander bringen. Sonst sei der Arm unbeweglich. Bewegungen mit 
der linken Hand konne er nicht mit der fehlenden rechten nachmachen. 

Dauemd habe er das Gefiihl, als ob der Arm am Korper anliege in der Stel- 
lung, wie er verbunden war. Eine Anderung in der Stellung trete meist nicht 
ein, nur befinde sich der Arm plotzlich, besonders bei Witterungswechsel, auf 
dem Riicken. Er konne dann die Stellung andern, indeni er die Schultermusku - 
latur spanne und den Korper nach vom drehe, dann gehe der Arm nach vom. 
Auch eine Bewegung des Arms nach vom iiber den Leib hin sei in iihnlicher 
Weise moglich. Den Arm nach auBen zu bewegen, habe er nie versucht. Auf- 
gefordert es zu tun, sagt Pat., es gelinge, es stienge ihn aber an, er fange an warm 
zu werden, was sonst nicht der Fall bei den Bewegungen sei. Was die Lange 
des fehlenden Gliedes angehe, so empfinde er den Unterarm wie friiher, der Ober- 
ann erscheine um 1 / 3 kiirzer. Die beschriebenen Empfindungen seien unange- 
nehm, direkt quiilend. ,,Ich habe die Rube nicht mehr wie friiher, auch ivenn 
ich mir vornehme, mich nicht darum zu kiimmern und mich stark mit der Urn- 
gebung abgebe, immer kommt das quiilende Gefiihl.“ Nachts sei er oft wach. 
doch habe sich der Schlaf etwas gebessert. Er werde wach durch die Empfin¬ 
dungen im amputierten Arm; wenn er auf der linken Seite schlafe, empfinde er 
unwillkiirlich die rechte Hand auf der linken Schulter, weil sonst im Schlaf der 
rechte Arm heriiber zu sinken scheine und er aufwache. Er schrecke dann auf, 
fiihle die Wunden im Arm. Anfangs habe er im Fieber und im Schlaf die Szene 
seiner Verwundung oft durchgemacht, auch sonst den Krieg wieder durchlebt. 
Jetzt sei das geschwunden. Im allgeineinen sei er etwas nervos erregbar, was 
friiher nicht der Fall war. An sich empfinde er den rechten Arm wie den linken. 
doch sei stets etwas wie Elektrisieren darin. Unterwegs sei er oft angstlich, daB 
ihm jemand an den (fehlenden) Arm komme. Bei zufalliger Beriihrung des Armes 
in dei Gegend des Ellenbogens bekomme er Schmerzen. Beim Anziehen will er 
zuweilen mit dem fehlenden Arm zugreifen. 

Dieser besonders ausgesprochene Fall gibt AnlaB zu verschiedenen 
Fragen : einmal, ob jedesmal bei Amputation hzw. Gliedverlust in 
anderer Weise die Trugimhrnchmung des fehlenden Gliedes auftritt, 
weiter, wie diese Trugwahmehmungen beschaffen sind , ob sie mit Ab- 
weichungen der Lage, der GroBe oder Gestalt, mit Storungen des Ge- 
fiihls, Schmerzen, Parasthesien usw. einhergehen, auch ob sic mit an- 
scheinenden Bewegungen, spontan oder willkiirlich, verbunden sind? 

Ehe wir bierauf naher eingehen, sollen aus der Gesamtheit unseres 
Materials die bemerkenswerten Falle wiedergegeben werden. 

2. Or. Untersuchung vom 1. IX. 1915. 

2. II. 1915. Verletzung im FuBgelenk. Amputation zuerst an der Grenze 
von oberem und nuttlerem Drittel des Unterschenkels (5. III. 1915). 


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Empfindungstauschungen im Bereiche amputierter Glieder. 


253 


Nach der ersten Operation Schmerzen im amputierten FuB und FuBgelenk. 

8. VI. 1915 zweite Operation. Amputation im linken Kniegelenk. 

Danach zuweilen Gefiihl, als ob der Stumpf noch da wiire, aber nicht der 
FuB, was anfangs der Fall war. Die Xarbe am Stumpf ist dniekempfindlich. 
die dadurch auftretenden Schmerzen werden nur in dem Stumpf lokalisiert. 

Untersuchung vom 14. IX. 1915. Nach Ubungen an Zander-Apparaten 
Kribbeln in den Zehen, alles wurde wie lebendig, ebenso nach Gehen mit Kriicken 
zuerst. Nach liingerem Sitzen schwand diese Empfindung, bei Erregung trat 
sie wieder auf. Keine spontanen Bewegungsempfindungen, keine Mitbewegungen 
bei Bewegung des linken Beins. Bei Anspannung der Muskeln des linken Ober- 
schenkels Empfindung, als ob der fehlende Teil gestreckt und gebeugt wiirde. 
Beim Gehen mit Kriicken, wenn die Muskeln des Oberschenkels nicht angespannt 
wiirden, kein Gefiihl der Bewegung. Der fehlende Teil erscheine ebenso lang 
wie friiher. 

3. Pu. Untersuchung vom 14. IX. 1915. 

11. III. 1915 linker Oberschenkel verwundet. 

4. IV. 1915 Amputation im Unterschenkel; 5. V. am Knie. Keine Schmer¬ 
zen im Stumpf anffinghch. Nach der ersten Amputation bald Zucken im Knie. 
Gefiihl, als ob die Zehen noch da wftren, als ob die Schmerzen, die er dabei hatte, 
in den Zehen saBen. Bewegungen habe er nicht gefiihlt. Nach der zweiten Am¬ 
putation hat ten diese Empfindungen ganz aufgehort. Jetzt, bei Aufstehen mit 
und ohne Kriicken Gefiihl, als ob der Unterschenkel wieder daran ware, nach 
hinten gestellt sei. Beim Gehen mit Kriicken sei es auch, als ob das rechte Knie 
sich aufsetze, nicht der FuB. Sonst keine Wahrnehmung von dem fehlenden 
Gliede, auch bei Bewegungen und Anspannen des Stumpfes. Keine Mitbewe- 
gungsempfindung bei Bewegung des rechten Beins, keine willkiirliche Bewegungs- 
wahrnehmung, auch nicht durch Anspannen des Stumpfes. 

4. Ba .*) Untersuchung vom 9. IX. 1915. 

1. VIII. 1915 Verwundung im rechten Oberarm. 

14. VIII. 1915 Amputation in der Mitte des Oberarms. Pat. hat bestiindig 
Empfindungen in dem amputierten Glied, anfangs geringer, seit ca. 8 Tagen 
wieder deutlicher, ,,so. als ob der ganze Arm noch daran ware und bestiindig in 
demselben ReiBen sei“. Die Schnierzempfindungen sind so, als ob der Arm ein- 
geschlafen sei und Stiche von oben nach unten ihn durchziehen. Bisweilen sei 
es auch so, als ob Fliegen an dei Streckseite des Armes auf- und abliefen. Diese 
Empfindungen seien nicht nur in den Fingern, sondem auch in den iibrigen Teilen 
des Armes. Pat. hat auch das Gefiihl, als ob er den Arm bewege. Fur gewohn- 
lich Bcheint der Arm schriig von rechts oben nach links unten zu hiingen. Eine 
Verkiirzung des Armes hat Pat. nicht bemerkt. Nachts wache er oft wegen der 
Schmerzen auf. Abends im Bett habe er oft die Empfindung, daB der Arm wie 
natiirlich entweder auf dem Leib oder dei Brust liege. Die Finger seien dann 
immer gebeugt. Einen Unterschied in der Warme zwischen dem vorhandenen 
und dem fehlenden Arm hat Pat. nicht bemerkt. Beim Trinken warmer oder 
heiBer Getriinke hat Pat. das Gefiihl, daB die Warme in den Amputationsstumpf, 
aber nur bis an das Stumpfende, hineinstrahle. 

Die schmerzhaften Empfindungen seien so lebhaft und so deutlich, daB 
Pat. oft am Tage mit dem linken Arm — wie in gesunden Zeiten — nach dem 
rechten Unterarm greife, um ihn zu streichen oder zu reiben, bis ihm dann die 
Tauschung zum BewuBtsein kommt. Schon zweimal sei es vorgekommen. daB 


') Ich verdanke die Mitteilung dieses Falles Herrn Professor Stranch-Bei lin, 
dainals Lazarett Kamstigall bei Pillau. 


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E. Meyer: 


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er einen Topf in der linken Hand hielt und ihn hinfallen lieB, weil er ein so deut- 
liehes Gefiihl vom Vorhandensein des iechten Armes hatte, daB er mit dem lin¬ 
ken unterstiitzend zugreifen wollte. 

Untersnchung vom 16. IX. 1915. Seit gestern empfinde er, wenn er sich 
hinsetze oder hinlege, in den Fingern ein besonders starkes Brennen. Dieses 
Gefiihl sei auch sofort wieder da, sobald er nachts aufwacke. Ferner habe er 
jetzt das Gefiihl, als konne er nur den Daumen und den Zeigefinger bewegen, 
die anderen Finger liigen gebeugt wie sonst. 

21. IX. 1915. Seit gestern spine er vom Schulterstumpf bis zur Hand- 
wurzel gar keine Empfindungen, nur in der Hand habe er noch das gleiche Ge- 
fiihl wie friiher. Auf Befragen gibt Pat. an: „Mir fftllt an dem jetzigen Zustand 
eben auf, daB eine verbindende Empfindung zwischen Stumpf und Handwurzel 
fehlt.“ Eine Veikiirzung der Entfernung von der Hand zum Stumpf empfinde 
er auch heute nicht. 

28. IX. 1915. „Das Gefiihl der Verbindung von Stumpf und Hand ist heute 
wieder da, aber ich habe seit gestern morgen die Empfindung, daB mein rechter 
Arm bedeutend kiirzer ist als der linke, und zwar so, daB die Hand ungefahr in 
dem proximalen Drittel des Unterarmes sitzt.“ Auf Vorhalten, ob er das alles 
nicht jetzt erst, nach den mehrfachen Vernehmungen, sich einbilde und gleich- 
sam darauf gelaueit habe, ob solche Verkiirzung nicht noch bei ihm eintreten 
werde. entgegenet Pat.: ,.Nein, das Gefiihl hat sich mir durchaus aufgedrangt. 
und zwar dadurch, daB mir auffiel, daB ich mit der rechten Hand, in der ich sonst 
imrner das Gefiihl hatte, den oberen Teil des Oberschenkels befassen und jucken 
zu konnen, bei auftretenden Reizen irgendwo an dieser Stelle nicht mit meinem 
Arme mehr hinreichen konnte, sondern nur noch in der bezeichneten Lange. “ 

4. IF a. L T ntersuchung vom 28. VIII. 1915. 

Amputation des 4. und 5. Fingers der linken Hand nach SchuBverletzung. 
Von Anfang an Gefiihl, als ob die Finger vorhanden seien und wie zusammen- 
gebunden bewegt wiirden. Gefiihl so stark, daB er dann oft vergesse, daB die 
Finger fehlten. Geld sei ihm zuweilen deshalb fortgefallen. Oft habe er Kribbeln 
in den Fingern, besonders bei Beriihren der schmerzhaften Xarbe. Pat. hat 
psychisch wie korperlich die Zeichen allgemeiner Ubererregbarkeit. An dei linken 
Hand, besonders am linken Handriicken, besteht Hypalgesie. 

5. Hr. Untersuchung vom 27. VII. 1915. 

Am 2. X. 1914 Unterschenkel links in der Mitte amputiert. Etwa 14 Tage 
nach der Operation Ziehen im amputierten Gliede, speziell in den Zehen, nach 
Art elektrischer Schlfige und Zusammenziehen ebenda. meist in der Amputations- 
stelle, bis Anfang Dezember. Sonst eigentlich keine Empfindung mehr von dem 
amputierten Gliede. 

6. Ko. Unteisuchung vom 28. VII. 1915. 

Im Februar 1915 Amputation beider Unterschenkel, etwa in der Mitte, 
nach Erfrieren. Seitdem Schmerzen in beiden amputierten Gliedern, besonders 
in den Zehen. allmahlich weniger, jetzt nur noch zuweilen. Heute zum ersten 
Male Prothese an beiden Stiimpfen angelegt. dabei geauBert. „der rechte Schuh 
driioke“. Er habe noch oft das Gefiihl, daB die fehlenden Glieder vorhanden seien. 
Es gehe wie ein elektrischer Strom vom Oberschenkel her bis in die groBe Zehe. 

7. Wii. Untersuchung vom 28. VII. 1915. 

20. VIII. 1914 GewehrschuB im r. Oberschenkel. Bei der Aufnahme ins 
Lazarett (15. XI. 1914) heftige Schmerzen von der r. Hiifte bis ins Knie. 

28. V. 1915 Amputation im oberen Drittel des linken Oberschenkels nach 
Querschlttgervei wundung. Wunde gut verheilt. Kein Neurom. Seit der Am¬ 
putation sehr heftige Schmerzen im gunzen amputierten (1.) Bein, besonders 


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Empfindungstausehungen im Bereiche amputierter Glieder. 


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vom Knie bis in die Zehen. Pat. fiihlt in jeder Zehe Schmerzen, auch besonders 
in der FuBsohle. Weiter Schmerzen an der AuBenseite des Unterschenkels, an 
der Amputationsstelle keine starkeren Schmerzen. Pat. fiihlt jeden Teil des 
amputierten Gliedes. Bisher Empfindung beim Versuch auf der rechten Seite zu 
schlafen, als ob das linke Bein liber das rechte falle, wenn er auf dem Riicken 
liege, als ob das linke Bein aus dem Bett herausfalle. Das sei jetzt etwas besser. 
Beim Gehen mit Kriicken keine wesentlichen Schmerzen. auch nicht so sehr im 
Sitzen, starke im Liegen, bis tief in die Nacht. 

Die Untersuchung ergibt starke Druckempfindlichkeit der Ischiadikuspunkte 
links. Links Hypalgesie in den betreffenden Hautstellen. Pat. gibt an, schon 
friiher vor dem Krieg linkerseits Ischias gehabt zu haben, ebenso anfangs nach 
der Verwundung, jetzt nicht mehr. Er scheint allgemein nervos/sehr empfindlich. 

8. Krii. Untersuchung vom 10. IX. 1915. 

28. VI. 1915 Verwundung am linken Unterarm. 

1. VIII. 1915 Amputation im oberen Drittel des linken Unterarms. Habe 
anfangs den Arm nicht gespiirt. Nach etwa 3 Wochen habe er so ein Gefiihl be- 
kommen, als ob die Hand da sei, eine Art Kribbeln darin. Es sei, als ob die Hand 
krampfhaft zusammengedriickt werde. Jeder Finger sei zu spiiren, der Daumen 
liege auBen. Er habe das Gefiihl, daB nur die Hand da sei, der iibrige Arm nicht. 
Der Arm stehe etwas gebeugt. Er fiihle leichte Bewegungen im Handgelenk. 
liesonders bei Witterungswechsel, ganz langsam; es sei, als spiire er jede Muskel- 
bewegung. Selbst bewegen konne er die Hand nicht. Im Stumpf habe er Schmer¬ 
zen, in dem fehlenden Glied nicht. Mitunter sei ihm, als ob er mit der Hand zu- 
greifen wolle. Bewegungen der gesunden Hand konne er nicht nachahmen. Mit- 
bewegungen in der amputierten Hand bei Bewegung der anderen spiire er nicht. 

9. Ja. Untersuchung vom 10. IX. 1915. 

15. VI. 1915 rechter Oberarm verwundet. 

23. VI. 1915 Amputation im oberen Drittel des rechten Oberarms. Er habe 
dauernd die Empfindung, als ob die Finger des amputierten Armes vorhanden 
w&ren. Den iibiigen fehlenden Arm fiihle er nicht. Die Finger lagen immer leicht 
cebeugt. Fiir gewohnlich spiire er keine Bewegung in ihnen. Mit ,.bestem Willen“ 
komme es ihm vor, als ob er sie etwas mehr beugen konne, jedoch nicht so 
weit, daB sie die Handflitche ganz beriihrten; ebenso konne er sie etwas strecken. 
aber nicht vollkommen; den Daumen fiihle er am meisten. Die Hand hiinge 
herunter, es sei ihm, als ob im Ellenbogen der Arm gebeugt sei. Eine Verkiirzung 
des Armes habe er nicht bemerkt. Die Hand sei schwerer, wie tot. Zur Zeit der 
Verletzung habe die Hand in der Stellung gestanden, in der er sie jetzt noch 
fiihle. Anderweitige Bewegungen, Nachahmung von Bewegungen des gesunden 
Gliedes seien nicht moglich, ebensowenig nehme er Mitbewegungen wahr bei 
Bewegung der anderen Seite. 

Patient hat noch keine Prothese. 

10. Srhn. Untersuchung vom 10. IX. 1915. 

11. II. 1915 Verwundung im Ellenbogen. 

13. III. 1915 Mitte des Oberarmes amputiert. Gibt an, er habe bei guter 
Witterung das Gefiihl — schon bald nach der Amputation gehabt—, als ob die 
Finger der fehlenden Hand leicht gebeugt seien und den Knochen des Ampu- 
tationsstumpfes umfassen. d. h. umfassen wiirden bei HandschluB. Er konne 
aber die Finger nicht schlieBen. Die Hand sitze naher als in der Norm an dem 
Ellenbogen. Bei schlechtem Wetter erscheine die Hand zur Faust eingesehlagen. 
Ein Ubergang zwischen beiden Stellungen sei ihm noch nicht zur Wahrnehmung 
gekonimen. Bei Witterungswechsel enipfinde er Ziehen im Stumpf bis in die 
Hand hinein. In der ersten Zeit nach der Amputation habe er „mit den Nerven“ 


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E. Meyer: 


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die Bewegung gemacht, vorbei gegriffen, jeden Finger oben im .Stunipf gefiililt. 
Jetzt bemerke er keine Bewegung mehr. Mitbewegungen nicht bemerkt, keine 
Nachahmung der Bewegungen der anderen 8eite moglich. Fiigt noch hinzu, 
dali das amputierte Glied im Ellenbogen aufgestiitzt erscheine. 

11. Ku. Untersuchung vorn 10. IX. 1915. 

7. VI. 1915 GewehrschuB durch den rechten Unterarm der Liinge nach. 

10. VI. 1915 Amputation in der Mitte des Oberarms. Noch keine Prothese. 
Von Anfang an Gefiihl, als ob die Hand noch da ware. Die Finger ,.fassen“, als 
wenn die linke Hand geballt wiirde. Zuweilen seien der Daumen und 2. und 
2. Finger, dann der 4. und 5. Finger wieder in der Niihe des Knies gelagert. Der 
Arm habe die gleiche Lage wie friiher, erscheine nicht schwerer oder leichter. 
Schmerzen in demselben verspiire er nicht. Bei Druck auf den Stunipf dort 
Schmerzen, die dann in die Hand ausstrahlten. Nachts sei der Zustand der gleiche 
wie am Tage. Beim Liegen auf der rechten Korperseite bekomme er Schmerzen 
in der ganzen rechten Seite; besonders nervos sei er nicht. Wenn er auf der 
StraBe gehe, selbst im Gedrange, trete kein besonderes Gefiihl in bezug auf den 
fehlenden Arm auf. In der ersten Zeit habe er in Gedanken oft zugreifen wollen, 
wenn etwas hinfiel. 

12. Neu. Untersuchung vom 10. IX. 1915. 

23. XI. 1914 Verwundung im linken Ellenbogen. 

6. I. 1915 Amputation in der Mitte des linken Oberarmes. Gibt an, er 
fiihle die linke Hand recht stark, insbesondere die Finger, den Arm nicht. Es 
sei eine Art Kribbeln, besonders im Handriicken, als wenn die Finger sich lang- 
sam bewegten. etwas gebeugt hin- und hergingen. „Als ob man Zittern hat und 
jeder Finger mochte fur sich allein eine Bewegung maclien." Er habe das Ge- 
fiihl, als ob er mit aller Kraft eine Faust machen konnte und die Finger aueh 
wieder auseinander bringen. In den ersten 14 Tagen habe er auch den iibrigen 
Arm noch gefiililt. Die Hand scheme etwas nalier an den Stunipf geruckt, liege 
dem Korper an, wie der lange Armel. In der ersten Zeit war ihm, als miisse er 
den Arm im Gedrange schiitzen. Pat. hat noch keine Prothese. Ein Gefiihl von 
Schwere oder dgl. in der amputierten Hand habe er nicht. Vereinzelt gehe eine 
Art Rucken durch den Korper und die fehlende Hand. Der Stunipf sei jetzt 
unempfindlich. Nachts habe er das Gefiihl, als ob die amputierte Hand den 
Kopf im Schlaf stiitze. Das war von Anfang an. Er habe wohl friiher oft so 
geschlafen. „Als ich aus der Narkose erwachte, fragte ich: ,Xa, Schwester. hat 
der Doktor docli den Arm nicht abgenommen? 4 so deutlich fiihlte ich ihn.“ Die 
Bewegungen der rechten Hand kann Pat. nicht nachmachen. Gibt an, er habe 
zuerst hauptsachlich die Wundstelle gefiililt. Storen tue ihn das Gefiihl nicht. 

13. Schm. Untersuchung vom 10. IX. 1915. 

22. VI. 1915 Verwundung in der Mitte des linken Unterarmes. 

12. VII. 1915 Amputation im Ellenbogengelenk. Keine Schmerzen im 
Stuinpf. Er fiihle dauernd dieWunde, nicht schmerzhaft, sondern es sei so „ein 
komisches Gefiihl“. Dann sei es, als ob die Finger sich dauernd zusammen- 
krampften, sie gingen schwer auseinander. So ein Gefiihl sei sclion nach dem 
SehuB gewesen, ohne daB eine Bewegung in den Fingem moglich war. Die Hand 
sitze nahe am Ellenbogen. dicht ilran, wie jetzt der Armel hange, so sei ihre 
Lage. Spontane Bewegungen oder Bewegungen der anderen Seite nachzumachen, 
sei nicht moglich. 

14. Bra. Untersuchung vom 31. VIII. 1915. 

13. XI. 1914 Verletzung am rechten FuB. 

1. Amputation 1. XII. 1914 handbreit unter dem Knie. Danacli hatte er 
das Gefiihl, als ob der FuB da ware, besonders der Hacken, die Zehen nnd die 
Wade. Es war Ziehen darin. RciBengefiihl, als ob die Zehen sich bewegten. 


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Empfindungstauschungen im Bereiehe amputierter Glieder. 


257 


18. IV. 1915 Amputation im Knie. Gefiihl bestand wie vorher fort, nur 
etwas schwacher. Es war, als ob die Zehen dicht am Stumpf s&Ben, so deutlich. 
als ob er sie fassen konne. Die Schmerzen in dem amputierten Gliede waren hfiufig 
sehr heftig, besonders in der groBen Zehe. Friiher sei er gesund gewesen, jetzt 
allgemein nervos, klagt fiber schlechten Schlaf, Erregbarkeit. Im linken Arm 
besteht eine psychogene motorische und sensible Parese. 

15. Nauj. Untersuchung vom 14. LX. 1915. 

7. XI. 1914 SchuB durch das rechte Knie. 

19. XII. 1914 Amputation im oberen Drittel des rechten Oberschenkels. 
Habe ein „koinisches Gefiihl“, als ob das Bein noch da sei, als ob die Zehen 
durchschnitten waren. Die Zehen seien oben wie wund. Er fiihle auch das FuB- 
gelenk und die Wade, eine Art Kribbeln sei darin, keine Schmerzen. ebenso im 
Stumpf. Der FuB sei gelagert nach der Korperlage. Er habe auch das Gefiihl. 
als ob die Zehen sich bewegten, auch nach der Seite. Die Entfernung des FuBes 
vom Stumpf sei dieselbe wie friiher. Bei Fehltritten komme es vor, daB er sich 
auf das Bein stiitzen wolle, das sei auch jetzt noch wie in der ersten Zeit. 

Auf Befragen, er habe das Gefiihl, als ob er Bewegungen der anderen Seite 
nachahmen konne, aber nur in Gedanken, es sei nicht so, wie er die Bewegungen 
in den Zehen fiihle. „Es ist mir, als ob ich es heben wollte, aber es ist steif, als 
wenn alles dran ist, aber es ist nicht.“ Bei Bewegungen des Stumpfes fiihle er 
keine Bewegungen im Bein. Nachts sei es wie am Tage. 

16. Kost. Untersuchung vom 14. IX. 1915. 

19. III. 1915 SchuB oberhalb des linken Knies. 

21. III. 1915 Amputation im oberen Drittel des Oberschenkels. Keine 
Schmerzen im Stumpf. Dauemd Gefiihl, als ob das Bein noch da ware, gleich 
von Anfang an, besonders bei Witterungswechsel. Er nehme den ganzen FuB 
wahr, den Teil dariiber nicht. Es kribbele darin. Sonst sei die Empfindung wie 
vor der Amputation. Es sei wie in Kniehohe, hfinge von da herunter. Es sei auch, 
als ob die Zehen sich streckten und beugten. Bewegungen im Knie fiihle er nicht. 
Anfangs habe er das Gefiihl gehabt, als ob er das Bein aufsetzen konne, spfiter 
nicht mehr. Durch Kriicken sei eine Anderung nicht eingetreten. Xachmachen 
von Bewegungen der anderen Seite sei nicht moglich. Keine Wahrnehmung von 
Mit bewegungen. 

17. We. Untersuchung vom 24. VIII. 1915. 

14. X. 1914 rechter Oberschenkel verwundet. Viel ReiBen danach. 

20. II. 1915 Amputation im oberen Teil des rechten Oberschenkels. An¬ 
fangs permanent das Gefiihl, als ob das amputierte Bein noch da wfire, spfiter 
nur hin und wieder, schweres Gefiihl darin, es erscheint etwas kiirzer, aber gerade. 
— Hatte anfangs einen Gipsverband, in dem das Bein gestreckt war. — Bewe¬ 
gungen im Bein nie verspiirt. Er fiihlte nur die Zehen. Der Stumpf ist noch emp- 
findlich. Beim Liegen habe er das Gefiihl von Ziehen durch das ganze Bein. 
Durch Gehen mit Kriicken keine Veranderung. 

Untersuchung vom 24. IX. 1915: Gefiihl wie friiher. Fast immer habe er 
langsame, spontane Zehenbewegungen mit gleichzeitigem Kribbeln darin. Auch 
von selbst konne er die Zehen etwas bewegen. Bei Bewegungen des Stumpfes 
scheme der amputierte Oberschenkel zu fehlen. der Unterschenkel bleibe un- 
beweglich. 

18. Kra. Untersuchung vom 24. VIII. 1915. 

12. III. 1915 FiiBe abgefroren. Danach Gefiihl, als ob die FiiBe tot seien. 

12. IV. 1915 Amputation rechts im FuBgelenk, links im Unterschenkel. 
Links bestehe das Gefiihl, als ob die Zehen da wfiren, mehr als friiher. Keine 
Schmerzen, auch nicht im Stumpf. Bei Beriihren des Stumpfes nehmen die Emp- 


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258 E. Meyer: 

findungen in den Zehen zu. Rechts fiihle er nichts, nur bei Druck auf den Stumpf 
nnten Gefiihl, als ob die Zehen da waren. 

Untersuchung vom 24. IX. 1915: Kein Bewegungsgefiihl in den FiiBen, 
doch habe er die Empfindung, als ob er selbst langsam die Zehen bewegen konne, 
ohne Anspannung des Stumpfes, da wo der ganze FuB fehle. Links gehe bei 
Erheben des Stumpfes der EuB mit. 

19. Sh. Untersuchung vom 24. VIII. 1915. 

2. II. 1915 SchuB durch den linken Unterschenkel und dann durch den 
rechten. 

3. II. 1915 rechter Oberschenkel iiber dem Knie abgenommen. Gefiihl, als 
ob die Zehen noch da w&ren, wenigstens vielfach. Oft so, daB er die Zehen an- 
fassen wolle, weil es darin kribble. DaB er die Zehen bewegen konne, habe er nicht 
wahrgenom men. 

14. IX. 1915. Gibt heute an, er habe das Gefiihl, als ob die Zehen sich be¬ 
wegen. Meint, bei starkem Ausstrecken des linken Beins fiihle er eine Anspan¬ 
nung im rechten Stumpf unten. 

24. IX. 1915. Gefiihl wie vorher. Habe das Gefiihl, als wenn das Knie bei 
Bewegungen des Stumpfes bis zur Wagerechten initginge, hoher nicht. Sagt 
heute, er konne die Zehen nicht von selbst bewegen, auch nicht Bewegungen 
damit nachmachen, fiihle keine Mitbewegungen. 

20. Fried. Untersuchung vom 24. VIII. 1915. 

7. VI. 1915 Verwundung am Unterarm. 

8. VI. 1915 Amputation im Ellenbogen. Keine Schmerzen im Stumpf. Er 
fiihle die Finger wie bei der Verwundung, etwas eingeschlagen stehend. An der 
Innenseite weniger. Sie saBen zur H&lfte nfiher als friiher am Ellenbogen. Das 
Zwischenstiick zwischen den Fingem und dem Stumpf nehme er nicht wahr. 
Anfangs habe er heftige Schmerzen in den Fingern gehabt und das Gefiihl. als 
ob sie sich bewegten. Jetzt sei es, als ob der Arm angeheilt, fest geworden sei. 
Druck auf den Stumpf ist empfindlich, ruft aber ebensowenig wie Druck auf 
die Nerven im Sulcus bicipitalis Anderungen der Empfindung hervor. 

21. Sid. Untersuchung vom 24. VIII. 1915. 

28. X. 1914 Verwundung im linken Knie, keine besonderen Schmerzen im 
Bein danach. 

10. XII. 1914 Amputation im linken Oberschenkel. Gefiihl, als ob das 
Bein noch da sei. In der ersten Zeit dauernd, spater noch vielfach. Keine Schmer¬ 
zen im Bein. Bein erscheint kiirzer und krumm, nach hinten abgebogen, anfangs 
gerade und ebenso lang wie friiher. Bei der Benutzung der Kriicken hatte er 
erst das Gefiihl, als konne er den FuB ansetzen. Nachts empfinde er nichts. 
Besonder* anfangs war es auch da, als ob das Bein da sei, zuweilen als ob die 
\Vunden im linken Knie noch vorhanden wiiren. 

24. IX. 1915. Das Gefiihl sei zuweilen sehr storend, das Bein scheine ganz 
lioch zu fliegen. In den Zehen Bewegungen von selbst nachzumachen nicht mog- 
lich. Miteinpfindungen werden nicht wahrgenommen. Das Bein gehe mit dem 
Stumpf mit, bleibe aber schlaff. 

22. 1 Va. Untersuchung vom 24. VIII. 1915. 

1. III. 1915 GewehrsehuB durch den linken Arm. Danach im ganzen Kor- 
per Schmerzen. Fieber. 

13. III. 1915 Amputation im linken Oberarnr. Danach keine besonderen 
Schmerzen, doch „Nervenzucken“ im Stumpf. Er fiihle dauernd den fehlenden 
Arm. jetzt weniger als friiher, besonders noch bei schlechtem Wetter. Es sei sehr 
deutlich, als ob er herunterh&nge. Bei Bewegungen des Stumpfes kein Gefiihl 
von Bewegung im Arm. Jetzt fiihle er nur die Hand immer wie eingeschlafen. 


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Empfindungstauschungen im Bereiche amputierter Glieder. 259 

Xachts sei nichts Besonderes. Anfangs habe er sich wohl benommen, als wenn 
der Arm nocli da sei. Bei Druck auf die Xarbe Schmerzen, dann Gefiihl von 
Schmerzen in der fehlenden Hand, gewisses Ziehen, allgemeine nervose Erreg- 
barkeit. 

24. IX. 1915. Bei Witterungswechsel, wohl auch son^J seien die Empfin- 
dungen storend. Er habe das Gefiihl, als wenn er die Finger etwas willkiirlich 
bewegen konne, ganz gerade bekomme er sie nicht. Es strenge ihn an und gehe 
langsarn. Bei Bewegungen des Stumpfes bleibe die Hand unbewegt hftngen. 

23. Slei. Untersuchung vom 24. VIII. 1915. 

27. XII. 1914 SchuB in den linken Oberann. Danach Schmerzen im linken 

Arm. 

8. I. 1915. Amputation im linken Oberarm. Im Stumpf danach keine 
Schmerzen, dagegen in der linken Hand, wie Elektrisieren. Pat. fiihlte sofort 
die linke Hand, den Arm im iibrigen nicht. Es war ein unangenehmes Gefiihl. 
Bei Druck auf die Xarbe Schmerzen, die in die Finger ausstrahlen. Bei Bewe¬ 
gungen des Armes stumpfe Empfindung, als ob die Hand sich bewegte. Keine 
.-jjontanen oder willkiirlichen Bewegungen sonst inoglich. 

24. Sze. Untersuchung vom 24. VIII. 1915. 

11. II. 1915 2 Schiisse durch den rechten Unteiarm. 

13. III. 1915. Arm dicht unter dem Ellenbogen abgenominen. Am Stumpf 
dauernd Schmerzen. Dauernd das Gefiihl, als ob die Hand noch da sei mit dem 
Unterarm, aber kiirzer. Kein Gefiihl spontaner oder willkiirlicher Bewegungen. 
In der Hand sei ein Gefiihl wie Elektrisiertwerden. Die Xarbe ist druckempfind- 
lich. bei Beriilirung derselben Schmerzen, die bis in die Hand ausstrahlen. Die 
Xarben im Sulcus bicipitalis sehr druckempfindlich. Zeichen allgemeiner Cber- 
erregbarkeit. 

24. IX. 1915. Das gleiche Gefiihl wie friiher. Bei Witterungswechsel ist es 
unangenehm. Von selbst spiire er keine Bewegung, doch nelnne er wahr, daB, 
wenn er sich anstrenge, er die Hand langsarn etwas bewegen konne, auch Be¬ 
wegungen der anderen Hand mit Anstrengungen etwas nachzumachen vermoge. 

25. Ni. Untersuchung vom 24. VIII. 1915. 

5. XII. 1914 Verletzung unterhalb des linken Knies. 

14. I. 1915. Amputation im Oberschenkel. Vorher ReiBen im Bein. Von 
Anfang an Gefiihl, als ob das amputierte Bein noch da sei. Jetzt weniger regel- 
maBig und weniger stark. Das Bein kam ihm von Anfang an verkiirzt vor, als 
ob der FuB an der Wade saBe. Auch erschien das Bein gebeugt. Anfangs eine 
Art Kribbeln in den Beinen, auch Empfindung, als ob das Bein seitwarts bewegt 
werden konne, in anderer Richtung nicht. Anfangs zuweilen das Gefiihl, als ob 
er das linke Bein uber das andere lege. Jetzt nicht melir. Durch Gehen mit 
Kriicken und Tragen einer Prothese seit dem 1. VIII. 1915 keine Anderung in 
diesen Empfindungen. Besonders genau fiihle er die Zehen, fast besser als im 
anderen FuB. Bei Ablenkung der Aufmerksamkeit bemerke er das Gefiihl we- 
nigei. Xach Sitzen habe er beim Aufstehen ein dumpfes Gefiihl im Knie. 

24. IX. 1915. Weder spontanes noch willkiirliches Bewegungsgefiihl. K?ine 
Fahigkeit, die Bewegungen der anderen Seite nachzumachen. Die Empfindung 
sei sonst die gleiche wie friiher. bestehe nur bei darauf hingelenkter Aufmerk- 
samkeit. Unangenehm sei sie nicht. 

26. Ten. Untersuchung vom 4. IX. 1915. 

16. III. 1915. Durch 2. und 3. Finger GewehrschuB. Rechte Hand. Erstes 
Glied war erhalten. Gleich darauf Amputation der 2. und 3. Glieder des 2. und 
3. Fingers. Anfangs deutliches Gefiihl, als ob die Finger noch vollstandig er¬ 
halten waren. Sie bewegten sich nicht. sondcrn standen ausgestreckt. Schmerzen 


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waren nJcht darin. Zuweilen war es, als ob er die Wunden wahrnehme, beson- 
ders beim VVasehen. Jetzt babe er dieses Gefiihl weniger. 

24. IX. 1915. Das Gefiihl in den fehlenden Fingern nehme immer mehr ab. 
Bei Bewegungen des Stumpfes des 2. Fingers Gefiihl, als ob die fehlenden Glie- 
der mitgehen. Unaiigenehm sei das Gefiihl nicht. 

27. Kou\ Untersuchung vom 4. LX. 1915. 

27. XII. 1914 Unterarni durcli GranatschuB zersplittert. 

1. 1915 Amputation dicht unter dem Ellenbogen. Habe das Gefiihl, als ob 
die Finger noch da waren, besonders bei Witterungswechsel, wo das Gefiihl am 
unangenehmsten ist. Eigentliche Schmerzen nicht. Es sei, als ob der Arm ge- 
kriiinmt sei, eine Art Krampf darin bestiinde, wobei er leise im Sinne der Beu- 
gung bewegt wiirde. Sonst fiihle er den Arm, abgesehen von den Fingern nicht. 
Es war, als ob die Finger naher am Stumpf saBen und etwas schwerer erschienen. 
Seit einigen Tagen Prothesen, die den Stumpf fest umfassen. Neitdem Gefiihl, 
als ob der ganze Unterarni wie friiher da wiire. Keine Schmerzen, doch aueli 
jetzt Gefiihl, als ob der Arm leicht gekriimmt ware. Xachts sei es Taubheits- 
gefiihl, sonst nichts Besonderes. 

24. IX. 1915. Habe eine unangenehme Empfindung in den Fingern der 
fehlenden Hand, das zunehme bei Dnick auf den Stumpf. Keine spontane Be- 
wegungsempfindung. Xur bei Anstrengung komme es ihm vor, als ob ei die 
Finger etwas beugen und strecken konne, aber nicht vollstiindig und langsam. 
Bei Bewegungen des Stumpfes gehe der Unterarni mit. Die Hand bleibe in der 
Stellung mit gebeugten Fingern. Bei Versuch der Streckung treten Schmerzen 
im Stumpf auf, aber keine Bewegung in dei Hand. 

28. Tramp. Untersuchung vom 4. IX. 1915. 

23. VIII. 1914 Verwundung im Handgelenk. 

30. VIII. 1914. Amputation im oberen Drittel des rechten Unterarmes. 
Dauernd Gefiihl, als ob Finger und Hand noch da waren, besonders bei Witterungs¬ 
wechsel, dann Ziehen in Stumpf und Hand. Die Hand erscheine schwerer. als ob 
die Finger zusammenlagen. Etwas Schmerzen darin. Die Hand scheine herunter- 
zuhiingen. Auch habe er das Gefiihl, als ob die Finger sich etwas bewegen. Stumpf 
auf Druck etwas schmerzhaft. Keine Prothese. 

Untersuchung vom 24. IX. 1915. Habe lftstiges Ziehen in dem fehlenden 
Gliede, noch Gefiihl, als ob die Finger sich bewegen, eine Faust bilden. Bei Be¬ 
wegung des Stumpfes bleibt die fehlende Hand unten unbeweglich. Konne das 
Gefiihl der Bewegung der Hand in dem gleichen Sinne wie die Spontanbewe- 
gungen der anderen Hand nachmachen; es sei anstrengend und gehe langsam. 
In Gedanken versuche er noch manchmal, die fehlende Hand zu beruhren. 

29. Messersch. Untersuchung vom 4. IX. 1915. 

2. V. 1915. Linker Oberarm durch GranatschuB zersplittert. 

5. V. 1915. Amputation im Schultergelenk. Immer Gefiihl, als ob der Arm 
noch da ware, nur nicht bei starker Ablenkung. Hauptsfichlich empfinde er die 
Finger bei Witterungswechsel, auch noch die Wunden, die direkt schmerzten. 
Die Finger nehme er walir, wie sie zwischen Verwundung und Amputation waren. 
Sie konnten sich nur leicht bewegen, waren wie abgestorben. Der Arm stehe 
so wie seinerzeit im Streckverband, gestreckt und abduziert. Fur gewohnlich 
bemerke er die Wunde nicht, habe keine Schmerzen. Spentanes oder willkiir- 
liches Bewegungsempfinden habe er nicht. In der ersten Zeit habe er oft unbe- 
wuBt den Arm zu gebrauchen versuclit, wollte etwas unter den Arm nehmen, 
z. B. ein Buch. Habe das Gefiihl, als ob der Arm kiirzer sei. Bisher keine Prothese. 

30. Bit. Untersuchung vom 4. IX. 1915. 

30. X. 1914 Verwundung des linken Unterschenkels. 


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Empfindungstauschungen im Bereiche amputierter Glieder. 


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17. XI. 1914 Amputation iiber dem Knie, spider noch ein Stiick hoher. 
Bei Witterungswechsel Schmerzen im Stumpf. Auf Befragen sofort: Ja, er habe 
immer das Gefiihl, als ob das Bein noch da ware. Das ganze Bein, aber beson- 
ders die Zehen. Es sei, als ob es zwischen den Zehen kribble. Er fiihle etwas 
Bewegung auch im Knie. Die Stellung sei verschieden, je nach der Lage des 
Korpers. Das Bein erscheine etwas kiirzer, reiche etwa so weit, wie friiher die 
Wade. Hat ein Stelzbein. Dadurch keine Anderung. Bei Witterungswechsel im 
ganzen Bein ReiBen. Die Wunde fiihle er nicht. Durch die Amputation keine 
Anderung in der Empfindung. 

24. IX. 1915. Bei Bewegungen des Stumpfes gehe der FuB mit. Ohne 
limervation des Stumpfes nicht. Es erscheine ihm, als ob er etwas die Bewe¬ 
gungen des gesunden Beins nachmachen konne. Von Zeit zu Zeit gehe eine Art 
elektrischer Strom durch das Bein. Es sei aber nicht besonders storend. 

31. Schl. Untersuehung vom 15. X. 1915. 

Vor 22 Jahren Quetschung des rechten Unterarms. Danach Amputation 
zuerst im unteren Drittel des Unterarms, nach etwa 10 Wochen im oberen Drittel 
desselben. Anfangs Gefiihl. als ob in den Fingern Schmerzen wfiren. Ob ein 
Unterschied darin in der Zeit zwischen erster und zweiter Amputation vorhan- 
den war, weiB er nicht mehr. Seit l&ngerer Zeit fiihle er keine Schmerzen mehr. 
An dem rechten Arm triigt Pat. eine Prothese mit einem Traghaken, womit er 
schwere Lasten trfigt. Oft anfangs Gefiihl, als ob die Finger krumm wiirden. 
Wenn er den Oberarm fest anziehe, habe er das Gefiihl, als ob Dauinen und 
Kleinfinger sich einzogen; auch ohne daB der Stumpf stark kontrahiert wird. 
kann Pat. das gleiche Gefiihl hervorrufen. 

Zuweilen kommt das Gefiihl auch so, wenn er abends den Ansatz abge- 
schnallt habe und nicht gleich einschlafe. Er fiihle dies abends sitzend direkt 
am Stumpf. Ferner habe er das Gefiihl des Vorhandenseins eher, wenn der Arm 
herabhangt, als wenn er auf dem Knie lage. Bei starkerem Elektrisieren im 
Sulcus bicipitalis tritt ahnliches Gefiihl der Bewegung in den Fingern auf, aber 
nur bei starkerem Strom. 

32. Ta. Untersuehung vom 3. XII. 1915. 

30. VIII. 1915 SchuB unter dem Knie. 

3. IX. 1915 Amputation im Knie, 30. X. im Oberschenkel, mit Stehenlassen 
eines Stumpfes von etwa 15 cm Lange. 

Habe oft starke Schmerzen in den Zehen, die er deutlich fiihle, eine Art 
ReiBen, als wenn er elektrisiert wiirde. Er fiihle dauernd die Zehen, das iibrige 
Bein nicht, das sei von Anfang an so gewesen, habe etwas abgenommen. Durch 
die zweite Amputation sei keine Anderung eingetreten. Das Bein erschiene etwas 
verkiirzt, die Zehen saBen weiter nach oben. Von selbst bewegten die Zehen 
sich nicht; er konne jedoch in Gedanken die Zehen etwas beugen, und wenn er 
sich anstrenge, sie wieder strecken; fiir gewohnlich standen sie etwas gebeugt. 
Immer sei etwas Kribbeln darin. Durch die Prothese sei keine Anderung ein¬ 
getreten. Xachts schlafe er infolge der Schmerzen schlecht. sei auch allgemcin 
leicht unruliig und eriegbar. 

33. Or. Untersuehung vom 3. XII. 1915. 

19. III. 1915 rechter Arm unterhalb der Schulter weggerissen. 5 Stunden 
spater Arm im Schultergelenk exartikuliert. 

Von vornherein Gefiihl, als ob der Arm noch da sei, fiihlte die Finger, als 
wenn er sie bewegen konne; jetzt noch ebenso, wenn auch etwas schwacher; den 
iibrigen Arm fiihlt er nicht deutlich; bei Witterungswechsel Schmerzen in den 
Fingern, keine Schmerzen in der Schulter. 

Gibt spontan an, daB er in Gedanken die Finger bewegen konne, und zwar 


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eimnal leicht beugen. doch nicht so weit, daB sie die Handfliiche beriihrten, und 
dann wieder ziemlich strecken. Den Daumen und den Zeigefinger konne er zu- 
sammenbringen, das Gefiihl sei dabei ganz so, wie wenn er diese Bewegungen 
in der linken Hand ausfiihre. Von selbst bewegten die Finger sich nicht; un- 
angenehni empfinde er diese Sensationen nicht. Er habe sich ganz daran gewohnt 
und sie storten ihn nicht bei irgendwelchen Beschiiftigungen. Nur der Schlaf 
werde zuweilen durch die Schmerzen in den Fingern beeintrachtigt. Der Arm 
erscheine verkiirzt, die Finger stehen etwa am Ellenbogengelenk, der Arm liege 
dem ganzen Korper dicht an. Er schlafe nachts auf dem Riicken, da die Wunde 
noch nicht ganz geheilt sei. Durch Schmerzen an der Wunde oder Beriihren der- 
selben wiirde das Gefiihl am Arm nicht beeinfluBt. Fur gewohnlich habe er das 
Gefiihl, als ob die Finger leicht gekriimmt seien. Durch die Prothese, die er seit 
einiger Zeit trage, seien die Sensationen nicht beeinfluBt. Nervose Beschwerden 
habe er sonst nicht. 

34. Krz. 26. VII. 1915 SchuB durch den linken Oberarm. 

6. VIII. 1915 Amputation im oberen Drittel des linken Oberarmes. Pat. 
hatte gleich danach das Gefiihl, als ob der ganze Aim noch da ware, Ellenbogen. 
Hand, Finger. Er fiihlte dauernd in dem Arm ein Kribbeln wie Elektrisieren, 
auch Bewegungen in den Fingern, eine Art Spreizen im Handgelenk usw. Es 
war, als ob diese Bewegungen durch das Kribbeln ausgelost wiirden. Pat. hatte 
die Empfindung, als ob der amputierte Arm zumeist im Ellenbogen aufgestiitzt 
gehalten wiirde. Er erschien kleiner, insbesondere das Stuck vom Ellenbogen 
bis zur Hand. AuBer dem Kribbeln fiihlte er hiiufig Schmerzen; im Stumpf eben- 
falls viel Schmerzen. Druck auf den Stumpf steigerte die Empfindung im am- 
putierten Arm nicht. 

35. Nen. Untersuchung vom 13. II. 1918. 

Am 10. X. 1917 Verwundung am linken Unterarm. 

Am 11. X. 1917 Amputation 10 cm unterhalb des Ellenbogens. Anfangs 
Gefiihl, als ob die Hand noch da ware, jetzt weniger. Hand lose geballt; anfmgs 
Gefiihl, als ob die Finger sich streckten und wieder beugten. Willkiirliche Be¬ 
wegungen zweifelhaft. Jetzt keine Spontanbewegungen mehr; keine eigentliche 
Schmerzen, mitunter Zucken bis zur Hand. Hand sitzt naher am Stumpf. Bei 
Erheben des Armes geht die Hand mit. 

Keine Prothese. 

Druck auf den Stumpf schmerzhaft, jedoch ohne Auftreten des Gefiihls 
der Finger. Ebensowenig tritt ein solches auf bei elektrischer Reizung des Biceps 
und des Erbschen Punktes. 

36. .4r/«. Untersuchung vom 13. II. 1918. 

Am 21.X. 1917 Granatverwundung. Rechter Oberarm fortgerissen, etwa 
Ende des oberen Drittels. Anfangs Gefiihl, als ob die Hand noch da war, jetzt 
nicht mehr. Nur bei Witterungswechsel Ziehen, als ob da noch etwas ware. Keine 
Spontanbewegungen, ebensowenig willkiirliche. Im Stumpf zuweilen Ziehen. 
Keine Prothese. YVeder durch Druck auf die Xarbe noch durch elektrische Rei¬ 
zung des Deltoideus bzw. vom Erbschen Punkt aus Gefiihl von Vorhandensein 
der Hand hervorzurufen. 

37. Ob. Untersuchung vom 13. II. 1918. 

Am 30. IX. 1917 durch Handgranate 1. Hand und Halfte des Un ter armes 
fortgerissen, ebenso der rechte Daumen. Von vornherein Gefiihl, als ob die Fin¬ 
ger da waren, eingeschlagen, der Daumen iiber den anderen. Keine Schmerzen, 
Kribbeln oder dgl. in der Hand. Im Stumpf bisweilen Zucken. Jetzt fiihle er 
die Hand noch bisweilen. Ob die Hand beim Erheben des Armes mitging, wisse 
er nicht. Bei Kontraktion der Muskeln im Stumpf Gefiihl, als ob die Hand auf 
und zu ginge. 


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Empfindungstauschungen im Bereiche amputierter Glieder. 263 

Spontanbewegungen nicht. 

Den Daumen der rechten Hand fiihlte er von Anfang an deutlich, wie er lage, 
konne er nicht genau sagen, die Wunde sei noch nicht geschlossen. Spontan¬ 
bewegungen im Daumen nicht, ebensowenig bei Bewegung der anderen Finger. 
Keine Schmerzen. 

Finger links ebenso we it vom Stumpf wie friiher. Keine Prothese. 

Bei elektrischer Reizung an der Narbe spez. an der auf Druck schmerz- 
haften Stelle kein Gefiihl vom Vorhandensein der Finger, ebensowenig bei elek¬ 
trischer Reizung des Biceps und vom Erbschen Punkt, auch nicht bei Druck 
auf eine empfindliche Stelle neben der Narbe. Kein Auftreten von Schmerzen 
in den Fingern. 

38. Ber. Untersuchung vom 13. II. 1918. 

21. IX. 1917 durch Granate verwundet in der Mitte des rechten Oberarmes. 
Amputiert am 22. IX. ebenda. Hatte von Anfang an Gefiihl, als ob die ganze 
Hand noch da ware, der Ellenbogen nicht; jetzt weniger deutlich, noch besonders 
bei Witterungswechsel. Die Finger stehen leicht gebeugt. Die Hand sitze direkt 
am Stumpf. Spontanbewegungen nicht, ebensowenig willkiirliches Nachmachen 
resp. Nachmachen von Bewegungen der linken Hand nicht moglich. Schmerzen 
in der Hand nicht, ebensowenig im Stumpf. Noch keine Prothese. Druck auf 
die Narbe wird als schmerzhaft bezeichnet. Auch empfinde er dabei ein kaltes 
Gefiihl in den Fingern, ebenso bei elektrischer Reizung der Narbe. Dagegen 
empfinde er nichts von den Fingern bei Reizung des Deltoideus und vom Erb¬ 
schen Punkt. 

39. Wi. Untersuchung vom 13. II. 1918. 

Am 1. XII. 1917 verwundet durch Querschltlger am linken Unterarm. Am 
2. XII. amputiert im Ellenbogengelenk. Sofort nach der Amputation Gefiihl, 
als ob die Finger da waren, und zwar so herunterhingen, wie sie unmittelbar nach 
dem SchuB heruntergefallen waren. Dies Gefiihl habe er jetzt noch genau so. 
Unterarm und Handgelenk fiihle er nicht. DaB die Finger naher an dem Stumpf 
siiBen, sei ihm nicht aufgefallen. Ofter Zucken in Unterarm und Fingern, Bren- 
nen, besonders bei Witterungswechsel. Das Gefiihl iindert sich nicht bei Er- 
heben des Stumpfes. Spontanbewegungen in den Fingern nicht, ebensowenig 
konne er willkiirliche Bewegungen machen. Nachmachen der Bewegungen der 
rechten Hand nicht moglich, nur fiihle er, wenn er sich anstrenge, das Zucken 
im Stumpf. Fiir gewohnlich keine Schmerzen im Stumpf. Keine Prothese. Bei 
elektrischer Reizung des Biceps init Beugung des Stumpfes Gefiihl von etwas 
Zittem in den Fingern, sonst keine Anderung, spez. kein Bewegungsgefiihl, 
ebenso bei Reizung vom Erbschen Punkt aus. 

40. Da. Untersuchung vom 13. II. 1918. 

Am 7. VI. 1917 durch SchrapnellschuB Verwundung am rechten Unterarm, 
am 8. VI. Amputation des rechten Unterarmes, etwas unterhalb der Mitte. An- 
fangs Gefiihl, als ob ein Kribbeln in den Fingern ware, das nachlieB, wie die 
Wunde heilte. Jetzt nur hin und wieder das Gefiihl, besonders bei Witterungs¬ 
wechsel und wenn er gegen die Narbe stoBe. Spontanea Bewegungsgefiihl nicht, 
dagegen bei Kontraktion der Muskeln am Stumpf Gefiihl, als wenn er die Hand 
schlieBen konne. Bei Spreizung der Finger der linken Hand meint Pat. die Be¬ 
wegung rechts nachmachen zu konnen. Fiir gewohnlich liegen die Finger samt- 
lich etwas eingeschlagen, der Daumen unter den iibrigen. Wenn er den Stumpf 
hebe, gehe die Hand mit, keine Schmerzen im Stumpf. Keine Prothese. Bei 
elektrischer Reizung der Narbe ebensowenig wie bei der des Biceps und vom 
Erbschen Punkt aus kein Gefiihl vom Gliede, fiihle nur das Zucken der Muskeln, 

41. Oe. Untersuchung vom 1. X. 1915. 


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14. VIII. 1915 Verwundung am rechten Oberschenkel. 

22. IX. Amputation in der Mitte des rechten Oberschenkels. Von Anfang 
an Gefiihl, als ob das amputierte Bein noch vorhanden sei, deutliohes Gefiihl 
vom Knie und FuB. 

Von selbst auBert Pat.: ,,Das ist ja das Ekelhafte, das bringt mich um. Tag 
und Nacht ist es, als ob mit einer Peitsche das ganze Bein geschlagen wiirde, 
besonders nachts ist es sehr schlimm.“ 

Gefiihl der Bevvegung habe er nicht im amputierten Gliede. Das Glied er- 
scheine ebenso lang wie friiher. Er konne nicht das Gefiihl sich hervorrufen, 
als ob er das Glied bewege oder dainit Bewegungen des gesunden Beines nach- 
machen. Friiher ganz gesund, nie nervos. 

42. Li. Untersuchung vom 1. X. 1915. 

6. IX. Verwundung des Unterschenkels. 

20. IX. Amputation etwas oberhalb des Knies. 

30. IX. Stumpf noch etwas verkiirzt. Pat. hat von Anfang an das Gefiihl. 
als ob das Bein noch daransitze, insbesondere die Zehen. Er habe die Schmerzen in 
den Zehen. Bewegungen habe er nie gefiihlt, konne sich auch das Gefiihl nicht 
hervorrufen, auch nicht durcli Nachahmung und Mitbewegung. Das Bein er- 
scheine ebenso lang wie friiher. Bei Bewegungen des Stumpf es habe er nicht das 
Gefiihl, als ob die Zehen folgten. Durch den zweiten Eingriff habe sich das Ge- 
fiihl nicht geiindert. 

Aus diesen wie aus unseren iibrigen Beobachtungen, die hier nicht 
im einzelnen aufgefiihrt sind, ergibt sich, dab fast samtliche Kranke 
die fehlenden GliedmaBen fiir kiirzere oder langere Zeit wahrgenom- 
men haben. Einem Kranken war durch einen SchuB das 2. und 3. Glied 
am linken Finger der rechten Hand fortgerissen und das 1. Glied gleicli 
abgenommen. Bei der Untersuchung nach 2 Monaten gab er an, nie 
etwas bemerkt zu haben, als ob der fehlende Finger noch vorhanden 
sei, sich bewege oder dgl.; er lachelte unglaubig, als ihm gesagt wiirde, 
daB andere solches empfanden. Den Eindruck geistiger Schw T ache 
machte der Kranke bei der freilich nur kurzen Untersuchung nicht. 
Einem zweiten Pat. waren der Daumen und die angrenzenden Teile 
der linken Hand nach SchuB abgenommen. Kurze Zeit danach unter- 
sucht, erkliirte er, im Daumen eine Art Stechen zu empfinden, er konne 
jedoch das Gefiihl nicht sicher lokalisieren, merke sonst nichts von 
dern amputierten Daumen. Ein anderer Kranker, bei dem ein Unter- 
schenkel in der Mitte amputiert war, wollte von dem abgenommenen 
Bein nichts gefiihlt haben, auch nicht, nachdem er mit einer Prothese 
ging, nur habe er etwas die Empfindung, als ob in dem amputierten 
Beine zuweilen Schmerzen waren. Ich hatte auch Gelegenheit, ein 
ojiihriges Kind zu untersuchen, das ohne Arme geboren, jedoch im- 
stande war, mit Prothese zu essen und zu trinken, auch zu schreiben, 
(loch arbeitete es auBerdem noch mit den FiiBen. Soweit bei dem Kinde 
festzustellen war, hatte es nie das Gefiihl gehabt, als ob es Arme 
besaBe. 


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Empfindungstfiusch ungen im Bereiche amputierter Glieder. 265 

Unsere gesamten iibrigen Kranken — es waren deren ja iiber 60 — 
fiihlten bestimmt das jehlende Glied, zum erheblichen Teil mit groBer 
Deutlichkeit, wie ein Blick in die oben im einzelnen mitgeteilten Be- 
obachtungen zeigt. Wie lebhaft diese Wahmehmung sein kann, 
beweist z. B. die Beobachtung eines unserer Pat., der gleich nach der 
Amputation den Arm so deutlich fiihlte, daB er gefragt habe: ,,Na, 
Schwester, hat der Doktor den Arm doch nicht abgenommen?“ Von 
anderen horen wir, daB sie mit dem fehlenden Arm zugreifen wollten, 
oder ihn, indem sie Schmerzen daran befiirchteten, im Gedrange zu 
schiitzen suchten. 

Die Wahmehmung der fehlenden GliedmaBen tritt zumeist gleich 
nach der Entfernung derselben auf, zuweilen erst etwas spater, bis zu 
2 und 3 Wochen danach. In einem Teil der Fade nimmt sie mit der 
Zeit an Starke ab, verschwindet bei einer freilich nicht groBen Zahl 
von Amputierten nach Wochen und Monaten vollig. Uber Jahresfrist 
— so lange Zeit und mehr nach dem Gliedverlust haben wir vielfach 
die Kranken untersucht — haben wir sie andererseits in der Mehrzahl 
der Fade noch mehr weniger deutlich feststeden konnen, so auch bei 
einem Pat., den wir 22 Jahre nach Verlust seines einen Unterarmes 
sahen. Ofter bemerkten die Kranken, daB sie ahnlich wie Rheumatiker 
bei W itterungswechsel mit starkeren Beschwerden reagierten, lebhafter 
die Trugwahrnehmung unter solchen Umstanden empfanden. 

Das Verhalten gegeniiber Kriiclcen und Prothesen war verschieden. 
In einem Teil der Fade war dadurch keine Anderung bemerkbar, in 
einem anderen wurde die Wahmehmung, insbesondere durch Prothesen, 
wesentdch deutlicher. 

In 9 unserer Fade waren wiederholle Amputationen in nicht sehr 
erheblichen Zeitabstanden notwendig. Bei 3 Kranken trat dadurch keine 
Anderung in der Wahmehmung des fehlenden Gliedes hervor, auch da, 
wo die 2. Amputation viel hoher erfolgte. Immerhin handelte es sich 
um Amputationen innerhalb desselben Gliedabschnittes. In den iibrigen 
Fallen trat eine Abschwachung oder Anderung der Trugwahrnehmung 
ein, freilich nicht in gleichmaBiger Weise. So wurde einem Kranken 
der Unterschenkel am Ende des oberen Drittels abgenommen, wonach 
FuB- und Fufigelenk gefiihlt wurden, wahrend nach der weiteren Am¬ 
putation am Knie nur der friihere Stumpf wahrgenommen wurde, 
wobei noch erwahnt sei, daB Druck auf dem Amputationsstumpf 
Schmerzen, aber nur in diesem erzeugte, nicht etwa an dem fehlenden 
Gliede. In einem 2. Fall, in dem die Amputationsstellen ahnlich lagen, 
wurden nach der 1. Operation Knie und Zehen wahrgenommen, von 
denen nach der 2. nichts mehr gespiirt wurde. Als der Kranke spater 
sich aufrichtete (mit und ohne Kriicken), machten sich wieder die 
fehlenden Zehen bemerkbar. In einer weiteren Beobachtung mit eben- 
Archiv fur Psychiatric. Bd. OH. 18 


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falls ahnlich gelagerten Amputationen fuhlte der Kranke zuerst FuB 
und Wade, spater nur noch die Zehen, die dann nahe am Stumpf zu 
sitzen schienen. 

Diese zuletzt genannte Beobachtung fiihrt uns zu der Frage, in 
welcher Ausdehnung und Lage die fehlenden Glieder wahrgenommen 
werden. Es ergibt sich dabei einmal, daB die ganzen Glieder, ,,der 
ganze Arm“ oder das ,,ganze Bein“, z. B. bei Amputation im Oberarm 
oder im Oberschenkel, nur in einem kleinen Teil der Falle zur Wahr- 
nehmung kommen, daB vielmehr zumeist die distalen Teile, Finger, 
Zehen, in zweiter Linie Hand und FuB, als Gegenstand der Trug- 
wahrnehmung bezeichnet werden. Gefuhlt werden dabei durchweg 
Gelenke bzw. aus Knochen und Zwischengelenken bestehende Glied- 
teile, somit, das konnen wir hier schon sagen, solche, die an sich am 
meisten zur Wahrnehmung kommen, wahrend die zwischen den groBen 
Gelenken liegenden Gliedabschnitte nicht oder nur in dem Sinne wahr¬ 
genommen werden, wie eben der ,,ganze“ Arm, das ,,ganze“ Bein ge- 
fiihlt werden. 

Hier mochte ich einfiigen, daB in einer groBeren Anzahl unserer 
Beobachtungen ausdrucklich die Kranken bekunden, daB sie die er- 
littenen Wunden, oft eine ganze Zahl derselben, deutlich und schmerz- 
haft empfinden. 

Mit dieser mangelnden oder ungenauen Wahrnehmung der zwischen 
den groBen Gelenken liegenden Abschnitte der Glieder und der vor- 
wiegenden der distalen Teile hangt es wohl zusammen, daB in der 
Mehrzahl unserer Falle die fehlenden GliedmaBen als deutlich verkiirzt 
zur Perzeption kommen, oft so, daB der FuB an der Wade, die 
Hand bei Oberarmamputationen nahe am Oberarm usw. zu sitzen 
schienen. 

Was schlieBlich die Lage der fehlenden GliedmaBen in den Trug- 
wahrnehmungen anbetrifft, so schienen sie zum Teil die natiirliche Hal- 
lung einzunehmen: Der Arm fiillt den leeren Armel, die Finger stehen 
leicht gebeugt und die Glieder folgcn auch den Bewegungen des Kor- 
pers. Haufiger fast gibt die Trugwahrnehmung die Glieder wieder in 
der Stellung, die sie gerade vor oder — of ter — gleich nach der Verwun- 
dung oder im Verbande hatten, zuweilen auch in Gewohnheitshaltungen 
aus fruherer Zeit. 

Priifen wir unsere Kranken auf die Qualitdt und den Inhalt der 
Trugwahrnehmung, so finden wir in iiber der Halfte der Falle Sensibili- 
tdtsstorungen im Bereich der fehlenden Glieder, zum Teil als Schmerzen 
verschiedenen, oft sehr starken Grades, zum Teil, und zwar haufiger, 
in Form von Pardsthesien, die in erster Linie als Kribbeln, seltener 
als Schwere- und Frostgefiihl, als Eingeschlafensein usw. bezeichnet, 
oft auch mit dem elektrischen Strom verglichen werden. Mehrfach 


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Empfindungstauschungen im Bereiche amputierter Glieder. 


267 


werden die ,,Empfindungen“ als sehr unangenehm und qualend hervor- 
gehoben. Ein Kranker verglich sie geradezu mit Peitschenhieben. Die 
Schmerzen, das Kribbeln und die anderen Parasthesien machen sich 
vielfach in der ersten Zeit nach der Amputation mehr als spater be- 
merkbar; es wird von den Kranken ausdriicklich betont, daB sie weiter- 
hin keine Schmerzen usw. mehr haben, wahrend das ,,Gefuhl“, daB die 
fehlenden Glieder noch vorhanden seien, nach wie vor bestehen bleibt. 
Es ergibt sich daraus, daB die Trugwahrnehmungen der amputierten 
GhedmaBen nicht etwa identisch sind mit den halluzinatorischen oder 
illusionaren Parasthesien bzw. Schmerzen, wenn diese sie auch vielfach 
verstarken und fordern, sondern einem besonderen, davon unabhan- 
gigen Wahrnehmungskomplex entsprechen. Auch hier ist schlieBlich 
zu bemerken, daB Witterungswechsel wieder die Schmerzen und Par¬ 
asthesien in vielen Fallen starker hervortreten laBt oder uberhaupt 
erst bemerkbar macht. 

Besondere Beachtung haben stets die Bewegungsempfindungen von 
seiten der fehlenden GliedmaBen gefunden. 

Spontanbewegungen wurden in einem Vierteil unserer Beobach- 
tungen wahrgenommen. Ganz eindeutig berichten cine ganze Reihe 
von.Kranken von dem Gefiihl, als ob die fehlenden Zehen bzw. Finger 
sich bewegten, sich beugten — einmal bis zur Faustbildung ■— und 
streckten, seltener auch in anderer Richtung sich bewegten, z. B. sich 
spreizten. Nur zum kleinen Teil sind diese Bewegungsempfindungen 
von sensiblen Reizerscheinungen, Kribbeln usw. begleitet. In manchen 
Fallen erhalten wir noch nahere Schilderungen: so berichtet ein Kran¬ 
ker mit Amputation im oberen Drittel des Unterarms, er fiihle leichte 
Bewegungen im Handgelenk, besonders bei Witterungswechsel, ganz 
langsam, es sei, als spiire er jede Muskelbewegung; ein anderer, es sei 
cine Art Kribbeln, vor allem im Handriicken, als w r enn die Finger sich 
langsam bewegten, etwas gebeugt hin und her gingen, ,,als ob man 
Zittern hat und jeder Finger mdchte fur sich allein eine Bewegung 
machen.“ Auch von Spontanbewegungen des ganzenGliedes horen wir: 
So fiihlte nach einer Unterarmamputation ein Kranker den Arm ge- 
kriimmt, es war, als bestande eine Art Krampf in ihm, wobei er sich 
leise im Sinne der Beugung bewegte. 

Seltener als der Empfindung von Spontanbewegungen begegnen 
wir der von willkurlichen Bewegungen. Ich hebe dabei gleich hervor, 
daB keineswegs das Zustandekommen letzterer das Vorhandensein von 
Spontanbewegungen voraussetzt, vielmehr wurden in der Mehrzahl 
der Falle von Willkiirbewegungen Spontanbewegungen ausdriicklich 
in Abrede gestellt. Die willkiirlichen Bewegungen traten in der Regel 
weit weniger klar und bestimmt als die Spontanbewegungen auf, sie 
sind in ihrem Umfang und ihrer Mannigfaltigkeit weit mehr als diese 

18 * 


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E. Meyer: 


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beschrankt. Auch wenn die Kranken sich sehr bemiihen, sie hervor- 
zurufen, wissen sie raeist nur von ,,etwas“ Bewegung der Zehen oder 
der Finger zu berichten, die sie ausfiihren konnen. Dabei schildern 
sie diese Empfindung verschieden, zum Teil sprechen sie von dem Ge- 
fiihl, als konnten sie Bewegungen ausfiihren, oft auch, sie konnten sie 
,,in Gedanken“ machen. So gab ein Kranker an, er fiihle die Finger, 
als wenn er sie bewegen konne, in Gedanken beuge er sie leicht, konne 
Baumen und Zeigefinger zusamraenbringen, wie wenn er die Bewe¬ 
gung in der gesunden Hand ausfiihre. DaB die Bewegungsempfindung 
vora amputierten Gliede vollig dem Normalen entsprache, wird iibrigens 
rait Bestimmtheit in der Regel nicht angegeben. Einige der Kranken 
betonen die Anstrengungen, die zu der Willkiirbcwegung erforderhch 
sind, so einer, er konne mit aller Kraft in Gedanken die Zehen etwas 
beugen und, wenn er sich anstrenge, sie wieder strecken. DaB diese 
Anstrengung in einer Bewegung oder Muskelkontraktion des Stumpfes 
zum Ausdruck kommt, ist allem Anschein nach — wenigstens was das 
cigene Empfinden der Kranken angeht — nicht der Fall. Wir horen 
von einem Pat. z. B. ausdriicklich, daB er die Zehen etwas bewegen 
konne, ohne Anspannung des Stumpfes. Es scheint mir so mehr das 
allgemeine Gefiihl korperlicher Anstrengung mit HeiBwerden usw. zu 
sein. Ebensowenig scheint iiberhaupt eine Anderung der Lage des 
Stumpfes bzw. Kontraktion seiner Muskeln selbstandige Bewegungs- 
empfindungen vom amputierten Gliede, also etwa bei Erheben eines 
Oberarmstumpfes oder Muskelanspannung in demselben solche in 
Hand- oder Fingergelenken hervorzurufen. Soweit eine Bewegung 
empfunden wird, handelt es sich meist darum, daB das amputierte 
Glied dem Stumpf als Gauzes folgt, freilich nicht ohne Ausnahme. So 
hatte unser an erster Stelle beschriebener Pat. ofter das Gefiihl, als 
ob der fehlende Arm auf dem Riicken liege und er ihn durch Anspan¬ 
nung der Schultermuskeln und Drehen des Korpers nach vorn bringen 
konne. Ist das auch noch mehr als eine Art Folgen des Gliedes zu 
deuten, so geht wohl weiter, wenn der Kranke auf Aufforderung unter 
Anspannung der Muskeln des Stumpfes und unter Anstrengung, Warm- 
werden usw., den Arm nach auBen bringen kann. Noch selbstandiger 
sind die Bewegungen, die ein anderer Kranker bei Anspannung der 
Muskeln des Stumpfes empfand, als ob namlich der fehlende Teil ge- 
streckt und gebeugt werde, und ein dritter, daB bei Anspannung des 
Stumpfes die Hand auf- und zugehe. Zumeist jedoch horen wir nur, 
daB das fehlende Glied mitgehe, daB der Bewegungsversuch bis in die 
Arme, aber nicht weiter gehe, im Stumpf steckcnbleibe. Einmal wird 
auch ausdriicklich von einem Kranken gesagt, daB das fehlende Glied 
meist ,,schlaff“ bleibe, bei Bewegung und Kontraktion des Stumpfes. 
Wenn es aber sonst kontrahiert erschien, wiirden die Kranken es sicher 


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Empfindungstauschungen im Bereiohe aniputierter Glieder. 


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bemerken und angeben. In manchen Fallen heiBt es andererseits, daB 
der fehlende Teil unbeweglich bleibt, trotz aller Stumpfbewegungen 
und Kontraktionen, daB wohl dabei im Stumpfe sich Schmerzen ein- 
stellen, aber keine Empfindung von Bewegung des amputierten Gliedes. 
Die Benutzung von Kriicken und Prothesen hat in dieser Richtung 
wenig EinfluB, nur zuvveilen tritt das Gefiihl auf, als ob der Kranke 
beim Gebrauch der Kriieken den FuB, besonders das Knie, ansetzen 
konne. 

Einer Anregung des Herrn Kollegen Hofmann, jetzt in Bonn, 
folgend, habe ich in einem erheblichen Teil unserer Falle auch die 
Frage des Oefiihls der Mitbewegung in dein amputierten Oliede bei Bewe- 
gungen, und zwar besonders kraftigen und wiederholten des gesunden 
gepriift, sowie die, ob die Kranken die Empfindung des Nachahmens 
der Bewegungen des gesunden Gliedes in dem Bereich des fehlenden hervor- 
rufen konnen. Dabei konnte ich das Gefiihl von Mitbewegungen in 
keiner Beobachtung feststellen, in einigen Fallen jedoch das der Nach- 
ahmungsmoglichkeit. So hatte ein Kranker das Gefiihl, als ob er die 
Bewegungen der anderen Seite nachzuahmen vermoge, freilich nur in 
Gedanken, auch waren sie nicht so deutlich wie die Spontanbewegungen 
in dem amputierten Gliede; andere gaben an, sie konnten die Bewe¬ 
gung der anderen Hand bzw. FuBes nachmachen, wenn es auch lang- 
sam gehe und anstrengend sei. 

Das Verhalten des Stumpfes habe ich — freilich nicht regelmaBig 
— ebenfalls der Beobachtung unterzogen, und zwar darauf, ob an sich 
Schmerzen in ihm vorhanden waren. Das war bei der Mehrzahl der 
Kranken iiberhaupt nicht der Fall, bei anderen bestand dauernd 
Schmerz oder nur bei Witterungswechsel, auch wurde ungefragt in 
keinem der ubrigen Falle liber Schmerzen im Stumpf geklagt. Da- 
gegen wurde Druck auf den Stumpf in den meisten Fallen als schmerz- 
haft bzw. empfindlich angegeben, bei mehreren von denen, wo spontan 
keine Schmerzen vorhanden waren. 

Die Empfindung des amputierten Gliedes verhalt sich gegeniiber 
Druck auf den Stumpf nach unserer Beobachtung nicht einheitlich. 
Wir sahen Falle, bei denen die Schmerzen, die durch Druck auf den 
Stumpf erzeugt wurden, in die amputierte Hand ausstrahlten, die Sen- 
sationen dort gesteigert wurden oder daB, ohne eigentlichen t)bergang 
vom Stumpf auf das amputierte Glied, in letzterem Schmerzen bei 
Druck auf den Stumpf sich einstellten. Auch berichtete ein Kranker, 
daB bei Druck auf den Stumpf ein Gefiihl, als ob die Zehen da waren. 
auftrat, das er fur gewohnlich nicht empfand. Andererseits haben wir 
auch mehrere Beobachtungen, bei denen Druck auf den Stumpf keiner- 
lei Einwirkung auf die Empfindung in dem amputierten Gliede zeigte, 
obwohl Schmerzen im Stumpf sich fanden und an sich das Gefiihl des 


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E. Meyer: 


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amputierten Gliedes deutlich war. Gberhaupt scheint dadurch kein 
Unterschied gegeben, ob das amputierte Glied mehr oder weniger 
deutlich oder mit Schmerzen empfunden wurde oder nicht. Ein Kran- 
ker, der nach Verlust des linken Oberarmes schon nach 14 Tagen das 
Gefiihl, als ob die Finger noch da waren, verloren hatte, bekam das- 
selbe wenn auch etwas schwacher wieder, als ein kleiner Al)3ceB an der 
Arnputationsstelle sich bildete. 

In raehreren Fallen haben wir auch den EinfluB elektrischer Rei- 
zung auf den Stumpf bzw. die Narbe, auch auf die Nerven im Sulcus 
bicipitalis des Stumpfes bzw. vom Erbschen Punkte aus gepriift, auch 
hier ohne einheitliches Ergebnis. Bei einem Kranken wurde durch 
starke Strome vom Sulcus bicipitalis aus das Gefiihl einer Bewegung 
der Finger hervorgerufen, in einem anderen bei elektrischer Rsizung 
der Narbe ,,kaltes Gefiihl" in den Fingern, bei einem dritten bei Ein- 
wirkung starker elektrischer Strome auf den Biceps mit Beugung des 
Stumpfes die Empfindung von etwas Zittern bemerkt, wahrend bei 
verschiedenen Fallen keinerlei Beeinflussung der Wahrnehmung des 
amputierten Gliedes auf diesem Wege erzielt wurde. 

Auf Neurome ist leider nicht regelmaBig von mir untersucht. Ein 
Kranker, der nach Amputation des Armes im Ellbogen eine Prothese 
trug, kam zur Untersuchung, weil eine neue Prothese notig %var und 
ein walnuBgroBes Neurom an der Arnputationsstelle sich gebildet 
hatte. Er gab an, daB er besonders anfangs das Gefiihl des ampu¬ 
tierten Gliedes gehabt habe mit Kribbeln in den Fingern. Im Stumpf 
war in der ersten Zeit starker Schmerz, der nachgelassen hatte. Bei 
Druck auf das Neurom fand sich deutliche SchmerzauBerung; im am¬ 
putierten Glied trat dabei keine Anderung der Empfindung auf. Da 
die Schmerzen am Stumpf nicht mehr sehr erheblich waren, wurde 
die Entfernung des Neuroms vor Anlegung der neuen Prothese nicht 
fiir notig befunden. 

Im Eingang meincr Arbeit habe ich der besonders oft angezogenen 
alteren Arbeiten von Weir Mitchell und Pitres gedacht, besprochen 
werden die Trugwahrnehmungen der Amputierten in jedem groBeren 
Lehrbuch der Psychologic. So gedenkt ihrer Ebbinghaus 1 ) bei den sog. 
kinasthetischen Empfindungen, Wundt' 1 ) in dem groBen Kapitel iiber 
die Tast- und Gemeinempfindungen, beide dort speziell bei der so 
viel diskutierten Frage der sog. Innervationsempfindungen. Von wei- 
teren Arbeiten, bei denen die Trugwahrnehmungen der Amputierten 
den ausschlieBlichen Inhalt oder einen wesentlichen Bestandteil des- 
selben bilden, kommen in Betracht, ohne daB ich fiir Vollstandigkeit 

x ) Ebbingham, Grundziige der Psychologie. 2. Aufl. Leipzig 1905. 

2 ) Wundt, Physiologische Psychologie. 


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Empfindungstauschungen im Bereiche amputierter Glieder. 


271 


btirgen kann: N.Ach 1 ), Abbatucci 2 ), Borak 3 ), Curschmann*), Hemon 5 ), 
Hilger und van der Bride 3 ), D. Katz 7 ), P. Marie und Pelletier 3 ), 
E. Muller und Schumann 9 ). Auch Ferrier 10 ) hat sich eingehend mit 
diesen Erscheinungen beschaftigt. 

Von den neueren Arbeiten, die mir zuganglich waren, beschaftigen 
sich die von Katz aus den Jahren 1920 und 1921 am eingehendsten 
mit unserem Thema 11 ). Rund 100 Amputierte standen ihm zur Ver- 
fiigung bei seinen Versuchen, und zwar offenbar meist fur langere Zeit, 
wahrend unsere Kranken selten mehr als ein bis zwei Male von uns 
untersucht werden konnten. 

Wahrend in manchen Einzelheiten die Ergebnisse von Katz und 
mir voneinander abweichen, stimmen sie in dem Hauptpunkte, da/3 
so gut wie alle Amputierte das fehlende Olied fur kiirzere oder langere Zeit 
wahmehmen, iiberein. 

Katz nimmt fur diese Erscheinung den von Abbatucci gebrauchten 
Naraen: ,,Phantomglied“ an. Da aber die Bezeichnung Phantom 
medizinisch in ganz anderer Weise schon eingebiirgert ist, scheint sie 
mir nicht bedenkenfrei. Ich wiirde statt dessen den Namen Glied- 
bewu/3tsein 12 ) vorschlagen. 

Von Sinnestauschungen, Ulusionen und Halluzinationen im ge- 


*) N. Ach, Zur Psychologie der Amputierten. Arch. f. d. ges. Psychol. 40, 
H. 1/2, 1920. 

2 ) Abbatucci, Et. psycholog. sur les hallucinations des amputes. Bordeaux 
1894 (zit. nach Katz). 

3 ) Borak, Uber Gefiihlstauschungen und falsche Vorstellungen bei Ampu- 
tierten. Wien. klin. Rundsch. 1898. 

Borak, Zur Physiologic der Gewichtsempfindungen auf Grund von Versuchen 
an Amputierten. Ausz. d. Akad. d. Wiss. Wien, math.-naturw. Kl. 1920. 

4 ) Curschmann, Beitr. z. Physiologie u. Pathologie der kontralateralen Mit- 
bewegungen. I/eipzig 1906. 

5 ) Hirnon, Recherches experim. sur l'illusion des amputes et sur les lois 
de sa rectification. Rev. philosoph. 20, 1910 (nicht zuganglich). 

6 ) Hilger und van der Briele, Cber Nachempfindungen nach Amputationen 
Dtsch. Zeitschr. f. Chirurg. 65, S. 104. 

7 ) D. Katz, Psycholog. Versuche mit Amputierten. Zeitschr. f. Psychol, u. 
Physiol, d. Sinnesorg. Abt. 1, 85, H. 1—4, 1920. 

D. Katz, Zur Psychologie des Amputierten und seiner Prothese. Beitr. z. 
Zeitschr. f. angew. Psychol. Leipzig 1921. 

8 ) P. Marie et Pelletier, Les meiubres fantomes, cliez les amputes delirants. 
Inst, general psycholog. Extr. du Bull. Nr. 3, 1905 (Ref.). 

") E. Muller u. Schumann, Pber die psychologischen Grundlagen der 
Veigleichung gehobener Gewichte. Arch. f. d. ges. Physiol. 45, S. 37, 1889. 

10 ) Ferrier, Die Funktionen des Gehirns. Deutsch von Obersteiner 1879. 

n ) Bei meinen Untersuchungen, die ja nur vereinzelt nach 1918 stattfan- 
den, habe ich sie leider nicht benutzen konnen. 

12 ) Auch an die Bezeichnung Oliedbild konnte man denken, wenn man die 
Erscheinung dem Streit um peiiphere oder zentrale Entstehung entrueken will. 


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E. Meyer: 


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wohnlichen Sinne, ist dabei nicht die Rede. Sie enthalten ja nichts 
Fremdes oder Anormales in bezug auf den Korper, sondern wahren nur 
die Vollstandigkeit des gewohnten Korperbildes im Bewu Btseinsinhalte, 
kurz gesagt, des KorperbewuBtseins. Als dessen untrennbaren Teil, 
also als ein Teil des BewuBtseinsinhalts, ist m. E. das Vorhandenseins- 
gefiihl des fehlenden Gliedes der Amputierten — das GliedbewuBtsein 
— zu deuten, das das Resultat versehiedener Empfindungen darstellt: 
Solcher von seiten der Haut, besonders des Beriihrungs- und des Druek- 
sinnes, der Geraeingefiihle, darunter der sog. Muskel- und Spannungs- 
gefiihle und der Gelenkempfindungen, deren Bedeutung von Gold - 
scheider zuerst betont, durch v. Freys neueste Untersuchungen freilich 
in Frage gestellt ist, endlich, aber nicht zuletzt, optischer Empfindung 1 ). 
In ihrem imraer wiederholten Miteinanderauftreten sind sie aufs engste 
verkniipft und in ihrer Gesaratheit zu der Totalvorstellung (Poppel- 
reuter) von dent Gliede im Be\vuBtseinsinhalt verschmolzen, deren Eigen- 
art aber in keiner von ihnen allein gegeben ist. Das Vorhandenseins- 
gefiihl des Gliedes — das GliedbewuBtsein schlechthin — ist demnach 
m. E. nicht gleichzusetzen dem Effekte einzelner oder einer einzelnen 
der genannten Empfindungen, so etwa, wie es oft geschieht, dem Be- 
wegungs- oder Lagegefiihl oder den erweiterten Spannungs- und Muskel- 
gefiihlen. Wenn Katz so die Meinung vertritt, daB ,,das Phantomen- 
glied nic in der normalen Weise des noch vorhandenen Gliedes, sondern 
immer in einem abtveichenden Reizzustande erlebt wird“, wenn er mit 
Abbatucci ,,die Grundlage des Erlebnisses des Phantomengliedes in 
Empfindungen von Muskel- und Sehnenspannungen sieht'*, so ist dem- 
gegeniiber zu betonen, daB, wie wir oben gezeigt haben, in einem groBen 
Teil unserer Fiille von derartigen Empfindungen nichts zu bemerken 
ist, daB, auch wo solche oder andere Reizerscheinungen, Schmerzen 
oder Parasthesien vorliegen, das GliedbewuBtsein davon deutlich zu 
trennen, unabhangig erscheint, „einen durchaus selbstandigen Cha- 
rakter“ aufweist ( Hilger und van der Briele). Was F. B. Hofmann bei 
der Besprechung der geometrisch-optischen Tauschungen ausfiihrt, 
daB schwer zu verstehen sei, wie der psychisch eigenartige ProzeB der 
Raumempfindung aus giinzlich andersartigen Vorgangen, in denen er 
nicht enthalten sei — Spannungs- und Muskelgefiihlen! —, entstehen 
solle 2 ), werden wir auch hier gelten lassen miissen, daB namlich das 
GliedbewuBtsein, das Vorhandenseinsgefiihl des fehlenden Gliedes, 
als Totalvorstellung nicht aus einzelnen, ihr nicht adaquaten Empfin¬ 
dungen hervorgehen kann. 

*) r. Frey , Ober Bewegungswahrnehinungen und Bewegungen in resecierten 
und in ttniisthetischen Gelenken. Zeitschr. f. Biol. 68. 

4 ) F. B. Hofmann, Physiologische Optik (Raumsinn). Handb. d. ges. Augen- 
heilk. 2. Aufl. 


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Empfindungstauschungen ini Bereiche amputierter Glieder. 273 

Fiir die Annahme eines solchen GliedbewuBtseins spricht auch die 
Betrachtung totaler motorischer und sensibler Lahmungen eines Glie- 
des auf psychogener (hysterischer) Grundlage, die gewissermaBen das 
Negativ zu dem Verhalten der Amputierten bilden. So sahen wir jiingst 
einen derartigen Kranken, der im AnschluB an ein geringfiigiges Trauma 
vor 25 Jahren eine solche Lahmung eines Armes — mit Abmagerung 
von ca. 4 cm gegeniiber der anderen Seitc — aufwies. Das Gefiihl des 
Vorhandenseins des gelahmten Armes, das GliedbewuBtsein war bei 
ihm vollig verdrangt, aus seinem Korperbewu Btsein ausgeschaltet. 

Gegen unsere Annahme eines rein zentralen Gliedbewu Btseins der 
Amputierten konnte vor allem angefiihrt werden, daB Weir Mitchell 
und Pitres durch Elektrisieren der Amputationsstumpfe schwache Ulu- 
sionen verstarken oder verschwundene wieder hervorrufen und durch 
Cocainisierung des Stumpfes Ulusionen zum Verschwinden bringen 
konnten. Danach miiBten, so auBert sich Katz, Erregungszustande im 
nervosen Teil des Stumpfes die ,,Illusionen“ auslosen. Dazu ist zu 
bemerken, daB einmal die Beeinflussung des GliedbewuBtseins durch 
elektrische Reizung des Stumpfes nach unseren Erfahrungen keineswegs 
eine regelmaBige und auch nicht besonders deutliche oder weitgehende 
ist, so daB hierin ein irgendwie sicherer Beweis fiir die Notwendigkeit 
von peripheren Reizzustanden zur Auslosung des GliedbewuBtseins 
nicht gegeben ist. 

Weit schwerer ins Gewicht fallt, daB durch Cocainisierung des 
Stumpfes die ,,Illusionen“ zum Verschwinden gebracht wurden. Die 
Originalarbeit hieriiber stand mir nicht zur Verfiigung, ich weiB nicht, 
ob Nachpriifungen von anderer Seite stattgefunden haben, und mitwel- 
chem Ergebnis, konnte auch eigene Untersuchungen nicht anstellen. 
Nehmen wir aber bei dem Gewicht der Namen der Autoren ihrc Mit- 
teilungen als Tatsachen hin, so ist doch zu erw r agen, ob man nicht die 
Wirkung der Cocainisierung sich so vorstellen kann, daB durch Betau- 
bung gewissermaiien des Stumpfes, ganz einerlei, ob in ihm Reizzu- 
stknde sind oder nicht, die Verbindung des GliedbewuBtseins mit dem 
Vorhandenseinsgefiihl des Korpers, dem Korperbewu Btsein, unter- 
brochen und durch diese Trennung die Deutlichkeit des GliedbewuBt¬ 
seins beeintrachtigt wird. Einfacher ist es wohl anzunehmen, daB wie 
bei der Ausdeutung der elektrischen Reizung auch bei der Cocainisierung 
des Stumpfes das Gliedbewu Btsein schlechthin nicht oder jedenfalls 
nicht scharf von etw'aigen Reizzustanden im Bereiche des amputierten 
Gliedes auseinandergehalten ist, so daB eine Beeinflussung letzterer 
leicht fiir solche des ersteren genommen ist. Die Entscheidung werden 
erst w'eitere Untersuchungen bringen. 

Dabei soli keineswegs geleugnet werden, und auch unser Be- 
obachtungsmaterial zeigt das, daB periphere Reizzustande und die 


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E. Meyer: 


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durch sie ausgelosten Empfindungen im Bereich des fehlenden Gliedes 
das GliedbewuBtsein starker hervortreten lassen konnen, nur ist daran 
festzuhalten, daB sie nicht Vorbedingung des Vorhandenseinsgefiihls 
des fehlenden Gliedes sind, daB das GliedbewuBtsein nicht an sie ge- 
bunden ist. 

SchlieBlich konnte eingewandt werden, es sei bei rein zentraler 
Entstehung des Gliedbewu Btseins nicht zu verstehen, warum das Glied 
nicht in alien seinen Teilen, sondern vorwiegend die Finger und Hande 
bzw. Zehen und FiiBe sowie die groBen Gelenke (Ellbogen- und Knie- 
gelenk) gefiihlt werden. Nun werden aber schon normalerw'eise die 
GliedmaBen keineswegs sehr deutlich und auch nicht bestimmt in alien 
Teilen wahrgenommen, sondern — einerlei, ob mit oder ohne Hilfe 
peripherer Reize — am meisten in Hand und FuB mit Fingern und 
Zehen, weiter im Bereich der groBen Gelenke 1 ). Das erscheint auch an 
sich am natiirlichsten, da von der Gegend der Gelenke und der kurzen 
Gliedteile mit vielen Zwischengelenken Tast- wie Gemeinempfindungen 
und gev'iB auch Gesichtsempfindungen weit haufiger und intensiver 
ausgelost werden als von den Gliedabschnitten zwischen den groBen 
Gelenken, und da anderseits die distalen Teile der Glieder, in denen 
die Funktion des ganzen Gliedes kulminiert, am vielfachsten und 
innigsten mit dem Zentralorgan verkniipft sind. 

In mehreren unserer Falle hat das gleichsam normale GliedbewuBt¬ 
sein der Amputierten eine Anderung erfahren, die durch Erlebnisse 
im Augenblicke der Verwundung oder bald nachher wahrend der Be- 
handlung bestimmt ist, deren Hauptinhalt besondere Stellungen des 
Gliedes in jenen Zeiten bilden; einmal war auch eine Gewohnheits- 
haltung seit Jahren bestimmend. 

Wenn Abbatucci von ,,akzidentellen“ neben den ,,regelmaBigen“ 
Bestandteilen des Phantomgliedes spricht, so hat er of fen bar gleiche 
Beobachtungen dabei im Auge. Ich erinnere auch daran, daB einige 
unserer Patienten ihre Wunden im Bereich des Gliedbewu Btseins sehr 
stark empfanden. 

Es kann kein Zweifel sein, daB diese Anderungen im GliedbewuBt¬ 
sein psychogen bedingt, somit rein zentralen Ursprunges sind. Darin 
liegt, wenn auch nicht der Beweis, so doch eine gewisse Stiitze fur un¬ 
sere Annahme, daB das GliedbewuBtsein an sich, das regelmaBige Glied¬ 
bewuBtsein, auch ausschlieBlich zentralen Ursprungs ist. 

Am meisten beachtet sind eigentlich die Bewegungsempfindungen 
im GliedbewuBtsein der Amputierten, offenbar deshalb, weil vielfach 
mit ihnen das GliedbewuBtsein schlechthin einfach identifiziert ist, in 


*) Katz hat dieser Frage besondere Aufmerksamkeit zugewandt. 


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Emp.'indungstiiuschungen im Bereiche amputierter Glieder. 275 

den letzten Jahren auch mit Riicksicht auf ihre Verwertung fiir die 
Prothesen. Bei der Ausfiihrlichkeit der Besprechung, die sie in der 
einschlagigen Literatur gefunden haben, kann ich mich hier kurz fassen. 

Ich erinnere daher nur kurz daran, daB wir durchaus nicht in 
jedem, sondern nur in einem Bruehteil der Falle Bewegungsempfin- 
dungen — apontane oder willkurliche •— nachzuweisen vermochten, 
ein nicht zu miBdeutender Beleg dafiir, daB sie jedenfalls mit dem 
GliedbewuBtsein nicht gleichgestellt werden und ebensowenig ala not- 
wendige Vorbedingung desselben angeaehen werden konnen. Katz 
scheint das Vorhandensein eigentlicher Spontanbewegungen, also von 
Bewegungen ohne Zutun des Amputierten, zu bezweifeln, doch haben 
wir ja in einem Vierteil der Falle den sicheren Eindruck von solchen 
gehabt. — Fur Willlcurbewegungen scheint iibrigens besonders bezeich- 
nend, daB sie mit dem Gefuhle korperlicher Anstrengung einhergehen, 
auch pflegen sie weit weniger ausgiebig als spontane zu sein. 

Die Art der Bewegung, die empfunden wird, ist meist eine einfache, 
ich mochte sagen, elementare, besteht zumeist in Beugen und Strecken 
der Finger oder seltener der Zehen. 

Von Halluzinationen oder Illusionen im gewohnlichen Sinne wer¬ 
den wir auch hier gewiB nicht sprechen konnen, wir finden ja nichts 
dem Individuum an sich Fremdes, nicht in seinem BewuBtsein Ge- 
gebenes. Vor allem sind auch Vergleiche mit den sog. Halluzinationen 
des Muskelsinnes, wie sie zuweilen gebraucht sind, nicht angebracht, 
da es sich da durchweg um fremdartige, bizarre Bewegungen handelt. 

In einzelnen Fallen wird die Bewegung in ahnlicher Weise wie 
das GliedbewuBtsein durch Erlebnisse zur Zeit der Verwundung modi- 
fiziert. Letzterer Umstand und auch der, daB gerade Elemente der 
Bewegung, die am meisten durch Bahnung im BewuBtsein haften, 
reproduziert werden, weisen auf die iiberragend zentrale Entstehung hin. 

DaB Bewegungen des Stumpfes oder Muskelspannungen in ihm 
nicht zur Auslosung del Bewegungsempfindungen notwendig sind, 
geht aus der Zusammenfassung unserer Beobachtungen schon hervor, 
wie auch Katz ausdriicklich betont, daB Bewegungen der Muskeln 
nicht als Grundlage der Bewegungsillusionen im Phantomglied auf- 
zufassen seien. 

Von manchen Seiten sind die Bewegungsempfindungen auf Mit- 
bewegungen zuriickgefiihrt, in tier Weise, daB Mitbewegungen der ge- 
sunden Seite als Bewegungen des fehlenden Gliedes illusionar gedeutet 
wiirden, wogegen Katz anfiihrt, daB auch bei doppelseitig Amputierten 
Bewegungsempfindungen vorkommen. 

Ganz besonders hat die Annahme von sog. Innervationsempfin- 
dungen zur Erklarung der Bewegungsempfindungen der Amputierten 
zu einer lebhaften Diskussion gefiihrt, die freilich zuungunsten der 


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276 


E. Meyer: 


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Innervationsempfindu ngen als ira wesentlichen abgeschlossen ange- 
sehen werden kann. Die Bezeichnung: Innervationsempfindu ngen 
sollte die direkte Verbindung mit der motorischen Innervation zum 
Ausdruck bringen, ,,so daB jede motorische Innervation unmittelbar 
von einer Empfindung begleitet werde, die in den motorischen Inner- 
vationszentren selbst oder sogar in den motorischen Nerven ihren Sitz 
liabe“ ( Wundt). Katz, der Wundts Ausdruck: ,,zentrale Bewegungs- 
empfindungen“ annimmt, fiihrt aus, ,,die zentralen Komponenten der 
Bewegungsempfindungen beruhen auf Mitbewegungen, welche die zu 
dem betreffenden Funktionsgebiet gehorenden sensorischen Zentren 
ergreifen, woraus dann auch die qualitative Obereinstimmung dieser 
zentralen Komponenten mit den peripher ausgelosten Bewegungs¬ 
empfindungen ohne weiteres begreiflich wird“. An anderer Stelle be- 
tont derselbe Forscher, daB die Bewegungsillusionen zentral ausgelost, 
zentral im Verlauf bestimmt und nur in schon im ruhenden Zustand 
illusorisch gegebenen Gliedteilen beobachtet werden. Dieses starke 
Betonen der zentralen Entstehung deckt sich ja im wesentlichen mit 
den Schliissen, die sich aus unseren Beobachtungen ergaben. 

Haufiger — bei iiber der Halfte der Kranken — als Bewegungs¬ 
empfindungen waren bei unseren Fallen Tastempfindungen in Form 
von Schmerzen oder Parasthesien im GliedbewuBtsein vorhanden, in 
t)bereinstimmung mit den Angaben der Literatur. DaB sie anderseits 
in einem erheblichen Teil der Beobachtungen fehlen, und nicht als 
unbedingt erfordcrliches Element zur Entstehung des GliedbewuBtseins 
in Frage kommen konnen, haben wir schon oben erortert. 

Fur ihre Auslosung selbst werden Reizzustande im Stumpf allge- 
mein angesprochen, so Druck auf die Nerven, durch Narben usw., 
auch N euroinbildung. Zu letzterer Frage verdanke ich Herrn Kollegen 
Koster in Leipzig freundliche personliche Mitteilungen vom Ende des 
•Tahres 1916, die ich erst jetzt verwerten kann, da ich bis dahin nicht 
zur Zusammenfassung meines Materials kommen konnte. Koster ge- 
wann bei seinen Beobachtungen die Uberzeugung, ,,daB Neurombil- 
dungen am Amputationsstumpfe die sonst normalerweise lange nach- 
dauernden bekannten Vorstellungen von der Existenz des amputierten 
Beines krankhaft beeinflussen, so daB Verkiirzung des abgesetzten 
Gliedes, Schmerzen in diesem und abnorme Zehenlagerung gefiihlt 
wurden.“ ,,In jedem meiner Falle wurde einc groBe keulenfomige 
und mit dem Nachbargewebe verwachsene Neurombildung des Ampu- 
tationsstumpfes entfernt und ein allmahliches Verblassen der krank- 
haften Erscheinungen war die Folge. Schmerzen und anormale Zehen¬ 
lagerung schwanden zuerst und in einigen Monaten; das Verkurzungs- 
gefiihl im vermeintlich noch vorhandenen Beine hielt langer an und 
ist in einem Falle noch nach 12 Monaten vorhanden.' 1 


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Empfindungstftuschungen im Bereiche amputierter Glieder. 277 

Einen Fall von Neurora haben wir oben erwahnt, einen zweiten 
habe ich jetzt beobachtet: lm Mai 1918 war der Unterschenkel in 
Knochelhohe, spater weiter oben in mehrfachen Operationen, zuletzt 
im oberen Drittel abgenommen. Dauernd bestanden seitdem Klagen 
iiber heftige Schmerzen im Stumpf. Zur Zeit der Beobachtung auBer- 
dem, wie schon vorher, ausgesprochenes GliedbewuBtsein (Zehen!), 
Bewegungsempfindungen und Kribbeln darin. Bei Beriihrung der 
Narbe ausstrahlende Schmerzen bis in die Zehen. Neuromentfernung 
fiihrte zu keiner Besserung der Schmerzen, doch ist bei der Bewertung 
dieses holies zu bedenken. daB es sich urn einen Morphinisten handelte, 
bei dessen zweifelhafter Glaubwiirdigkeit die Vortauschung oder t)ber- 
treibung von Schmerzen mindestens nicht auszuschlieBen war. 

SchlieBlich mochte ich noch einmal auf den bemerkenswerten 
EinfluB des Witterungswechsels auf das GliedbewuBtsein und die Emp- 
findungen in diesem bei einem nicht geringen Teil unserer Beobach- 
tungcn hinweisen. 

Es liegt natiirlich am nachsten, hierbei die Einwirkung der Tem- 
peraturreize auf den Stumpf mit seinen anormalen Verhaltnissen an- 
zunehmen, aber die zentrale Komponente spielt auch hier vielleicht 
eine sehr groBe Rolle. 


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(Aus der Klinik fiir psych, und Nervenkranke in Bonn 
[Geh. Rat A. Westphal].) 


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Untersuchungen an sexuell Abnormen 

(Klinisches und Forensisches). 

Von 

Prof. Dr. A. H. Hiibncr, 

Oberarzt der Klinik. 

(Eingegangen am 25. Januar 1923.) 

Die Notwendigkeit, sich mit der Tatsache des Bestehens sexueller 
Perversitaten im Gerichtssaal, im arztlichen Sprechzimmer und in der 
Offentlichkeit abzufinden, hat immer von neuem zu wissenschaftlichen 
Forschungen iiber diese Probleme angeregt (C. Westphal , Krafft-Ebing). 
Aber mehr, als auf vielen anderen Gebieten, lief die Wissenschaft hier 
Gefahr, miBbraucht zu werden, weil man sie dazu benutzen wollte. 
moralische Wert- oder Unwerturteile zu stiitzen, und weil man vor alien 
Dingen von Zeit zu Zeit immer wieder versuchte, bestimmten Gruppen 
Perverser Sondervorteile zu verschaffen. Das hat friiher zu leidenschaft- 
lichen Kiimpfen gefiihrt, in denen unbegriindetes Mitleid auf der einen 
Seite, unmotivierte Abneigung andererseits sich befehdeten, ohne daB 
fiir Wissenschaft und Praxis viel dabei gewonnen wurde. 

Vom Standpunkte der Psychopathologie miissen wir die Existenz 
sexueller Perversitaten und ihre Unausrottbarkeit als etwas Unab- 
anderliches hinnehmen. Unsere Aufgabe ist es lediglich, die Entstehung 
dieser Anomalien aufzuklaren — zu ermitteln, wie weit wir den einzelnen 
Kranken heilen oder bessern konnen, nach allgemeinen Gesichtspunkten 
zu suchen, unter denen solche Persbnlichkeiten strafrechtlich und zivil- 
rechtlich zu beurteilen sind, und danach zu streben, daB wir den Pa- 
tienten und seine Familie nach Moglichkeit vor sonstigen Schaden be- 
wahren, die ihm aus seiner abnormen Triebrichtung erwachsen. 

Unter diesen Gesichtspunkten hat die Biologie und Psychopathologie 
in den letzten Jahren intensiv gearbeitet. Wenn trotzdem selbst iiber 
manche grundlegenden Fragen noch keine Ubereinstimmung herrscht, 
so liegt das zum Teil daran, daB die wissenschaftliche Forschung von den 
Affektschwankungen der offentlichen Meinung noch immer nicht ganz 
unberiihrt blieb. Ein weiterer Grund ist darin zu suchen, daB nur wenigen 
Forschern ein umfangreiches Krankenmaterial zu Gebote stand. SchlieB- 


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A. H. Hiibner: Untersuchungen an sexuell Abnormen. 


279 


lich muB man auch, um ein tieferes Verstandnis fiir diese Typen zu er- 
halten, ihr Tun und Treiben auBerhalb des Krankenhauses, im offent- 
lichen und Privatleben, beobachtet und solche Menschen kennengelernt 
haben, die wegen ihrer abnormen Triebrichtung nicht zum Arzt gehen 
und auch mit der Polizei nie etwas zu tun bekommen 1 ). 

Auf derartiges Material stiitzen sich die folgenden Ausfiihrungen, 
die zu einigen praktisch wichtigen Fragen Stellung nehmen wollen. 

Ich verdanke dasselbe, soweit es der Universitats-Nervenklinik und 
Prov.-Heilanstalt Bonn entstammt, meinem hochverehrten Chef und 
Lehrer, unserem heutigen Jubilar, der seit den Tagen des Prozesses 
gegen den epileptischen Lustmorder TeBnow der Psychopathologie des 
Sexuallebens stets besonderes Interesse entgegengebracht hat. 

Der Zweck meiner Ausfiihrungen ist ein doppelter. Einmal mochte 
ich das, was ich selbst klinisch und forensisch beobachtet habe, kurz 
zusammenfassen. Dann aber mochte ich einige Begriffe, die in der 
Praxis viel angewandt werden, nochmals zur Diskussion stellen. Es ist 
notwendig, wieder einmal zu priifen, von welchen klinischen Tatsachen 
sie hergeleitet werden; wir miissen ferner versuchen, sie so zu definieren, 
daB sie in einer dem Richter verstandlichen Weise angewandt werden. 

Zu diesen Begriffen gehort in erster Linie der des ,,gesteigerten“ 
Geschlechtstriebes; ferner der der ,,Unwiderstehlichkeit‘', die Fragen 
der ,,Horigkeit“, der ,,Verfiihiung“, der Wertigkeit von Zeugenaus- 
sagen Jugendlicher bei Sittlichkeitsdelikten u. a. Einige von ihnen 
sollen in dieser Arbeit 2 ) erortert werden. Auf die anderen werde ich in 
einer zweiten Studie spater eingehen. 

I. Homosexualitat. 

Als Steinach vor 10 Jahren mit seinen aufsehenerregenden Befunden 
vor die Offentlichkeit trat, da wurde, ahnlich wie das schon vor Jahr- 
zehnten in Osterreich") geschehen war, erneut die Frage der Zurech- 
nungsfahigkeit Homosexueller aufgeworfen. 

Die Situation war diesmal giinstiger als ehedem, denn neben den 
Steinachs chen Untersuchungen waren klinische und biologische For- 
schungsergebnisse veroffentlicht worden, aus denen Weil*) schloB, es 
sei nunmehr endgultig bewiesen, daB die Homosexualitat nicht nur 

*) >S. hierzu Marx: Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. u. off. Sanitfitsw. 60. 
S. 208. 

2 ) Diesel be stellt eine Erweiterung des von mir auf der 100. Naturforscher- 
versammlung (Psych. Sekt.) gehaltenen Vortrages. 

3 ) S. die Entscheidungen aus jener Zeit und Krafft-Ebing: D. Kontrarsex. vor 
d. Strafr. 1894. 

4 ) A. Weil: Geschlechtstrieb u. Korperform. Zeitschr. f. Sexualwiss. 8. 
S. 144; s. hierzu Mair u. Zutt: Monatsschr. f. Psychiatr. u. Neurol. 52, S. 54. 


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A. H. Hiibner: 


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etwas psychisch Bedingtes, von auBen Hereingetragenes sei, sondem 
daB sie auf inneren, innersekretorischen Ursachen beruhe, daB die ver- 
anderte Sexualitat auch ihren Ausdruck in der veranderten Korperform- 
finde. 

Am bedeutungsvollsten schienen die mikroskopischen Befunde an 
den Hoden einzelner Homosexueller und die Operationserfolge von 
Lichtenstein, Miihsam 1 ) u. a. zn sein. Leider warden diese Studienvor- 
zeitig in der breiten Offentlichkeit bekannt. Das hatte z. B., wde wir bei 
Kronfeld 2 ) lesen, zur Folge, daB ein wegen Unzucht mit Knaben ange- 
klagter Kapellmeister im Strafverfahren zum Nachweis seiner herma- 
phroditischen Anlage die Herausnahme und mikroskopische Unter- 
suchung eines seiner Hoden beantragte, weil er glaubte, daB der dort zu 
erhebende Befund flir die Frage der Zurechnungsfahigkeit bedeutungs- 
voll sein w r iirde. 

Obw'ohl eine Reihe ernstzunehmender Forscher die Steinachschen 
Befunde nicht bestatigte 3 ), wurden in foro vielfach Gutachten im Sinne 
der Schuldfreiheit erstattet und in der Literatur die Frage aufgeworfen, 
ob in den Fallen von Homosexualitat, in denen die Sleinachs chen Be¬ 
funde erhoben worden waren. die freie Willensbestimmung grundsatz- 
lich. entweder fur Delikte aller Arten oder nur fur Sexualverbrechen 
ausgeschlossen sei. Man begriindete die Notwendigkeit dieser Frage- 
stellung 4 ) etw r a folgendermaBen: 

Die Sekrete der in den Hoden mancher Homosexueller gefundenen 
Zellen stellen etwas Pathologisches dar. Sie wirken toxisch auf ihre 
Trager. Es gibt nun andere toxische Prozesse, bei denen man keine Be- 
denken tragt, generelle Unzurechnungsfahigkeit anzunehmen. Solche 
Prozesse sind z. B. manche Infektionspsychosen und die Dementia 
praecox. Wenn hier die Aufhebung der freien Willensbestimmung an- 
erkannt wird, warum soil das dann bei den Homosexuellen mit den er- 
wahnten anatomischen Befunden nicht auch geschehen * 

Kronfeld*), einer der letzten Autoren, die sich mit dem Problem be- 
sehfiftigt haben, hat gegen die eben skizzierten Deduktionen eine ganze 
Reihe von Einwendungen erhoben. Meiner Ansicht nach sind jene 
Gedankengange in sehr vielen Punkten anfechtbar. 

Zunachst kennen wir bis jetzt noch keine durchgreifenden psycho- 
jjathologischen und somatischen Unterscheidungsmerkmale zwischen 

0 Miihsam: Dtsch. med. Wochenschr. 1922. S. 1341; s. auch Moll: Behand- 
lung der Homosexuellen. Abh. a. d. Geb. der Ncxualforschung. o. Bonn 1921. 

-) Kronfeld: Konstitut. Faktor bei sex. Triebanoiu. Zeitschr. f. Serualwiss. 
8. ,S. 11. 

3 ) S. hierzu Blum: Homosexualitat und Pubertatsdriise. Dort Literatur. 
Zbl. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr., Ref. 31. S. 161. 

4 ) Hirschfeld: Homosexualitat Berlin 1914. 

5 ) L. c. 


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Untersuchungen an sexuell Abnormen. 


281 


Homosexuellen mit positivem und negativem Steinachschen Befund. 
Wir wissen namentlich nicht, wie haufig die Steinachsehen Zellen bei 
Homosexuellen gefunden werden. Es ist bis jetzt nicht exakt bewiesen, 
daB die Zellen ein toxisch wirkendes Sekret absondern, durch das der 
Trager vollstandig oder partiell vergiftet wird. Es ist unwahrschein- 
lich, daB dieses Gift demjenigen der Infektionspsychosen und der Schizo¬ 
phrenic quoad Wirkung auf den menschlichen Organismus gleichzu- 
setzen ist, und schlieBlich ist es eine unumstoBliche Tatsache, daB sich 
der Geisteszustand eines Durchschnittshomosexuellen von dem eines 
Schizophrenen weitgehendst unterscheidet. 

Daraus folgt, daB die bisherige Ansicht, bei der Frage der Zurech- 
nungsfahigkeit Homosexueller komme es nacli wie vor auf die Gesamt- 
personlichkeit 1 ) des Angeklagten an, auch heute noch zu Recht besteht. 
So interessant die zitierten Forschungsergebnisse sein mogen. Es muB 
davor gewarnt werden, sie gerichtsarztlich zu verwenden. 

Die Zahl derjenigen Homcsexuellen, bei denen ein Verschulden im 
Sinne des § 51 StGB. sicher auszuschlieBen ist, ist nach meinen Er- 
fahrungen gering; sie betriigt unter den von mir iirztlich Beobachteten 
und vielfach auch Begutachteten nicht ganz 20°/ 0 . 

Vom klinischen Standpunkte kann ich folgende Gruppen unter- 
scheiden: 

1. Am bekanntesten sind wohl die Falle, in denen ein Psychopath 
im krankhajten Rausch 2 ) homosexuelle Einzelhandlungen begeht. Man 
muB dabei zwei Moglichkeiten nachgehen: Bei den einen handelt es sich 
— ohne daB im iibrigen homosexuelle Neigungen nachzuweisen sind — 
um die momentane Betatigung eines auch sonst stark hervortretenden 
sexuellen Begehrens, d. h. der Tiiter ist infolgc der Alkoholwirkung stark 
geschlechtlich erregt und hemmungslos und macht sich nur faut de mieux 
an das erste beste erreichbare mannliche Individuum heran. 

Bei anderen bestehen auch auBerhalb des Rausches gewisse homo¬ 
sexuelle Neigungen — unter Umstanden neben heterosexuellen. 

Die Personlichkeiten, um die es sich beide Male handelt, sind psycho- 
pathische. Bei der zweiterwahnten Gruppe findet sich zumeist ein 
femininer Einschlag. 

Fiir die Zurechnungsfahigkeitsfrage ist der Nachweis des patho- 
logischen Rausches sehr wichtig. Die Angabe, es sei sonst nie etwas 

') Siehc hierzu auch Klienebrrger: Arch. f. Psychiatr. u. Xervenkrankh. B8, 
Heft 1 ; Hoche im Harulbuch d. gerichtl. Psychiatrie; Htilbronner: V'ierteljahrsschr. 
f. gerichtl. Med. u. off. Nanitfitaw., 19, N. 276; Kronfeld: Zcit.sehr. f. d. ges. Neu¬ 
rol. u. Psychiatr. 26. S. 5; Ziemke: Arch. f. Psychiatr. u. Ncrvenkrankh. 51. S. 420; 
Ooerini j: Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr., Ref. 7. S. 649; (rraef: Arch. f. 
Kriminol. 34, S. 45 (Literatur!). 

2 ) Cotta: Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. u. off. Sanitfitsw. 31, N. 50; Schultze. 
E.: ^Alkoholexperiment. Med. Klinik 1921. 

Archlv fiir Psychiatrie. Bit. 68. 19 


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A. H. Hiibner: 


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Homosexuelles passiert, kann man nur mit grbBter Vorsicht und nach 
sorgfaltigster Nachpriifung verwerten. Verwandt ruit diesen Fallen, 
aber weniger leicht zu beurteilen, sind Beobachtungen, wie sie Deutsch 1 ) 
mitgeteilt hat, wo die Inversion bereits nach ganz geringen Alkohol- 
mengen 2 ) (z. B. % 1 Bier) eintritt. Sofern hier eine strafbare Handlung 
begangen wird, kann man wohl kaum die Voraussetzungen des § 51 
StGB. als gegeben ansehen, es sei denn, daB die Personlichkeit des 
Taters, fiir sich betrachtet, die gesetzlichen Bedingungen erfullte. 
Namentlich ist die Moglichkeit des Vorliegens einer Epilepsie zu er- 
wagen. 

2. In einer zweiten Gruppe sind gewisse schizophrene Personlich- 
keiten zusammenzufassen, die wegen besonders auffalliger oder sehr un- 
vorsichtig begangener homosexueller Delikte im Sinne des § 175 oder 176 
belangt werden. Kombinationen mit anderen geschlechtlichen Abw r egig- 
keiten wie Fetischismus, Sadismus, Masochismus usw. 3 ) sind nicht 
selten. Wenn man den Lebenslauf dieser Personen verfolgt, dann laBt 
sich bisweilen zeigen, daB eine Zeitlang die eine, zu einer anderen die 
andere Perversitat betatigt wird, ohne daB diesein Wechsel auch eine 
erkennbare Anderung des sonstigen psychischen Verhaltens entsprache. 

Der Nachweis, daB die Voraussetzungen des § 51 StGB. vorliegen. 
ist mitunter schwierig. Bei der Untersuchung sind zwei Gesichtspunkte 
besonders zu beachten. Einmal kann man eine Reihe ausgepragter 
schizophrener Symptome und einen dementsprechenden Lebensgang. 
sowie eine adaquate Lebensfuhrung nachweisen. Kleidung, Haltung. 
Sprechweise, das gesamte Denken haben etwas Verschrobenes. 
Karrikiertes, Sprunghaftes. Im praktischen Leben ist der Pat. auf 
keinen griinen Zweig gekommen. obwohl er unter Umstanden ein um- 
fangreiches Wissen besitzt, das er aber nicht zu verwenden versteht. 
Vielfach handelt es sich um ausgesprochene Eigenbrodler und Ein- 
spannernaturen, die andererseits, wenn sie etwas Bestimmtes erreichen 
wollen — vollig unempfindlich gegen jede Ablehnung, die ihnen zuteil 
wird —, ihren Mitmenschen auBerst lastig fallen konnen. KurzeEpisoden 
oder auch langer dauernde Phasen, in denen sie halluzinieren, konnen 
sich einschieben. Grobere affektive Schwankungen werden nicht be- 
obachtet. Kommen sie gelegentlich einmal vor, so stehen auslosende 
Ursache und Reaktion haufig in einem MiBverhaltnis zueinander. 

Beziiglich der homosexuellen Handlungen ist auffallig, daB sie sich 
haufig auf Jugendliche erstrecken. Nicht immer wird eine bestimmte 

a ) Deutsch: Wien. klin. Wochenschr. 1913. S. 162. 

2 ) Siehe auch Naecke: Alkohol u. Homosexualitat. Allg. Zeitschr. f. Psychiatr. 

u. psych, -gerichtl. Med. 68, S. 852. 

3 ) Hiibner: Neurol. Zentralbl. 1917; Knauer: Arch. f. Kriminol. 15, S. 76; 

v. Jaden: Arch. f. Kriminol. 14, S. 23; Svenson: Arch. f. krini. Anthrop. 37, S. 209. 


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Untersuchungen an sexuell Abnormen. 


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Person begehrt. Die Schiichternheit des Schizophrenen bewirkt auBer- 
dem, daB es nur in einem Teil der Falle zu einer intimen (§ 175) Bekannt- 
schaft mit dem jeweils begehrten Menschen kommt; andererseits ver- 
folgt der Pat. den Gegenstand seiner sexuellen Wunsche mit groBter 
Hartnackigkeit; ohne Riicksicht auf wirtschaftliche Nachteile, die ihm 
daraus erwachsen, und ohne Riicksicht auf seine eigene Gesundheit. 
Ich habe Falle gesehen, in denen die Kranken hungerten und froren, 
weil sie irgendeinem Knaben nachstellten. Dabei litten sie unter den 
traurigen Verhaltnissen. unter denen sie vegetierten, keineswegs, sondern 
standen ihnen auffallend gleichgiiltig gegeniiber. 

Auch das Verstandnis dafiir, daB andere ihr sexuelles Verhalten an- 
stbBig finden, daB Eltern ihre Kinder vor den sexuellen Angriffen 
solcher Kinderfreunde bewahren wollen, und daB die Begehrten sich 
abweisend verhalten, fehlt den Kranken meist, ist jedenfalls fiir sie kein 
Hinderungsgrund, ihr Ziel weiter zu verfolgen. 

In einem nicht geringen Teil der Falle werden deshalb die Hand- 
lungen auch unter AuBerachtlassung aller Vorsicht, ohne Riicksicht 
auf die Umgebung ausgefiihrt. 

Besondere Schwierigkeiten in der Beurteilung bereiten die Falle, in 
denen homosexuelle Handlungen im Beginn eines schizophrenen Pro- 
zesses begangen werden. Bei einem der von mir begutachteten Falle 
traten eindeutige Symptome erst einige Monate nach der Verurteilung 
hervor. Aus der sehr diirftigen Anamnese und dem Untersuchungs- 
befund war kein klares Bild zu gewinnen. 

3. In dieGruppe des zirkuliiren Irreseins gehorten nur wenige Homo¬ 
sexuelle. Sie boten alle gewisse Besonderheiten. Zu unterscheiden ist 
zwischen Zirkularen, die — wohl zufallig — gleichzeitig homosexuell 
sind und nun derartige Handlungen sowohl in den freien Zeiten wie auch 
wahrend manischer, bzw. depressiver Attacken begehen. Sie handeln 
schuldfrei, solange eine ausgesprochene Manie oder Melancholie besteht. 

Daneben gibt es Falle, in denen homosexuelle Neigungen wahrend der 
freien Zeit vermiBt werden und nur wahrend einer manischen oder de- 
pressiven Phase gleichgeschlechtliche Handlungen 1 ) begangen werden. 
So habe ich z. B. vor Jahren ein 21 Jahre altes Miidchen beobachtet, das 
sich plotzlich verandert erwies, Unstetheit und Unruhe, gesteigerten 
Bewegungsdrang, Schlaflosigkeit, gelegentliche Andeutungen von Ideen- 
flucht, gesteigertes Kraftgefiihl und eine vorher nicht gekannte Reiz- 
barkeit zeigte. Gleichzeitig kam eszu einem homosexuellenVerhaltnis mit 
einer jungen Schauspielerin, fiir die sie alle moglichen Gegenstande stahl. 

*) Sanger (Neurol. Zentralbl. 1900. >S. 1018) meint, daB gelegentlich und epi- 
sodisch bei sonst normal Veranlagten Homosexualitat auftrete. Kolche Ftille sind 
nach der oben angegebenen Richtung verdachtig. Siehe auch Naecke: Jahrb. f. sex. 
Zwischenstufen. Jg. 8, S. 583. 

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A. H. Hiibner: 


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In der Klinik beruhigte sie sich. Sie hat spater geheiratet. Es ist. 
soweit meine alljahrlich angestellten Ermittlungen ergeben haben, spater 
nie raehr zu homosexueller Betatigung gekommen. 

Derartige Beobachtungen sindnicht im raedizinischen, wohl aber im 
juristischen Sinne (Entwurf von 1919!) als hoinosexuell zu deuten. 
Klinisch stellen sie die AuBerungen eines krankhaft gesteigerten Ge- 
schlechtstriebes einer Manischen dar. Ein dauerndes gleichgeschlecht- 
liches Fiihlen fehlte. 

Ausdriicklich betont werden muB, daB keineswegs alle Falle. in denen 
homosexuelle Neigungen oder Handlungen episodisch auftreten, in die 
Gruppe der Zirkularen gehoren. 

Die Kriegserfahrungen haben uns gelehrt, daB neurotische Person- 
lichkeiten unter Umstanden strafbare gleichgeschlechtliche Handlungen 
begehen konnen, und zwar sowohl dann, wenn vorher derartiges von 
ihnen nicht bekannt war, wie auch dann, wenn sie vorher gewisse Zeichen 
einer homosexuellen Veranlagung hatten erkennen lassen. 

Bei den vorher nicht Auffallenden handelt es sich entweder uni Per- 
sonen, die infolge des sich stark regenden Geschlechtstriebes homo¬ 
sexuelle Handlungen begehen, weil es an w'eiblichen Wesen fehlt, oder 
es sind Menschen, die unter dem suggestiven EinfluB von echten Ur- 
ningen voriibergehend gleichgeschlechtliche Handlungen mitmachen. 
Soweit es sich dabei um Madchen handelt, kann auf seiten der Ver- 
fiihrten eine Zeitlang ein homosexuelles Liebesgefiihl erkennbar sein, 
dessen Unechtheit und Fliichtigkeit aber sofort deutlich hervortritt, 
w'enn ein geeigneter mannlicher Bewerber erscheint. Bei einer unserer 
Patientinnen bestanden wahrend der homosexuellen Phase auch neben 
gleichgeschlechtlichen, heterosexuelle Phantasien und Pseudohalluzi- 
nationen. 

Bei denjenigen Mannern, die vorher bereits aufgefallen waren, ergab 
die Anamnese fast regelmiiBig, daB sie bereits in der Schulzeit von 
routinierten Urningen verfiihrt 1 ) worden waren und nun, nachdem sie 
sich von ihren Verfuhrern hatten trennen miissen, ihrerseits aktiv vor- 
gingen und neue Bekanntschaften suchten. 

Eine andere Gruppe, bei der episodisch gleichgeschlechtliche Hand¬ 
lungen vorkaraen, bildeten gewisse Imbecille, die, ohne hoinosexuell zu 
fiihlen, lediglich ihrem unbeherrschten Geschlechtstrieb nachgaben. 
Einer von ihnen, den wir gegenwartig noch in der Prov.-Heilanstalt 
haben, hatte als Viehwarter Unzucht mit einer Kuh getrieben, vor 
Knechten und Magden exhibitioniert und mit ihnen allerlei geschlecht- 
liche Handlungen vorgenommen. Auch seine Mutter hatte er wieder- 
holt zum Geschlechtsakt aufgefordert, und vom Militar muBte er nach 

J ) Siehe hierzu Moses: Konstitut. u. Erlebnis in der Sexualpsych. d. Kindes. 
Zeit-schr. f. Sexualwiss. 7, S. 305. 


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Untersuchungen an sexuell Abnornien. 


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wenigen Wochen entlassen werden, weil die Ausbildung auf groBe 
Schwierigkeiten stieB und er auBerdem durch sein sexuelles Verhalten die 
Truppe geradezu ,,verseuchte“. 

Naecke l ) spricht in solchen Fallen mit Recht von ,,Surrogat- 
inversion“. DaB diese Kranken, abgesehen von dem Letzterwahnten, 
nicht ohne weiteres unter den § 51 StGB. fallen, bedarf keiner naheren 
Begriindung. Von ihnen wird man im Gegenteil nur die schwerere Ab- 
weichungen Darbietenden exknlpieren konnen. 

Im AnschluB an die eben besprochenen Gruppen ist schlieBlich noch 
der sog. temporaren und tardiven Falle zu gedenken. 

Ohne nachweisbare zirkulare Anlage und oft ohne erkennbare auBere 
Veranlassung erfolgt eines Tages ein Umschlag des sexuellen Empfindens 
und der Art der Betatigung. Rogge 2 ) hat Falle beschrieben, in denen der 
Umschlag mehrfach erfolgte oder beim zweiten Male bisexuelle Be¬ 
tatigung persistierte. Besonders interessant sind die Beobachtungen von 
Witry 3 ), der nach Sturz vom Pferde einen heterosexuellen Offizier 
homosexuell und nach Oberstehen eines Typhus einen homosexuellen 
Geistlichen bisexuell werden sah. Keiner von diesen wiirde, vor Gericht 
gestellt, fur unzurechnungsfahig erklart worden sein. 

Von unserem Standpunkte aus bedeutungsvoller sind zwei Falle von 
Moerchen 4 ). Beide waren Tabiker und behaupteten, daB sich mit dem 
Einsetzen der tabischen Impotenz allmahlich ein Umstellen des Denkens 
und — soweit moglich — der sexuellen Betatigung entwickelte, die den 
Trager der Krankheit sogar vor Gericht brachte. Moerchen bringt die 
seiner Ansicht nach echte Homosexualitat in Verbindung mit der Tabes 
und der gleichzeitig vorhandenen Entartung und meint, daB die krank- 
hafte Veranderung der nervosen Zentralorgane jedenfalls mit verant- 
wortlich zu machen sei. 

Nach unseren oben wiedergegebenen Erfahrungen ist es niiherliegend, 
die Umwandlung der Neigungen rein psychisch zu erkliiren. Wenn ein 
Mann weiB, daB er den Versuch, mit einer Frau zu verkehren, wegen 
tabischer Impotenz nicht mehr wagen darf, und er wendet sich dann, 
weil sein sexuelles Denken und Fiihlen nicht miterloschen ist, Mannern 
zu, berauscht sich an der weichen Haut eines jungen Menschen, achtet 
auf den Wuchs junger Leute u. a. m., so muB man wohl in erster Linie 
an eine Surrogatinversion 6 ) denken, insonderheit dann, wenn die beiden 


*) Naecke: Arch. f. krim. Antlirop. 22, S. 163. 

2 ) Rogge: Heilbarkeit d. Homos. Zeitschr. f. Sexualwiss. 9, S. 225. 

3 ) Witry: Homosexuality traumatiosme et malad infect. Gaz. des hop. civ. et 
milit. 1913. 

4 ) Moerchen: Zeitschr. f. Sexualwiss. 1, S. 113. 

5 ) Auch die Berichte Naeckes iiber Homosex. beiGeisteskranken fasse ich nicht 
anders auf. 


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286 


A. H. Hiibner: 


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Patienten auch noch psychische Abweichungen darbieten (der eine war 
ein ausgesprochen Manisch-depressiver, der andere konstitutionell [?] 
depressiv), wie das hier zutraf. 

Wie ich oben schon angedeutet habe, kann neben den homosexuellen 
Handlungen voriibergehend auch gleichartiges Fiihlen bestehen oder 
vorgetauscht werden. Man darf die Bedeutung des letzteren nicht 
iiberschatzen. Das ware ebenso falsch wie die Annahme, daB bei Knaben 
das Spielen mit Puppen, die Neigung. als Junge Madchenkleider anzu- 
ziehen u. a. m. unter alien Umstanden fiir angeborene Homosexualitat 
spricht. Das kann gelegentlich einmal nichts weiter, wie der Ausdruck 
einer friih entwickelten und krankhaft gesteigerten Sexualitat sein. Ich 
habe Falle gesehen, die nie eine Spur von Homosexualitat haben er- 
kennen lassen und aus ihrer Kinderzeit vieles berichteten, was sonst in 
den Lebensbeschreibungen ') Homosexueller steht. Ich verweise auf den 
weiter unten erwahnten Fall 2 ). 

4. In einem Ehescheidungsverfahren gemaB § 1568 wurde die Frage 
aufgeworfen, ob die Ehefrau E. schuldhaft handele, wenn sie mit Fraulein 
Dr. phil. X. in homosexueller Gemeinschaft lebe. Letzteres wurde von 
der E. und der X. zugegeben. 

Die E. litt an einer weit fortgeschrittenen multiplen Sklerose mit 
Intentionstremor, Nystagmus, doppelseitigem Babinski und FuBklonus, 
Fehlen der Bauchdeckenreflexe, Inkontinenz, temporaler Abblassung 
und einer sehr ausgepragten Demenz. Sie war korperlich und geistig 
hilflos. Ein V T erschulden wurde deshalb verneint. 

Die Homosexualitat hatte im iibrigen mit der multiplen Sklerose 
nichts zu tun. Sie hatte schon vor Einsetzen der letzteren bestanden. 
Es lieB sich auBerdem nachweisen, daB die E. mehrere homosexuelle 
• Schwestern hatte. 

5. An die Moglichkeit, daB die inkriminierten Handlungen im 
Dammerzustand begangen waren, habe ich einige Male gedacht, sie aber 
spater meist wieder fallen lassen. Beobachtungen, wie die bekannte, wo 
von einem bei ungetriibtem BcwuBtsein in geschlechtlicher Beziehung 
normalen Manne im Dammerzustand regelmaBig homosexuelle Hand¬ 
lungen begangen wurden, sind mir nie begegnet. Sie bilden eine wohl 
ganz seltene Ausnahme. 

Auch Dammerzustande derart, wie sie Margulies 2 ) geschildert hat, 
in denen ein homosexueller Hysteriker Diebstahle und ahnliches begeht, 
findet sich unter meinem Material nicht. 


*) Siehe hierzu A schaffenburg: Allg. Zeitschr. f. Psychiatr. u. psych.-gerichtl. 
Med. 64. S. 703. 

2 ) Siehe auch Hiibner: Lehrbuch der forens. Psych. S. 1001. Bonn 1914. 

3 ) Margulies: Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. u. off. Sanit&tsw. 60; siehe 
aucli Ziehen: Char.-Annalen. 33 und Xaeclce: Psychol. Wochenschr. 11, S. 352. 


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Untersuchungen an sexuell Abnormen. 


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Wohl aber ist in mehreren unserer Falle, die nach Cramer als endogen 
Nervose zu bezeichnen sind, die Frage aufgeworfen worden, ob ein 
impulsiver sexueller Akt im Dammerzustand begangen sei. Einige Male 
hatte offenbar der Umstand, daB der Pat. Erinnerungslosigkeit fiir das 
Vorkommnis angab. den Verdacht auf die Mogliehkeit einer BewuBt- 
seinstriibung gelenkt. 

Es handelte sich um Homosexuelle, die irapulsiv, aber zielstrebig ein 
sexuelles Attentat ausfuhrten — oft unter Uberwindung von Widerstand, 
und an einem Ort, wo die Mogliehkeit der Uberraschung jederzeit ge- 
geben war; hinterher wollten sie von dem Geschehenen nichts wissen. 

Bei der Handlung selbst sollten die Patienten einen glanzenden Blick 
und ein gerotetes Gesicht gehabt haben. 

Dammerzustande hatten die Kranken sonst nicht gehabt. Auch 
Krampfe fehlten. 

Ich selbst habe mich nicht entschlieSen konnen, in solchen Fallen von 
Dammerzustanden zu sprechen. Es fehlte die Orientierungsstorung. 
Eine epileptische oder hysterische Grundlage war gleichfalls nicht nach- 
zuweisen, insbesondere wurden Anfalle, objektiv erkennbare Schwindel- 
erscheinungen oder sonstige Aquivalente vermiBt. Auch der Umstand, 
daB der Dammerzustand die strafbare Handlung wenig oder gar nicht 
iiberdauert haben sollte, ware sehr auffallig. Es ist wohl richtiger, wenn 
man zur Erklarung dieser Zustande annimmt, daB es sich um Menschen 
handelt, bei denen die sexuelle Erregung, wenn sie einmal geweekt ist. 
sofort stark ansteigt 1 ), so daB der Pat. unter Vernachlassigung der Um- 
gebung, in der er sich befindet, lediglich eine Entladung erstrebt. 

DaB er sich hinterher nicht aller Vorgange entsinnen kann, die sich 
dabei abgespielt haben, ist leicht verstandlich. Man muB bedenken, daB 
auch ganz normale Menschen in gleicher Situation nicht alles behalten, 
was sich ereignet hat. 

Wenn vollige Amnesie behauptet wird, so stehe ich dieser Angabe 
skeptisch gegeniiber. 

6. Wir haben damit diejenigen Gruppen erreicht, in denen schuld- 
freies Handeln nicht die Regel, sondern die Ausnahme bildet. Hierher 
gehoren die Imbeeillen, Hysteriker und Senilen leichteren Grades. Bei 
ihnen sind die Voraussetzungen des § 51 StGB. nur dann gegeben, wenn 
besondere Komplikationen nachzuweisen sind. Es wird darauf weiter 
unten noch einzugehen sein. — 

Wenn man die Literatur iiber die Homosexualitat, soweit sie sich 
mit der Strafbarkeit gleichgeschlechtlicher Handlungen beschaftigt, 
etwas eingehender studiert, so stoBt der Leser sehr bald auf einen groben 


') Siehe Birnbaum: Forens. 13edeutung der sex. Psychopath. .Sex, Probleme. 
.S. 372. 1913. 


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A. H. Hiibner: 


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Widerspruch. Einerseits sucht man zu beweisen, dab die ,,normalen“ 
Homosexuellen den Heterosexuellen gleichwertige Menschen seien. 
Andererseits wird, da nun einmal der § 175 StGB. besteht, immer 
wieder der Versuch gemacht, Schuldfreiheit fiir urnische Handlungen zu 
proklamieren, weil man fiir einen angeborenen Trieb nicht bestraft 
werden konne. 

Meiner Ansicht nach werden liier ganz verschiedene Probleme un- 
rechtmabigerweise zueinander in Beziehung gebracht. 

Die Frage, ob und welche homosexuellen Akte man bestrafen soli, 
ist im Gegensatz zur Frage des schuldhaften Handelns keine medi- 
zinische. Die Tatsache, dab unter den Homosexuellen sehr viele Psycho- 
pathen zu finden sind, kann jedenfalls nicht ohne weiteres gegen eine 
Strafbestimmung im Sinne des § 175 ins Feld gefiihrt w r erden. Denn 
zahlreiche Gewohnheitsverbrecher, namentlich viele Notziichtler, Ex- 
hibitionisten, Sadisten, Zopfabschneider, Saurespritzer u. a. sind gleich- 
falls geistig mehr oder minder abnorm und es wird kaum einen Mensch 
geben, der die Notwendigkeit von Strafbestimmungen gegen derartige 
Handlungen bestreitet. 

Auch mit anthropologischen und mikroskopischen bzw\ biologischen 
Befunden kann man eine Stellungnahme fiir oder gegen den § 175 nicht 
begriinden, selbst wenn sie schon allgemein anerkannt waren. Gegen- 
wartig, nachdem durch die Untersuchungen von Kretschmer, Heinrich 
Fischer 1 ) u. a. das Problem der Beziehungen zw'ischen Korperbau und 
Funktion der endokrinen Driisen eingehender studiert worden ist und 
zur Aufstellung einiger Typen gefiihrt hat, noch weniger als friiher. 
Warum sollten die konstitutionellen Besonderheiten der Homosexuellen 
— wenn es solche iiberhaupt gibt, was bis jetzt keineswegs sicher 
ist — fiir die Bcseitigung der vorhandenen Strafbestimmungen 
sprechen, wahrend man bei anderen ,,endogenen“ Deliktgruppen 
gar nicht daran denkt, die vorhandenen gesetzlichen Bestimmungen 
zu beseitigen. 

Zur Frage der Abschaffung des § 175 kann man meiner Ansicht nach 
weniger vom medizinischen als vom rechtspolitischen Standpunkte aus 
Stellung nehmen. Das Strafgesetz soil die Personlichkeit des einzelnen, 
namentlich die des Jugendlichen vor rechtswidrigen geschlechtlichen 
Angriffen schiitzen. Es soli ferner dafiir sorgen, dab sich die Unsittlich- 
keit in der Offentlichkeit nicht storend bemerkbar macht. 


l ) Kretschmer: Korperbau und Charakter. Berlin 1922. — Heinrich Fischer: 
Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 50 u. 52; Sioli und Meyer: Zeitschr. f. d. 
ges. Neurol, u. Psychiatr. 80; Eirnld: Zeitschr. f. d. ges.Neurol, u. Psychiatr. 71, 
S. 1; H. Hofmann: Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr., Ref. 22; Hiibner: 
Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr., Ref. 27 und 31; Goring: Arch. f. Krimi- 
nol. 73. 


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Untersuchungen an sexuell Abnormen. 


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Ebenso wie man es der erwachsenen (d. h. iiber 16 Jahre alten) 
geistesgesunden Frau iiberlaBt und wie man ihr die Fahigkeit zutraut 1 ), 
ihre Geschlechtsehre selbst zu schiitzen, so kann man das auch beim er- 
wachsenen geistesgesunden Mann. Schutzbediirftig sind nur die Jugend- 
lichen — iiber die Grenze des Schutzalters laBt sich streiten —, geistig 
Abnorme, solche Personen, die unter MiBbrauch eines Autoritatsver- 
haltnisses zu geschlechtlichen Handlungen bewogen werden, und die- 
jenigen, welche durch Tauschung 2 ) oder Gewalt zur Mitwirkung be- 
stimmt werden. 

Um diesen Schutz zu gewahren, bedarf es des § 175 nicht 3 ). 

Wenn zwei mannliche zurechnungsfahige Personen sich zu sexueller 
Betatigung, ohne Argernis zu erregen, zusammenfinden, so fehlt es an 
einem offentlichen Interesse, und es liegt kein Grund vor, diesen Fall 
anders zu beurteilen, als den viel haufiger vorkommenden, daB Personen 
verschiedenen Geschlechts sich zu dem gleichen Zwecke vereinigen. Eine 
Strafbestimmung im Sinne des § 175 stellt sogar einen Eingriff in das 
Selbstbestimmungsrecht des einzelnen dar. Man schiitzt strafrechtlich 
einen Menschen, der weder dieses Schutzes bedarf noch auch einen 
solchen wiinscht. 

DaB man durch eine kurze Gefangnisstrafe einen echten Homo- 
sexuellert nicht bessern oder von weiterer Betatigung abschrecken kann, 
steht gleichfalls auBer Zweifel. 

In der Offentlichkeit fallt die Homosexualitat und die mit ihr 
zusammenhangenden Einrichtungen (Klubs. Balle, Prostitution usw.) 
nur in den GroBstadten auf und auch da bei weitem nicht in dem MaBe, 
wie die weibliche Prostitution. Wo die Homosexualitat sich unliebsam 
bemerkbar macht, ist sie im geltenden Strafrecht nach den §§ 183 (Er- 
regung offentlichen Argernisses) oder 360 11 (grober Unfug) zu fassen. Der 
§ 175 ist also auch von diesem Gesichtspunkte aus entbehrlich. — 

Neben den eben angefiihrten, auf rechtspolitischem Gebiete liegen- 
den Argumenten gibt es noch eine Reihe anderer, die die Abgrenzbarkeit 
der Tatbestande betreffen. Wer die Rechtsprechung 4 ) des Reichs- 
gerichts zu § 175 kennt, der weiB, wie schwer die Entscheidung dariiber 
ist, was strafbar ist. Dabei muB jeder Kenner der Verhaltnisse sagen, 

*) Die 10jiihrige verheiratete Frau handelt, wenn sonst keine Schuldaus- 
schlieBungsgriinde vorliegen, bei Ehebruch schuldhaft. 

2 ) DaB derartiges wirklich vorkommt siehe Worter: Arch. f. Kriminol. 07. 
Heft 1. 

3 ) Siehe hierzu Horch: Arch. f. Kriminol. 07, S. 95; Croner: Zeitschr. f. Sexual- 
wiss. 3, S. 405; Gliicksmann: Strafr. Schutz Jugendl. I.-D. 1914; Werthauer: 
Sittl. Verbr. Zeitschr. f. Sexualwiss. 2, S. 1; Dehnow: Zeitschr. f. Sexualwiss. 
7, S. 379. 

4 ) Bedenkl. Entsch. des RG. Zeitschr. f. Sexualwiss. 3. S. 179 u. Horch: 
Zeitschr. f. Sexualwiss. 7, S. 134. 


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A. H. Hiibner: 


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daB psychologisch betrachtet dcr Unterschied zwischen einer strafbaren 
und straflosen homosexuellen Handlung viclfach nicht groB ist. 

Hinzukommt, dali von don wirklich begangenen Verfehlungen gegen 
den § 175 doch nur der kleinste Toil zur Aburteilung kommt, so daB wir 
alles in allem hier eine Strafbestinnnung haben, deren Anwendung vom 
Zufall abhiingt, und das ist unerwunscht. 

Die ganze Frage ist deshalb mit so viel Leidenschaft diskutiert 
worden, weil das grolle Publikum das Problem der Homosexualitat vor- 
wiegend nach den Eindriicken beurteilt, die es auf der StraBe von der 
mannlichen Prostitution, oder in manchen offentlichen Tanz- und ahn- 
lichen Lokalen von den dort verkehrenden Urningen bekommt. Auch 
die Berichterstattung in der Tagespresse hat viel Schaden gestiftet. 
Hinzukam weiter, daB die weiblichen Homosexuellen 1 ) an einzelnen 
Orten in sehr unangenehmer Weise hervorgetreten sind. 

Alle diese Typen bilden aber gar nicht dasGros der Homosexuellen. 
Ihr Verhalten kann deshalb auch nicht denMaBstab fiir die strafrechtliche 
Behandlung der ganzen Gruppe sexuell Abnormer liefern. 

Bemerkenswert ist dabei, daB diese in der Offentlichkeit auf- 
fallenden Personen noch keineswegs die gefahrlichsten sind. Es gibt 
kleine Privatzirkel — von gebildeten weiblichen Homosexuellen ge- 
griindet —, in denen die systematische Verfiihrung Jugendlicher be- 
trieben wird. Mutter 2 ) bringen ihre eigenen Tochter dorthin und be- 
teiligen sich an den Orgien, durch die die Halbwiichsigen fiir die gleich- 
geschlechtliche Liebe gewonnen werden sollen. 

Diese, mitunter ganz harmlos maskierten Vereinigungen sind vom 
kriminalLstischen Standpunkt viel gefahrlicher als die oben erwahnten. 

II. Wann kann man von ..gesteigertein“ Geschlechtstrieb sprechenf 

Bei der klinischen und forensischen Beurteilung von Homosexuellen 
im besonderen, sexuell Abnormen im allgemeinen, w’erden noch andere 
Irrtiimer begangen. So ist z. B. sehr haufig — und zwar ohne aus- 
reichende Begriindung — davon die Rede, daB die Inkulpaten einen 
krankhaft gesteigerten Geschlechtstrieb hatten. 

Wenn man sich einmal die Frage vorlegt, wann man von einem krank¬ 
haft gesteigerten Geschlechtstrieb sprechen kann, so muB man beriick- 
sichtigen, daB auch das normale Geschleehtsleben weitgehenden Schwan- 

*) Aus Polizeiakten ist mir z. B. bekannt, daB ein Kegelklub „Alle Neune“, 
von weiblichen Homosexuellen gegriindet, in dem Stadtviertel, in dem er tagte, 
groBes Argernis erregt hat. Die Mitglieder dieses Klubs legten es geradezu darauf 
an, sich in unangenehmer Weise bemerkbar zu machen. 

i ) Die Ansicht Fleischers (Arch. f. krim. Anthrop. 34. S. 242) iiber die Harm- 
losigkeit des weiblichen gleichgeschlechtlichen Verkehrs (S. 248) sind keineswegs 
in vollein Uinfange zutreffend. Siehc auch Toe pel: Zeitschr. fiir die ges. Neurol. 72. 
S. 237. 


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Untersuchungen an sexuell Abnormen. 


291 


kungen und Modifikationen sowohl nach der quantitative!!, wie nach der 
qualitativen Seite hin unterworfen ist. 

Erinnert sei nur an die Jahresschwankungen, die in der Vita sexualis 
vieler normaler Menschen nachzuweisen 1 ) sind, und an die Haufigkeit, 
mit der auch im legitimen Verkehr ungewohnliehe Praktiken angewandt 
werden. Zu gedenken ist ferner des Umstandes, daB der Geschlechts- 
trieb bei den einen sehr friih, bei anderen erst in reiferen Jahren er- 
wacht. 

So ist es fast unmoglich, eine ganz prazise Antwort auf die Frage, 
,,was ist norrnal“, zu erhalten. 

Wenn ich alle Angaben zusamiuenfasse, die mir 56 Personen fiber 
diesen Punkt gemacht haben, so ergibt sich, daB fur das Alter von 30 bis 
50 Jahren eine wochentlich viermalige Betatigung noch als normal 
gelten kann. Moll 2 ) hat sogar mit Recht darauf hingewiesen, daB es 
gesunde Menschen gibt. die jahrelang den Geschlechtsakt taglich aus- 
iiben, ohne schadliche Wirkungen zu spiiren. 

Daraus folgt, daB von einer krankhaften Steigerung der Erotik vom 
gerichtsarztlichen Standpunkte aus nur selten gesprochen werden kann, 
namlich dann, wenn die obere Grenze des t)blichen sehr weit iiber- 
schritten wird. Ich habe das z. B. in den folgenden Fallen getan: 

1. Ingenieursehepaar: Mann 35 J., Frau 28 J.; betreiben seit Jahren taglich 
mindestens einmal, hiiufig sogar mehrere Male, die verschiedensten Perversitaten. 
Mann Kriegsneurotiker, Frau cyclothym mit starkem hysterischen Einschlag. 

2. 69jahriger Hausbesitzer, nahert sich seiner Frau taglich 3 bis 4mal, halt 
sich auBerdem noch Verhaltnisse. Klinisch: Arteriosklerose, Alkoholisinus. Von 
jeher schwerer Psychopath. 

Namentlich dann, wenn es sich uni iiltere, jenseits der Sechziger 
stehende Personen handelt, und der Sexualtrieb sich in so exorbitanter 
Weise auBert, wie in dem zweiten Beispiel, wird man von einer patho- 
logischen Steigerung sprechen konnen 3 ). 

Meist spielt die sexuelle Frage im Leben dieser Personlichkeiten 
auch sonst eine groBe Rolle. Sie sprechen viel davon, begehen haufig 
in der Offentlichkeit Handlungen, die zwar nicht strafbar sind, aber 
gegen das Schicklichkeitsgefiihl verstoBen (Austausch von Zartlich- 
keiten in Gegenwart Fremder) oder sie fuhren umfangreiche erotische 
Korrespondenzen. Verschiedene ausgedehnte Jugendorganisationen, 


J ) Biedschitzky will sogar ,,bei geistig regen, aber nervos belasteten Kindern 
eine gewisse Periodizitiit in bezug auf die Masturbation 4 * beobachtet haben. 
(Oboserenje psych. Ref. in Jahresber. iiber die Fortschr. der Neurol, u. Psych. 
1904.) 

2 ) Moll: Handbuch der Sex.-Wissenschaften. Ix-ipzig 1921. 

3 ) DaB derartiges auch in der friihesten Kindheit vorkoinmen kann, zeigt 
Rich: Case of unusual Precocity. Alienist and Neurologist 26, p. 436, Ref. in Mendels 
Jahresber. 1906, S. 1208. Hier auch sex. Friihreife auf psych. Gebiet. 


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A. H. Hiibner: 


literarische Zirkel, Gebetsvereinigungen, Padagogien 1 ), neuerdings sogar 
ein Konzern 2 ) medizinischer Ambulatorien 3 ) verdanken ihre Entstehung 
dem krankhaft gesteigerten Geschlechtstrieb ihrer Griinder. 

Es kommt ferner hiiufig vor, daB derartige Personlichkeiten eine 
auBerordentlich lebhafte Phantasie besitzen, die sich gerade auch mit 
den von ihnen bevorzugten Perversitaten beschaftigt. Sie denken sich 
in alle moglichen homosexuellen, sadistischen, masochistischen usw. 
Situationen hinein [Donath*)], und zwar rait solcher Lebhaftigkeit nnd 
Detailmalerei [Braune 5 )\, daB man mitunter an die Geschichten Karl 
May a erinnert wird. 

Manche Kranke dieser Art legen ihre Phantasien schriftlich nieder 
nnd machen sie anderen zuganglich, um diese fiir ihre Praktiken zu ge- 
winnen. Eine meiner Patientinnen illustrierte sie farbig und fertigte 
sogar von einzelnen Szenen die sie besonders liebte, aus Waehs und 
Marmor kleine Gruppen an. 

Selbstverstandlich ist es, daB die Phantasie der Kranken sich auch 
bei der Abfassung von Lebenslaufen auswirkt, und zwar auch dann, wenn 
das Curriculum vitae nicht fiir die Begutachtung in Strafverfahren, 
sondern aus anderen Griinden angefertigt wird. Die Verwertung solcher 
Ausarbeitungen zu wissenschaftlichen und gerichtsarztlichen Zwecken 
kann deshalb nur mit auBerster Kritik erfolgen. 

Weitere Anregungen sucht und erhalt die Phantasie der beschrie- 
benen Personlichkeiten noch durch eine Geheimliteratur, die fiir Ein- 
geweihte in den Hinterzimmern mancher Buchhandlungen erhaltlich ist. 
lnhaltlich von nicht miBzuverstehender Deutlichkeit, sind die Bucher 
meist ohne jeden literarischen Wert und haben nur den Zweck, auf 
die Sinne der Erfahrenen zu wirken oder Neulinge anzulocken. 

SchlieBlich spielen in den Traumen der geschlechtlich Abnormen, 
wie Naecke b ) mit Recht hervorgehoben hat, die sexuellen Dinge eine 
gewisse Rolle. In ihnen spiegelt sich Erlebtes, Gelesenes und Gesehenes 
wieder, soweit es den besonderen Neigungen des Betreffenden ent- 
spricht. 

Die SchluBfolgerung. daB eine Reihe gleichartiger Triiume fiir die 
Charakterologie wichtig sei und beweise, daB die Anomalie angeboren 

J ) E.s sei auf die bemerkenswerte Tatsache hingewiesen, daB in den letzten 
Jahren mehrere Neuerer auf dem Gebiete der Padagogik sich als Homosexuelle er- 
wiesen haben. Siehe z. B. Zeitschr. f. Sexualwiss. 9, 8. 24. 

-) Von einem ehemaligen Theologen gegriindet. 

3 ) Verwiesen sei auch auf Be is: Zeitschr. f. Sexualwiss. 8. 8. 118 und Un- 
tjeu'iller: Arch. f. Kriminol. 17* 8. 166. 

4 ) Donath: Pester med.-chirurg. Presse. 1904. 8. 1128. 

5) Braune: Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. u. off. Sanitatsw. 29, 8. 82. 

6 ) Naecke: Truum als Reagens fur sex. Empfinden. Monatsschr. f. Kriminal- 
psychol. u. Strafrechtsref. 8. .iOO. 


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Untersuchungen an sexuell Abnonnen. 


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sei, ist nach meinen Erfahrungen zu weitgehend. Wohl aber kann man 
sagen, daB haufige Traume, die nach einer bestimmten Richtung hin- 
deuten, unzweifelhaft beweisen, daB der Pat. nach der gleichenRichtung 
hingehende sexuelle Neigungen hat. 

Bei einem Teil derjenigen, deren geschlechtliche Bediirfnisse als 
krankhaft gesteigert zu bezeichnen sind, reichcn die ersten AuBerungen 
der abnormen Veranlagungen so weit in die Kindheit zuriick. daB die 
Berufswahl dadurch beeinfluBt wurde. Hammer 1 ), Moll 2 ), Hiibner 3 ) u. a. 
erwahnen diese Tatsache. Es handelt sich vorwiegend um Homosexuelle 
und Sadisten (Lehrer!) bzw. Masochisten beiderlei Geschlechts. 

Wie mehrere Sensationsprozesse der letzten Jahre gezeigt haben, 
werden die geschilderten Eigenschaften, soweit sie iiberhaupt objektiv 
erkennbar sind, erst im Laufe mehrerer Jahre bekannt. Es koramt 
sogar bisweilen vor, daB eines Tages die nahere Umgebung einer solchen 
krankhaften Personlichkeit erst durch die Einleitung des Ermittelungs- 
verfahrens oder durch einen Suicidversuch erfahrt. daB sich der in Frage 
Kommende seit Jahren sittlich vergangen hat. — 

Weiterhin gehbren zu den hier zu besprechenden jene Falle. wo 
— meist infolge endogener Schwankungen — bei der gleichen Person 
Zeiten sexueller Zuriickhaltung durch Phasen starker Sinnlichkeit ab- 
gelost werden, wie das meist bei Zirkularen*). aber auch bei manchen 
Hysterischen''), der Basedowschen Krankheit und anderen Zustanden 
beobachtet wird. 

Gegeniiber Autoren wie Cullere (de l’excitation sexuelle dans les 
Psychopathies anxieuses. Arch, de neurol. 19 , p. 81) ist nach meinern 
Material zu betonen, daB bei den Angstzustanden, insbesondere denen 
der echten Melancholic, doch nur ausnahmsweise hochgradige sexuelle 
Erregung mit Neigung zur Masturbation besteht. Wo ich sie bei der 
echten Melancholie beobachtet habe. war sie kein von der Angst ab- 
hangiges, sondern ein sie zufallig begleitendes Symptom. — 

Noch in einem anderen Sinne kann man von einer krankhaften 
Steigerung des Geschlechtstriebes sprechen, namlich dann. wenn ent- 
weder die Auslosung des Orgasmus* 1 ) eine abnorm leichte ist, oder wenn 
der Orgasmus von Komplikationen bcgleitet ist. 

Als Beispiele fur die ersterwahnte Mbglichkeit seicn folgende Bc- 
obachtungen angefiihrt: 

1 ) Hammer: Monatsschr. f. Hamkrankheiten. 1{H)4. S. 220. 

2 ) Moll: Zeitschr. f. pad. Psychol, u. exp. Piid. 190. 

3 ) Hiibner: Neurol. Zentralbl. 1917. 

*) Krafft-Ebing hat solcheFalle beschrieben: Psvchopathia sexualis. Stuttgart: 
F. Enke. 

6 ) Hiibner: Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr., Ref. 31. 

°) Braune: Kontrare Sex.-Empfindung. Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. u. 
off. Sanitatsw. 19. Suppl.-Heft. 


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A. H. Hiibner: 


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1. 20jahrige Studentin. Melancholische Depression. Klagt, daB sich bei ihr 
sofort ein Orgasmus einstelle, wenn sie eineni Manne die Hand gebe. 

2. 48 jahriger Brieftriiger mit psychogenem Lidkrampf, Kopftic und miiBiger 
Hyperasthesie. Bekommt rasch Ejaculationen, wenn ihn der Barbier einseift, 
wenn ein milder faradischer Strom im Nacken appliziert wird und bei ahnlichen 
Gelegenheiten. 

Als Beispiele der zweiten Gruppe sind jene nicht haufigen Falle zu 
erwahnen, in denen vor, wahrend oder nach dem Orgasmus reaktive 
Anfalle, Zittererscheinungen oder sogar BewuBtseinstriibungen ein- 
setzen, die minutenlang anhalten konnen 1 ). 

Prinzipiell wichtig ist bei alien hier besprochenen Fallen, daB dem 
krankhaften Geschlechtstrieb auch eine pathologische Personlichkeit 
entspricht, daB andererseits aber allein aus dem Vorhandensein des 
ersteren nicht der AusschluB der freien Willensbestimmung hergeleitet 
werden darf. Ausschlaggebend ist dafiir die Wertung der Gesamt- 
personlichkeit. 

III. Sexuelle Zwnngshamllungen. Begriff der Unwiderstehlichkeit. 

In vielen Gutachten liber sexuell Abnorme spielt noch ein anderer 
Begriff eine groBe Rolle, namlich der des unwiderstehlichen Zwanges. 
Wahrend die einen damit sagen wollen, daB die inkriminierte Tat in 
mehr oder minder ausgesprochenem MaBe den Zwangsvorstellungen 
gleicht 2 ), haben andere Sachverstandige den Begriff weiter ausgedehnt 
und benutzen ihn auch fiir die Falle, wo es sich um einen mehr oder 
minder ausgepragten Mangel an Hemmungen handelt. 

Es gibt gewiB eine Reihe von Fallen, die zu den Zwangshandlungen 
zu rechnen sind. Die groBere Mehrzahl aller vorkommenden Beob- 
achtungen gehort nicht dahin. 

Eine Klassifizierung der von mir untersuchten Falle ergibt fol- 
gendes: 

1. Ich habe Exhibitionisten, Homosexuelle 3 ) und fetischistische 
Diebe gesehen, bei denen die sich ofters wiederholende strafbare Hand- 
lung mit einem zwangsmaBigen Antrieb begann, gegen den der Pat. an- 
kampfte, um ihm schlieBlich zu erliegen. Begleitet war der ganze 
psychische ProzeB von Spannungs- und Angstgefiihl einerseits, Krank- 


1 ) Siehe auch Fere: Rev de mtkl. 1897, p. 464 u. 615, Ref. in Mendels Jahres- 
ber. 1897. 

2 ) Namentlich die franzosischen Autoren, siehe bei M. Hirschfeld: Homo- 
sexualitat. S. 339. Berlin 1914. 

3 ) Einen ganz eindeutigen Fall habe ich in meinem Lehrb. der forens. Psych. 
(Bonn 1914) S. 1001 erwahnt. Siehe auch Eulenburg: Zeitschr. f. Sexualwiss. I, 
S. 350; Leppmann: Mitt. d. Internat. krim. Vereinigung. 1914. S. 415; Puppe: 
Larv. sex. Perversitiit. Arztl. Sachverst.-Zeit. 1903. S. 497. 


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Untersuchungen an sexueQ Abnormen. 


295 


heitseinsicht andererseits; der Ausfiihrung der Tat folgte ein Geftihl der 
Erleichterung und Befriedigung 1 ). 

2. Es gibt ferner Kranke, namentlich Exhibitionisten, die im Laufe 
raehrerer Tage oder Wochen ganze Serien von Delikten begehen, zu 
denen sie gleichfalls durch einen echten Zwang angetrieben werden. 
Die Erleichterung tritt nicht schon nach Vollendung der ersten Einzel- 
handlungen, sondern erst am Ende der Serie ein. Das Spannungs- 
gefiihl halt wahrend der ganzen Serie an. Einer meiner Patienten 
— Exhibitionist — schilderte ganz besonders anschaulich, daB er die 
unglaublichsten Prozeduren vorgenommen habe, um von den sich ihm 
zwangsmaBig aufdrangenden Vorstellungen loszukommen. Spatestens 
nach einigen Tagen erlag er dem Zwang und beging dann wochenlang 
exhibitionische Akte. 

Bemerkenswert ist bei diesen Fallen noch eins: 

In dem Lebensgange der Angeklagten dieser Gruppe lieBen sich stets 
hypomanische Phasen bzw. leichte Depressionen nachweisen. Die 
Seriendelikte kommen bei den einen nur in den Zeiten der Exaltation, 
bei anderen auch wahrend leichter Depression zur Beobachtung. 

Nicht selten traten zu den endogenen Symptomenkomplexen noch 
neurotische Erscheinungen hinzu. 

Auf den Nachweis dieser Krankheitserschcinungen, die beweisen, 
daB hier eine abnorme Personlichkeit gehandelt hat, ist — wie Siemer- 
ling 2 ) und Hoche 3 ) mit Ttecht betont— der groBte Wert zu legen. Echte 
Zw’angsvorstellungen 4 ) oder Zwangshandlungen als Einzelsymptome 
ohne begleitende Krankheitszeichen gibt es nicht. Auch der Lebenslauf 
solcher Personen zeigt wohl regelmaBig eine Reihe von pathologischen 
Ziigen, sofern man ihn genugend grundlich durchforschen kann. 

Wo wir deutliche maniseh-depressive Zustande fur die Zeit der in- 
kriminierten Handlungen nachweisen konnen, ist fiir die Beurteilung des 
Falles nach der strafrechtlichen Seite hin eine sichere Basis gewonnen. 
Vielfach laBt sich bei solchen Kranken auch zeigen, daB sie in den freien 
Zeiten sich nichts zuschulden kommen lassen, jedenfalls viel weniger 
haufig auffallen und nicht so unvorsichtig vorgehen, wie wahrend der 
Krankheitsphasen. Mit einem Wort gesagt, laBt sich zeigen, daB die ge- 
samte Personlichkeit krank ist und daB eine klinisch und beziiglich ihrer 


1 ) Boa .s: Arch. f. krim. Anthrop. 37, S. 85 berichtet iiber einen 9jahrigen 
Knaben, bei dem solche obsessiven Erscheinungen vorhanden waren. 

2 ) Siemerling: Streit.geistigeKrankheit. S.618. Berlin:AugustHirschwald 1908. 

3 ) Hoche: Handb. der geriehtl. Psychiatric. 2. Aufl. S. 515. »Siehe auch Lepp- 
mann: Forens. Bed. der Zwangsvorst. Arztl. Sachverst.-Zeit. 1907. S. 265 und 
Raecke: Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. 34, ,S. 1251. 

4 ) Die Zwangshandlungen konnen im Laufe der Jahre den Charakter des 
ZwangsmaBigen allmahlich verlieren. 


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296 


A. H. Hiibner: 


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Wirkung auf das Denken, Fiihlen und Handeln wohl bekannten Krank- 
heit vorliegt. 

Dem Juristen bereiten diese Typen insofern Schwierigkeiten, als die 
Frage. ob mehrere Einzeldelikte oder eine fortgesetzte Handlung vor¬ 
liegt, nicht einfach zu entscheiden ist. Da, wo sich die einzelnen Serien 
einigermaBen trennen lassen, ist wohl fiir jede Serie anzunehmen, daB 
eine fortgesetzte Handlung vorliegt, denn a) ist das verletzte Rechtsgut 
das gleiche, b) besteht ein zeitlicher Zusammenhang zwischen den Einzel- 
akten, c) finden wir insofern einen inneren Zusammenhang, als der Ver- 
brechenswille sich erst am Ende der Serie erschopft, die Veriibung in 
gleichartiger Weise erfolgt und der Zweck stets der gleiche ist 1 ). 

3. Einzelhandlungen habe ich auch aus Phobien entspringen sehen. 
So habe ich z. B. wahrend des Krieges einen Hauptmann begutachtet, der 
nachgewiesenermaBen seit Jahren neben anderen Phobien die Zwangs- 
befurchtung hatte, er sei homosexuell und werde eines Tages gegen 
den § 175 StGB. verstoBen. Eines Nachts, nachdem er wenige Stunden 
vorher aus dem Schiitzengraben gekommen war und einige Glaser Grog 
getrunken hatte, fiel er in Gegenwart von Untergebenen auf einer 
morastigen DorfstraBe liber einen Fahnrich her, mit dem er vorher zu- 
sammengesessen hatte, und versuchte ihn zu paderastieren. 

Auch bei dieser Gruppe lassen sich endogene Stimmungsschwan- 
kungen offers nachweisen, worauf schon M. Hirschfeld aufmerksam ge- 
macht hat. 

4. Die bisher skizzierten Falle waren klinisch eindeutig. Nicht so 
einfach ist die Rubrizierung der folgenden Gruppe: 

Es gibt Frauen, die von Zeit zu Zeit Serien von Diebstahlen begehen, 
zu denen sie durch erotische Empfindungen getrieben werden. Die 
Kranken beschreiben im groBen ganzen ubereinstimmend, daB sie zu- 
nachst von einer depressiven, von unklaren sinnlichen Regungen be- 
gleiteten Stimmung befallen werden. Hinzu kommt ein Gefiihl von 
Spannung und innerer Unruhe, das sie dazu treibt, die verschiedensten 
und ungleichwertigsten Dinge zu stehlen, bis Orgasmus eintritt, was 
nach einigen Stunden, spatestens 1 bis 2 Tagen geschieht. Nach Ab- 
klingen des Orgasmus empfinden die Patienten ein Gefiihl der Er- 
leichterung. 

DaB es solche Falle wirklich gibt, davon habe ich mich durch Mit- 
beobachtung des von Foersterling 2 ) im Jahre 1906 beschriebenen Mad- 
chens iiberzeugen konnen. 

Klinisch macht die Deutung insofern Schwierigkeiten, als man nach 
der Beschreibung der Pat. mitunter an Zwangsvorgange erinnert wird, 

a ) Siehe bei Meyer-Alfeld: Strafreeht. S. 257. 1912. Vgl. auch bei M. Meyer: 
Allgem. Teil des Deutschen Strafrechts. 

2 ) Foerslerling: Allg. Zeitschr. f. Psychiatr. u. psych.-gerichtl. Med. 1906. 


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Untersuchungen an sexuell Abnormen. 


297 


andererseits aber — wenigstens bei einzelnen Kranken — an die Mog- 
lichkeit einer BewuBtseinstrubung denken muB, und zwar um so mehr, 
als es sich regelmaBig um ausgesprochene Falle von Hysterie handelt 
und manchmal die Pat. wahrend des Zustandes einen eigentiimlich ver- 
schleierten Blick und eine auffallende Rotung des Gesichtes darbieten 1 ). 
Die Orientierung scheint allerdings bei den meisten nicht wesentlich 
gestort zu sein. Es ist auch nicht wahrscheinlich, daB die Frauen in 
ihrem Gesamtverhalten besonders auffallen, denn sonst wiirden sie 
haufiger bei den Diebstahlen selbst gefaBt werden, als es geschieht. — 
Forensisch machen die Falle nach zwei Richtungen hin Schwierigkeiten: 

Einmal finden die Angeklagten keinen rechten Glauben, wenn sie 
ihren Zustand schildern. Da kann langere Anstaltsbeobachtung weiter- 
helfen, denn wenn die Diebstahle so zustande komraen, wie die Pat. es 
schildern, dann kann man mit einiger Wahrscheinlichkeit erwarten, daB 
auch wahrend des Anstaltsaufenthaltes gestohlen wird und zwar — da 
atideres nicht erreichbar ist — nichtige Dinge. Bei dem oben zitierten 
Foersterlingschen Fall haben wir das beobachtet. Jenes Mfidchen stahl 
sogar im Zuchthaus anderen Gefangenen Haarnadeln, Wollfaden, Brot- 
krusten usw., ohne diese Dinge spater fiir sich verwenden zu konnen. 

Die zweite Schwierigkeit betrifft die Frage der Zurechnungsfahigkeit. 
Dem Gutachten haftet immer etwas Subjektives an. Darum ist es un- 
befriedigend und nicht iiberzeugend. Lowenstein und ich 2 ) sind infolge- 
dessen dazu iibergegangen, die Falle unter dem Gesichtspunkt der Tat- 
bestandsmaBigkeit zu betrachten. Man muB sich klarmachen, daB hier 
fremde bewegliche Sachen nicht in der Absicht rechtswidriger Zu- 
eignung, sondern um geschlechtliche Befriedigung 3 ) zu erlangen, ge- 
nommen werden. Wenn der Tater die entwendeten Gegenstande nach 
Abklingen des pathologischen Zustandes behalt, ist der Tatbestand 
des Diebstahls sicher vollendet. Um diese Zeit aber sind die Pat. fast 
ausnahmslos wieder zurechnungsfahig. 

5. Machte schon die letztbesprochene Gruppe beziiglich ihrer Ein- 
ordnung in das Gebiet der Zwangs- und Drangzustande gewisse Schwie¬ 
rigkeiten, so gibt es eine ganze Reihe von Fallen, in denen massenweise 


1 ) Die von Oberholzer (Eigeutumsdel. u. Sexualitat, Arch. f. krim. Anthrop. 
50, S. 37) beschrielienen Fiille stimmen nicht ganz mit den meinigen iiberein. 
Psvchologisch verwandt ist der von Kaan (Amtsarzt. 1911, S. 493): Diebst. aus 
Sadismus. 

2 ) Hubner und Lowenstein: Pathol. Motiv. Zeitschr. f. d. ges.Neurol, u. Psych- 
iatr. 62 und Allg. Zeitschr. f. Psychiatr. u. gerichtl.-psych. Med. 1921. 

3 ) Im Zusammenhang mit den hier gebrachten Ausfiihrungen sei auf eine 
Arbeit von Schneickert (Sex. Tricks, Zeitschr. f. Sexualwiss. 1. S. 123) hingewiesen. 
Dort schildert der Verf.. da 13 einzelne Kavaliere die Schfiferetundchen mit gefalsch- 
ten Schecks bezahlen, und fiigt hinzu, daB hier keine Bereicherung nach der ver- 
mogensrechtlichen Seite hin. sondern sexuelle Befriedigung erschlichen werden soil. 

Archiv fttr Psychiatrie. B(l. 68. 20 


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A. H. Hiibner: 


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208 


strafbare und straflose sexuelle Handlungen begangen werden, denen 
die Kriterien des ZwangsmtiBigen fehlen. Genannt seien die Delikte 
mancher Imbeciller, Sender, Epileptiker und Hysterischer, viele hypo- 
manischen Massendelinquenten und die in bestiiumten, haufig sich er- 
gebenden Situationen rait geschlechtlichen Handlungen reagierenden 
Neurotiker. Bei ihnen alien ist von Zwang ira klinischen Sinne keine 
Rede. Eher konnte man von einem Fortfall von normalerweise vor- 
handenen Hemmungen 1 ) sprechen. 

Dali auch im Leben dieser Patienten das Sexuelle eine wichtige. oft 
sogar iiberragende Rolle spielen kann, beweist der bereits oben erwahnte 
Umstand, daB sich unter ihnen die Griinder von Jugendorganisationen 
usw. finden, in denen die Tater die Objekte ihrer Liebe kennenlernen 
und gewinnen. 

Die ausgepragtesten Falle sind trotz des fehlenden Zwanges wohl 
auch als der freien Willensbestirumung beraubt anzusehen. 

(>. Besonderer Erwahnung bediirfen noch jene Falle, in denen ein 
psychopathisch veranlagter Mensch, obwohl er sich racist hetero- 
sexuell betatigt, plotzlich einen homosexuellen Akt begeht. Fiir ge- 
wohnlich geht der Straftat ein erheblicher AlkoholexzeB voraus. Bei 
einem Teil der Falle wird hinterher in glaubhafter Weise Amnesic an- 
gegeben. Bei anderen ist die Erinnerung mehr oder minder liickenhaft. 
Anamnese und Beobachtung ergeben fiir die Epilepsie keine greifbaren 
Anhaltepunkte, haufiger handelt es sich um Typen. die der Hysterie 
nahestehcn. 

Wonn andere Schadlichkeiten mitwirken (z. B. Strapazen in Felde), 
oder wenn Alkoholintoleranz besteht, braucht die genossene Alkohol- 
menge nicht groll zu sein. 

Ich habe auch Einzelfalle gesehen, wo ohne voraufgegangenen Alko¬ 
holexzeB lediglich nach korperlichen Anstrengungen und seelischen Auf- 
regungen [ Horstmann *)], ohne dall eine Einengung des BewuBtseins 
bestanden hatte, vereinzelte homosexuelle Akte nach mehrtagiger sexu- 
eller Abstinenz (z. B. auf Reisen) ausgefiihrt wurden. Die Tater er- 
kliirten ihr Verhalten damit, daB ein „Zwang“ bestand, die quiilenden 
sinnlichen Regungen statt wie gewohnlich bei einer bestimmten Frau, aus 
Furcht vor sexucller Infektion bei einem Manne zu befriedigen. Son- 
stige homosexuelle Neigungen wurden bestimmt, oft allerdings wider 
besseres VVissen, geleugnet. Der Umstand, daB sich bei derartigen 
Personlichkeiten ein femininer Habitus findet, dall sie auffallende 

*) Wie Krafft-Ebing das tut. 

z ) Horstmann: Zeitschr. f. die ges. gerichtl.Med. 1922. Es handelt sich dabei 
wohl nicht um cine wirkliche „Erschopfung‘‘, sondem um eine seelische, von 
sexuellen Regungen begleitete Spannung, die nach Entladung verlangt, also um 
etwas in das Gebiet der Neurose Gehoriges. 


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Untersuchungen an sexuell Abnorrae'n. 


299 


Freude an mannlichen Statuen haben und zum weiblichen Geschlecht 
mitunter in einera mehr schwesterlichen Verhaltnis stehen, laBt aber 
doch daran denken, daB es Bisexuelle oder sogar larvierte Homo- 
sexuelle 1 ) sind. 

Als Zwangsvorgange im Sinne Bumkes sind diese Handlungen 
selbstversandlich nicht anzusprechen. 

Strafrechtlich sind bei der ersten Gruppe die Voraussetzungen des 
§ 51 StGB. meist gegeben, bei den zuletzt Besprochenen nicht, obwohl 
auch da mitunter auffallt, wie wenig die Tater auf ihre soziale Stellung 
Riicksicht nehmen. — 

Neben homosexuellen Handlungen kommt gelegentlich auch Un- 
zucht mit Kindern aus gleichen Motiven und unter ahnlichen iiuBeren 
Bedingungen vor. — 

Scharf zu trennen von dem klinischen Begriff der Zwangsvor- 
stellung und Zwangshandlung ist derjenige der UnwidersteJilichkeit. 
Hier handelt es sich um ein klinisches Symptom und um einen 
Rechtsbegriff im weiteren Sinne, insofern als das Wort Unwidersteh- 
lichkeit in Reichsgerichtsentscheidungen ofters gebraucht worden 
ist 2 ). 

Wenn man von Umviderstehlichkeit spricht, so soil damit — im 
Gegensatz zum Zwang — nicht gesagt sein, daB der Pat. bewuBt ein 
Spannungsgefiihl zur Losung bringt, daB er den ganzen psychischen 
ProzeB als etwas Pathologisches, Fremdartiges, ja Lastiges empfindet, 
sondern es soil nur zum Ausdruck gebracht werden, daB der Betreffende 
cine iiber das Mafi des Gewohnlichen weit hinausgehende Unfahigkeit zur 
Beherrschung seines sexuellen Triebes zeig'. 

Unwiderstehlichkeit in diesem Sinne ist etwas Pathologisches, ein 
Symptom, das Teilerscheinung eines ganzen Krankheitsbildes ist. 

Die Kraft, dem Anreiz zu wahlloser Befriedigung des Geschlechts- 
triebcs zu widerstehen, muB verlorengegangen sein. Vielfach verbindet 
sich damit noch die Neigung zu itbermaBiger, die gesundheitlichen und 
sozialen Folgen vernachlassigender geschlechtlicher Betatigung. 

Das normale geschlechtliche Verhalten steht zu dem eines Menschen, 
der seinen sexuellen Begierden ,,unwiderstehlich“ ausgeliefert ist, etwain 
demselben Verhaltnis wie das Alkoholbediirfnis eines harmlosen und 
maBigen Stammtischbesuchers zu dem eines schweren chronischen 
Alkoholisten. Es ist deshalb leicht verstandlich, daB Widerstands- 
unfahigkeit gegeniiber dem Trunk und dem GeschlechtsgenuB haufig 
miteinander vergesellschaftet sind. 

’) Siehe hierzu die Ausfuhrungen ftaupps: Probleme der Homosex. Klin. 
Wochenschr. 1, S. 1033. 

2 ) Z. B. bei der Definition des juristischen Begriffes Trunksuebt, siehe Jur. 
Wochenschr. 1902, Nr. 230, S. 280. 

20 * 


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3(X> A. H. Hiibner: 

Wen 11 die Unwiderstehliehkeit des Triebes Schuldfreiheit im Sinne 
des § 51 StGB. bedingen soil, so mull bewiesen werden, dall 1. ein 
kranker Mensch gehandelt hat und 2. dall dieser Kranke unfahig war, 
rechtlichen oder sittlichen Gegenvorstellungen, soweit er solche liber- 
haupt zu bilden vermochte, Einflull aul sein Handeln zu gewahren 1 ). 

Die Unwiderstehliehkeit kann eine passagere sein, nur fiir eine Einzel- 
handlung inBetracht kommen, dannmull ein entsprechender Ausnahme- 
zustand (etwa ein epileptischer Damraerzustand oder Ahnliches) nach- 
gewiesen werden, wenn Exkulpierung erfolgen soil. 

Meist wird die Unwiderstehliehkeit fiir haufiger sich wiederholende 
Handlungen geltend gemacht. Der Tater ist ein Iinbeciller oder Psycho¬ 
path, bisweilen auch Alkoholist. 

Bei diesen Fallen ist, wie Moll 2 ) treffend ausgefiihrt hat, zu beriick- 
sichtigen, dall der Nachweis krankhafter Ziige in der Personlichkeit des 
Angeklagten noch nicht Straffreiheit bzw. Zurechnungsunfahigkeit 
bedingt. 

Ebenso wie man von den chronischen Trinkern nur die schwersten 
Falle exkulpieren kann, namlich diejenigen, in denen die Personlichkeit 
des Taters sehr grobe Abweichungen von der Norm bietet, oder wo der 
Lebensgang des Patienten zeigt, dall er infolge seiner Krankheit sozial 
schiveren Schaden gelitten hat, so mull man auch bei den sexuell Ab- 
normen verfahren. Bei ihnen kommt Exkulpierung besonders dann in 
Betracht. wenn sich nachweisen laBt, dall die sexuelle Frage die Lebens- 
fiihrung des Betreffenden immer und immer urieder in ungiinstiger Weise 
beeinfluBt hat. 

Ich denke dabei besonders an die Falle, die durch ihre sexuelle Trieb- 
anomalie zunachst in kleinerem Kreise auffallen, gewarnt werden. unter 
Umstanden den Ort ihrer Tatigkeit wechseln miissen. zu Stellungs- 
wechsel genbtigt und mitunter sogar Erpressungen ausgesetzt sind, ohne 
dall sie durch all diese Erfahrungen beeinfluBt werden. Immer wieder 
treibt es sie, ihren geschlechtlichen Neigungen zu folgen, bis sie eines 
Tages dem Strafrichter verfallen, und auch das bewahrt sie nicht vor 
neuen Riickfallen. 

Wo solche Verhaltnisse nachgewiesen werden konnen und auBerdem 
eine krankhaft veranlagte Personlichkeit gehandelt hat, wird man die 
Unwiderstehliehkeit des Triebes zugeben miissen. 

Immer laBt sich allerdings die Sachlage nicht in befriedigender Weise 
klaren. Mir sind wenigstens einige Male Menschen begegnet, die auller 
einer leichten Entartung psychiatrisch nichts boten, insbesondere fehlte 
es bei ihnen an epileptischen Symptomen. Sie waren dadurch aufge- 

1 ) Siehe auch v. Schrenck-Noising: Arch. f. krim. Pathol. 1. Ebenso E. Zitel- 
maun in seiuen Vorlesungen. 

-) Moll: Med. arztl. Bibl. Heft 15. Berlin 1905. 


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Untersuchungen an sexuell Abnormen. 


301 


fallen, daB sie (zum Teil nach GenuB maBiger Alkoholraengen) immer 
und immer wieder schwere Notzuchtsversuche gemacht hatten. Jahre- 
lange Zuchthausstrafen hatten keine abschreckende Wirkung. Die 
Handlungen waren um so weniger zu erklaren, als fiir gewohnlich kein 
besonders lebhaftes sexuelles Verlangen zu bestehen schien. 

Wenn hier von einer Unwiderstehlichkeit des Triebes gesprochen 
werden konnte, so bestand sie jedenfalls nur temporar und laBt gerade 
deshalb immer wieder an einen epileptischen Ausnahmezustand 1 ) 
denken. Beweisen konnte einen solchen keiner der gehorten Sachver- 
standigen. Die Angeklagten wurden deshalb auch stets verurteilt. Ich 
bin bis heute die Befiirchtung nicht los geworden, daB es zu Unrecht 
geschah. 

In der Literatur sind vereinzelte, ahnlich liegende Beobachtungen 
beschrieben, z. B. von Dupre*), der die Tat durch Hemmungslosigkeit 
und erotische Anlage erklarte und die Frage nach der strafrechtlichen 
Verantwortlichkeit bejahte. Suspekt bleiben diese Fiille jedenfalls und 
es ist dringend erforderlich, die weiteren Schicksale derselben, sowohl 
nach der medizinischen wie nach der sozialen Seite hin zu verfolgen. 
Besonders hinweisen mochte ich an dieser Stelle auch auf die Mitteilung 
Molls 3 ), der einen Mann mit dipsomanischen und poriomanischen Zu- 
standen beschrieb, wahrend deren der Angeschuldigte neben anderen 
Delikten homosexuelle Akte veriibte. 

Wenn von der Unwiderstehlichkeit des Geschlechtstriebes die Rede 
ist, dann muB noch ein weiterer Punkt erortert werden. Moll 4 ) meint, 
auch bei gesteigertem Geschlechtstrieb konne ein Mensch sein Libido 
in einer Weise befriedigen, die ihn nicht mit dem Strafgesetz in Konflikt 
bringt. Ist diese Behauptung wirklich zutreffend ? Meiner Ansicht nach 
ist sie nur mit Einschrankungen giiltig. Namentlich bei pathologischen 
Naturen bedeutet die spezielle Art der Betatigung dem Betreffenden 
so viel, daB er andere Formen verschmaht. Ihm sind nicht alle Mbglieh- 
keiten gleich begehrenswert. Es kommt hinzu, daB, wenn sich ihm eine 
geeignete Gelegenheit zur Befriedigung seiner Wiinsche plbtzlich bietet, 
die sexuelle Erregung ethische und strafrechtliche Bedenken zuriick- 
driingt. MuB er selbst erst eine solche Gelegenheit suchen, dann denkt 
er wohl nur ausnahmsweise daran, Strafbares zu unterlassen. Viel hau- 
figer macht ein solcher Patient, was ihm gefallt, und wahlt nur Ort und 
Zeit des Zusammentreffens so, daB er vor Uberraschungen moglichst 
gesichert ist. Und auch das letztere geschieht nicht einmal regelmaBig, 

J ) Ahnlich dem bei dem Morder TeBnow s. Z. festgestellten (siehe Knerht: 
Monatsschr. f. krim. Psych.). 

2 ) Voile et meurtre d’enfant, Ref. Jahresber. 1910, S. 1!519. 

3 ) Moll: Handbuch der Sex.-Wiss. S. 678. 1921. 

4 ) L. c., S. 684. 


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302 


A. H. Hiibrier: Untersuchungen an sexuell Abnormen. 


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wie das Beispiel der Exhibitionisten lehrt. Oft wird von ihnen die Gefahr 
geradezu aufgesucht. 

Noch eines ist hinzuzufiigen: Wer in der Lage ist, eine straflose 
Methode der Betatigung auszuwahlen, dessen freie Willensbestimmung 
ist nicht aufgehoben. Man hat bei ihin allerdings auch keine Veran- 
lassung uber diese Frage nachzudenken, denn er raacht sich nicht straf- 
bar. Wer nicht frei wahlen kann. ist deshalb aber noch nicht ohne 
weiteres unzurechnungsfahig. Ob letzteres der Fall ist, mull vielmehr 
erst besonders erwogen werden. 

Anhangsweise rnochte ich an dieser Stelle noch folgenden Punkt be- 
riihren 

Von alien Autoren wird verlangt, daB in den Fallen, wo eine echte 
Psychose nicht vorliegt, eine etwa vorhandene Psychopathic darauf- 
hin gepriift werden soil, ob sie nicht im Verein mit anderen Schadi- 
gungen exkulpierende Wirkung hat. Dieser berechtigten Forderung 
wird sowohl in der Praxis, wie in der Literatur nicht immer in vollem 
Umfange geniigt. 

Die klinische Forschung ist heute so weit, daB wir wenigstens bereits 
eine Anzahl von Psychopathentypen unterscheiden konnen. Und wir 
wissen weiter, daB diese Typen gerade beziiglich ihrer BeeinfluBbarkeit 
durch iiuBere Erlebnisse und ihrer WillensauBerungen von sehr ver- 
schiedener Wertigkeit sind. DaB ein Mensch rait einer manisch-de- 
pressiven Anlage hoher einzuschatzen ist wie ein Neurotiker, ist all- 
gemein anerkannt. Wenn ein Schizoider homosexuell ist, so ist das 
ernster zu nehmen. als wenn ein leicht Imbeciller die gleiche Abweichung 
zeigt. 

Der Sachverstandige darf sich deshalb nicht damit begniigen, eine 
Psychopathic festzustellen, sondern er muB die Art derselben, oder in 
den komplizierten Fallen ihre Zusarnmensetzung genauer analysieren. 
Oft klart das die Zurechnungsfahigkeitsfrage raehr wie alle Erorterungcn 
fiber die Unwiderstehlichkeit. 

Die letztere ist ein nicht scharf abgrenzbarer Begriff, mit deni man 
wohl in ausgepragten Fallen operieren kann. In den leichteren Fallen 
versagt er jedoch. Es gibt auBerdem zwischen normaler Bestimmbar- 
keit und volliger Hemmungslosigkeit zahlreiche Cbergiinge, und die 
schwersten Fiille sind nicht sehr zahlreich. 

Anmerkung bei der Korrektur: Der zweite Teil der Untersuchungen 
ist in der Jubilaumssitzung der Arztl. Ges. fiir Sex. Wissensehaft in Berlin am 
16. III. 23 vorgetragen worden. Er erscheint in den ,.Grenzfragen“ (Bergniann 
Wiesbaden) monographisch. 


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Psycho path ien und Defektprozesse. 


Von 

Prof. Raecke in Frankfurt a. M. 

(Eingegangen am 12. Dezember 1922.) 

In der modernen Psychiatrie hat der Begriff des Psychopathen- 
tums einc groBe Bedeutung gewonnen, aber vielleicht mehr noch in 
der angevvandten, der ,,sozialen“ Psychiatrie, als in der rein klinischen 
Wissenschaft, obgleich letztere erst den Namen geschaffen und uns 
die vorliiufigen Einteilungsprinzipien geschenkt hat. Allein gerade in- 
folge der heutigen Bestrebungen unserer Gesellschaft, die ihr unbe- 
quemen geistig abnormen Eleraente durch eine groBzxigige ,,Psycho- 
pathenfiirsorge' 1 zu iiberwachen, sind die Psychopathien in den Brenn- 
punkt des offentlichen Interesses geriickt worden, und es besteht 
die Gefahr, daB durch ubermaBige Dehnung des Begriffes nicht nur in 
Laien-, sondern allmahlich auch in Arztekreisen das Wort ,,Psycho- 
pathie“ falsch ausgelegt und verwandt wird, so daB es seine urspriing- 
liche Bedeutung verliert. Wollen wir demgegenuber daran festhalten, 
daB nur das eigentliche Grenzgebiet zwischen Geisteskrankheit und 
Geistesgesundheit, nicht das Irresein selbst mehr mit Psychopathic 
bezeichnet werden darf, so ist es unbedingt erforderlich, daB wir uns 
psychiatrischerseits bemiihen, zu einer immer scharferen Erkenntnis 
des Wesens und der Umgrenzung der Psychopathien zu gelangen. 
Wie entstehen Psychopathien, und welche Beziehungen bieten sie zu 
den Psychosen, namentlich zu den fortschreitenden und in Defekt 
ausnriindenden Gehirnprozessen? 

Auf den ersten Blick erscheint wohl diese Trennung einfach genug: 
Es ist heute keine Rede davon, daB etwa wirklich das gesamte breite 
Gebiet zwischen geistigcr Gesundheit und ausgesprochener Geistes¬ 
krankheit mit alien seinen mannigfachen Schattierungen und Ab- 
stufungen geistiger Minderwertigkeit zur Psychopathic im klinischen 
Sinne gerechnet wiirde, sondern man hat sich gewohnt, alle fliichtigeren 
Storungen wie Schlaftninkenlieit, leichteste BewuBtseinstriibungen bei 
Fieber und Intoxikationen, nach Insulten usw. iiberhaupt auszuschei- 
den und lediglich die nicht voriibergehenden Dauerzustande geistiger 
Minderwertigkeit gelten zu lassen. Ihre jeweiligen Triiger, die sich 
schon von Haus aus stets hart an der Grenze geistiger Gesundheit 


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304 


Raecke: 


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bewegen, mogen wohl gelegentlich im Laufe des Lebcns durch Ein- 
wirkung auBerer Schadlichkeiten voriibergehend iiber diese Grenze 
hinausgeworfen werden, kehren aber in ihren Ausgangszustand zuriick. 
Entwickelt sich dagegen bei ihnen ein fortschreitender DefektprozeB, 
so ist eben der letztere ala etwas Neues zur urspriinglichen Psycho- 
pathie hinzugetreten, hat sich der minderwertigen Konstitution ge- 
wissermaBen aufgepfropft. Die psychopathische Konstitution selbst 
wird somit als angeboren, ja als ererbt betrachtet. 

So definiert z. B. Bimbaum 1 ) die Psychopathien als ,,auf abnormer 
Veranlagung beruhende Zustande leichterer Art", die sich wissenschaft- 
lich auch als ,,psychische Entartungsformen" kennzeichnen lieBen, und 
nennt als die zwei Hauptquellen, von denen sich die Entartungsstrome 
herleiteten, erworbene Keimschadigung und hereditare Belastung. 
Auch Kraepelin 2 ) neigt zur Annahme ,,umschriebener seelischer Ent- 
wicklungshemmungen", deren Ursachen er wiederum in erblicher Ent- 
artung, Keimschadigung, vielleicht auch gelegentlich in foetalen Er- 
krankungen sucht. 

So weit scheint alles klar zu sein, dennoch ergibt sich hier bereits 
die erste Schwierigkeit: Handelt es sich wirklich bei alien solchen 
Symptomenbildern, die wir heute zu den Psychopathien zu zahlen 
pflegen, um sicher angeborene Zustande? Schon Bimbaum glaubt, 
neben den mancherlei Schadlichkeiten, die den werdenden Menschen 
im Mutterleibe treffen mogen, auch noch Storungen wahrend der Ge- 
burt 3 ) und in der friihsten Kindheitsentwicklung als denkbare atiolo- 
gische Faktoren der Psychopathie zugeben zu sollen, obgleich damit 
die scharfe Trennung zwischen 'wahrhaft konstitutionellen, d. h. in 
der Anlage gegebenen und zwischen den durch Krankheiten des Lebens 
erworbenen Defektzustanden aufgehoben wird 4 ). So unbequem das 
fur die geforderte schematische Umgrenzung des Psychopathiebegriffs 
sein mag, ist doch nicht zu verkennen, daB die Gewalt der Tatsaehen 
allerdings zu einer derartigen Konzession zwingt. 

Wohl das bekannteste Beispiel bilden die haufigen Psychopathien 
in Fallen cerebraler Kinderlahmung. Hier lehrt die Erfahrung, daB 
der Hereditat als solcher keine wesentliche Bedeutung zukommt, mehr 
schon den Noxen der Foetalzeit und den Geburtstraumen, vor allem aber 
den im Laufe der ersten Lebensjahre erworbenen Infektionskrank- 
heiten wie Masern, Scharlaeh, Keuchhusten. Nach Strumpell und 

J ) Psychopathische Verbrecher. >S. 10 und 12. 

2 ) Psychiatrie. 8. Aufl., IY r . Bd., S. 1977. 

3 ) Vgl. Schwartz: Die traumatische Geburt-sschadigung des Gehirns. Miinch. 
med. Wochenschr. 1922, S. 1110. 

4 ) Auch fiir die Idiotie leugnet Henneberg die Mogliehkeit einer Abtrennung 
der endogenen von den exogenen Fornien. Berl. Ges. f. Nerv r enkrankh. 12. VI. 22. 


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Psychopathien untl Defektprozesse. 


305 


Oppenheim scheint sogar eine besondere Form der nichteitrigen En¬ 
cephalitis zugrunde liegen zu konnen. Auch wenn bei dem bis dahin 
normal entwickelten Kinde das Leiden erst im 2. bis 3. Jahre akut ein- 
setzte, bleibt nicht so selten aulJer den korperlichen Lahmungserschei- 
nungen eine ausgesprochene geistige Minderwertigkeit zuriick, die 
weniger die Intelligenz, als die Charakterentwicklung ungiinstig beein- 
fluBt und zurzeit wenigstens von der sogenannten konstitutionellen 
Psychopathic nicht zu unterscheiden ist. Aus dem mir zur Verfugung 
stehenden Material will ich hier nur kurz 2 F&lle anfuhren: 

Fall I: Else W., 19 J. alt. Mutter gestorben an Grippe, Vatcr nervoser 
Pedant, 2 Geschwister gesund und ordentlich. Geburt der Pat. verlief ohne 
Storung; sie erschien normal, lernte friih laufen und sprechen. Dann erkrankte 
sie fieberhaft, fiel seitdem inimer und es entwickelte sich halbseitige Schwache. 
Hausarzt nahm „spinale Kinderlahmung' 1 an. Es entwickelte sich SpitzfuB, der 
Tenotomie notwendig machte. Stotteni. In der Schule trotzdein leicht gelernt, 
nur Miihe mit Schreiben und Handarbeiten. Im Haushalt ungeschickt, zerscklug 
oft Sachen. Fahrig, reizbar, zappelig, zerstreut, weinte bei jeder Gelegenheit. 
Gelegentlich Zornausbriiche, doth nie Krampfe oder Schwindel, Ohnmaehten. 
Nach der Schule versagte sie in jeder Stellung, war faul und leichtsinnig, log 
und stahl. Daher brachte sie der Vater zur Beratung in unsere Fiirsorgestelle. 

Slat.: Klein, kraftig, gut geniihrt. Pup. o. B. Strabismus. Leichter Ex- 
ophthalmus. Conjunct.-Reflex erhalten. VII 1. mehr als r. Chvostek beiderseits. 
Zunge n. r. Weiche Struma. Rechte Hand kleiner und schwficher als die linke. 
R. Vorderarmumfang 1cm geringer als 1.; Sehnenreflexe am r. Arm gesteigert. 
Beim Gehen r. Bein geschont; es ist kiirzer und dunner: Unterschenkelumfang 
r. 2 1 / 2 cm geringer als 1. PtR. beiderseits gesteigert. AS. links lebhaft, r. fehlend; 
Tenotomie. R. KlumpfuB. Bab. r. vorhanden, 1. 0; desgl. Oppenheim. Gordon 
beiderseits 0. Romberg 0. Sens. frei. Herztone rein. Puls 100. Krampfartiges 
Stottern: Manclimal wird kein Wort herausgebracht, dann ruckweise Silben, 
dann geht es flieBend. Beim Sprechen Mund riisselformig vorgeworfen, ruck- 
artige Zuckungen erschiittern den ganzen Korper; heftiges Kopfnicken, Ober- 
korper beugt sich vor, Hande falten sich, schiitteln; dann mit Ruck Kopf in 
Xacken geworfen, Stirn gerunzelt, Augen krampfhaft geschlossen; Schniiffeln 
und schmatzende Lippenbewegungen. Alle Mitbewegungen steigern sich bei 
Gefiihl des Beobachtetwerdens. Andrerseits kommt es auch ohne Sprechen ge¬ 
legentlich zu Kopfnicken und Fratzenschneiden. 

Allgemeinkenntnisse entsprechend. Vor allem wird rasch und richtig ge- 
rechnet. Aber auch Urteilsfragen werden ziemlich beantwortet, z. B. (Unterschied 
von Kind und Zwerg): „Ein Kind ist meist gerade gewachsen, der Zwerg ist 
krumm, und meist bleibt er so, wkhrend das Kind wfichst.“ (Geiz und Sparsam- 
keit): „Wenn der Mensch Geiz besitzt, will er keinen Pfennig verwenden, und 
zwischen Sparsamkeit versteht man das, er kauft nur, was er braucht,' 1 (Warum 
mehr nach Taten beurteilen?): „Die Menschen soil man mehr nach den Taten 
beurteilen, weil man sieht, was sie machen. Wegen der Worte wei0 man nicht, 
was sie machen.“ Das ganzo Gebaren hat aber etwas Kindliches. Ihre Darstel- 
lung erwies sich stark zu ihren Gunsten geffirbt und unzuverlassig. Sie hatte 
die besten Vorsiitze und versprach alles. 

Allein trotz sorgsamer Beaufsichtigung fortgesetzt faul und sehmutzig, un- 
brauchbar in jeder Arbeit, lauft Mannern nach, stiehlt und liigt. Sie tut das 


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Gegenteil von dein, was sie verspricht, vollig haltlos, frech und vorlaut. 1st in 
freier Stelle nicht zu halten, sittlich gef&hrdet. Soil in ein Heim. 

Fall II: Karl v. G., 35 J. alt. Schwester des Vaters war geisteskrank, sonst 
keine Hereditat. Ein Bruder an Lungenentziindung gestorben, 5 Geschwister 
gesund und ordentlich. Pat. war der jiingste, machte unauff&lligen Eindruck, 
bis er im 1. oder 2. Lebensjahre durch Keuchhusten in schwer benommenen 
Zustand verfiel und angeblich von 3 Arzten aufgegeben wurde. Es sei schlieBlich 
ein starkes Mittel angewandt worden, das Aushusten erzwang, aber linksseitige 
L&hmung hervorrief. (Die Darstellungen der einzelnen Verwandten iiber Zeit- 
punkt und Verlauf der Erkrankung gehen auseinander.) Seither sehr langsam 
entwickelt, erst mit 3 Jahren stehen und miihsam gehen gelernt. Eltern suchten 
die L&hmung mit gymnastischen t)bungen, Elektrizitat und Hydrotherapie, 
orthopadischen Verbanden, schlieBlich mit homoopathischen Mitteln zu beein- 
flussen. Aus der Schule wiederholt wegen Kopfschmerz und Fbelkeit heim- 
geschickt. Trotz Hauslehrer und Xachhilfestunden war das Mitkommen auf dem 
Gymnasium unmoglich, dagegen machte Pat. die Biirgerschule durch. Friih ent- 
wickelte sich Stehlneigung, er trug den Schwestern Sachen fort und verkaufte 
oder versetzte sie; log und onanierte viel. Daneben auffallende Frommelei. 
Wiederholte Stirnhohlenoperationen und Eingriffe wegen Blinddarm und V\ an- 
derniere. Bei dieser Gelegenheit wurde er Morphinist. Im kaufmannischen Be- 
rufe versagte er, wollte Pfarrer werden, zitierte inunerfort aus der Bibel. Xach 
einem Kurs fur innere Mission verschafften ihm seine Verwandten verschiedene 
Stellungen, die er aber immer bald verlor, da er sich durch seinen haltlosen Le- 
benswandel unmoglich machte. Er arbeitete nichts, machte Schulden, log und 
trog. Wegen seiner Morphiumsucht kam er auch voriibergehend in Behandlung 
der Psychiatrischen Klinik. SchlieBlich ward ich vom Gericht mit seiner Begut- 
achtung beauftragt, da seine Geschwister gegen ihn, der sich unfiihig erwies, 
auf eigenen FiiBen zu stehen, endlich die Entmiindigung wegen Geistesschwache 
beantragt hatten. 

Stat.: Klein, sehmachtig, miiBig genahrt. Auffallende Minderentwicklung 
der ganzen 1. Korperseite. L. Bein ungefahr 1 1 U cm kiirzer als r. Umfang des 
1. Beines, bes. am Unterschenkel, geringer. Spannungen in der Muskulatur. 
Linker Arm bedeutend verkiirzt, zeigt allgemeinen Muskelschwund, bes. an 
Hand und Vorderarm. Sehnenreflexe links gesteigert. Tastgefiihl an der 1. Hand 
herabgesetzt. Bei Zielbewegungen grobes Zittern. Bab. ist 1. vorhanden, r. 0. 
Dagegen Oppenheim und Gordon beiderseits 0. Pup. o. B. AB. frei. VII und 
XII o. deutl. Diff. Herz und Lungen frei. Verschiedene Operationsnarben. 

GedachtnismaBige Kenntnisse ungefahr entsprechend. Auch fiir einfaelie 
Unterschiedsfragen geniigt die Urteilsfahigkeit, dagegen besteht auffallende Ein- 
sichtslosigkeit und Reuelosigkeit fiir das Scheitern im Leben. Ethische Empfin- 
dungen mangelhaft entwickelt. Im Vordergrunde steht die groBe Willensscliwache 
und Haltlosigkeit. Auf dieser ist der Morphinismus erst sekundar erwachsen. 
Pat. bummelt am liebsten untatig umher, faBt wohl lendenlahme gute Vorsatze, 
hat aber keinerlei Trieb, sich an ihre Ausfiihrung zu machen, und erliegt jeder 
Versuchung. Eigensinnig und miBtrauisch verwirft er jeden wohlgemeinten Rat, 
iiberschiitzt das eigene Konnen, will sich nicht freiwillig einer Entziehungskur 
unterwerfen. DemgeintiB ward beguLvchtet, daB er wegen Geistesschwache in- 
folge seines Gehirndefektes dringend des vormundschaftlichen Schutzes bediirfe, 
um nicht moralisch, gesundheitlich und wirtschaftlich zugrunde zu gehen. Ein 
Vorgutachter hatte sich zur Annahme von Geistesschwache nicht entschlieBen 
konnen, sondern nur „Charakterschwache“ behauptet. 

In beiden Fallen, denen leicht noch weitere ahnliche angereiht 


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Psychopathien und Defcktprozes.se. 


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werden konnten, wiirde man ,,haltlose Psychopathie “ zu diagnosti- 
zieren geneigt sein, wenn nicht die korperlichen Lahmungserscheinungen 
hier eine genauere Krankheitsbezeichnung erlaubten. Lediglich die 
letzteren geben uns die GewiBheit, daB hier ein erworbener Defekt- 
zustand des Gehirns besteht, woraus dann die Wahrscheinlichkeit folgt, 
daB nicht nur der physische, sondern auch der psychische Ausfall auf 
diesen Defekt zuriickzufiihren sei. Gerade die Feststellung erscheint 
mir von grundsatzlicher Wichtigkeit, daB vvir bei Fehlen korperlicher 
Begleitsymptome heute noch nicht gelernt haben, zwischen einer kon- 
stitutionellen Psychopathie im strengen Sinne und einer im Leben erst 
erworbenen zu unterscheiden. Das haufige Auftreten psychopathie- 
artiger Bilder im AnschluB an eine Encephalitis lethargica des Kindes- 
alters, das eine Parallele zu den obigen Beobachtungen bildet, muB uns 
gleicherweise nachdenklich stimmen. Es ist nicht meine Absicht, auf 
die umfangreiche einschlagige Literatur hier naher einzugehen, doch 
sei betont, daB z. B. Bcmhdffer 1 ) in seiner Veroffentlichung seelischer 
Residuarzustande nach Encephalitis epidemica ausdriicklich darauf hin- 
weist, solche hemmungslosen, unsozialen, schikanosen, zu Affektaus- 
briichen geneigten Individuen mit oft uberschnittlicher Intelligenz ver- 
rieten eine so auffallende Ahnlichkeit mit den unsteten, asozialen Psy- 
chopathen, daB sich daraus greifbare Vorstellungen in bezug auf die 
genetischen Beziehungen der psychopathischen Konstitutionen und ihre 
Lokalisation zu ergeben schienen. Falls Bonhoffer damit andeuten will, 
daB vielleicht eine Reihe der heute als Psychopathien diagnostizierten 
Syniptomenbilder in Wahrheit nur residuare Defektzustande eines in 
friiher Jugend abgelaufenen Gehirnleidens sind, so moehte ich auf 
Grund eigener Beobachtungen dieser Vermutung durchaus zustimmen. 
Schon vor Jahren 2 ) hatte ich darauf aufmerksam geiuaeht, daB manche 
scheinbare Imbecillitat erst infolge eines ungewohnlich friihzeitigen 
Schubs von Dementia praecox entstanden sejn mag, indera die Fort- 
entwicklung des Gehirns durch den KrankheitsprozeB eine dauernde 
Storung erfahrt. So konnen die verschiedenartigsten Gehirnaffektionen 
gleich unheih T oll wirken. Es kommt lediglich auf die Schwere und die 
Ausbreitung des betreffenden Leidens an, ob sich das Residuarbild als 
Sehwachsinn oder als Psychopathie darstellt. Beide Bilder sehen wir 
nach einer zu cerebraler Kindcrlahmung fiihrenden Encephalitis oder 
nach einer Lethargica zuriickbleiben 3 ), beide auch nach einem friihen 
Schub von Dementia praecox. Nachstehend sei zunachst ein Beispiel 

1 ) Psychische Residuarzustandc nach Encephalitis epidemica bei Kindern. 
Klin. YVochenschr. 1922, S. 1446. 

2 ) Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. 1909, 45, 245. 

3 ) Vgl. auch Kleist: Diskussionsbenierkung zu EwaUl, Siidwestdeutsch. Vers. 
Erlangen 21. X. 1922. 


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von anscheinencler Psychopath ie nach Kindcrkatatonic kurz mit- 
geteilt: 

Fall 111: Frieda S., 23 J., wire! vom Madchenschutzhaus tier Poliklinik als 
haitlose Psychopathin zur Untersuchung vorgefiihrt. Sie war von der Polizei 
unter falschem Namen eingeliefert worden, nachdem sie wiederholt von Hause 
fortgelaufen, nicht in Stellungen geblieben war, sich mit Mannem nrahergetriebeu 
hatte, obgleich sie gnte Arbeit leisten konnte. Im An ft re ten „sympathisch und 
manierlich* 1 , entschuldigte ihr Fortlaufen mit hauslichen Zwistigkeiten, spnich 
bald lebhaft, bald zogernd, ohne eigentlichen Affekt, zuweilen etwas schauspiele- 
ri9ch in Mimik und Geste. Gesundes Aussehen, normale Reflexe. Innere Organe 
o. Bes. Keine wesentlichen intellektuellen Defekte nachweisbar. Anscheinend 
geringe Entwicklung der ethischen Empfindungen. Nachdem sie sich im Heini 
eingefugt hatte, wurde sie versuchswoise als Auslnlfe in einen Haushalt geschickt 
und brannte sofort durch. 

Aus ihrer Vorgeschichte ergab sich nun folgendes: War als Kind gesund und 
ordentlich gewesen, anscheinend nicht erblich belastet. Mit 14 Jahren erkrankte 
sie an Dementia praecox: 1 / 2 Jalir nach dem Einsetzen der Menses trat lappiscbe 
Erregung auf mit Singen, Schreien. ZerreiBen, Einnftssen, Spucken, triebartigem 
Nagelkauen. Sie horte Stimmen, die ihr haBliche Worte zuriefen, wurde gewalt- 
tatig gegen die Mutter und muBte 1 Monat in der Irrenanstalt behandelt werden. 
Bei der Entlassung auf Drangen der Mutter war Pat. nocli ungeheilt, trieb albemen 
Unfug, arbeitete nichts, driingte sich an Manner heran, machte unniitze Einkiiufe, 
war naschsiichtig, verlogen, schimpfte sehr gemein. Allmahlich ward sie ruhiger. 
apathisch, konnte stundenlang untatig umhersitzen mit gleichgiiltigem Gesicht. 
Von da ab blieb sie veriindert, immer haltlos, ohne Arbeitstrieb. Da sie in keiner 
Stellung gut tat, nur lose Streiche angab, sich umhertrieb und Diebstahle begins, 
gelangte sie in Fiirsorgeerziehung. Hier ward an ihrer Charakterschwfiche nichts 
geandert, sondern sie entgleiste, so oft man sie in Stellung gab, wahrend sie in 
.Mistaken sich einfiigte. In den dortigen Berichten heiBt es: „Faul, oberflachlich. 
muB zur Ordnung in Klcidern angehalten werden, leicht beleidigt." Bei einer 
arztlichen Untersuchung wurde sie als „leichter Schwachsinn mit M&ngeln im 
Verhalten und Gefahr der Verfiihrung' 1 aufgefaBt. Da brach im 20. Jahre ein 
neuer katatoner Schub aus: Pat. zerriB Kleider und Wasehe, schmierte mit Kot 
und muBte aus der Erziehungsanstalt nach einer in der Nahe gelegenen Irren¬ 
anstalt iiberfiibrt werden. Dort nahm man ohne Kenntnis der Vorgeschichte 
,.Schwachsinn" an; die Intelligenz ward „mittelmftBig“ befunden, d;is Verhalten 
„trotzig“. Pat. war unr ein, schmierte, zerriB, verweigerte Einlfiufe. Allmfthlich alier 
wurde sie wieder ruhiger, lenksamer, beschfiftigte sich und konnte der Erziehungs- 
anstalt zuriiekgegeben werden. Kaum von der Mutter abgeholt, beging sie Zechprelle- 
reien, gab falsche Namen an, zog sich schlieBlich eine Anklage wegen Urkunden- 
falschung zu. Damals gelangte sie in die hiesige Psychiatrische Klinik zur Be- 
obachtung und wurde exkulpiert mit der Diagnose „lfippischerFolgezustand von De¬ 
mentia praecox mit Vagabundieren, Urteilslosigkeit bei gutein Gedfichtnis". 

An das Verhalten dieses Falles Ill nach Ablauf des ersten katatonen 
Schubes erinnern die von Bonhoffer und anderen Autoren mitgeteilten 
Kinderbeobachtungen von Encephalitis-Folgezustanden, denen wir ahn- 
liche an die Seite stellen konnten. Es mu 13 aber erganzendhinzugefiigt 
werden, dal3 nicht nur beiKindern, sondern auch noch bei schon iilteren 
Jugendlichen im AnschluB an eine Encephalitis lethargica sich un- 


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Psychopathien und Defekt prozesse. 


309 


giinstige Charakterveranderungen und moralische Entartungen heraus- 
bilden konnen, wie die folgenden beiden Beispiele zeigen: 

Fall IV: Else J., 22 J., Arbeiterin, kommt auf Wunsch der Angehorigen 
zur Beratung in die Fursorgestelle, weil sie in keiner Stelle gut tat. Klagt mit 
inonotoner Stimme Miidigkeit. 

Slat.: Starres Gesicht. Keine Gesten. Hockt steif, vorniibergebeugt. Beim 
Gehen kein Schlenkern der Arme, die angewinkelt. Haare gelichtet. Pup. o. Bes. 
Strabismus divergens. sin. Beiderseits Chvostek. Bei Zeigen der Zunge keine 
Mitbewegung der Lippen, Zungenwogen. Sehnenreflexe erhoht. Andeutung von 
FuBklonus r. Keine path. Reflexe. Innere Organe o. Bes. 

Keine Intelligenzstorung naehweisbar. Behauptet selbst, seit 2 J. im An- 
schluB an Grippe 1920 viel an Kopfweh, Herzklopfen und innerer Unruhe mit 
Neigung zu plotzlichem Einschlafen zu leiden. 

Nach Angabe der Angehorigen war Vater Potator, Mutter erregbar. Pat. 
sei als Kind lebhaft und klug gewesen, habe gem Klavier gespielt. Hat dann 
2 Jahre im Hutgeschaft der Schwester gelernt. Ward Kontrolleurin im Kurhaus 
in H., mu Lite die Stelle wegen Go. aufgeben. Nach abgeschlossener Behandlung 
als Verkauferin tatig, bis der Vater erkrankte. Pflegte ihn. Vor 2 Jahren „Schlaf- 
krankheit“ und Haarausfall. Seither ganzlich ver&ndert: Immer miide, schlief 
sogar stehend an der Wand ein. Zusammengesunkene Haltung, oft abgespreizte 
Arme. Zu nichts Trieb mehr, auch keine Lust zur Musik. Gahnte in der Elek- 
trischen 25mal hintereinander. Sogar im Theater nur anfangs „begeistert“, daim 
apathisch. Aus jeder Stellung wegen ihrer Faulheit und ihres Stumpfsinns ent- 
laasen. Machte sich nichts daraus, iiuBerte gleichgiiltig: ,,Es war wieder nichts 
mit der Herrlichkeit!“ Ward reizbar und unvertraglich, hbrte nicht, trieb sich 
umher oder doste untatig, verge Blich, ,,ging immer mehr zuriick“. Nachts un- 
ruhiger Schlaf. Stimmungsschwankungen. Nach Suizidversuch Juli 1920 in die 
Nervenheilstatte K., wo ihre Unvertriiglichkeit und Unlust zu jeder Beschafti- 
gung auffielen. Sept. 1920 ins Psycho pat henheim H. iiberfiihrt: Heimweh und 
Entweichungsversuche. Nachlassig im AuBeren, sehr langsam in der Arbeit, 
suchte sich um jede Arbeit zu driicken, lag viel herum. Andererseits viel Wiinsche 
und Beschwerden. Drangte sich immer vor, verleumdete, hetzte; bosartige Streiche 
mit Zerschlagen, h&Bliche Redonsarten. Freeh, stahl. schwer zu lenken, liberal 1 
wegen ihrer Unvertriiglichkeit unbeliebt. 

Nach der Entlassung zu Hause wohl etwas fiigsamer, aber keine Arbeits- 
freude. Schlief auf dem Stuhle ein. Immer Kopfweh. Behauptete, gegen die 
„qualvollen Nachte" holfe nur Geschlechtsverkehr, suchte Herrenverkehr. Wusch 
sich aus Faulheit nur mangelhaft, kiimmte sich im Bette, war iiberhaupt ,,un- 
begreiflich triige“. Dadurch Streit mit Mutter. Im Geschaft der Schwester hielt 
sie hochstens morgens aus, dann Klagen iiber Ziehen in Hiiften, versagte. 

Nach Liegekur und Kalktherapie voriibergehend besser, frischeres Aus- 
sehen, freiere Bewegungen. Doch in neuer Stellung unmoglich wegen Langsam- 
keit der Bewegungen. Auch absolut nicht an Ordnung zu gewohnen. Mischung 
der Tragheit mit storender Unruhe, imvertraglich reizbares Wesen. 

Fall V: Otto St., 22 J. alt, sucht die Vermittlung unserer Fursorgestelle 
nach, da er seine Stellung verloren habe und keine neue bekomme. Seit Erkran- 
kung an Kopfgrip^ie erweise sich sein starrer Blick fur sein Fortkommen schad- 
lich. Klagt Kopfweh, Reizbarkeit, VergeBlichkeit und Schwficheanf&lle mit 
Umsinken. 

Stat.: Starre Haltung. Weit offene Augen mit seltenem Lidschlag. Wenig 
Mienenspiel. Zittern der r. Hand und zeitweises Zucken der Zunge. Dagegen 
keine nierkbare Verlangsamung der sonstigen Bewegungen. Arme schwingen 


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beim Gehen. Spraohe soil friiher tonlos gewesen sein, ist es nicht melir. Pup. 
o. Bes. AB. frei. Chvostek beiderseits. Bei LidschluB Flatten! um die Augen. 
Armreflexe schwach. PtR. und AS. lebhaft. Romberg angedeutet. Keine Adia- 
dochokinesie. Sens. frei. Innere Organe o. Bes. 

I 'orgeechichte ergibt: GroBvater mutterlicherseits voriibergehend wegen De¬ 
pression in Anstalt. Pat. hatte gut gelemt, war immer ordentlich bis zur Er- 
krankung an Kopfgrippe 1919. Seither immer miide und schlapp, arbeitsunlustig. 
Langsame Sprache und SpeichelfluB, maskenartiges Gesicht mit ruckartigem 
Ziingeln und Schnalzen. Vor allem fing er an zu bummeln, zeigte nur noch In- 
teresse fiir Miidchen und Sport. Gegen seine Mutter ward er keftig und bnital, 
packte sie bei Wortwechsel an der Kehle. Nahm ihr Geld fort und verjubelte es. 
War wehleidig und aufdringlich, immer unruhig, sagte selbst, er werde wie von 
einem inneren Drange getrieben. Hielt in keiner Stelle mehr aus. Auch bei Be- 
handlung in Psychiatrischer Klinik immer unzufrieden und anspruchsvoll, iiber- 
trieb seine Beschwerden, bekam hysterische Anfalle, die fast gemachten Eindruck 
erweckt haben sollen. Seine angeblichen Kopfschmerzen scliwanden prompt auf 
indifferentes Pulver. 

Zurzeit ergibt Untersuehung keinen Intelligenzdefekt. Doch besteht gleich- 
gultig einsicbtsloses Gebaren. Fragt nur immer nach Stellung, beteuert seinen 
Arbeitswunsch, tut a her sonst keine Schritte, ist mit Vorschl&gen nicht einver- 
standen. Lebt ziellos in den Tag hinein. Wird den Angehorigen durch seine 
brutale Reizbarkeit beschwerlich. 

Beiden Fallen ist gemeinsam, daB erst im Alter von 20 Jahren 
nach Erkrankung an Encephalitis lethargica eine Charakterentartung 
sich entwickelt haben soli. Nach Mitteilung der Angehorigen hatten 
sich auBer Miidigkeit und Arbeitsunlust Verlust der sittlichen Empfin- 
dungen, Neigung zum Umhertreiben, Reizbarkeit und Unvertraglich- 
keit geltend gemacht. Alle Erraahnungen und Behandlungsversuche 
erwiesen sich gegeniiber diesem Defekt erfolglos. Trotz aller guten 
Vorsatze entgleisten die Betreffenden immer von neuem, waren an 
keine geregelte Tatigkeit. mehr zu gewohnen. Dabei fielen an ihnen 
Stimmungsschwankungen, storende Unruhe, Aufdringlichkeit und Nei¬ 
gung zu torichten Streichen oder Gewalttatigkeit auf. Immerhin er- 
scheint hier die Beobachtungsdauer noch zu kurz, um zu entscheiden, 
ob es sich schon urn Dauerzustande handelt. Die bemerkte Wandel- 
barkeit der korpcrlichen Symptome laBt an die Moglichkeit denken, 
daB auch auf psychischem Gebiete noch Anderungen zu erwarten 
waren. Freilich pflegen nach unseren bisherigen Erfahrungen gerade 
bei encephalitischen Folgezustandcn verheiBungsvolle Remissionen allzu 
oft von Exacerbationen gefolgt zu sein. Das Wesentliche fiir unsere 
Betrachtungen liegt aber mehr darin, daB im Falle IV und V die an 
haltlose Psychopathic erinnernden Symptomenbilder zusammen mit 
korjrerlichen Storungen charakteristischer Art im Anschlusse an eine 
encephalitische Erkrankung hervorgetreten waren. Versagen der Hem- 
mungen und Vorherrsehen des Trieblebens lassen sich allgemein als 
Zeichen von Gehirnschadigung auffassen, gleichgiiltig welcher Art im 


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Psychopathien und Defektprozesse. 


311 


einzelnen der betreffende GchirnprozeB gewesen sein mag. Auch schwere 
Kommofcionen konnen in gleicher Richtung wirken. Aber ein Vergleich 
der verschiedenen psychopathieahnlichen Residuarformen untereinan- 
der wird uns vielleicht mit der Zeit dahin fuhren, ihre Atiologie auch 
ohne die Kriicke der korperlichen Begleiterscheinungen zu erkennen. 

Nicht minder wichtig als die Tatsache, daB die nach Ablauf akuter 
Gehirnprozesse zuruckgebliebenenDefektzustande den als konstitutionell 
angesprochenen Psychopathien zum Verwechseln ahnlich sehen kon- 
nen, ist die weitere, ebenfalls bereits bekannte, doch nie geniigend 
gewiirdigte Feststellung, daB auch der erste schleichende Beginn eines 
Defektprozesses wie z. B. der Dementia praecox sich vollstandig in das 
Gewand einer psychopathischen Haltlosigkeit zu kleiden vermag. 
Gerade hier kommt es leicht zu verhangnisvollen Fehldiagnosen, falscher 
Beratung von Angehorigen und Behorden, zwecklosen Drangsalierungen 
der Kranken und nutzlos kostspieligen Erziehungsversuchen. Aus dem 
leider nur allzu reichlich vorhandenen Beobachtungsmaterial seien 
2 besonders lehrreiche Falle herausgegriffen: 

Fall VI: Karl B., 21 J. alt, wird vom Wohlfahrtsamt zur Untersuehung in 
die Poliklinik geschickt, ob er arbeitwfahig sei, da er nichts tue und sich von 
seiner alten Mutter emahren lasse, obgleich er durch arztliches Gutachten fiir 
70% erwerbsffihig erklart worden sei. Pat. hatte in einer schroffen Eingabe an 
den Magistrat den betreffenden Arzt fiir einen „Hanswurst“ erklart und „Ent- 
schadigung fiir alle Gaunereien 11 verlangt, durch die die Stadt ihn nervenkrank 
gemacht habe! 

Slat.: GroB, hager, gebiickt mit leichter Kyphose im Brustteil und Lordose 
im Lumbalteil der Wirbelsilule. Weiche Struma. Ohrmuscheln verbildet. Augen- 
brauenbriicke. Schmaler Gaumen. Alle Reflexe erhalten. Keine Lahmungs- 
erscheinungen. Zittem der Zunge, nicht der Hande. Lebhaftes Grimassieren. 
Starre Haltung. Innere Organe o. Bes. Miirrisch und abweisend, antwortet nur 
einsilbig, ist schreckhaft und iiberempfindlich gegen Geriiusche. Klagt zahlreiche 
hypochondrische Sensationen, um dann wieder zu verstummen. Allmahlich nur 
lassen sich allerlei Beeintr&chtigungsideen erfahren: Man hat ihn vergiftet und 
schwach gemacht, so daB er jetzt nicht mehr arbeiten konne. Lehnt alle Be- 
handlungsvorschliige ab, will „Entschadigung“, wobei ihn die vollig einsiehts- 
lose Mutter unterstiitzt: Man habe ihn durch Fiirsorgeerziehung krank gemacht. 

Als Dementia praecox der Psvchiatrischen Klinik iiberwiesen, wo die 
Diagnose bestiitigt und die dauemde Unterbringung in einer Bezirksanstalt in 
die Wege geleitet wird. Sehr interessant erwies sich nun hier die Vorgeschichte: 

Beide Eltern Psychopathen, ein Bruder spfiter auch an Dementia praecox 
erkrankt. Pat. hatte in der Schule mangelhaft gelemt, viel Kopfschmerzen ge- 
klagt. In der Lehre versagte er, blieb in keiner Stelle. Arbeitete schlieBlich gar 
nicht mehr, saB zu Hause oder besuchte Volksvorlesungen. Sagte die Mutter 
was. bekam er Wutanfalle. Endlich ward 1915 Fiirsorgeerziehungsverfahren ein- 
geleitet. Ein arztliches Attest sprach sich fiir nur leichten Schwachsinn aus; es 
handle sich um einen willensschwachen, haltlosen. aber erziehbaren Psychopathen. 
In der Erziehungsanstalt fiir Schwachbefahigte St. erfolgte 1916 eine zweite psych- 
iatrische Begutachtung: Einfacher Schwachsinn, kein Anhalt fiir Jugendirre- 
sein. Der ausfiihrliche p&dagogische Bericht betonte sogar eine ,.ganz gut© 


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Leistungsfiihigkeit“ in den verschiedenen geistigen Betatigungen. Er stehe iiber 
der 81life der Abgangsklasse der Volksschule. Er besitze geniigend Fiihigkeit, 
neu aufzufaasen nnd das Gelemte anzuwenden, nur ermiide er leicht und ver- 
sinke dann in einen apathischen Zustand. Doch fehle es ihm nicht an gutem 
Willen und Ausdauer. Sic her weise er auf dem Gebiete des Gefuhlslebens „psycho- 
pathische Ziige“ auf, durch die eine sozial einwandfreie Stellungnahme zu 
Menschen und Dingen erschwert werde; dennoch ersclieine er erziehungsfahig. 
Erst 1918 berichtete die gleiehe Erziehungsanstalt iiber den Pat.: ,,Es ist klar. 
daB er vollstiindig undisziplinierbar ist, gegen Milde und Strenge gleich unzu- 
g&nglicli; auf jede noch so freundliche Einwirkung erwidert er mit einem Af- 
fektausbruch. 11 Es liege wohl eine ausgesprochene Psychose vor. Infolgedessen 
ward Pat. 1919 mit deutlich katatonischen Erscheinungen der Psychiatrischen 
Klinik zugefiihrt, er war bald negativistisch stujioros, bald hatte er halluzina- 
torische Erregungen. Xach eingetretener Beruhigung holte ihn die Mutter ab, 
aber er war nicht zu einer geregelten Besch&ftigung zu bewegen, ging spazieren 
und trug hypochondrische Beschwerden vor. Da die Mutter nur an ein korper- 
liches Leiden glauben wollte, wies sie die Einwirkung aller Facharzte zuriick, 
und es ward erst dann ein Eingreifen moglich, als sie sich auBerstande erklarte, 
ihn weiter zu ernahren. Auch jetzt protestiert sie aber noch gegen seine An- 
staltseinweisung. 

Fall VII: Auf Auguste H., 19 J. alt. Arbeiterin, ward unsere Fiirsorgestelle 
im Juli 1922 aufmerksam gemacht durch die Beratungsstelle fur Frauen. Es 
stellte sich heraus, daB Pat. im Marz 1921 durch die Polizeifiirsorgerin dem Mad- 
chenschutzhause zugefiihrt worden war. Sie erschien dort reizbar, veretimmt, 
eigensinnig und beschrankt. Sie hatte angeblich in der Schule schwer gelernt, 
war stets aufgeregt gewesen. Spater hatte sie sich mit Miinnern umher getrieben. 
war aufgegriffen und wegen Syphilis in Zwangsbehandlung verbracht worden. 
Als hystcrische Psychopathin mit unsozialen Xcigungen wurde sie der Psychia¬ 
trischen Klinik zugefiihrt. Hier straubte sie sich gegen jede Untersuchung, ver- 
weigerte zeitweise die Xahrung. gab wenig Auskunft, erschien eigensinnig und 
trotzig. Xachts redete sie manchmal vor sich bin. Allm&hlich fiigte sie sich besser, 
schlief ruhig, bat. aufstehen zu diirfen. Zur Heilerziehung wurde sie ins Psycho- 
pathenheim H. iiberfiihrt und gait dort als Imbecillitat mit Hysterie. Sie war 
dauernd sehr widerstrebend, schimpfte gemein, zerriB, schlug, drohte, Fenster 
zu zertrummern. Da eine Bemhigung weder im Bett noch im Einzelzimmer zu 
erzielen war, und sich Pat. zu keiner Beschaftigung herbeilieB. erfolgte Juli 1921 
die Verlegung nach der Bezirksirrenanstalt. Auch hier wurde die Diagnose nicht 
geandert, obgleieh Pat. grundlos gewalttatig blieb gegen Arzt, Pflegerinnen, Mit- 
kranke. Sie spuckte, naBte, zerriB, war sehr unruhig. Erst im April 1922 erschien 
sie umganglicher, zeigte aber wenig Beschaftigungstrieb, driickte sich um 
jede Arbeit. Juli 1922 wurde sie durch den Stiefvater gegen iirztlichen Rat ab- 
geholt. 

Boi unserer ersten Untersuchung (Dr. Landauer) bot Pat. ein auffallend 
maniriertes Wesen, grimassierte stark, so daB es manchmal fast an choreatische 
Bewegungsunruhe erinnerte. Sie sprach wenig und leise, ohne Affekt, berichtete 
iiber Gehorstauschungen und Verfolgungsideen. Spiiter wechselte ein ausge- 
sprochen negativistisch stuporoses Verhalten mit motorischer Unruhe und ero- 
tischem Gebaren. Zwischendureh impulsive Verkehrtheiten: Einmal wollte sie 
aus dem Fenster, dann hatte sie sich plotzlich den FuB mit lieiBem Wasser ver- 
briiht. Da unter solchen Umstanden weitere hiiusliche Verpflegung nicht an- 
giingig war, muBte, trotz Widerspruchs der Mutter, wegen Dementia praecox die 
t'berfiihrung in die Psychiatrische Klinik in die Wege geleitet warden. 


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Psychopathien und Defektprozesse. 


313 


GewiB bieten die Falle VI und VII theoretisch nichts Neues 1 ), allein 
dennoch sind sie praktisch hochst wichtig, weil solche Verwechslungen 
von Psychopathie und fortsehreitender Defektpsychose zu unertrag- 
licher Belastung der Heilerziehungsheime und nutzlosen Geldaufwen- 
dungen fiihren. Die Schwierigkeit einer scharfen Abgrenzung bei dem 
heutigen unbefriedigenden Stande der Lehre vom psychopathischen 
Grenzgebiete ist ohne weiteres einzuraumen, sollte jedoch zu iinmer 
erneuten differentialdiagnostischen Untersuchungen auffordern. Be- 
sonders beachtenswert gerade im Beginne eines schleichenden schizo- 
phrenen Prozesses scheint das Symptom des blinden Negativismus zu 
sein, das in unseren beiden Beobachtungen friih anzutreffen war, dann 
die zeitweise Versunkenheit, die nur zu leicht mit Ermiidung oder 
Apathie aus angeborener Indolenz verwechselt wird. Oft lieBe sich 
anamnestisch aufklaren, ob hier gegen fruher eine Wesensanderung 
sich herausgebildet hat. Feindseliges und aggressives Verhalten richtet 
sich bei Psychopathen mehr gegen einzelne bestimmte Personlichkeiten, 
als wahllos gegen die gesamte Umgebung. Bequemlichkeit und Faul- 
heit auBern sich bei geeigneter Priifung verschieden, als der absolute 
Mangel jeder Initiative iiberhaupt. Waches Monologisieren nachts und 
ohne Affekt ist immer verdachtig auf Psychose. Man soli sich hiiten, 
triebartige Verkehrtheiten und affektloses Widerstreben als tlbermut 
und Eigensinn zu deuten. Darauf ist ja fruher wiederholt von den 
verschiedensten Autoren hingewiesen worden 2 ). Gleichwohl ist es nicht 
uberfliissig, diese Forderung zu unterstreichen, weil heute mancherorts 
die Annahme von Negativismus schlechthin unbeliebt geworden ist, und 
statt dessen eine Motivierung des ablehnenden Gebarens versucht wird. 
Man mag derartigen Bestrebungen noch so sympathisch gegeniiber- 
stehen, dennoch soil man nicht versaumen, bei jedem Anschein von 
Negativismus sich auch die Moglichkeit einer Defektpsychose zu iiber- 
legen. Bleibt das Widerstreben unbeeinfluBt bei jedem Wechsel der 
Behandlungsart, erw r eist es sich als vollig ziellos, so wird eine ernstere 
psychische Storung wahrscheinlich, die die Erziehbarkeit iiberhaupt in 
Frage stellt, und meist werden sich dann fruher oder spater noch wei- 
tere katatone Zeichen auffinden lassen. 

Damit soli keineswegs gesagt sein, daB der Katatone auf erregende 
Vorgange der AuBenwelt nicht auch unter Umstanden reaktiv ant- 
wortet; ist doch sattsam bekannt, wie oft alte schizophrene Anstalts- 
insassen durch falsches Verhalten des Personals zu Zornausbriichen, 
Angriffen und plotzlichen Verkehrtheiten veranlaBt werden. In noch 

l ) Vergleiche aus der jiingsten Literatur z. B. Schmelchir: „Der Fall Engel- 
horn“. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 78, S. 634. 

-) V T gl. auch neuerdings Wichmann: Zur Differentialdiagnose zwischen Dem. 
praecox und Hysterie. Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. 64, S. 258. 

Arch iv fur Fsychiatrie. Bd. 68. 21 



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314 


Raecke: 


hoherem MaBe sind die Exacerbationen chronischer Prozesse in der 
Freiheit Reaktionen auf auiiere Ereignisse, und oft genug bemerkt 
die bis dahin ahnungslose Umgebung erst an einer solchen Reaktion, 
daB eine Geisteskrankheit sich entwickelt. Besonders interessant und 
praktisch wichtig werden da imraer diejenigen Falle bleiben, in denen 
der manifeste Beginn einer Defektpsychose im Sinne einer Dementia 
praecox zunachst den falschen Eindruck einer hysterischen Reaktion 
auf psychopathischer Basis erweckt. Hierher gehoren z. B. die von mir 
friiher beschriebenen ,,katatonischen Situationspsychosen“ Kriminel- 
ler 1 ) in der Untersuchungshaft. Auf entsprechende Bilder bei schizo- 
phrenen Unfallkranken hat ferner Hans Maier-Z iirich 2 ) aufmerksam 
gemacht. Nur ein einschlagiges Beispiel sei der Vollstandigkeit halber 
angefiihrt: 

Fall VIII: Der jetzt 41jfihrige Eisendreher August H. steht seit Jaliren 
unter Aufsicht unserer Fiirsorgestelle; auch seine Frau und Kinder sind in un- 
serer Poliklinik wegen psychopathischer Erscheinungen behandelt worden. Er 
selbst hatte im Felde Juli 1916 eine SchuBverletzung am r. Unterschenkel er- 
litten. Als er am 16. August 1916 ins Heimatslazarett eingeliefert wurde, fand 
sich eine 18 cm lange, bis 4’/ 2 cm breite, lebhaft rote und auffallend empfindliche 
Wundfliiche an der AuBenseite der Wade; kein Fieber. Der FuB erschien unbe- 
weglich. Es ward zunachst mechanische Behinderung durch „Narbenzerrung an 
der Muskulatur“ angenommen, dann Peroneuslahmung und Operation vorge- 
schlagen, aber verweigert. Pat. erhielt einen Schienenhiilsenapparat, mit dem er 
hinkend ging. Dienstuntauglich entlassen. Juli 1918 wurde im Nervenlazarett 
hysterische FuBlahmung diagnostiziert. Pat. war bei der Untersuchung seines 
SpitzfuBes auffallend jingstlich und miBtrauisch und entzog sich der weiteren 
Behandlung durch mehrfaches Fortlaufen, wollte aber hinterher nicht wissen. 
wie er dazu gekommen sei. Infolgedessen am 16. August 1918 Verlegung in die 
Psvchiatrische Klinik, wo ich ihn zuerst zu sehen Gelegenheit hatte. 

Stal.: GroB, kraftig, blaB. Alte reaktionslose Narbe an der AuBenseite des 
r. Unterschenkels. R. FuB steht steif in SpitzfuBstellung, Steppergang. Umfang 
des r. Unterschenkels 3 cm geringer als 1. Tast- und Schmerzempfindung von 
der Mitte des r. Unterschenkels nach abw&rts aufgehoben. Elektrische Erreg- 
barkeit nicht gestort. AuBerer FuBrand hiingt nicht. Aktiv werden mit dem 
r. FuBe iiberhaupt keine Bewegungen ausgefuhrt ; Pat. behauptet, ohne Stiitz- 
apparat und Stock nicht gehen zu konnen. Im ubrigen bietet der korperliche Be- 
fund nichts Auffiilliges. Hypnose lehnt Pat. ab. Auch gegen das Dauerbad strftubt 
er sich erst, gewinnt dann aber darin rasch vollstandige Beweglichkeit des FuBes 
wieder und geht nun ohne Hinken. Bleibt indessen psychisch auffallig, ist ein- 
silbig, scheu, klagt ofters Kopfweh und Schwindel. Bei eingehender Exploration 
unter 4 Augen entwickelt er mir dann plotzlieh seine Gedanken: Werde von der 
Umgebung verfolgt und besehimpft, man deute ihm an, daB er ein ,,warmer Bru- 
der“ sei, drehe ihm den Hintern zu, auch habe er schon das Wort „Eulenberger“ 
zu horen geglaubt. Das gehe bereits lange so und habe ihn vor dem Kriege zu 
haufigem Stellungswechsel gezwungen, bis er bei Bedienung des Fahrstuhls einen 

*) Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. 55, S. 771. 

2 ) Cber V’ersichenmgshebephrenien. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 
78, S. 442. 


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Psychopathien und Defektprozes.se. 


315 


Posten fand, wo er mit keinem zusammen zu arbeiten brauchte. Auch in Feld 
und Lazarett habe er unter ahnlichen Anfeindungen gelitten, sei deshalb fort- 
gelaufen. Jetzt hore er zuweilen seinen Namen rufen, habe unheimliches Gefiihl, 
als wollte man ihm was antun. Seiner Frau traue er gar nicht; das letzte Kind 
sei bestimint nicht von ihm. 

Nach Mitteilung der Frau war Pat. stets eigen, menschenscheu, 
reizbar gewesen, hatte zu Eifersuchtsanwandlungen mit grdblichem 
Schimpfen und Gewalttatigkeit geneigt. Daher sei auch seine erste 
Ehe geschieden. Potus fur friiher zugegeben, spiele aber jetzt keine 
Rolle mehr. Dagegen sehr sonderbare AuBerungen und Manieren, be- 
sonders nach dem Kriege. Seine Schwester sei auch nicht ganz richtig. 
Die weitere, z. T. poliklinische Beobachtung, die sich bis heute schon 
iiber 4 Jahre erstreckt, bestatigte, daB es sich um eine paranoide Form 
der Dementia praecox handelt. Der schleichende Beginn muB vor dem 
Kriege angesetzt werden. Die Verschlimmerung im AnschluB an die 
Verwundung tauschte episodisch das Bild einer sogenannten trauma- 
tischen Neurose vor. Nach suggestiver Beseitigung der psychogenen 
Lahmung ist die paranoide Farbung wieder deutlicher hervorgetreten. 
Ohne Kenntnis der Vorgeschichte vermag offenbar in ahnlich gela- 
gerten Fallen sehr leicht einmal der falsche Eindruck zu entstehen, als ob 
erst aus der psychischen Reaktion auf das Trauma sekund&r die Defekt- 
psychose sich herausgebildet habe. 

Ebenso kann es sich im Beginne einer Dementia praecox um Reak¬ 
tion auf ein beliebiges anderes affektives Ereignis handeln, so daB 
dann nur noch schwer oder gar nicht mehr zu erkennen ist, wie weit die 
auBere Einwirkung tatsachlich eine Exacerbation ausloste, wie weit sie 
lediglich voriibergehend das Bild farbte und der in schleichendetn Ent¬ 
stehen begriffenen Defektpsychose eine reaktive Maske vorhiingte, 
ganz zu schweigen von der Verwechselung mit einer psychogenen Ent- 
stehung der Dementia praecox selbst. Es ist nicht iiberfliissig, auch 
auf letztere Fehlerquelle hinzuweisen, nachdem eine Reihe von Kriegs- 
veroffentlichungen sichtlich zur Annahme einer traumatischen Genese 
mancher Dementia praecox-Falle neigt 1 ). Meist wird aber eine sorg- 
faltige Erganzung der Vorgeschichte Klarung bringen, wie z. B. fol- 
gende Beobachtung lehrt: 

Fall IX: Frau Selma B., 41 J. alt, win! vom Ehemanne zur Poliklinik ge- 
bracht mit der Angabe, sie sei geistig erkrankt, seit ihr Kind vor 3—4 Monaten 
in den Waseheimer fiel und das Geniek brach. Sie griible den ganzeu Tag 
dariiber, mache sich Selbstvorwiirfe, bilde sich ein, die Nachbam spr&ehen dariiber 
und drohten mit der Polizei. Pat. war damals schwanger, wurde 4 VVochen nach 
dem Ungliick entbunden; das Kind befindet sich im Kinderheim. Pat. vemach- 
lassige seither alles, sitze untiitig jammemd umher, wolle aber auch nicht zu 

*) Vgl. die Ausfiihrungen bei K. Schneider: Schizophrene Kriegspsychosen. 
Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psvehiatr. 43, S. 420. 

21 * 


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316 


Raecke: 


Hause bleiben, sondern drange iinmer wieder plotzlich weg. Bisher war sie bei 
einer Schwester in Pflege, doch diese halt es nicht mehr mit ihr aus. Daher hat 
sie der Mann wieder zu sich genommen. Hereditat negiert. 

Slat.: Kleine Frau von diirftiger Emahrung. Normale Reflexe, keine Lah- 
mungserscheinungen. Innere Organe ohne Besonderheiten. Bei der Unterredung 
fallt auf. daB ihr CJesichtsausdruck standig wechselt, bald Lachen, bald Weinen. 
Manchmal antwortet sie daneben. Aber immer wieder kommt sie darauf zuriick. 
ihr Kind sei ins Wasser gefallen, es sei aber nur wenig Wasser irn Eimer gewesen. 
Wiederholt stereotyp: ,,Ich konnte nichts dafiir!“ Der liebe Gott babe es ge- 
wollt, es sei ihr jedoch in die Nerven gefahren, sie habe schwache Kopfnerven 
bekommen, konne nicht arbeiten. Der Kopf sei so leer. Sie konne das Essen 
fur den Mann nicht herrichten, konne nicht arbeiten. „Ach es war ein so goldiges 
Geschopf!“ Es sei aufgeweckt und lustig gewesen. Jammert so weiter iiber das 
tote Kind, alter ohne rechten Affekt, ebenso liber ihren leeren Kopf, die schwachen 
Xerven. Dreht mit diesen Erzahlungen sich fortgesetzt im Kreise, sagt: „Ich 
weiB alles noch, aber ich habe die. richtige Zusammenstellung nicht mehr. Ich 
will jemand um mich herum haben, daB ich es wieder lerne. Keinen Strumpf 
kann ich mehr stopfen, friiher ging alles am Schniirchen.“ Zwischendurch lacht 
sie bei einem Scherz, um gleich wieder mit monotoner Stimme zu sprechen: „Es 
war kein heiBes Wasser, es war nur ein Tropfen Wasser, ich sehe es immer noch 
vor Augen!“ Friiher hiitten alle Leute sie wegen ihrer Tuchtigkeit belobt; krank 
sei sie nicht gewesen. 

Die Vbrgeschichte ergab, daB Pat. bereits vor 7 Jahren in Behandlung 
der Psychiatrischen Klinik gestanden hatte wegen eines ersten katatonen Schubs. 
Damals hatte die Geburt eines unehelichen Kindes als auslosendes Moment ge- 
golten. Nacli ihrer Behauptung ware sie vergewaltigt worden; ihr Mann hatte 
ihr verziehen. Dennoch redete sie dauernd iiIter den Vorgang, wahnte, von dem 
Betreffenden hypnotisiert worden zu sein. Daheirn iiuBerte sie LebensiiberdruB. 
klagte Schlaflosigkeit und andere nervose Beschwerden. In der Klinik war sie 
unzufrieden, drangte eigensinnig fort, bis der Ehemann sie nach wenigen Wochen 
herausnahm. Bei der baldigen Wiederaufnahme war sie deutlich negativistisch, 
wollte sich nicht waschen, abstinierte, war zu keiner Beschiiftigung zu bewegen. 
Zeitweise norgelte, zeitweise jammerte sie. Xach ihrer 2. Abholung durch den 
Ehemann gegen arztlichen Rat blieb sie stumpf und initiativlos, bis der neue Un- 
gliicksfall mit dem Kinde eine abermalige Exacerbation ausloste. 

Hier lag also ein vor Jahren klinisch beobachteter Beginn der 
Dementia praecox zutage, so daB es sich trotz des stellenweise reaktiv 
anmutenden Bildes hcute nur um eine Wiederverschlimmerung handeln 
konnte, ahnlich wie nicht selten ein spateres Wochenbett die im frtiheren 
Puerperium erstmalig aufgetretene Dementia praecox zu neuem Auf- 
flammen und rascherem Vorwartsschreiten treiben mag. Sehr viel 
schwieriger gestalten sich natiirlich die Vcrhaltnisse da, wo kein friiherer 
Schub einwandfrei festgestellt wurde, und zunachst aus der Anamnese 
keine Anhaltspunkte ftir die Annahme eines vor dem betreffenden er- 
schiitternden Ereignisse bereits vorhandenen Leidens zu gewinnen sind 1 ). 
Trotzdcm diirfte auch in solchen Fallen in der Regcl eine schleichende 

Vgl. Wilmanns: Die Schizophrenic. Zeitschr. f. d. ges. Xeurol. u. Psychiatr. 
78, S. 325. 


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Psychopathien und Defektprozesse. 


317 


Entwicklung lange vor dem manifesten Ausbruche zu vermuten sein. 
Lehrreich ist in dieser Beziehung das folgende Beispiel, in dem spater 
tatsachlich der Nachweis friiherer krankhafter Erscheinungen gliickte: 

Fall X: In der Beratung unserer Ffirsorgestelle Itefand sich vor 3 Jahren 
eine 39 j&hrige Schutzmannswitwe E. mit Remission nach schwerer katatonischer 
Erregung. Der manifeste Ausbrneh hatte sich in ihrem 35. Jahre akut, vollzogen 
im direkten AnschluB an die erschiitternde Nachricht von der Ermordung ihres 
Mannes. Sie wurde am 11. I. 1918 in verwirrtem Zustande in die Klinik ein- 
geliefert, schlug und trat um sich. Sie war auBerordentlich widerstrebend gegen 
alles, nahm keine Nahrung. Dann versank sie in einen Stupor, sprach nicht, 
auBer bei Besuchen von Angehbrigen. Manchmal weinte sie und jammerte vor 
sich hin; dann wieder war sie zomig erregt, neigte zu auBerlich unmotivierten 
Angriffen auf ihre Umgebung. Zeitweilig erschien sie heiter, erotisch, sang und 
redete viel von ihrem Manne, wanim er sie nicht besuche, um dann plotzlich in 
verzweifeltes VVeinen umzuschlagen, als sei ihr die Erinnerung an die Wirklicli- 
keit gekommen. Bisweilen v r erlangte sie auch drohend Aufkliirung fiber ihren 
Mann, schien zu glauben, daB ihn ihr die Pflegerinnen, gegen die sie stets be- 
sonders gereizt war, vorenthielten. Nur anfangs war sie zeitlich und ortlich un- 
genau orientiert. Bei alien liingeren Explorationsversuchen al>er machte sie die 
groBten Schwierigkeiten, antwortete iiberhaupt nicht oder tat AuBerungen, die 
in keinem Zusammenhange mit den Fragen standen. Ebenso straubte sie sich 
heftig gegen jede korperliehe Untersuchung. Xur recht allmahlich ward sie ruhiger 
und auBerlich geordneter, verlangte nun nach den Kindern. Allein ein Entlas- 
sungsversuch auf Verlangen der selber psvchisch abnormen Schwester scheiterte; 
nach 2 Tagen ward die Pat. in neuer. schwerer Erregung zurfickgebracht. 

Erst y 4 Jahr nach dem Beginn des Ausbruchs ebbte die Erregung langsam 
ab. Doch blieb Pat. zuniichst noch vielfach verworren in ihren Worten und Hand- 
lungen, hatte ausgesprochene Beeintrachtigungsideen, neigte zu plotzlichen Ge- 
walttiitigkeiten. Sie behauptete, ihre Schwester sei auch mit ihren Widersachern 
im Bunde, sperre sie ein, um sie um ihr Eigentum zu bringen. V T on ihrem Manne 
sprach sie nicht mehr, dagegen umarmte und kiiBte sie gem einzelne Pflegerinnen. 
Gegen die Arzte blieb sie stets abweisend, miBtrauisch. Obgleich sie allmahlich 
von ihren Angriffen auf die Umgebung lieB, sich mit Hausarbeit lieschaftigte 
und auch zu Unterhaltungen eher bereit war. fiel dauernd ihr unruhig zerfahrenes 
und spmnghaftes Wesen auf, ihre sonderbar geschraubten AuBerungen und ma- 
nirierten Bewegungen. Noch 2. X. 1918 benahm sie sich bei einem Ausgang so 
auffallend, daB gebeten ward, sie nicht mehr zu beurlauben, die Kinder hatten 
sich vor ihrer Aufregung geffirchtet. Sie schwatzte viel in abspringender Weise, 
erzahlte ohne Gefiihl vom Tode des Mannes, wie sie die Nachricht erhalten habe 
usw., machte gleich im Zusammenhange damit neue Heiratsplane. Auf ihr hef- 
tiges Drangen wurde sie am 20. XII. 1918 versuchsweise entlassen. Der korper* 
liche Befund bot keine Auffiilligkeiten, alle Reflexe waren erhalten, innere Or- 
gane o. B. Im Liquor Zellzahl leiclit vermehrt, 15/3, aber kein Globulin. Wass. 
in Blut und Liquor negativ. 

Noch Marz 1919 berichtete der ffir Pat. l>estellte Pfleger. ihr Geisteszustand 
sei so krankhaft, daB man ihr die Ffihrung des Haushaltes und die Frziehung 
ihrer Kinder nicht anvertrauen konne. Sie sitze meist untatig urnher, sei fort- 
gesetzt reizbar, miBtrauisch, beschimpfe die Verwandten in gemeinster Weise 
und konne sich leicht von einer Zornaufwallung zu Tfitlichkeiten hinreiBen lassen. 
Erst im Sommer 1919 trat eine wesentliche Besserung ein, insofern die groBe 
Erregbarkeit sich gab. Pat. fing an, sich als Putzfrau zu beschfiftigen, und kam 


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Raecke: 


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init den ihr anvertrauten beiden alteren Knaben leidlich zurecht. Sept. 1919 
wurde die Pflegschaft aufgehoben. In den 2 folgenden Jahren ging es abgesehen 
von einer gewissen Fahrigkeit und Affektlabilitiit besser, und nur selten liefen 
emstere Klagen liber aufgeregtes Gebaren ein. Allein Mai 1922 berichteten die 
Fiirsorgerinnen von einer wieh ausbildenden Lieblosigkeit gegen die Kinder, Ver- 
nachl&ssigung des Haushalts, Umhertreiben mit Mannern; Pat. scheine jetzt 
„ manna toll" zu werden. Immerhin hat es sich bis jetzt moglich erwiesen, sie 
auBerhalb der Anstalt zu belassen. Fiir die Kinder ward eine Schutzpflegschaft 
eingerichtet. 

Wichtig sind nun zur Beurteilung des Falles folgende spiitere Erganzungen 
der Vorgeschichte aus den Fiirsorgeakten: Krankhafte Erscheinungen waren bei 
Pat. schon vor deni Verlust des Mannes lieobachtet worden: Wfihrend dieser als 
tiich tiger und gewissenhafter Beamter gait, fiel sie bereits Jahr und Tag auf 
durch „hysterische Erregtheit", hatte zeitweise Haushalt und Kinder groblieii 
vernachlftssigt. In der letzten Zeit iiberlieB sie es giinzlich deni Manne. fiir beide 
zu sorgen. Suchte er sie zur Mitarbeit anzuhalten, legte sie sich einfach tagelang 
ins Bett und drohte, ihn bei seinen Vorgesetzten zu verleumden. Bereits damals 
war ihre Umgebung der Cberzeugung, sie liabe einen „geistigen Defekt". Der 
alteste Knabe war infolge aller solcher Verhiiltnisse auf deni Wege zu verwahr- 
losen und wurde erst nach der Anstaltsaufnahme der Mutter wieder auf liessere 
Balinen gelenkt. Endlich die oben erwalinte Schwester der Pat. wird in den 
gleichen Akten geradezu als ..schwachsinnige Querulantin“ bezeichnet. die jedein 
Eingreifen ini Interesse der Kranken oder deren Kinder den heftigsten Wider- 
stand entgegensetzte, unablassig auf Entlassung drangte und schlieBlich wegen 
ihrer Hetzereien niclit inehr zu Besuchen zugelassen werden durfte. 

In der Klinik war bei der crsten Aufnahrae zunachst der Eindruck 
der gewesen, als handle es sich uni eine akut im AnschluB an den Mord 
aufgetretene Psychose. In der Tat spielte der Tod des Mannes anfangs 
eine hervorstechende Rolle in den krankhaften AuBerungen. Allein 
spater riickte dieses Moment ganz in den Hintergmnd, und die Pat. 
sprach gleichgiiltig, ja fast lieblos von deni Toten, auBerte den Wunsch 
nach neuer Verehelichung. Erotisches Gebaren trat nicht nur in der 
Klinik, sondern auch besonders nach der Entlassung zeitweise starker 
hervor. Durch Erganzung der Anamnese wurde der Nachweis erbracht, 
daB sich bereits vor deni anscheinend auslosenden Shock Zeichen der 
fortschreitenden Defektpsychose bemerkbar gemaeht hatten. Offenbar 
hat also hier die sich schleichend entwickelnde Dementia praecox der 
Frau infolge des erschiitternden Ereignisses der Ermordung des Ehe- 
mannes eine voriibergehende Exacerbation erfahren, ahnlich wie ini 
oben geschilderten Falle VIII, mit einzelnen reaktiv anmutenden 
Ziigen. In gleicher Weise durften wolil die meisten, wenn nicht alle 
Fitlle scheinbar affektiv entstandener Dementia praecox-Falle zu deuten 
sein. Die Schwierigkeit sicherer Feststellung des Sachverhaltes liegt 
nur in der Gewinnung einer wirklich zuverlassigen und erschopfenden 
Vorgeschichte. Von tlen Angehtirigen allein ist nicht immer alles Ge- 
wiinschte zu erfahren. Manchmal halien sie weniger scharf gesehen, 
als andere Personen der Umgebung: haufiger noch wollen sie sich 


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Psychopathien und Defektprozesse. 


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selbst gegeniiber nicht wahr haben, dab der Beginn des Leidens weiter 
zuriickliegt, sondern klammern sich an der Hoffnung fest, es handle 
sich nur um einen momentanen AusfluB ubermaBiger Gemutserschiit- 
terung. 

Fassen wir das Ergebnis unserer Betrachtungen kuiz zusammen, 
so ist einmal zu sagen, daB die scharfe Unterscheidung zwischen Psy¬ 
chopathien und Defektpsychosen heute noch mannigfachen Hinder- 
nissen begegnet. Will man sich vor unangenehmen Tauschungen 
schiitzen, darf man der scheinbaren Abhangigkeit eines psychischen Aus- 
nahmezustandes von einer auBeren Situation oder einem Affekterleb- 
nisse nicht ohne weiteres cine ausschlaggebende Bedeutung beimessen. 
Immer ist die zweite Moglichkeit zu erwagen, daB das reaktive Zu- 
standsbild nur eine als Exacerbation aufzufassende Episode im Verlaufe 
einer schon langer schleichend entwickelten Defektpsychose sich dar- 
stellt. Ferner miissen wir uns vor Augen halten, daB heute unter deni 
allgemeinen Begriffe Psychopathien keineswegs einheitliche Bilder zu- 
sammengefaBt werden; vielmehr bediirfen diese noch sehr der Zerlegung 
nach atiologischen Gesichtspunkten. Nicht jede sogenannte Psycho¬ 
pathic ist sicher angeboren, noch weniger ererbt. Erkrankungen der 
Kindheit und des Foetallebens sind als mogliche Ursachen in Betracht 
zu ziehen. Endlich kennen wir noch keine einwandfreien Beziehungen 
zwischen den einzelnen Psychopathentypen und den einzelnen Formen 
der Psychosen. Da rum ist es verkehrt, wie letzthin Ewald A ) treffend 
ausfuhrte, wenn so verschwommene und weitreichende Begriffe wie 
Schizothymie und Schizoid aufgestellt werden, um zu einer brauch- 
baren Einteilung der Psychopathien zu gelangen. Da ist die wenigstens 
nichts prajudizierende vorlaufige Einteilung rein nach dem Symptomen- 
bilde in Erregbare, Haltlose usw. immer noch besser gewesen, weil sie 
uns nicht auf falsche Fahrten lockt. DaB sie freilich auf die Dauer 
nicht geniigen kann, ergibt sich schon aus der obigen Betrachtung, 
wonach derartige, auBerlich gleiche Bilder sowohl bei konstitutionellen 
Psychopathien als auch bei erworbenen Defektzustanden gefunden 
werden. Hier hat erst noch ein griindliches Studium der betreffenden 
Krankheitsbilder einzusetzen, um Vorarbeiten fiir eine wirklich befrie- 
digende Einteilung und Umgrenzung psychopathischer Symptomen- 
komplexe zu schaffen. 

Es ist sehr wohl denkbar, daB wir mit der Zeit zu einer erheblichen 
Einschrankung des Bereiches echt konstitutioneller Psychopathien ge¬ 
langen werden, und daB sehr viel haufiger, als bisher geahnt, scheinbare 
Psychopathien sich in Residuarzustande friiherer Defektprozesse ver- 
wandeln. Anzustreben ist die Klarlegung der mancherlei Zusammen- 

x ) Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 77. S. 43'J. 


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Raecke: Psychopathien und Defektproze«se. 


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hange mit endokrinen Storungen. Tetanoide und basedowoide Erschei- 
nungen sind ja gerade bei Psychopathien recht haufig, um nur zwei 
Beispiele herauszugreifen. Andererseits sind die Beziehungen psychi- 
scher Eigenschaften zura Korperbau bei Gesunden noch viel zu wenig 
geklart, als dab wir hoffen diirften, hieraus einen brauchbaren Ma(i- 
stab fiir die so verwickelten Verhaltnisse ira psychopathischen Grenz- 
gebiete zu gewinnen. Das Gleiche gilt von alien voreiligen Versuchen 
psychologischer Einteilung 1 )- Nur von einer Verfeinerung unserer kli- 
nischen Untersuchungsmethoden und namentlich der genauesten Be- 
achtung aller feinsten korperlichen Abweichungen 2 ) ist ein differential- 
diagnostischer Fortschritt gegeniiber dera heute noch so verwirrenden 
Durcheinander psychopathischer Zustandsbilder zu erwarten. Der ,,Ura- 
weg iiber die begleitenden Symptome", um mit ReijP) zu reden, wird 
sich vielleicht schlieBlich als der kiirzeste Weg zu einer brauchbaren 
Diagnostik erweisen. 

Anm. bei der Korrektur: Ursteins Arbeit „Katatonie unter dem Bilde der 
H ysterie und Psychopathie“ (Karger 1922) kam mir erst nach AbschluB dieses 
Aufsatzes zu Gesicht. 

') Vgl. W. Jaensch: Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 59, S. 104. 

'■) Vgl. Jacobi: Einseitiger Intentionstremor als einziges Residuum einer 
cerebralen Kinderlfihmung. Psychiatr.-neurol. Wochenschr. 24, S. 47. 

3 ) Uber erbliche Belastung bei Schwerverbrechern. Klin. VVochensclir. 
Jg. I, Nr. 44. 


Gougle 


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Vier Jahre Paralysebehandlung mit Siibersalvarsan und 

Sulfoxylat 


Von 

F. Sioli. 

(Aus der Prov.-Heil- und Pflegeanstalt Bonn [Geheimrat Westphat ).) 

(Eiiigegangcn am 24. Januar 1923.) 

Wer sich in der Literatur iiber den Wert spezifiseher Behandlung der 
Paralyse orientieren will, findet die widersprechendsten Ansichten aus 
alterer und neuerer Zeit. Von neueren scharf ablehnenden Autoren 
kann man als Beispiel aus vielen anfiihren den Derruatologen Zum- 
busch 1 ): ,,daB bei Tabes die Erfolge der antisyphilitischen Behandlung 
beschrankt sind und sie bei Dementia paralytica oft mehr Schaden als 
Nutzen stiftet, kann als bekannt gelten‘‘, oder den Psychiater O. Fincher 2 ) 
„J., Hg, Salvarsan haben trotz iminer wieder in scheinbar neuer Rich- 
tung gemachter Versuche keinen besonderen Wert fiir die Behandlung 
der Paralyse. Es scheint sogar, dab diesen Mitteln nicht einmal ein 
wesentlich prohibitiver Wert zukommt“. Dagegen meint beispielsweise 
Friedlander 6 ): ,,in alien nicht vollig aussichtslosen Fallen von progres- 
siver Paralyse ist eine energische spezifische Behandlung geboten und 
erfolgversprechend' ‘, und eine Reihe auf grbBeres Material aufgebauter 
Arbeiten stiitzen den Eindruck, daB konsequente Salvarsanbehandlung 
bis zu groBeren Gesamtdosen einen der Energie der Behandlung ent- 
sprechenden EinfluB auf den Krankheitsverlauf und auch auf die Serum- 
und Liquorreaktion ausiiben konnen [ Raecke 3 ), Runge 4 ), Scharnke 6 ), 
Friedlander ®), Stern-Piper 7 ) . DaB eine abschlieBende Stellungnahme 
zu der spezifischen Behandlung nicht vorliegt, zeigen die groBen, kri- 
tischen Arbeiten von Plant 6 ), Schacherl 6 ), Weichbrodt 10 ) und die Beur- 
teilung der Behandlung durch Nonne 11 ). Es ist notwendig, diese Un- 
sicherheit iiber den Wert der spezifischen Behandlung im Auge zu be- 
halten, weil sich zurzeit andere Behandlungsmethoden groBerer Be- 
achtung erfreuen, einerseits Applikationsweisen des Salvarsans, die das 
Salvarsan in engere lokale Beriihrung mit dem Zentralnervensystem 
bringen wollen — die endolumbale Behandlung nach Swift-Ellis oder 
nach Gennerich und die Carotideninjektion nach Knauer —, andrerseits 
die unspezifischen Behandlungsmethoden mit Tuberkulin, Natrium 


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nucleinicum, Protein korpern, Vaccine, Malaria- und Recurrens- 
infektionen. 

Diese Behandlungsarten, ihre empirischen und theoretischen Grund- 
lagen, ihre Beziehungen zu den Theorien iiber Pathogenese der Paralyse 
und ihre praktische Verwendung sollen hier nicht verglichen werden mit 
der allgeraeinen spezifischen Behandlung. 

Notwendig aber scheint es mir, die Aufraerksamkeit und Erfahrung 
wach zu halten fiir das noch ungeklarte Problem, wo die Grenzen liegen 
fiir die spezifische Behandlung auf dem iiblichen und bequem anzu- 
wendenden Wege der intravenosen Injektion. 

Als ich nach dem Kriege friiher begonnene Salvarsanbehandlungs- 
versuche wieder aufnahm, hatten sich verschiedene fiir die Frage der 
Paralysebehandlung wichtige Erkenntnisse seit der Vorkriegszeit ent- 
wickelt oder ausgewirkt, als deren hauptsachlichste anzufiihren sind: 

1. Der Spiroehatennachweis im paralytischen Gehirn durch Noguchi 
im Jahre 1913 war 1917 durch Jahnels Arbeiten zu einem leichten ge- 
macht und die Bedeutung noch vorhandener Spirochaten im Gehirn 
anerkannt worden. 

2. Die Verfolgung des Luetikers von der Infektion an durch Biologen, 
Dermatologen und Neurologen hatte fiir die spezifische Behandlung zu 
wichtigen neuen Tatsachen gefiihrt, die sich um die Begriffe Neuro- und 
Meningorezidiv, Gberdosierung und spirillotoxische Wirkung, Provo- 
kation, Unterdosierung und insuffiziente Behandlung ordnen. Die 
Hauptverdienste um die Klarung dieser Fragen kommen Ehrlich. 
Benario, Ravaut, Gennerich , E. Hoffmann, Meirowsky , Hauptmann. 
Dreyfus u. a. zu. Gefahren und Schiiden der Salvarsanbehandlung 
hatten sich damit deutlicher abgezeichnet. Einzelne kleine oder gar 
iiberraschend groBe, dem Korper einverleibte Salvarsandosen konnten 
nicht mehr den Anspruch auf die Bezeichnung Salvarsanbehandlung 
machen; es handelte sich um die Anwendung konsequenter Behandlung. 

3. Neue Salvarsan- bzw. Arsenpraparate wurden durch Kolle ein- 
gefiihrt, Silbersalvarsan, Neosilbersalvarsan und verschiedene Sulf- 
oxylatpraparate, die den Anspruch erheben, mehr entgiftet zu sein und 
vielleicht zur Behandlung am Zentralnervensystem besonders geeignet 
sein konnten. 

Es ergab sich damit die Frage, ob und welcher EinfluB beim para¬ 
lytischen KrankheitsprozeB durch eine Behandlung erzielt wird, die in 
Einzel- und Gesamtdosen weit iiber das iibliche Mali der Salvarsan¬ 
behandlung hinausgeht. 

Die Schwierigkeiten, die sich der Beantwortung solcher Fragen durch 
die Eigenarten des Spontanverlaufs der Paralyse entgegenstellen, sind 
von vielen Autoren hervorgehoben, und ich babe sie betont, als ich 1920 
iiber die ersten 20 behandelten Falle berichtete 12 ). 


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Vier Jahre Paralvsebehandlung mit Silbersalvarsan und Sulfoxylat. 323 


Inzwischen ist die Behandlung weiter fortgefiihrt und ich kann jetzt 
iiher 70 Falle berichten, die ich nachfolgend auffiihre. 

In dem kurzen Bericht iiber den Verlauf jeden Falles bedeutet die in 
Klammern angegebene Einzeldosis die, welche als hochste erreicht und 
mehrfach gegeben wurde. In der tabellarischen Cbersicht der Re- 
aktionen bedeutet die angegebene Dosis die zur Zeit der Untersuchung 
erreichte Gesamtdosis, und zwar ist diese aus den Einzeldosen fort- 
laufend summiert; wenn ein Fall wiederholt zeitlich getrennte Kuren 
raachte, so ist das Ende der Kur durch einen nicht bis in die Nummern- 
saule 1 reichenden Querstrich angedeutet und es beginnt fiir jede neue 
Kur eine neue Summierung der Gesamtdosis. 

1. W., Ludwig, Referendar a. IX, geb. 1879. Lues 1904. Schanker, Ausschlag, 
mit Hg. behandelt. Seit 1917 haufige Zustande von BewuBtlosigkeit. Anstalts- 
aufnahme 25. IV. 1918. Befund: Pupillen: L.-R. 1. erloschen, r. trage, starke 
paralytische Spraehstorung, Gesichtsmuskulatur bebt beim Sprechen, Knie- 
Achillessehnenreflexe erloschen, leichte Ataxie, Analgesie der Unterschenkel. 
Merkfahigkeitsstorung, Euphorie. wechselnd mit Reizbarkeit, auggestibel. Kritik- 
losigkeit, Uberschatzungsideen. In Anstalt haufige epileptiforme und apoplekti- 
forme Anfalle und Anfallsserien. Manchmal Halluzinationen und Erregungs- 
zustiinde mit voriibergehenden Verwirrtheits- und Lahmungszustiinden. Lang- 
samer korperlicher und geistiger Riickgang. Vor Behandlung waren beide Pupillen 
lichtstarr geworden, korperlicher Zustand elend. 

Behandlung: vom 14. I. bis 28. VII. 1919 mit 10,95 Silbersalvarsan (Einzel- 
<losis 0,5) und 12,35 Sulfoxylat Nr. 1495 (Einzeldosis 0,5). >Seit Beginn der Be¬ 
handlung keine Anfalle mehr, nach Ende der Behandlung korperliche Erholung. 
geistig reger, bewegt sich in Gesellschaft gut, Merkfiihigkeit gut, regelt seine ge- 
schaftlichen Angelegenheiten selber mit guter Cbersicht; Sprachstorung gebessert. 
Lichtreaktion beider Pupillen wiedergekehrt. 

Erneute Behandlung von November 1919 an bis Mai 1920 mit kleinen Dosen 
von Silbersalvarsan und .Sulfoxylat, wochentlich einmal, Gesamtdosis 1,2 Si.-Sa., 
6,2 Sulfoxylat (Einzeldosis ca. 0,2). Geht von April 1920 geistig und korperlich 
zuriick. Wird Juni 1920 in Priv r atpflegeanstalt uberfiihrt. Dort weiter langsamer 
Riickgang, seit April 1921 zuweilen wieder paraly tische Anfalle. 1st jetzt (Januar 
1923) vollig dement, ab und zu unrein. 

2. K., Alois, Techniker, geb. 1878. Lues 1906? Erkrankt 1916. Anstaltsauf- 
nahme 26. V. 1916. Befund: Pupillen lichtstarr, Kniesehnenreflexe gesteigert, 
Sprachstorung, Lippenbeben. Erregung, Euphorie, bliihende GroBenideen. Seit 
1918 ruhiges, geordnetes Verhalten, fleiBig beschaftigt, leichte Euphorie mit 
leichtem Schwachsinn, Rest von GroBenideen. sehr beeinfluBbar, Zustand einer 
schlechten Remission. Behandlung vom 14. I. bis 1. III. 1919 mit 6,35 Sulfoxy lat 
Nr. 1495 (Einzeldosis 0,5). Bekam nach jedcr Injektion Schiittelfrost und Fieber, 
Urin stets eiweiBfrei, Behandlung abgebrochen wegen Gesichts- und FuBodem: 
war am Ende der Kur korperlich elend; erholte sich im Laufe von 4 Wochen 
korperlich sehr, blieb geistig im Zustand der schlechten Remission. Von Anfang 
1920 an korperlicher und geistiger Riickgang. Oktober 1920 Status paralyticus und 
Tod am 19. X. 1920. 

3. B., Wilhelm, Kaufmann, geb. 1867. Vater und Bruder des Vaters Trinker. 
Lues 1910 (Schanker. kein Ausschlag). behandelt mit Schmierkur. Prodrome 1914 
mit Diebstahlen. Diimmerzustanden. Trinken; Krankheit als Paralyse erkannt 1917 


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im Gefftngnis, Anstaltsaufnahme 11. I. 1918. Befund: Piipillenreaktion beein- 
trachtigt, Sprachstorung, Kniesehnenreflexe gesteigert, hochgradige Euphorie. 
dauemde uferlo.se GroBenideen, Zustand blieb so bis zur Behandlung. 

Behandlung: vora 23.1. bis 23. VI. 1919 init Gesamtdosis 18 g Sulfoxylat 
Nr. 1495 (Einzeldosis 0,5). Nach der Behandlung tritt ganz langsam im Lauf von 
Monaten auBerordentliche Besserung ein, Korpergewicht: Januar 48 kg. Juni 49 kg. 
Oktober 58 kg. Die GroBenideen verschwinden ganz, vollige Krankheitseinsicht. 
leichte Euphorie, gute Intelligenz mit vorziiglicher Merkfahigkeit. 13. X. bis 
20. XI. 1919 erneute Behandlung mit Gesamtdosis 1,7 Silbersalvarsan (Einzeldosis 
0,3), Behandlung abgebrochen wegen Nekrose infolge Vorbeispritzens, Zustand 
unverandert. 4. X. 1920 bis 10. III. 1921 erneute Behandlung mit 12 g Sulfoxylat. 
7,5 g Nr. 1779 (Einzeldosis0,3) und 4,5 g Nr. 1870 (Einzeldosis0.6). Wahrenddieser 
Kur im Oktober 1920 zweimal 4,0 Urotropin in 40% Losung intravenos. Wiihrend 
dieser Behandlung weitere Besserung, vom Januar 1921 arbeitet B., da er wegen 
Familienverhaltnissen (geschieden) nicht entlassen werden kann, auf dem Anstalts- 
biiro, ist wegen seines FleiBes und seiner erstaunlichen Merkfahigkeit und dadurch 
hervorragender Aktenkenntnis eine besonders geschiitzte Kraft, ist gleichmaBiger. 
nicht euphorischer Stimmung. Keine korperliche Storung auBer etwas schwieriger 
Artikulation bei schweren Testworten. 

Anfang Oktober 1921 erkrankt an schwerem Darmkatarrh, an dem er am 
25. X. 1921 stirbt. 

4. B., Wilhelm, Vorarbeiter, geb. 1880. Krankheitsbeginn einige Monate vor 
Aufnahme mit Aufgeregtheit, Kopfschmerz. Gediichtnisschwiiche. Anstaltsauf¬ 
nahme 10. XII. 1918. Befund: Pupillen eng, lichtstarr, starke Sprachstorung. 
Lippenbeben, Knie-Achillessehnenreflexe fehlen, Romberg, leichte Ataxie, keine 
Hautsensibilitiitsstorungen. Starke Merkfiihigkeitsstorung, hochgradige Demenz. 
GefriiBigkeit, blode Euphorie, zeitweilig tageweise Verwirrtheitszustfinde. 

Behandlung: 4. II. bis 7. III. 1919 mit 4,65 Sulfoxylat (Einzeldosis 0.6), nach 
Injektion stets Schiittelfrost. Im Marz etwas gebessert, von der Frau nach Hause 
geholt. im November wiedergebracht, da er wegen seiner Blodigkeit zu Hause 
lastig war. Befund: erscheint geistig noch etwas bloder und korperlich hinfallig. 
Erneute Behandlung vom 11. XII. 1919 bis 26. II. 1920 mit 4,75 Silbersalvarsan 
(Einzeldosis 0,3) und 0,8 Sulfoxylat; am Ende der Behandlung leichte Salvarsan- 
dermatitis. Zustand danach nicht wesentlich verandert. Vom 13. IX. 1920 bis 
3. I. 1921 erneute Behandlung mit 6.3 g Sulfoxylat Nr. 1776 (Einzeldosis 0,3), in 
dieser Kur im Oktober 1920 einmal 4g Urotropin in 40% Losung intravenos. Im 
Dezember 1920 ein 4tagiger Status paralyticus. Vom 16. II. bis 16. III. 1922 
Behandlung mit 9 x 1,0 Mesinurollosung intramuskular. 

Patient hat von 1921 an korperlich sehr zugenommen, lebt in guter geordneter 
Haltung, leicht euphorisch, dement, mit starker Merkstorung in der Anstalt. 
arbeitet regelmiiBig und zuverlftssig Hausarbeit. 

5. T., Karl, Theatermeister. geb. 1886. Lues 1908 (Schanker), behandelt mit 
10 Hg.-Spritzen. Anstaltsaufnahme 20. I. 1919, einige Wochen vorher Krankheits- 
beginn mit Aufgeregtheit, Verfolgungsideen. Befund: Lippenbeben, Sprach¬ 
storung. Piipillenreaktion ungestort, lehhafte Sehnenreflexe, ataktische Schrift, 
wiiste expansive Erregung, uferlose GroBenideen, nicht fixierbar. 

Behandlung vom 31. I. bis 28. VII. 1919 mit 8,85 Silbersalvarsan (Einzeldosis 
0,5) und 10 g Sulfoxylat Nr. 1495 (Einzeldosis 0,5). Vom Marz 1919 an klinische 
Besserung mit gelegentlichen expansiven Tagen, vom April an sehr gute Remission. 
Krankheitaeinsicht, Urteilsf&higkeit, keine wesentliche Demenz, gute Merkfahig¬ 
keit, feste Gesichtsinnervation, leichte Sprachstorung. Wurde im Mai 1919 ent¬ 
lassen und ambulant behandelt, trat seine alte Stelle als Theatermeister wieder an. 


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Vier Jahre Paralysebehandlung mit Silbersalvarsan und Sulfoxylat. 325 

Erneute Behandlung 19. VII. bis 30. IX. 1920, ambulant mit 5,4 Silbersalvarsan 
(Einzeldosis 0,4), am Ende derselben Herpes zoster. 

Erneute Aufnahme 7. VII. 1921 freiwillig zur Kur, da er in letzter Zeit schlechter 
behalte. Befund: 1. Pupille eingeschrankte Lichtreaktion, Sprachstorung deutlich, 
Merkfahigkeit leicht gestort, Verhalten geordnet, geringere Iniative als friiher, 
miides Wesen, Krankheitsgefiihl, Klagen iiber Mudigkeit. Erneute Behandlung: 
11. VII. bis 29. VIII. 1921 mit 5,75 Silbersalvarsan (Einzeldosis 0,5 und 0,6). Am 
11. VIII. war er bereits wieder auf Wunsch entlassen und ambulant weiterbehandelt 
worden. Am Ende der Behandlung subjektives Wohlbefinden, objektiv: Merk¬ 
fahigkeit gut, Verhalten lebhafter, aber doch wesentlieh stumpfer als 1919. Versah 
weiter seinen Dienst als Theatermeister. Wiederaufnahme 10. VII. 1922, freiwillig. 
nach Angabe der Frau seit Yt Jahr vergeBlich, interesselos, eigensinnig. Befund: 
eigentiimlich aschgraue Hautfarbe (Argyrose?) l ) des Gesichtes, nicht des iibrigen 
Korpers. Gesichtsbewegungen zittrig,, Pupillenreaktion ungestort, Sehnenreflexe 
gesteigert, Sprache hasitierend, miides, schlappes, stumpfes Wesen, Kritiklosigkeit. 
Merkfahigkeit und Kenntnisse nicht wesentlich gestort. 

Erneute Behandlung vom 10. VII. bis 23. X. 1922 mit 2,5 Si.-Sa. (Einzeldosis 
0,4) und 12,5 Neo-Silbersalvarsan (Einzeldosis 0,9). T. wird von September an 
etwas lebhafter, aber doch sehr stumpf, ohne geniigende Initiative, lebt ruhig, ge¬ 
ordnet auf der Abteilung, beschaftigt sich mit Hausarbeit, die er sorgfaltig aus- 
fiihrt. Hat freien Ausgang. Seinem Beruf ist er nicht mehr gewachsen. 

6. B., Gottfried. Kaufmann, geb. 1873. Lues 1913. Erkrankt Ende 1918 
mit unsinnigen Geschaften, Geschenken, Verlobungsabsichten. Anstaltsaufnahme 
16. I. 1919. Pupillendifferenz, L.-R. fehlt, Kniesehnenreflexe abgeschwacht, 
Analgesie der Beine, Sprache ungestort. Hochgradige Erregung. nicht fixierbar, 
GroBenideen, gehobene, gereizte Stimmung, verkennt Umgebung. 

Behandlung vom 4. II. bis 28. VII. 1919 mit 10,2 Sulfoxylat Xr. 1495 (Einzel¬ 
dosis 0,5) und 10,85 Silbersalvarsan (Einzeldosis 0,5). Von Beginn der Behandlung 
an zun&chst erregter, im Mar/, Furunculose, im April ruhiger, aber korperlich hin- 
falliger, im Mai korperliche Erholung, vom Juni an tritt psychische Ordnung ein, 
die langsam fortschreitet; er wird geordnet, keine Intelligenzstorung, aber fehlende 
Krankheitseinsicht, gleichmiiBige Stimmung. Wird 7. VIII. 1919 auf eigenen 
Wunsch entlassen, ubernahm zu Hause sein Geschfift, fiihrte es ordentlich, handelte 
wie friiher auf der Getreideborse. Seit Anfang 1921 wurde er wieder erregt, ver¬ 
geBlich, kam 11. II. 1921 in eine Privatanstalt, war dort dement, korperlich 
schleeht, ging langsam weiter zuriick und starb an Paralyse am 23. XII. 1921. 

7. H., Karl, Handler, geb. 1874. Lues 1899. Prodrome und Krankheitsbeginn 
unbekannt. Anstaltsaufnahme 24. I. 1919. Befund: Pupillen sehr eng, L.-R. fehlt. 
Sprachstorung, Sehnenreflexe o. B. Analgesie der Beine. Euphorisch, Rededrang, 
unsinnige GroBenideen, starke Merkstorung. 

Behandlung : vom 8. II. bis 30. VI. 1919 mit 18 g Sulfoxylat Nr. 1495 (Einzel¬ 
dosis 0,5). Vom Mai an Verfinderung, wird ruhiger, nimmt korperlich zu, korrigiert 
GroBenideen, vom August an geordnet, gute Haltung, beschrankte Krankheits- 
einsicht, beschaftigt sich mit Hausarbeit, ist stumpf, Merkstorung. Erneute Be¬ 
handlung vom 13. X. 1919 bis 5. I. 1920 mit 5,5 Silbersalvarsan (Einzeldosis 0,3), 
danach weitere Besserung, gute Merkfahigkeit, aber sehr stumpfes Wesen. Im 
August 1920 korperlicher Riickgang, Blasse der Haut, neue GroBenideen, starkere 
Merkstorung. Darauf erneut Behandlung vom 16. VIII. bis 20. XII. 1920 mit 
2,8 Silbersalvarsan (Einzeldosis 0,3) und 8,5 Neosilbersalvarsan (Einzeldosis 0,4). 
Wird korperlich riistiger, bleibt geistig stumpf, voll affektlosen GroBenideen, Merk- 

*) Anmerkung bei der Korrektur: Der Fall wird als beginnende Argyrose 
von Dr. Habermann in einer Dermatologischen Zeitschrift veroffentlicht. 


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326 F. Sioli: 

fahigkeit gestort. Geht ini Lauf des Jahres 1921 schubweise remittierend geistig 
und korperlich weiter zuriick; Behandlung im Februar, Marz 1922 mit 10 X 1 ccm 
Mesinurollosung andert niehts. Er lebt jetzt seit einigen Monaten als charakteri- 
stisch paralytisch verfallene Ruine, zeitweilig erregt, zeitweilig unrein im Bett. 

8. B., Josef, Zahnarzt, geb. 1883. Lues 1904, behandelt mit Schmierkur. 
Prodrome 1918. Kopfschmerz, Schlaflosigkeit, deshalb Salvarsankur bei Hautarzt. 
Krankheitsbeginn Januar 1919 mit Erregung, GroBenideen. Anstaltsaufnahme 
8. II. 1919. Befund: Sprachstorung, Lichtreaktion erloschen, Sehnenreflexe ge- 
steigert, unruhig, Auffassung und Merkfiihigkeit gestort, quenglige, stereotype, 
beschr&nkte Redensarten. 

Behandlung vom 11. IV. bis 2. VI. 1919 mit 9,3 Sulfoxylat Nr. 1495 (Einzel- 
dosis 0,5). Vom Mai an Besserung, bekam freien Ausgang. entwich am 2. VI. 1919 
aus der Anstalt. Wie wir horten, lebte er nach ca. 1 Jahr bei Verwandten auf dem 
l^ande. Seitdem haben wir nichts von ihm gehort. 

9. De J., Hermann, Biirgermeister a. D., geb. 1873. Lues 1901 (Schanker, 
Ausschlag), mit Schmierkur behandelt. Prodrome: 1917, erregtes Wesen. Krank¬ 
heitsbeginn Anfang 1917, mit Erregung und GroBenideen, ist seitdem in Militar- 
lazaretten und verschiedenen AnstaJten gewesen. Hiesige Anstaltsaufnahme 
7. II. 1919. Befund: keine Sprachstorung, Lichtreaktion prompt, wenig ausgiebig. 
Sehnenreflexe fehlen, leichte Ataxie, Sensibilitatsstorungen. GroBenideen, Affekt- 
inkontinenz, Wechsel von Euphorie und Weinen, starke Merkfahigkeitsstorung. 
zuweilen Verwirrtheitszustande. 

Behandlung vom 11. IV. bis 30. VII. 1919 mit 10,55 Silbersalvarsan (Einzel- 
dosis 0,5) und 5,9 Sulfoxylat Nr. 1495 (Einzeldosis 0,5). Vom Mai 1919 an Ande- 
rung des psychischen Zustandes, er wird gleichm&Big ruhig, Krankheitseinsicht und 
Kritik, bis zum Juli wird die Merkfiihigkeit gut, das Verhalten vollig geordnet. 
keine Intelligenzdefekte. 1. VIII. 1919 entlassen und ambulant weiterbehandelt 
mit seltenen Sulfoxylatdosen (Gesamtmenge von August bis Oktober 14,9 g). 

Der Patient kam gelegentlich zur Nachuntersuchung. Er lebte von seiner 
Pension, als diese unzulanglich wurde, nahm er eine Stelle als Angestellter im Lohn- 
biiro eines Diisseldorfer Stahlwerks an, die er seit November 1921 erfolgreich ver- 
sieht. Korperlich bestehen die tabisohen Symptome unver&ndert, geistig ist er 
nach Angabe der Frau weniger lebhaft und etwas initiativeloser als vor der Er- 
krankung 1917. 

10. I)., Peter, Elektrotechniker, geb. 1881. Lues 1906; nicht behandelt. 
Prodrome 1918: Nervositat, Anstaltsaufnahme 5. III. 1919. Befund: Lichtreaktion 
triige, Patellarsehnenreflexe gesteigert, ungleich, Hypalgesie der Beine, leichte 
Sprachstorung. Affektinkontinenz zwischen Weinerlichkeit und Euphorie, sugge- 
stibel, Merkfahigkeitsstorung, Ruhmredigkeit, zeitweilig erregt, verwirrt. Be¬ 
handlung vom 11. IV. bis 28. VII. 1919 mit 10,85 Silbersalvarsan (Einzeldosis 0,5) 
und 5,9 Sulfoxylat Nr. 1495 (Einzeldosis 0,5). Wird anfangs erregter. vom Juli an 
geordnet, gute Merkfiihigkeit, wesentlich gebessert, am 25. VIII. 1919 nach Hause 
entlassen, arbeitete in seiner alten Arbeitsstelle. 

Wiederaufnahme 16. VI. 1920, weil bei Arbeit nicht mehr brauchbar, zu Hause 
aufgeregt. Befund: geistig und korperlich zuriickgegangen. Emeute Behandlung 
vom 13 IX. bis 23. XII. 1920 mit 7,5 Sulfoxylat Nr. 1776 (Einzeldosis 0,3), im 
Oktober 1920 einmal 4.0 Urotropin in 40% Liisung intravenos. Geht wfthrend und 
nach der Behandlung langsam geistig und korperlich zuruck. Vom Januar zeit¬ 
weilig paralytisch-ajxiplektiforme Anfiille und Verwirrtheitszustande. Wird zu- 
nehmend dementer, unrein, typisch paralytischer Verfall, Tod 15. IX. 1921 an 
Paralyse. 

11. M., Wilhelm, Feldwebel, geb. 1876. Erkrankt 1916 mit GroBenideen, 
militarischen Verfehlungen. Bestraft. Anstaltsaufnahme 8. V. 1917. Befund: 


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Vier Jahre Paralysebehandlung mit Silbersalvarsan und Sulfoxylat. 327 


Lichtreaktion fehlt, Sprachstorung, Merkstorung, Euphorie, GroBenideen. Ent- 
lassen leicht gebessert 11. XII. 1917. 

Wiederaufnahme 25. IX. 1918. 1st korperlich hinfallig, ganz demente GroBen¬ 
ideen, unrein. Zu Beginn der Behandlung besteht sieches Endstadium. Behand- 
lung 11. IV. bis 7. VII. 1919 mit 14,6 Sulfoxylat Nr. 1495 (Einzeldosis 0,5). Erholt 
sich zunachst korperlich, wird reinlich, bleibt geistig vollig blode, geht vom Juli an 
auch korperlich wieder zuriick. Tod 20. X. 1919 an Paralyse. 

12. St., Heinrich, Kaufmann, geb. 1860. Lues 1906. Seit 1916 wiistes, un- 
sinniges Leben, hat sein ganzes Vermogen durchgebracht, GroBenideen, offent- 
liches Argernis. Anstaltsaufnahme 24. VIII. 1918. Befund: Gesichtsbeben, Sprach- 
storung, bliihende GroBenideen, schamloses Verhalten, mangelhaft orientiert, 
gehobene Stimmung, unrein. Wird von Ende 1918 an stumpfer mit zeitweiliger 
Erregung, korperlich hinfallig. 

Zu Beginn der Behandlung sieches, vollig blodes Endstadium mit Aussicht auf 
baldiges Ende. 

Behandlung vom 11. IV. bis 7. VII. 1919 mit 14 g Sulfoxylat Nr. 1495 (Einzel¬ 
dosis 0,5). Wird zu Anfang der Behandlung korperlich etwas riistiger und geistig 
erregter, dann weiterer Verfall. Tod 20. VIII. 1919 an Paralyse. 

13. R., Friedrich, Buchhalter, geb. 1863. Lues 1913. Krankheitsbeginn 1917 
mit Heiratsplanen, Verlobung, Nachlassigkeiten, Erregung. Anstaltsaufnahme 
11. XI. 1918. Befund: korperlich sehr reduziert, Pupillen eng, lichtstarr, starke 
Sprachstorung, Sehnenreflexe fehlen. Sensibilitatsstorungen, hochgradige Merk¬ 
storung, verblodet, rechnet auch einfachste Rechenaufgaben falsch, sehr stumpf. 

Bei Beginn der Behandlung in siechem Endstadium. Enteritis, baldiger Exitus 
wird erwartet. Behandlung vom 11. IV. bis 10. VI. 1919 mit 9,0 Sulfoxylat Nr. 1495 
(Einzeldosis 0,5). Wahrend der Behandlung etwas korperlich erholt, geht dann 
wieder zuriick und stirbt an Darmkatarrh am 3. X. 1919. 

14. F., Theodor, Schreiner, geb. 1874. Lues 1906. Erkrankt Anfang 1919 mit 
Interesselosigkeit. Anstaltsaufnahme 18. II. 1919. Befund: Lichtreaktion fehlt, 
Patellarreflexe gesteigert, Sprachstorung. Stuporos, manchmal unruhig, un- 
orientiert. 

Behandelt vom 11. IV. bis 2. VI. 1919 mit 10,2 Sulfoxylat Nr. 1495 (Einzel¬ 
dosis 0,5). 24. V. Herpes zoster, danach noch 2 Einspritzungen. Vom Mai an 
geistig verandert, spricht, verlangt nach Hause, etwas regsamer. Am 2. VI. 1919 
entlas8en. Blieb zu Hause apathisch, arbeitet kurze Zeiten wieder als Schreiner. 
Wiederaufnahme 13. V. 1921. Befund: korperlich wie friiher, geistig gutmiitig 
blode, kolossale Merkstorung, unrein. Geht zuriick. vom Mai 1922 rapide, Decu¬ 
bitus. Tod 31. V. 1922 an Paralyse. 

15. B., Wilhelm, Kaufmann, geb. 1867. Lues 1906. Krankheitsbeginn Friih- 
jahr 1917 mit Schlafsucht, VergeBlichkeit, Unruhe. Anstaltsaufnahme 12. I. 1918. 
Befund: Lichtreaktion fehlt, Sehnenreflexe gesteigert, starke Sprachstorung. 
Stumpf, dement, unorientiert, Merkfahigkeitsstdrung, mitunter einige Paraphasien. 
1918 mehrere paralytische Anfalle, im AnschluB an Anfalle Anfang April 1919 sen- 
sorische Aphasie. 

Behandlung vom 11. IV. bie 7. VII. 1919 mit 15,1 g Sulfoxylat Nr. 1495 
(Einzeldosis 0,5), danach korperliche Zunahme, keine Anfalle mehr, bleibt stumpf, 
dement und sensorisch aphasisch in stationarem Zustand. Vom Juli 1921 an 
wieder vereinzelt Anfalle, korperlicher Riickgang, Siechtum. Tod am 3. XI. 1922 
an Paralyse. 

16. F., Anton, Arbeiter, geb. 1877. Prodrome 1914 mit nervosen Beschwerden. 
Krankheitsbeginn Miirz 1919 mit Schlafsucht, Schwindel, Interesselosigkeit. An¬ 
staltsaufnahme 19. V. 1919. Befund: Lichtreaktion fehlt, Sehnenreflexe fehlen, 
Sprachstorung. Ganz stumpf dement, korperlich hinfallig. 


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Behandlung vom 14. VI. bis 5. VIII. 1919 mit 7,05 Silbersalvarsan (Einzel¬ 
dosis 0,5), dazu einmal 0,5 Natr. nuclein intravenos, Temperatur darauf 39,0. 
Wird korperlich mobil, geistig regsamer, aber sehr dement. Wird von der Frau 
nach Hause geholt und verschwindet aus der Beobachtung. 

17. B., Jakob, Lagerverwalter, geb. 1882. Lues 1903, nicht behandelt. Pro¬ 
drome seit 1917 mit Nervosit&t. Krankheitsbeginn Juni 1919 mit GroBenideen, 
sinnlosen Einkiiufen. Anstaltsaufnahme 10. VI. 1919. Pupillen different, ver- 
zogen, lichtstarr, Patellarreflexe different, Sprachstorung, unruliig, euphorisch. 
Umschlag in Weinen, vielerlei GroBenideen, Merkfahigkeitsstorung. 

Behandlung vom 23. VI. bis 4. IX. 1919 mit 7,85 Silbersalvarsan (Einzeldosis 
0,5), 28. VIII. beginnt Salvarsandermatitis, es wird darauf noch 2mal Si.-Sa. ge- 
spritzt und es entwickelt sich eine allgemeine, nassende Dermatitis des ganzen 
Korpers, die im Lauf von ca. 6 Wochen heilte. Von Anfang August an war Patient 
ruhig geworden, bekam Kranklieitseinsicht, hatte gute Erinnerung an verflossene 
Krankheitszeit, blieb zun&chst noch euphorisch, vomOktober an war er gleichmaBig. 
entsprechende Stimmung, hatte gute Merk- und Urteilsffihigkeit, keine Sprach¬ 
storung. Wurde 22. X. 1919 in guter Remission entlassen. Bekam im November 
1919 nochmal ambulant 1,6 Sulfoxylat ohne Ruckkehr von Exanthem. Seitdem 
arbeitet er bis jetzt als Lagerverwalter und versieht seine Stelle gut (letzte Nach- 
richt Januar 1923). 

18. C., Karl, Polsterer, geb. 1878. Lues 1894, Schmierkur. 1916 Hysterische (?) 
Anfalle. Juni 1919 Krankheitsbeginn mit Verwirrtheit, Erregung, GroBenideen. 
Anstaltsaufnahme 14. VI. 1919. Befund: Pupillen ungleich, eng, L.-R. unaus- 
giebig, Patellarreflexe different, gesteigert, Sprachstorung. Erregt, orientiert, 
euphorisch, voll GroBenideen. Behandlung: 23. VI. bis 7. VIII. 1919 mit 3,75 
Silbersalvarsan (Einzeldosis 0,5). Bleibt wahrend der Behandlung in gleichem 
expansiven Erregungszustand, geht korperlich zuriick und stirbt 14. VIII. 1919 an 
Paralyse. 

19. K., Kaspar, Restaurateur, geb. 1868. Lues 1890 beim Militar, im Lazarett 
behandelt. Kranklieitsbeginn: Anfang 1918 mit Depression, dann Verschwendung 
und GroBenideen. Anstaltsaufnahme 20. II. 1919. Befund: Pupillen eng, 1. licht¬ 
starr, r. geringe prompte Reaktion. Starke Sprachstorung, Sehnenreflexe fehlen. 
Romberg, Ataxie, Sensibilitatsstorungen. Unorientiert, leicht agitiert, kolossale 
GroBenideen, Euphorie, wird zusehends dementer und korperlich elender. Be¬ 
handlung: vom 14. VII. bis 20. XI. 1919 mit 7,15 Silbersalvarsan (Einzeldosis erst 
0,5, dann 0,3) und 1,6 Sulfoxylat Nr. 1495 (Einzeldosis 0.4). November Salvarsan- 
exanthem am ganzen Korper. 

Nach Behandlung korperlich etwas erholter, bleibt blode, euphorisch, stereotype 
schwachsinnige GroBenideen. Vom November 1921 wird er korperlich hinfiillig und 
geht pldtzlich zuriick. Stirbt 7. XII. 1921. 

20. F., Johann, Maurer, geb. 1885. Anstaltsaufnahme 13. VIII. 1919. Befund: 
Pupillen I. > r., Lichtreaktion r. erloschen, 1. triige, gering. Keine Sprachstorung. 
Euphorie, Rededrang, GroBenideen, sehr suggestibel, Merkfahigkeitsstorung. 

Behandlung: 8. IX. bis 23. XI. 1919 mit 5g Silbersalvarsan (Einzeldosis 0,5). 
Vom Oktober an deutliche Besserung. 2. X. Salvarsanexanthem, darauf Weiter- 
behandlung mit 4g Sulfoxylat Nr. 1495 (Einzeldosis 0,4) bis 4. XII. 1919. Vom 
November an auBerordentlich gute Remission, Krankheitseinsicht, voile Erinne¬ 
rung, sehr gute Merkfahigkeit und Kritik. Am 14. XI. 1919 arbeitsfahig entlassen 
und ambulant weiterbehandelt, mit seltener werdenden Sulfoxylatdosen, ungefahr 
monatlich einmal, kommt unregelmaBiger und blieb sclilieBlich weg. 

Wiederaufnahme 27. V. 1921 wegen Erregung und Verschwendung. Befund: 
korperlich wie friiher, geistig: euphorisch, quenglig, plotzlicher Stimmungswechsel, 


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Yier Jahre Paralyse behandlung mit Silbersalvarsan uud Sulfoxylat. 329 

kritiklos, Merkfahigkeit gestort. Erneute Behandlung vom 30. V. bis 11. VII. 1921 
mit 17,2 Sulfoxylat Nr. 1917 (Einzeldosis bis 1,8), dazu ini Juni 3mal eine Milch- 
spritze, danach Fieber, lmal 39, lmal 39,9. Vom 19. VII. bis 30. XI. 1921 mit 
16,85 Silbersalvarsan (Einzeldosis 0,6). Vom Juli 1921 wird er ruhig, verstandig, 
einsichtig, und am 13. VIII. 1921 arbeitsfahig nach Hause entlassen, zunachst 
ambulant weiterbehandelt. Er arbeitet dauemd im Beruf und ist voll bezahlter 
Arbeiter. Letzte Vorstellung Januar 1923. 

21. H., Kaufmann, geb. 1885. Lues 1911, mit Hg.-Spritzen behandelt. Pro¬ 
drome 1918 mit Schwindel und Gedfichtnisschwiiche. Erkrankt September 1919. 
Anstaltsaufnahme 27. IX. 1919. Lichtreaktion spurwei.se, trfige, starke Sprach- 
storung, Hypaigesie, Merkf&higkeitsstorung, faselige Urteilsschw&che, Renom- 
misterei, starke Schriftstorung. 

Behandlung vojn 2. X. bis 1. XII. 1919 mit 6,35 Silbersalvarsan (Einzeldosis 
0,3 bis 0,5), dann bis 8. V. 1920 mit 12,0 Sulfoxylat Nr. 1495 (Einzeldosis 0,4). 

Besserte sich vom November 1919 sehr wesentlich, wurde am 1. III. 1920 ent¬ 
lassen, kam noch bis Mai zu ambulanter Behandlung, seitdem liegt keine Nach- 
richt iiber ihn vor. 

22. R., Max, Oberlehrer, geb. 1868. Lues 1906, behandelt mit vorzeitig ab- 
gebrochener Hg.-Kur. 1916 nach korperlicher Uberanstrengung Herzbeschwerden, 
damals Salvarsankur. Krankheitsbeginn Marz 1919, Aufnahme in Privatanstalt, 
erregt, verwirrt, angstlich, Pupillenstarre, Sprachstorung, Merkstorung. Be¬ 
handlung vom 22. X. 1919 bis 19. I. 1920 mit 5,6 Silbersalvarsan (Einzeldosis 0,3), 
dann bis 20. IX. 1920 mit 6,7 Sulfoxylat Nr. 1495 (Einzeldosis 0,4). War im Januar 
1920 aus der Privatanstalt entlassen, lebte zu Hause, geordnet, aber geistig par- 
lytisch schwachsinnig. Wurde vom Oktober 1920 an depressiv. Dezember 192(1 
Erregungszustand, deshalb wieder in Privatanstalt, dort einige Monate, emeut mit 
Si.-Sa. behandelt, Lebte dann in einer Pension in suddeutscher Stadt und starb 
am 7. I. 1923. 

23. P., Josef, Maurer, geb. 1879. Lues 1912, Salvarsankur; 1914 erneute Salvar¬ 
sankur. 1915 und 1916 beim Militar erneute Kuren (2,55 Neosalvarsan und 10 Hg.- 
Spritzen). 1919 schwerer Diebstahl, in Untersuchungshaft Paralyse erkannt, An¬ 
staltsaufnahme 28. I. 1920. Befund: Lichtreaktion r. fehlend, 1. gering, prompt. 
Sehnenreflexe lebhaft gesteigert, rechts FuBklonus, Babinski, starke Sprach¬ 
storung. Euphorie, sinnlose GroBenideen, starke Merkfahigkeitsstorung. 

Behandlung vom 23. II. bis 3. V. 1920 mit 5,4 Silbersalvarsan (Einzeldosis 
0,3 bis 0,5), vom 10. V. bis 15. VII. 1920 mit 6,8 Sulfoxylat Nr. 1495 (Einzeldosis 
0,4). Vom April 1920 an erhebliche Besserung, Sprache gebessert, Lichtreaktion 
beiderseits prompt und ausgiebig, Verhalten geordnet, korrigiert die GroBen¬ 
ideen, leidliche Merkfahigkeit ; im Juni und Juli mehrfaeh tageweise wieder alte 
GroBenideen. Ende Juli Herpes zoster im linken 1. Trigeminusast, nach 2 Tagen 
streng auf dieses Gebiet beschrankt, erysipelartige Dermatitis mit leichtem Fieber, 
die bald nassend wird und im Lauf von ca. 6 Wochen heilt unter Hinterlassung 
einer keloidartigen vollig depigmentierten Hautveranderung (diese wird im Lauf 
von 2 Jahren diimier und die Haut pigmentiert sich wieder inselformig, die Her- 
stellung geht jetzt noch voran). Seit Juli 1920 ist Patient im groBen ganzen gleich: 
ein eigentiimlicher, fleiBiger etwas renommistischer Mensch, der sich fiir sich halt, 
Botengange in die Stadt besorgt, zuverlassig, gute Merkfahigkeit, leicht reizbar 
und iibelnehmerisch. Mehrfaeh schwankte der Ernahrung.szustand und das geistige 
Wesen wurde fahriger; Pat. kam aber bisher teils spontan, teils unter Behandlung 
iminer wieder in den Zustand vom Juli 1920. Erneute Behandlung vom 20.1. bis 
7. IV. 1921 mit 10,4 g Sulfoxylat Nr. 1870 (Einzeldosis 1,0), danach kurz dauemder 
Herpes an alter Stelle. 11. XII. 1921 bekam er plotzlich iiber Nacht totale rechts- 

Archiv ftlr Psychiatric. BU. 68. 22 


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seitige Oculomotoriuslfihmung, darauf erneute Behandlung voni 12. XII. 1921 bis 
2. III. 1922 mit 7,35 Silbersalvarsan (Einzeldosis 0,3 [0,4 machte Schwindel]). 
Vom Januar 1922 an Besserung, im Februar Verschwdnden der Oculomotorius- 
lahmung. 6. III. bis 6. IV. 1922 Behandlung mit lOmal 1 ccm Mesinurol. 

24. O., Otto, Kanzleibeamter, geb. 1880. Lues 1899, nicht behandelt. Seit 
August 1918 geistig ver&ndert, in Lazarettbehandlung, 15.1. 1919 wieder im 
Militarlazarett aufgenommen wegen nervoser Beschwerden, dann schnell voriiber- 
gehender Schlaganfall. Anstaltsaufnahme 18. XII. 1919. Befund: vorgeschrittene 
Taboparalyse mit bloder Euphorie, Demenz, starker Sprachstorung. Mehrere 
paralytische Anfalle. Vor Behandlung sehr vorgeschrittener korperlich und geistig 
hinfalliger Zustand. Behandlung: 23.11. bis 6. V. 1920 mit 5,2 Silbersalvarsan 
(Einzeldosis 0,3) vom 10. V. bis 20. V. mit 1,6 Sulfoxylat Xr. 1495 (Einzeldosis 0.4). 
Darauf am 25. V. delirante Unruhe, leichtes Fieber, heiCes Odem der Unterschenkel. 
Geistig war eine gewisse Besserung eingetreten, aber Pat. im Zustand stumpf 
euphorischer Demenz geblieben. Vom Juli 1920 an ging er korperlich und geistig 
langsam zuriick, hatte zuweilen paralytische Anfalle, wurde bis zum Beginn des 
Jahres 1921 kolossal mager, vollig hilflos, lallte nur noch, lebte im Zustand mon- 
stroser korperlicher und geistiger Reduktion, wie ein Affe aussehend, erstaunlich 
lange, monatelang wurde sein Tod stets am nachsten Tage erwartet. Endlich starb 
er am 21. VIII. 1922. 

25. B., Valentin, Farbermeister, geb. 1875. Lues 1910. Behandelt 1910 mit 
Salvarsan und Hg.-Spritzen, 1912 8 .Salvarsan- und 12 Hg.-Spritzen. Blut wurde 
angeblich jedes Jahr untersucht, war stets negativ. 

Anstaltsaufnahme 20. III. 1920. Befund: Pupillen different, lichtstarr, Selineu- 
reflexe fehlen, Romberg, Ataxie, alle Bewegungen zittrig, Sensibilitatsstorungen, 
starke Sprachstorung. Stumpfe Demenz, starke Merkfiihigkeitsstorung. Tage- 
weise verwirrt. 

Behandlung 31. III. bis 4. VII. 1920 mit 7,3 Silbersalvarsan (Einzeldosis 0,3 bis 
0,5). Vom 8. VII. bis 16. VIII. 1920 mit 4,8 Sulfoxylat Nr. 1495 (Einzeldosis 0.4). 
Miirz und April 1920 geistiger und korperlicher Riickgang, wurde unrein, von Juli 
an korperliche, vom August an geistige Besserung. Vom Oktober 1920 an geordnet, 
freundlich, gute Merkfahigkeit, keine Krankheitseinsicht. 13. XII. 1920 entlassen, 
arbeitete in seiner alten Stelle. Wiederaufnahme 21. VI. 1921, da er Dummheiten 
gemacht hatte. Befund: korperlich reduziert, geistig dement, erregt, euphorisch. 
Ging geistig und korperlich zuriick. Tod 17. XI. 1922. 

26. M., Frau, geb. 1882. Anstaltsaufnahme 23. III. 1920. Befund: lichtstarre 
Pupillen, differentegesteigerteSelmenreflexe, starke Sprachstorung. blode Euphorie* 
schwachsinnige GroBenideen. 

Behandlung vom 1. IV. bis 27. V. 1920 mit 3,7 Silbersalvarsan (Einzeldosis 0,3). 
Geht progredient in der Behandlung zuriick, daher Behandlung abgebroehen; geht 
nach Abbruch der Behandlung weiter paralytisch zuriick und stirbt am 8. VII. 
1920. 

27. Dr. W., Ludwig, Ingenieur, geb. 1882. Lues 1908, behandelt mit aus- 
giebiger Schmierkur, 1909 bis 1911 4 weitere Hg.-Kuren. Hatte 1916 und 1918 im 
Internierungslager je einen mehrtagigen „nervosen“ Erregungszustand. 13. IV r . 
1920 plotzlicher Erregungszustand und Anstaltsaufnahme. Lichtstarre Pupillen, 
kolossale Erregung, Spannungszustiinde, Verbigerieren, Abstinieren, so daB 
Sondenernahrung notig wird, greift gefiihrlich an, beruhigt sich von Mai an. 

Behandlung vom 3. V. 1920 mit Silbersalvarsan, wire! 27. V. entlassen und 
komrnt ambulant, aber nicht regelmaBig zur Weiterbehandlupg. 21. VIII. 1920 
bekommt er nach Lumbalpunktion Abducenslahmung, die nach 6 Wochen vergeht, 
komrnt nun zuniichst regelmaBig zur Behandlung bis Dezember 1920. Hat bis 
dahin 5,4 Silbersalvarsan, 1,2 Xeosilbersalvarsan, 6,0 Sulfoxylat Nr. 1870. Er 


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Tier .lahre Paralysebehandlung niit Silbersalvarsan und Sulfoxylat. 331 


vertrug Silbersalvarsan nur bis zu Einzeldosen von 0,3, hdhere machten Kopf- 
schmerzen, zuweilen Fieber. 

Ubernahm wieder Ingenieurstclle, machte vom 15. IX. 1921 bis 28. I. 1922 
nochmal ambulant Kur mit 5,4 Silbersalvarsan, vertrug da Einzeldosis 0,5. Ar- 
beitet als Ingenieur in verantwortungsreicher Stellung. 

28. H., Franz, Maurerpolier, geb. 1872. Krankheitsbeginn Mai 1920. An¬ 
staltsaufnahme 2. VI. 1920. Behind: Pupillen eng, verzogen, lichtstarr. Sehnen- 
reflexe fehlen, Sensibilitiitsstorung, Sprachstorung, Euphorie, bliihende GroBen- 
ideen. Merkf&higkeitsstdrung. Behandlung vom 10. VI. bis 26. VIII. 1920 mit 
6,25 Silbersalvarsan (Einzeldosis 0,3), geht zuniichst korperlich zuriick, erholt sich 
dann etwas, wird ruhig, schrankt seine GroBenideen ein, bleibt euphorisch dement. 
14. II. 1921 ungeheilt entlassen. Wiederaufnahine 27. V. 1921, geht progredient 
zuriick. 18. IX. 1921 Tod. 

29. U., Eduard, Bankbeamter, geb. 1883. Lues 1905, behandelt mit Schmier- 
kur. Seit 1916 nervose Beschwerden, in Gefangenschaft 1919 Zittern, Gediichtnis- 
schwache, Schlaflosigkeit. Kommt Juli 1920 aus Gefangenschaft zu ambulanter 
Behandlung. Befund: Pupillen lichtstarr, Sprachstorung, Beben der Gesichts- 
muskulatur, Aortenklappenfehler, geistig geordnet, Krankheitsgefiihl, leidliche 
Merkfahigkeit, subjektive Gedachtnisschwiiche, nervose Klagen, Arbeitsunfahig- 
keit. Behandlung: 4. VII. bis 30. IX. mit 7,1 Silbersalvarsan (Einzeldosis 0,3), 
4. X. bis 25. XI. mit 6,0 Neosilbersalvarsan (Einzeldosis 0,4), 4. XI. bis 16. XII. 1920 
mit 11,6 Sulfoxylat Nr. 1870 und 4,0 Sulfoxylat Nr. 1882 (Einzeldosis 2,0). Vom 
September an subjektive Besserung. Nimmt 1. I. 1921 seinen Dienst als gehobener 
Bankbeamter wieder auf und versieht ihn jetzt noch. Vom August bis Novermber 
1922 machte er wieder eine ambulante Behandlung durch mit 9,3 Neosilbersalvarsan 
(Einzeldosis 0,9), da er seit Juli 1922 wieder Gedachtnisschwiiche und Reizbarkeit 
fiihlte. Nach der Behandlung subjektive Besserung. Der korperliche und geistige 
Befund war wie friiher, nur bestand blasse Hautfarbe. 

30. I)., Peter, Arbeiter, geb. 1883. Lues ca. 1900, behandelt angeblicli mit zahl- 
reichen Kuren, letzte Schmierkur einige VVochen vor Aufnahme. Krankheits¬ 
beginn Januar 1919 durch Wesensveranderung, Verwirrtheitszustande, Stim- 
mungswechsel. Anstaltsaufnahme 21. VIII. 1920. Befund: vorgeschrittener Para- 
lytiker mit sehr starker Sprachstorung, Sensibilitatsstorungen, Unsicherheit auf den 
Beinen, L.-R. spurweise, Sehnenreflexe schwach, Stimmung blode euphorisch, 
hochgradige Demenz und Merkfiihigkeitsstorung. Verwirrtheitszustande. Be¬ 
handlung : vom 30. IX. bis 24. II. 1921 mit 30 g Sulfoxylat Nr. 1870 (Einzeldosis 
bis 2,0). Andert sich wahrend der Behandlung nicht wesentlich und geht nach der- 
selben langsam zuriick. Tod 12. XI. 1921. 

31. J., Peter, Bauarbeiter, geb. 1891. Ging wegen Kopfschmerzen und 
„Nierenkrankheit“ 1918 zum Arzt, der alte Lues II feststellte, machte 1918, 1919 
und 1920 je 2 Kuren mit Salvarsan und Quecksilber. Anstaltsaufnahme 21. IX. 
1920. Befund: ziemlich vorgeschrittener Paralytiker mit trager Pupillenreaktion, 
gesteigerten Sehnenreflexen, starker Sprachstorung, starker Merkstorung. stumpf, 
euphorisch, dement. 

Behandlung: vom 30. IX. 1920 bis 24. III. 1921 mit 30g Sulfoxylat Nr. 1870 
(Einzeldosis bis 2,0). Wird erst korperlich und geistig etwas frischer, bleibt aber 
dement. Vom Oktober 1921 an geht er geistig und korperlich zuriick. Ende 1922 
starkerer Riickgang. Lebt blode und of ter unrein. 

32. F., Heinrich, Schlosser, geb. 1883. Anstaltsaufnahme 7. V. 1920. Befund: 
Pupillen lichtstarr, starke Sprachstorung. Dauernde lebhafte Unruhe, Euphorie, 
bliihende GroBenideen. Anfang September 1920 plotzlich rechtsseitige Korper- 
lfthmung, Sprachverlust, Benommenheit, epileptiforme Anfalle, nach einigen 
Tagen Wiederkehr des BewuBtseins und unartikulierte Sprache, IAhmung ge- 

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liessert. In diesem Zustand Behandlung vom 30. XI. bis 3. XII. 1920 nut 
13.6 g Sulfoxylat Xr. 1870 (Einzeldosis 1.0 bis 2,0). Im Oktober Besserung der 
Sprache, Vorbeigehen der Lahmung, dann zunehmende Hinfalligkeit. 30. XI. para- 
lytische Anffille, danach Hemiplegie ohne Sprachverlust, dann spastische L&hmung 
beider Beine, stirbt 10. XII. 1920. Sektionsbefund: iiltere Pachymeningitis hae- 
morrhagica interna mit faustgroBem frischen Haematoni. 

33. K., Anton, Ingenieur, geb. 1884. Lues 1903, angeblich oft mit Hg. be- 
handelt, 1912 vorubergehende Augenmuskellahmung. Krankheitsbeginn einige 
Zeit vor Aufnahme. Anstaltsaufnahme 25. LX. 1920. Befund: Pupillen different. 
L.-R. 1. —, r. Spur. Sehnenreflexe lebhaft. Sprachstorung, liirmende Euphorie, 
Urteilsschw&che, Renommisterei, fragliche GroBenideen. Wiederholt paralytische 
Anfalle, nach den Anfallen Erbrechen. 

Behandlung vom 30. LX. bis 16. XII. 1920 mit 19 g Sulfoxylat Xr. 1870 (Einzel- 
dosis 1,0 bis 2,0 g). In Behandlung zunachst ruhiger, aber kritiklos, euphorisch 
gehoben. 13. XII. 1920 plotzlich paralytischer Anfall, danach protrahierte Be- 
nommenheit und Tod an Pneumonie am 23. XII. 1920. 

34. R., Hans, Geschftftsfiihrer, geb. 1886. Lues und mehrere Quecksill)erkuren 
angegeben. Seit 1914 sehr zerfahren, reizbar. Anstaltsaufnahme 15. VII. 1920. 
Pupillen extrem weit, lichtstarr, Sprachstorung, Euphorie, GroBenideen, Unruhe. 

Behandlung vom 4. X. 1920 bis 21.11.1921 mit 30 g Sulfoxylat Xr. 1870 
(Einzeldosis 0,6 bis 2,0). Vom Januar ruhiger, vom Mai an ruhig, stumpf, be- 
schfiftigt sich. Am 2. VII. beginnt Status paralyticus. Tod 23. VII. 1921. 

35. H., Friedrich, Dreher, geb. 1876. Lues 1898, Quecksilberkur. 1919 einige 
Tage in psychiatrischer Klinik. Anstaltsaufnahme 3. IV. 1920. Befund: Sprach¬ 
storung, Pupillenstorung, Gesichtsbeben, Sehnenreflexe different, gesteigert, Ba- 
binski. Affektlos, stumpf, kritiklos. 2. VIII. entlassen. Wiederaufnahme 7. IX. 
1920, manisch erregt, GroBenideen. 

Behandlung vom 4. X. 1920 bis 10. II. 1921 mit 27,6 Sulfoxylat Xr. 1870 
(Einzeldosis 0,8 bis 2,0). Wird ruhig, beschaftigt sich etwas, am 28. IV. 1921 ent¬ 
lassen. Arbeitet in seinem Beruf. Wiederaufnahme 11. IX. 1922 nach Anfiillen. 
War nun stumpf, dement, erschwerte Auffassung. Vom 8. XI. an Status paralyticus 
und Tod am 11. XI. 1922. 

36. H., Karl, Monteur, geb. 1882. 1903 Sehanker, Geschwiir am After, be- 
handelt mit 1 Schmierkur. Juli 1920 aus von Engliindem verhiingter Gefangnis- 
strafe entlassen, saB seitdem traurig zu Hause, glaubte, er miisse sterben. An¬ 
staltsaufnahme: 21. IX. 1920. Befund: Lichtreaktion der Pupillen eingeschrankt, 
Sprachstorung, gesteigerte Sehnenreflexe, Babinski, Klonus, depressive und hypo- 
chondrische Vorstellungen. Merkfahigkeitsstorung. 

Behandlung vom 4. X. 1920 bis 13. I. 1921 mit 19,4 Sulfoxylat Xr. 1870 
(Einzeldosis 2,0). Vom Xovember an Besserung der Depression, Merkftihigkeit 
noch gestort. Im Dezember bedeutende Besserung. Stimmung gut, Merkfahigkeit 
sehr gut. Krankheitseinsicht, keine Urteilsschwache. Sehnenreflex gesteigert, 
keine pathologischen Reflexe. 8. I. 1921 arbeitsfahig entlassen. 

37. Sch., Heinrich, Architekt, geb. 1869. Lues 1908. Seit September 1919 
abwechselnd deprimiert oder renommistisch. Anstaltsaufnahme 5. X. 1920. 
Befund: Pupillen sehr eng, absolute Pupillenstarre, Herzklappenfehler, Sehnen¬ 
reflexe fehlen, leichte Atoxie, Sensibilitatsstorungen. Sprachstorung. Stimmung 
traurig, Selbstvorwurfe, Merkffthigkeitsstorung. Bei Aufnahme bestand groBer 
incidierter Kinnfurunkel, dessen Heilung bis Oktober dauerte. Behandlung vom 
11. X. bis 3. I. 1921 mit 13.4 Xeosilbersalvarsan (Einzeldosis 0,4), vom 13. I. bis 
25. VII. 1921 mit 13,2 Sulfoxylat Xr. 1870 (Einzeldosis 0,6) und 11,4 Sulfoxylat 
Xr. 1882 (Einzeldosis 1,2); mit den letzten 4 Injektionen dieser Kur wurden je 
lOccm Milch subcutan gegeben, danach keine Temperatursteigerung iiber 37,1. 


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Vier Jahre Paralysebehandlung mit Silbersalvarsan und Sulfoxylat. 333 


Vom Januar 1921 an langsame Besserung des depressiven Zustandes, bleibt etwas 
gehemmt, ratios, vom Februar an we iter gebessert, arbeitet er schriftliche Arbeiten 
auf dem Anstaltsbureau, ist auBerordentlich fleiBig, gewissenhaft, langsam, gute 
Merk- und Urteilsfahigkeit, keine Spraehstorung. Bleibt auffallig still und schiich- 
tern; gegen Ende des Jahres wird er etwas lebhafter und unauffiilliger, fleiBiger Ar- 
beiter. Vom Mai 1922 wird er stiller und lftBt in der Arbeit nach. Reaktionen wieder 
starker positiv. 

Emeute Behandlung vom 29. V. bis 21. VIII. 1922 mit 6,1 Silbersalvarsan und 
2,4 Xeosibersalvarsan. Wahrend der Behandlung wird er faselig, euphorisch, im 
Juli macht er Durcheinander i in Bureau, wird vollig arbeitsunbrauchbar, komisch- 
manisch erregt, schwachsinnige GroBenideen. Rededrang, nimmt korperlich ab. 
Vom Januar 1923 ruhiger, tritt jetzt wenig in Erscheinung, hat sich korperlich 
wieder etwas erholt. 

38. D., Adolf, Verputzer, geb. 1873. 1894 geschlechtskrank. Marz 1920 in 
psychiatrische Klinik wegen Taboparalyse. Anstaltsaufnahme 23. VII. 1920. 
Befund: Pupillen lichtstarr, Nehnenreflexe fehlen, Sensibilit&tsstorungen, Sprach- 
storung, euphorisch dement, von August an GroBenideen, zeitweilig unrein mit Kot. 

Behandlung vom 7. X. 1920 bis 10. II. 1921 mit 30,0 Sulfoxylat 1870 (Einzel- 
dosis 0,6 bis 2,0). Einige VVochen nach Beginn der Behandlung Besserung, die 
schnell fortschreitet, arbeitet als Feldarbeiter. ist geordnet, am Ende der Behand¬ 
lung mehrere Tage matt, leicht dosig. Vom Marz 1921 an mehrfach je 4 Wochen 
nach Hause beurlaubt, arbeitete zu Hause. Seit Juli 1921 wieder in der Anstalt, da 
zu Hause stumpfsinnig. Ist geordnet, aber auffallig stumpfsinnig. Februar 1922 
Behandlung mit Mesinurol (10 x 1,0 ccm). Geht von April 1922 korperlich und 
geistig zuriick, zeitweilig erregt, lebt unsauber in der Anstalt. 

39. A., Frau, geb. 1878. 1899 Lues. Anstaltsaufnahme 7. X. 1920. Pupillen 
lichtstarr, Spraehstorung, Euphorie, Unruhe, GroBenideen, Merkffthigkeitsstorung. 

Behandlung vom 18. X. 1920 bis 7. II. 1921 mit 11,5 Xeosilbersalvarsan 
(Einzeldosis 0,4). Von Dezember 1920 an Besserung, die 1921 wesentlich fort¬ 
schreitet. 23. III. 1921 in guter Remission nach Hause entlassen. 

40. S., Frau, geb. 1885. Anstaltsaufnahme 30. X. 1920. Apathisch dement. 
Behandlung vom 22. XI. 1920 bis 3. II. 1921 mit 7,7 Xeosilbersalvarsan (Einzel¬ 
dosis 0,4), wird geistig regsam. Am 8. III. 1921 in schlechter Remission nach Hause 
entlassen. Wiederaufnahme 11. X. 1922. Hat Sinnest&uschungen, ist erregt, 
korperlich elend. Seitdem dauemd erregt in der Anstalt. 

41. B., Robert, Bureaugehilfe, geb. 1878. 1917 Kopfschmerz und Schwindel- 
anfalle, vom Milit&r entlassen. Anstaltsaufnahme 23. X. 1920. Sehr vorgeschrit- 
tener Zustand. Befund: Pupillen lichtstarr, Sehnenreflexe stark gesteigert, sehr 
starke Spraehstorung, alle Bewegungen zittrig, starke Merkfiihigkeitsstorung, hoch- 
gradige Demenz. Behandlung: 4. XI. 1920 bis 24.1.1921 mit 21,4 Sulfoxylat 
Xr. 1870 (Einzeldosis 0,8 bis 2,0). Wahrend der Behandlung geistiger und korper- 
licher Riickgang, der langsam fortschreitet. Tod 28. XII. 1921. 

42. St., Ferdinand, Kellner, geb. 1878. Seit Marz 1920 Geh- und Sehstorungen, 
Arbeitsunfahigkeit. Anstaltsaufnahme 7. IX. 1920. Sehr vorgeschrittener Zustand. 
L.-R. spurweise, trage, Sehnenreflexe stark gesteigert, sehr starke Spraehstorung, 
zittrige Bewegungen, euphorisch, dement, unrein mit Kot, Geht in Anstalt zuriick, 
bei Behandlungsbeginn iiberaus bidder, hinfalliger, siecher Paralytiker, dessen Ab- 
leben bald erwartet wird. 

Behandlung vom 11. XI. 1920 bis 24. I. 1921 mit 24,2 Sulfoxylat Xr. 1870 
(Einzeldosis 1,0 bis 2,0). In Behandlung etwas Hebung des korperlichen Zustandes 
und Verhaltens, keine geistige Anderung. Ende Januar 1921 Erkrankung an Darm- 
katarrh und Tod am 1. II. 1921. 

43. L., Friedrich, Polizeiwachtineister, geb. 1878. Anstaltsaufnahme 12. IV. 


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1920. Bei Aufnahme stumpfer, sehr vorgeschrittener Paralytiker, vollig dement, 
nennt seinen Xamen, gibt sonst keine Auskunft, zeitweilig unruhig. Von Mai an 
unrein und vollig hilflos siech im Bett, kann nicht mehr stehen. Zahneknirschen. 
Vor Bekandlung in Endstadium, in dem baldiger Tod erwartet wird. 

Behandlung: 8. XI. 1920 bis 24.11. 1921 mit 30,0 Sulfoxylat Xr. 1870 (Einzel- 
dosis 0,6 bis 2,0). Wird wahrend der Behandlung korperlich riistig, reinlich.schlieB- 
lich nicht mehr bettlagerig, geht und sitzt auf der Abteilung umher, redet einige 
Worte, faBt einfache Aufforderungen auf. Vom Mai 1921 nach Darmkatarrh 
korperlich schlechter, Decubitus, erholt sich wiedcr, vom August an wieder korper- 
licher Riickgang, unsauber, hilflos. Langsames Hinsiechen bis zum Tod am 10.1. 
1922. 

44. Sch., Fritz, Steinhauer, geb. 1874. Seit Kriegsende verandert, vergeBlich, 
zerfahren, Erregungszustande. Anstaltsaufnahme 16. IX. 1919. Pupillen different 
verzogen. L.-R. erhalten, starke Sprachstorung, stumpf, euphorisch, stark dement, 
gestorte Merkfahigkeit, zeitweilig erregt, entwickelt oft Verfolgungsideen und 
GroBenideen. Zuweilen Anfalle und Verwirrtbeitszustande. Wird unrein. Bei Be- 
handlungsbeginn sehr vorgcschrittenes Endstadium, hinfallig. liegt unrein zu Bett. 

Behandlung vom 12. XI. 1920 bis 3. 111. 1921 mit 30,2 Sulfoxylat Xr. 1870 
(Einzeldosis 0,6 bis 2,0). Erholt sich sehr wesentlich, ruhig, geordnet, nicht mehr 
unrein, keine Anfalle. bleibt stumpf dement, kann umher und in den Garten gehen. 
kommt im Januar 1921 von der Wachabteilung und beschaftigt sich mit Tiiten 
kleben. 

Vom Juli 1922 wieder Riickgang, unzuganglich, manchmal unrein. Erneute 
Behandlung mit 12 g Sulfoxylat Xr. 2138a vom 17. VII. bis 7. IX. 1922 (Einzel¬ 
dosis 0,8), wird wieder reinlich, bleibt aber dement, vom Dezember 1922 wieder 
hinfallig, unrein. 

45. B., Friedrich, Arbeiter, geb. 1881. Anstaltsaufnahme 8. IV. 1920. Bei Auf¬ 
nahme sehr vorgeschrittener Paralytiker, absolute Pupillenstarre, gesteigerte 
Sehnenreflexe, Oppenheim rechts, sehr starke Sprachstorung, alle Bewegungen 
zittrig, sehr blode euphorisch, unrein. Geht weiter zuriick, liegt hilflos im 
Bett, muB gefiittert werden. Vor Behandlung im Endstadium, in dem baldigster 
Tod zu erwarten ist. 

Behandlung vom 15. XI. bis 16. XII. 1920 mit Sulfoxylat Xr. 1870 (Einzeldosis 
2,0). Keine Besserung, aber Hinschleppen des Endstadiums wesentlich langer als 
zu erwarten war. Tod am 23. XII. 1920. 

46. Sch., Franz, Stukkateur, geb. 1875. Anstaltsaufnahme 15. XI. 1920. Pu¬ 
pillen different, 1. lichtstarr, r. spurweise Reaktion. Sprachstorung. Euphorisch, 
gereizt, renommistisch, gestorte Merkfahigkeit, GroBenideen, erregt, 

Behandlung vom 28. XI. 1920 bis 27. I. 1921 mit 18,4 Sulfoxylat Xr. 1870 und 
7,2 Xr. 1882 (Einzeldosis 2.0) und 13 ccm Xovasurol in Mischspritzen. 4. II. leichte 
Dermatitis. War seit Januar iiuBerlich geordnet, ruhig, beschaftigt sich, Merk¬ 
fahigkeit gut. Bleibt stumpf, urteilsschwach. 

Vom Mai 1922 korperlicher und geistiger Riickgang, wird unrein. Jetzt vor¬ 
geschrittener Paralytiker. 

47. H., Ernst, Architekt, geb. 1878. 1906 Schanker, lokal behandelt mit 
Hollenstein, 1907 Geschwiir an gleicher Stelle, behandelt mit Schmierkur und 
Spritzen in den Arm. 1914 Quecksilber- und Salvarsankur. Dezember 1920 wegen 
Xervenchok in Privatanstalt, hatte Anfalle, dort behandelt mit antiluetischen 
Pillen. 16. III. 1921 in Hautklinik verlegt zu antiluetischer Kur. Dort erregt, 
GroBenideen, konfus dement, Unruhe. Anstaltsaufnahme 17. III. 1921. 

Behandelt vom 14. IV. bis 28. VII. 1921 mit 18,6 Sulfoxylat Xr. 1882 (Einzel¬ 
dosis 0.6), dazu 9mal subcutane Milchspritzen von 10 ccm, ohne daB Fieber eintrat. 


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Vier Jahre Paralysebehandlung mit Silbersalvarsan iind Sulfoxylat. 335 


Ximmt korperlich wesentlich zu, Sprache bessert sich etwas, geistig bleibt er kon- 
fus mit zeitweiligen GroBenideen. 4. VIII. 1921 iiberfiihrt in Privatanstalt. 

48. H., Franz, Kaufinann, geb. 1881. Anstaltsaufnahme 17. III. 1921 aus Ge- 
fangnis. Vorgesc hri t tener Paralytiker. Pupillen lichtstarr, Sehnenreflexe gesteigert, 
starke Sprachstorung, unorientiert, dement, euphorisch, stark gestorte Merkfiihig- 
keit, schwachliche GroBenideen. Zeitweilig Verwirrtheitszustande und Anfalle. 

Behandlung vom 25. IV. bis 28. VII. 1921 mit 16,8 Sulfoxylat Xr. 1882 (Einzel- 
dosis 0,6), dazu 7n\al subcutane Milchspritzen von lOccm, danach 2mal Fieber 
bis 38. Wird stumpfer. Von Oktober an wieder paralytische Anfiille, lebt ruhig, 
stumpf, blode. 

49. E., Adam. Kellner, geb. 1876. Lues 1906, angeblich 10 Kuren mit Queck- 
silber und Salvarsan. Anstaltsaufnahme 3. V. 1921. Korperlich elend, Pupillen 
verzogen. Lichtreaktion ungestort. Sehnenreflexe fehlen, keine Sprachstorung, 
liippisch geschwatzig, GroBenideen, Merkfahigkeitsstorung. 

Behandlung vom 30. V. bis 28. VIII. mit 12,0 Sulfoxylat Xr. 1917 (Einzeldosis 
0,6 bis 1,8) und 1,8 Silbersalvarsan (Einzeldosis 0,45), dazu 7 subcutane Milch¬ 
spritzen von 1 ccm, dabei stets Fieber liber 38. einmal bis 39,8, einmal bis 40. In 
Behandlung zunachst korperlicher Riickgang, Verwirrtheitszustande, Erregung, 
vom Juli an ruhig und geordnet, im August wesentliche korperliche und geistige 
Besserung. 14. IX. 1921 nach Hause entlassen. Seitdem liegt keine Xachricht 
iiber ihn vor. 

50. M., Wilhelm, Anstreicher, geb. 1877. Lues 1898, 3 Quecksilberspritzen. 
Seit Februar 1921 verwirrt. Anstaltsaufnahme 20. V. 1921. Pupillen lichtstarr, 
Sehnenreflexe gesteigert. Gang spastisch, starke Sprachstorung, dement, euphorisch, 
Siimestiiuschungen, auBerordentlich umfangreiche und blodsinnige GroBenideen, 
Merkfahigkeit gestort. 

Behandlung vom 13. VI. bis 28. VII. 1921 mit 9,0 Sulfoxylat Xr. 1882 (Einzel¬ 
dosis 0,6) mit 7 subcutanen Milchspritzen zu 10 ccm, dabei nur einmal Fieber (39,6). 
Pat. bleibt vollig unverandert in Euphorie und GroBenideen. Vom August 1922 
geht er korperlich und geistig zuriick. Tod 25. X. 1922. 

51. K., Friedrich, Reisender, geb. 1879. Lues 1914. 2 Kuren mit Salvarsan, 
Quecksilber und Jod. Langere Zeit vor Aufnahme triige, geschaftliche Fehler, ein 
Halbjahr vor Aufnahme fiel Sprachstorung auf. Anstaltsaufnahme 11. V. 1921: 
korperlich elend, zittrig. Pupillen different, lichtstarr, Sehnenreflexe gesteigert, 
kolossale Sprachstorung. Euphorische Stumpfheit. 

Behandlung vom 16. VI. bis 3. X. 1921 mit 13,6 Silbersalvarsan (Einzeldosis 
0,5). Ximmt in Behandlung zunftchst korperlich zu, Sprache bessert sich etwas, 
wird geistig etwas regsamer. 7. XII. 1921 in schlechter Remission nach Hause 
entlassen. 1. IX. 1922 wieder aufgenommen, korperlich und geistig stark zuriick- 
gegangen, geht weiter zuriick, ganz blode. seit Xovember hinfiillig, unrein, siech. 

52. R., Karl, Hoteldirektor, geb. 1869. Seit 1920 geistig krank, seit 11. I. 1921 
in Privatanstalt. Anstaltsaufnahme: 21. VI. 1921. Pupillen lichtstarr. Sehnen¬ 
reflexe gesteigert, Babinski reelits angedeutet. allgemeine Zittrigkeit, sehr starke 
Sprachstorung. Sehr dement, zeitlich orientiert. Personen- und Ortsverkennung, 
GroBenideen, Auffassungs- und Merkfahigkeitsstorung, Halluzinationen. 

Behandlung vom 4. VII. bis 28. VIII. 1921 mit 5,4 Silbersalvarsan (Einzel¬ 
dosis 0,45). Macht in Behandlung delirante und Korsakoffsche Zustfinde (lurch. 
Ximmt korjierlich sehr zu. Bleibt geistig gleich. Lebt jetzt in sehr gutem Er- 
nahrungszustand, euphorisch, dement, voll GroBenideen, Sprachstorung hat zu- 
genommen. 

53. H., Alljert, Tapezierer, geb. 1875. Anstaltsaufnahme 18. VI. 1921. Pupillen- 
storung, leichte Sprachstorung, Euphorie, GroBenideen, Erregung. Mcrkstorung. 


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F. Sioli: 


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Behandlung: 11. VII. bis 26. IX. 1921 mit 5,15 Silbersalvarsan (Einzeldosis 0.5). 
Macht im August starke Furunculose durch. Vom September an Besserung. 

20. XI. 1921 nach Hause geholt, arbeitet dort. Remission. 

54. V., Artur, Reisender, geb. 1887. Lues 1911. (Schanker, Ausschlag.) Sal- 
varsan und Hg.-Kur. 1914 bis 1918 jedes Jahr Blutuntersuchung negativ. Seit 
1920 geistig verandert, reizbar, Gewalttatigkeiten, geschfiftliche Dummheiten. 
Anstultsaufnahme 14. VI. 1921. Pupillenreaktion ungestbrt, Sprachstorung. 
Mundbeben. Euphorisch gereizt, erregt, bliihende GroBenideen, leichte Merk- 
fShigkeitsstbrung, keine grobe Intelligenzstbrung. 

Behandlung: 4. VII. bis 26. IX. 1921 mit 9,3 Silbersalvarsan (Einzeldosis 0.5). 
30. X. bis 27. XI. 1921 mit 9,0 Sulfoxylat Nr. 1870 (Einzeldosis 0,6). Von Sep¬ 
tember an ruhig, geordnet, behfl.lt leichte GroBenideen und Stiinmungslabilitat. 
Vom November .an einsichtig, sehr gute Merkfahigkeit, klagt dauernd iiber Kopf- 
schmerzen. 14. XII. 1921 in guter Remission entlassen. Arbeitet als Reisen¬ 
der sehr erfolgreich. Stellt sich mehrfach zur Untersuchung vor, macht 26. V. bis 

21. VIII. 1922 ambulant erneute Kur mit 6.5 Silbersalvarsan (Einzeldosis 0.4) und 
2,4 Neosilbersalvarsan (Einzeldosis 0,6). Letzte Vorstellung Dezember 1922. 

55. G., Hermann, Tapezierer, geb. 1888. Erkrankt 1919 mit Anfallen und 
halluzinatorischen Zustiinden, auf innerer Klinik und in Militarlazarett mit Schmier- 
kur behandelt. Anstaltsaufnahme 31. V. 1921. Lichtreaktion der Pupillen ein- 
geschrankt, Sehnenreflexe fehlen. starker Romberg, Ataxie, Sensibilitfitsstorung, 
Sprachstorung, affektlos, kritiklos, schlechte Rechen- und Urteilsfiihigkeit, nur 
leichte Merkstorung. Sitzt unbeschaftigt umher. 

Behandlung vom 12. IX. 1921 bis 9. II. 1922 mit 9,85 Silbersalvarsan. Wird 
lebhafter, beschiiftigt sich fleiBig. ist zuverlassiger Botengiinger fiir Besorgungen, 
bleibt stationer. 

Februar-Miirz 1922. Behandlung mit lOmal 1 ccm Mesinurol. Seit Juni 1922 
geht er korperlich zuriick, wird geistig stumpfer. 

56. W., Kurt, Betriebsleiter, geb. 1873. Erkrankt August 1921. Anstaltsauf¬ 
nahme 24. XII. 1921. Pupillen lichtstarr, Sehnenreflexe gesteigert, unsichere Be- 
wegungen, starke Sprachstorung, iingstlich depressiv. erregt, zum Teil ratios. 

Behandlung vom 16. I. bis 6. IV. 1922 mit 7,95 Silbersalvarsan (Einzeldosis 
0,4). Wird vom Februar an ruhiger, bleibt aber ratios konfus. 8. IV. 1922 vom 
Vater ungeheilt nach Hause (in Sachsen) abgeholt. 

57. E., Karl, Kaufmann, geb. 1880. Lues 1905. Schanker, mehrere Schmier- 
kuren. Einige Wochen vor Aufnahme Wahnideen (hypnotisiert, elektrisch be- 
arbeitet), Sinnestauschungen auf alien Sinnesgebieten, Erregung. Anstaltsauf¬ 
nahme 17. I. 1922. Pupillen eng, verzogen, lichtstarr. Sehrenreflexe fehlen. Rom¬ 
berg, Ataxie, Sensibilitatsstorung, Sprachstorung, eigentiimlich schiichtem. auf- 
merksam, langsaine Auffassung und Reaktion. starke Merkstorung. Wechselnd 
zahlreiche Sinnestauschungen, systematisierte physikalische Wahnbildung. Wort- 
neubildungen. 

Behandlung vom 26. I. bis 13. IV. 1922 mit 8.15 Silbersalvarsan (Einzeldosis 
0,4). Vom M&rz an wesentliche Besserung, 28. V. 1922 in guter Remission nach 
Hause entlassen. Xahm Berufsarbeit wieder auf und verrichtete sie gut bis 3 
Wochen vor Wiederaufnahme am 10. X. 1922. Korperlich elend, sehr erregt, 
schizophren, paranoides Symptomenbild. vorwiegend physikalische Verfolgungs- 
ideen, beschiidigt sich selbst, bohrt sich die Nasenscheidewand vollig heraus; er¬ 
neute Behandlung vom 23. X. bis 30. XI. 1922 mit 9,9 Neosilbersalvarsan (Einzel¬ 
dosis 0,9). Psyciiisches Krankheitsbild bleibt vollig gleich, er bleibt erregt. geht 
langsam zuriick und stirbt 2. I. 1923. Sektion wird verweigert. 

58. H.. Gerichtssekretar, geb. 1879. Lues 1906, keine Behandlung. Seit meh- 
reren Jahren Herzbeschwerden und Darmkrisen (?). Pupillen lichtstarr, differente 


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Vier Jahre Paralysebehandlung mit Silbersalvarsan und Sulfoxylat. 337 

Sehnenreflexe, starke Sprachstorung, Krankheitsgefuhl, apathisch dement, starke 
Merkstorung. Ambulante Behandlung vom 20. III. bis 13. VII. 1922 mit 7,8 Silber¬ 
salvarsan (Einzeldosis 0,4). Wird geistig regsamer, subjektiv gebessert. Merk¬ 
fahigkeit gebessert. Bleibt aus Behandlung weg. 

59. K., Aurel, Bahnarbeiter, geb. 1878. 1921 6 Wocken zur Beobachtung in 
Strafsache in Anstalt, wegen Paralyse freigesprochen. Wieder gearbeitet. Anstalts- 
aufnahme 6. IV. 1922. Pupillen lichtstarr, Patellarreflexe rechts schwach, links 
fehlend, zittrige Bewegungen, starke Sprachstorung, schwachsinnig, euphorisch, 
GroBenideen, starke Merkfiihigkeitsstdrimg. Klagen iiber Kopfschmerzen, Krank- 
heitsgefiihl. 

Behandlung: 13. IV. bis 1. V. 1922 mit 11 ccm Mesinurol, vom 11. V. bis 4. VIII. 
mit 8,0 Silbersalvarsan (Einzeldosis 0,4). Besserung von Juni an. Juli gute Merk¬ 
fahigkeit, keine GroBenideen, urteilsfahig; entlassen 31. VII. 1922. Arbeitet 
seitdem. 

60. F., Peter, Mobelhandler, geb. 1877. Lues 1910 (Schanker, Ausschlag), da- 
mals mit Quecksilber, spater mit Salvarsan mehrfach behandelt. 

Krankheitsbeginn 1 Jahr vor Aufnahme. Anstaltsaufnahme: 24. IV. 1922, 
elender Allgemeinzustand, Pupillen verzogen, lichtstarr, Sehnenreflexe gesteigert, 
sehr starke Sprachstorung, Gesichtsbeben. Stumpf, euphorisch, unorientiert, sehr 
dement, beeinfluBbar, schwachliehe GroBenideen, starke Merkstorung. 

Behandlung vom 15. V. bis 14. VIII. 1922 mit 7,3 Silbersalvarsan (Einzel¬ 
dosis 0,4) und 1,2 Neosilbersalvarsan (Einzeldosis 0,6). Erholt sich korperlich sehr, 
orientiert sich, bleibt stationar, euphorisch dement, 

61. L., Louis, Kellner, geb. 1879. Infiziert 1912 (angeblich Tripper). Krank¬ 
heitsbeginn 1917 mit Anfalien. Seit 1919 arbeitsunfahig und gedachtnisschvvach. 
Anstaltsaufnahme 17. V. 1922. Pupillenreaktion trage, Aortenklappenfehler, 
Sehnenreflexe lebhaft gesteigert, FuBklonus, starker allgemeiner Tremor, unge- 
schickte zittrige Bewegungen. Kolossale Sprachstorung. Euphorisch, sehr dement, 
affektlose GroBenideen, starke Merkstorung. 

Behandlung vom 22. V. bis 22. VIII. 1922 mit 6,65 Silbersalvarsan (Einzel¬ 
dosis 0,4) und 2,4 Neosilbersalvarsan (Einzeldosis 0,6). Nimmt korperlich zu, Be¬ 
wegungen sicher, Sprachstorung geringer, Stimmung angemessener, Merkfahigkeit 
bessert sich. 24. VIII. 1922 nach Hause entlassen. 

62. T., Kurt, Postsekretar, geb. 1881. Infektion 1905 (angeblich Tripper), un- 
behandelt. 1907 plotzliche Sehstorung, konnte nicht in die Niihe sehen, bekam 
Brille, Stoning bald vorbei. Seit 8 Jahren stark nervos, seit 2 Jaliren auffallig durch 
Geldausgaben und leichtsinniges Leben, damals vom Nervenarzt mit einigen Ein- 
spritzungen behandelt. 

1. V. 1922 im Dienst plotzlich expansiver Erregungszustand und Anstalts¬ 
aufnahme. Pupillen lichtstarr, Sehnenreflexe fehlen, geringe Sensibilitiitsstorungen. 
starke Sprachstorung, sehr lebhafte euphorische llnruhe, bliihende GroBenideen. 
Starke Merkstorung. 

Behandlung vom 7. VI. bis 28. VIII. 1922 mit 5,8 Silbersalvarsan (Einzeldosis 
0,4) und 3,6 Neosilbersalvarsan (Einzeldosis 0,6). Vom Juli an schubweise Besse¬ 
rung, von September an ganz geordnet, gute Merkfahigkeit ohne tiefe Krankheits- 
einsicht. 12. X. 1922 nach Hause entlassen. War dort ruhig, fahrig, von 1923 an 
wieder leichtsinniges Leben, kam 11. I. 1923 freiwillig zur Wiederaufnahme, ist 
affektloser und initiativeloser geworden. 

63. E., Otto, Steueraspirant, geb. 1894. Lues 1904 (Schanker, Ausschlag), be¬ 
handelt 1904 und 1918 Queeksilberkur, 1915, 1916, 1917 je 1 Salvarsankur. An¬ 
staltsaufnahme 23. VI. 1922, korperlich elend, Lichtreaktion trage, Sehnenreflexe 
gesteigert, Oppenheim rechts, Sprachstorung. Apathisch. langsam. stumpf, affekt- 


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los, starke Merkstorung, plotzliche, stunden- und tugeweise katatone Haltungen, 
Negetavismus, Abstinieren oder eigentiimliche hypochondrische Wahnideen (Ver- 
dauung geht nicht mehr recliten Weg, die Blase werde gesprengt). 

Behandlung vom 26. VI. 1922 an mit 2,5 Silbersalvarsan (Einzeldosis 0,4). 
geht in der Behandlung zuriick, wird erregt, unsauber, hinf&llig und stirbt 22. VIII. 
1922. 

64. M., Anton, Materialienverwalter, geb. 1898. Lues 1913 (Schanker, Aus- 
schlag), 1913, 1914 und nach dem Krieg 6 Salvarsan- und Quecksilberkuren, letzte 
1921. — Seit 1920 nachl&ssig, vergeBlich. Seit Mai 1922 Anfiille, war auf innerer 
Abteilung. Anstaltsaufnahme 23. VI. 1922. Pupillen different, Lichtreaktion 
prompt, wenig ausgiebig, Sehnenreflexe schwach, Hvpalgesie, starke Sprach¬ 
storung. Schwerfallig, langsam, sehr gutmiitig, stumpfsinnig, zutraulicb, rechnet 
sehr schlecht, Merkfahigkeit gestort. 

Behandlung: 3. VII. bis 21. X. 1922 mit 2,5 Silbersalvarsan (Einzeldosis 0,4) 
und 9,6 Xeosilbersalvarsan (Einzeldosis 0,6). Vom September an wesentliche 
Besserung, wird lebhaft, re hnet und behiilt besser, lernt in der Anstalt Buch- 
binderei und besch&ftigt sich in der Anstaltswerkstatt fleiBig. 

65. A., Johann, Monteur, geb. 1887. 1911 Lues, behandelt mit 5 Quecksilber- 
spritzen, 1914 4 Salvarsanspritzen. Anstaltsaufnahme 1. VIII. 1922 nach Anfall. 
Lichtreaktion trftge, Sprachstorung, GroBenideen, stark gestorte Merkfahigkeit. 
rechnet sehr schlecht, in Anstalt 16. VIII. paralytischer Anfall, danach 2 Tage 
amnestisch aphasisch. 

Behandlung vom 21. VIII. bis 7. XII. 1922 mit 15,9 Xeosilbersalvarsan (Einzel¬ 
dosis 0,6 bis 0,9). 23. X. Herpes zoster, Behandlung deshalb 3 Wochen ausgesetzt. 
Von Anfang September an ruhig, geordnet, im Oktober korperliche Zunahme, 
wesentliche psychische Besserung, Merkfahigkeit wird gut, Krankheitseinsicht und 
kritische Erinnerung, gute Urteilsf&higkeit, angemessene Stimmung. 18. XII. 1922 
in guter Remission arbeitsfahig entlassen. 

66. E., Peter, Arbeiter, geb. 1875. Infektion 1907 (angeblich Gonorrhoe). 
Anstaltsaufnahme 17. XII. 1921, da seit 3 Wochen auffiilliges Benehmen. Befund : 
Pupillen different .verzogen, Lichtreaktion trftge, Sehnenreflexe fehlen, leichte 
Sensibilitatsstorungen. Keine sichere Sprachstorung, euphorisch, redesiichtig, 
rechnet schlecht, Merkfahigkeit leicht gestort. 

Behandlung vom 9. II. bis 23. III. mit 18,0 Sulfoxylat Xr. 2069 (Einzeldosis 
1,6 bis 2,4). Wird gleichmftBig, angemessen gestimmt, fleiBiger gewandter Arbeiter 
in Anstaltsschneiderei bei freiem Ausgang. 

67. D., Gottfried, Maschinenbauer, geb. 1869. Lues 1904. Anstaltsaufnahme 
4. I. 1922. Pupillen verzogen, Lichtreaktion prompt, wenig ausgiebig, Patelar- 
reflexe different, keine sichere Sprachstorung, auBerordentlich heitere Erregung, 
Rededrang, ausschweifende GroBenideen. 

Behandlung vom 9. II. bis 13. III. 1922 mit 17,2 Sulfoxylat Xr. 2069 (Einzel¬ 
dosis 1,6 bis 2,4). Bleibt vollig unverandert. Marz 1922 in andere Anstalt iiber- 
fiihrt, dort entwichen und 31. V. wieder liier aufgenommen in vollig gleichem Zu- 
stand. Behandlung: 8. VI. bis 28. VIII. mit 5,4 Silbersalvarsan (Einzeldosis 0,4) 
und 3,6 Xeosilbersalvarsan (Einzeldosis 0,6). Wird ruhig, hie und da et was Krank- 
heitseinsieht, nimmt korperlich zu, bleibt leicht euphorisch, kritiklos. 

68. P.. Matthias. Arbeiter, geb. 1889. Anstaltsaufnahme 4. I. 1922. Sehr vor- 
jeschrittener Paralytiker, Pupillen lichtstarr, gesteigerte Sehnenreflexe, FuBklonus 
angedeutet. sehr starke Sprachstorung. zittrig, hochgradige Demenz, Aufhebung 
der Merkfahigkeit, stumpfe Euphorie, liegt blode im Bett. 

Behandlung vom 23. II. bis 23. III. 1922 mit 11,2 Sulfoxylat Xr. 2063 und 2069 
(Einzeldosis 0,6). Keine Anderung, ist nocli bloder geworden, die Zittrigkeit ist ein 


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Vier Jahre Paralysebehandlung mit Silbersalvarsan und Sulfoxylat. 339 

rhythmischer Tremor geworden, Starre aller Glieder oline Spasmus, Pro- und 
Retropulsion. 

69. K., Peter Josef, Anstreicher, geb. 1883. Krankheitsbeginn ein Halbjahr 
vor Aufnahme. Anstaltsaufnahme 20. V. 1921. Somatisch kein sicherer Befund. 
Euphorische Erregung, zerfahren dement, gelegentliche Halluzinationen und 
GroBenideen, die allm&hlich zunehmen. 

Behandlung: 23. IJ. bis 23. III. mit 11,2 Sulfoxylat Nr. 2063 und 2069 (Einzel- 
dosis 1,6), vom 11. V. bis 7. VIII mit 7,85 Silbersalvarsan (Einzeldosis 0,4); wurde 
zun&chst etwas geordneter, dann Verschlechterung, erregter, dauernde GroBen¬ 
ideen, halluziniert viel. 

70. F., Bertram, Landwirt, geb. 1866. Lues 1907. Anstaltsaufnahme 16. II. 
1922. Pupillen sehr verengt, Lichtstarr, Sehnenreflexe fehlen, Sensibilitats- 
storungen, Ataxie, starke Sprachstorung. Strahlende Euphorie, schwachsinnige 
GroBenideen, hochgradige Demenz und Merkstorung. 

Behandlung vom 28. II. bis 23. III. 1922 mit 10,0 Sulfoxylat Nr. 2063 und 2069 
(Einzeldosis 1,6), wird etwas gebessert am 10. IV. 1922 entlassen. 

71. F., Johann, Kaufmann, geb. 1881. Lues 1904, behandelt mit Quecksilber. 
Krankheitsbeginn 1920, erregt, grundete allerlei Gesch&fte, schnell fortschreitende 
Demenz. Anstaltsaufnahme 20. II. 1922. Lichtreaktion fehlt, Sehnenreflexe fehlen, 
Ataxie, Sensibilit&tsstorungen, sehr starke Sprachstorung. flacher, umspringender 
Affekt, langsame Auffassung, sehr starke Merkstorung, Demenz, stumpfes Ver- 
halten. 

Behandlung vom 24. II. bis 24. III. 1922 mit 10,8 Sulfoxylat Xr. 2063 und 2069 
(Einzeldosis 1,6). Keine Anderung, geht vom Juli an langsam zuriick, Tod 11. IX. 
1922. 


Ubersicht fiber das Verhalten der Reaktionen. 


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Datum 

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340 F. Sioli: 


Ubersicht iiber das Verhalten der Reaktionen (Fortsetzung). 



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Vier Jahre Paralysebehandlung mit Silbersalvarsan und Sulfoxyfat. 341 

Ubersicht tiber das Verhalten der Reaktionen (Fortsetzung). 



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340 


F. Sioli: 


Ubersicht iiber das Verhalten der Reaktionen (Fortsetzung). 


Nr. 

Datum 

Wa.R. 

Blut 

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Xiz: 

1495 

Sulfoxylat Nr. 

1882 

17/6 1870 (2138) 

1917 

(2063 

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Milchinjcktionen 

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11. III. 20 

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17. I. 21 

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1. II. 22 

17. III. 22 

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12. III. 

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11. X. 20 

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4. II. 19 

13. III. 

10. V. 

2. VIII. 


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0,2 

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4,1 

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1. X. 

2. XII. 

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2^4 

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24. 1. 21 

10. VII. 22 

0,6 ± 2'., 

0,6 + V~, 

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2 



1 







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PRINCETON UNIVERSITY 

























Vier Jahre Paralysebehandlung mit Silbersalvarsan und Sulfoxyfat. 341 

Ubersicht fiber das Verhalten der Keaktionen (Fortsetzung). 



11 11. IV. 19 

13. V. 

8. VII. 


12 11. IV. 19 
13. V. 

9. VII. 


13 8. IV. 19 
14. VI. 19 


14 971V. 19 
14. V. 


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14. V. 

8. VII. 


17 19. VI. 19 

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18 19. VI. 19 


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5. XI. 

10. I. 21 


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19. HI. 21 | + + + + 0,21 + | | 18| 


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PRINCETON UNIVERSITY 


ovasurol (Mcslmirol 

























342 F. Sioli: 

Ubersicht iiber (las Verlmlten der Reaktionen (Fortsetzung). 


Ir IS 


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15. VII. 


12. I. 21 


2. III. 21 
12. IV. 22 



30. IX. 20 
12. XI. 

3. I. 21 
10. II. 


+ + + 


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Novasurol (Mcglnurol) 





























Vier Jahre Paralysebehandlung mit Silbersalvarsan und Sulfoxylat. 343 

tjbersicht fiber das Verhalten der Reaktionen (Fortsetzung). 


Nr. 

Datum 

Wa.R. 

Blut 

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1 

1495 

Sulfoxylat 

| 1776 1870 

Nr. 

1 1882 
(2138) 

1017 

(2063 

i -H 

Milchinjektionen 

Novaaurol (Mesinurol) 

Urotropin 

36 

4. X. 20 

3. I. 21 


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9 




18,8 






37 

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1 4. I. 21 

6. IV. 

2. VII. 

18. VIII. 

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0,2 

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10 

15 

15 

(13,4) 



10,2 

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6,6 

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4x 



26. V. 22 

21. VIII. 22 

+ + + + 

0,2 

0,2 

± 

12% 

2 

39 

i 6 

(2,4) 

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15.1. 23 


0,2 

n 

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7. X. 20 

23. XI. 

31. I. 21 

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30.0 






27. I. 22 

17. III. 

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1,0 

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15. X. 20 

4.1. 21 

0,2 j 
0,2 

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4 

38 

8,3 









40 

5. XI. 20 

14. 11. 21 

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0,2 + + 
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3 

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(7,7) 








41 

28. X. 20 

24.1. 21 

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0,6 + + 

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8 

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55 

24 




21,4 






42 

8. XI. 20 

7. I. 21 

+ + + + I 


8 

5 | 

203 

18 




21,2 






43 

8. XI. 20 

11. 1. 21 

28. II. 

+ + + +I 

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44 

12. XI. 20 
14. II. 21 

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0,2 

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3 1 

56 

9 




27,2 






16. IX. 21 



11 





13. VII. 22 
18. VIII. 

11. X. 

— 

0,6 
0,2 
0.6 1 

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3 

3 

12 

30 

5 




(7,2) 

(12) 





45 

15. XI. 20 

0.2 | + - 

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25. XI. 20 

7. II. 21 

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0,2 

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3 

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129 

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(13) 


13. IX. 21 

0,2 1 

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3. I. 22 

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47 1 

11. IV. 21 

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181 

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48 | 

18. tV. 21 

13. IX. 21 

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+ + 1 

4 

6 

38 

116 





16,8 


7 x! 



16. II. 22 


0,6 

5 

73 





49 

18. V. 21 

22. VIII. 

+ + + + j 

0,2 + 

0,6 

3 

2 

30 

3 

1,8 




12,0 

7 x . 




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344 F. Sioli: 

tibersicht fiber das Verhalten der Reaktionen (Fortsetzung). 



15. I. 23 


63 26. VI. 22 


i + + + + '0,2 ++ |2%| 35 


0,2 + 12% 421 


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Novamirol (Mcsinurol) 


























Vier .)ahre Paralysebehandlung mit Silbersalvarsan und Sulfoxylat. 345 


Ubersicht fiber das Verhalten der Reaktionen (Fortsetzung). 


Nr. 

Datum 

Wa.R. 

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§ 

Blut S> , 

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1 w c d 

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25 | a 
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1 i $ 

Silbersalvarsan 
(N cosilbersal varsa n) 

1495 

Sulfoxylat Nr. 

iua9 1917 
, 1776 1879 (2138)l (2< ^g } 

Mllchinjektlonen 

Novasurol (Nesinurol) 

Urotropin 

64 

30. VI. 22 

2. X. 


+ 5V 2 44 

! ± 3 5 

2,5 

(9,6) 




• 

65 

4. VIII. 22 

+ + + + 0,6 

+ 5 100 







29. X. 

? 0,6 

+ 47 

(11,1) 






ii. xn. 

+ + + +10,6 

+ 12 1 / 2 10 

(15,9) 


1 I 



66 

6.1. 22 

-- 0,2 

3 |104 







28. II. 

+ + + + j0,6 

+ 2% 101 



(5,2) 




24. III. 

| + + + + [0,2 

3 1 13 



1(18) 



67 

16. I. 22 

*- + 0.2 

+ + 3 i 60 







28. II. 

+ + ++0,2 

+ + 2 74 



(4,4) 




24. III. 

0,6 

2y 2 | 23 



1 (17-2) 




7. VI. 

10,6 

2 32 






_| 

28. VIII. 

? 0,6 

+ liyJ 4 

5,4 



3,6 


68 1 

16. I. 22 

? 0,2 

118 







30. III. 

0.2 

11 191 






69 

27.1.22 

f 0,2 

3 67 

1 


1 




16. III. 


+ | 26 



(8) 




16. VIII. 


+ |2y,| 56 

7,85 


1 1 



70 

24. II. 22 

9 

+ + 13$ 32 









+ 7% I 29 



1 ( l#0 



71 

24. II. 22 

0,2 

+ + 4$ 31 







30. III. 

!o,2 

1 5 | 6 



1 (10.8) j 




Es wurde also mit der Behandlung begonnen 1919 bei 22 Fallen, 
1920 bei 24 Fallen, 1921 bei 9 Fallen, 1922 bei 15 Fallen. Gestorben sind 
nachweislich 29 Falle, aus der Beobachtung gekommen 11 Falle. 

Von den Fallen des Jahres 1919 sind 12 gestorben, 3 aus der Be¬ 
obachtung gekommen, es leben also noch nachweislich 7 Falle. Sehr gute 
Remissionen bekamen 7 Falle (3, 5, 6, 9, 17, 20, 21), bei 2 von diesen hat 
die sehr gute arbeitsfahige Remission bis jetzt, also fiber 3 Jahre stand 
gehalten, 1 Fall (3) ist wahrend seiner sehr guten Remission interkurrent 
gestorben, 1 Fall (20) erkrankte nach l%jahriger Remission erneut, 
remittierte nach Behandlung wieder zu voller, jetzt noch erhaltener 
Arbeitsfahigkeit, 1 weiterer (5) erkrankte nach 2%jahriger Remission 
wieder, remittierte mallig nach erneuter Behandlung, um dann wieder 
anstaltspflegebedfirftig und, soweit bis jetzt zu beurteilen, nicht wesent- 
lich besser zu werden; 1 Fall (6) lief nach 2jahriger Remission schnell 
progredient ab, und 1 Fall (21) verschwand aus der Beobachtung. Die 
4 maBigen Remissionen (1, 2, 7, 10) sind nach friihestens 1 Jahr pro- 

Archlv fUr Psychlatrie. Bd. 68. 

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F. Sioli: 


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gredient verlaufen, 2 da von leben noch; bei den iibrigen 11 Fallen sind 

2 aua der Beobachtung gekommen (8, 16), bei 4 Fallen konnte ein 
zogernder, sich iiber Jahre erstreckender Ablauf bis zum Tode an- 
genommen werden (14, 15, 19, 22), bei 1 weiteren (4) ist ein Stillstand 
unverkennbar, der jetzt noch keine Neignng zur Progredienz zeigt. 

3 Falle (11. 12, 13) liefen typisch progredient ab; 1 Fall verlief wahrend 
der Belmndlung schnell progredient (18). 

Von den 24 Fallen des Jahres 1920 sind inzwischen tot 13, aus der 
Beobachtung gekommen 2, also noch nachweislich am Leben 9. 6 Falle 
sind sehr gut remittiert (23, 27, 29, 36, 37, 39), von diesen sind aus der 
Beobachtung gekommen 2 (36, 39). Ohne schweren Ruckfall. aber mit 
erneuter Behandlung in Remission geblieben 3 (23, 27, 29), riickfallig 
geworden und offenbar nicht mehr remittierend 1 (37); maBige Re- 
missionen bekamen 4 Falle (25, 34, 35, 40), sie wurden alle 4 wieder pro¬ 
gredient, und von ihnen lebt nur noch 1. Im Jahre 1920 wurden eine 
Anzahl iiberaus vorgeschrittener Falle behandelt, von denen angenom- 
men wurde, daB sie ohne Behandlung im Lauf weniger Wochen sterben 
wurden (24, 30, 41, 42, 43, 44, 45): von diesen 7 Fallen haben 5 sich 
in unerwarteter und erstaunlicher Weise gebessert und hingeschleppt, 
3 Falle (30, 41, 43) 1 Jahr lang, 1 Fall (24) fiber 2 Jahre lang, 1 Fall (44) 
lebt jetzt noch in besserem Zustande als vor der Behandlung. Die Be¬ 
handlung dieser Falle sollte die Frage des Einflusses der Behandlung 
entscheiden; natiirlich kann die Prognose des baldigen Todes eines 
Paralvtikers sich in vielen Fallen irren, wenn aber von 7 als terminal 
betrachteten sich 5 erholen und iiber 1 Jahr lang leben, so darf man 
wohl den Irrtum der Prognose als ausgeschlossen betrachten und muB 
einen EinfluB der Behandlung annehmen; der Zustand, in dem 2 dieser 
Falle (43, 44), kamen, ist als relative Remission zu bezeichnen. Als nicht 
wesentlich beeinfluBt wurde man in diesem Jahre 4 Falle bezeichnen 
(28, 31, 38, 46), von denen 3 noch leben. Schnell todlich verlaufen 
wahrend der Behandlung sind in diesem Jahr 3 Falle (26, 32, 33). 

Auf die Falle des Jahres 1921 und 1922 brauche ich nur in dem Sinne 
einzugehen, daB sie das gleiche Ergebnis wie die vorigen Falle zeigen. 

Die Folgerungen, die ich aus der Behandlung der 70 Falle ziehen 
mochte, sind die: bei konsequenter Salvarsan- usw. Behandlung heben 
sich mehrere Gruppen von Fallen hervor: es ist das zunachst eine Oruppe, 
bei denen die Behandlung vollig versagt, die wahrend der Behandlung pro¬ 
gredient verlaufen und an ihrer Paralyse wahrend der Behandlung bzw. 
ohne daB die Behandlung zum AbschluB gekommen ist, sterben; diese 
Gruppe ist nicht groB, unter den 46 Fallen der Jahre 1919 und 1920 sind 
es 4; aber diese Falle sind bedeutungsvoll, weil sie zeigen, daB jeder 
giinstige EinfluB der geubten Behandlung fehlen kann; die Falle waren, 
soweit erkennbar. frisch erkrankte expansive Formen. Man muB bei 


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Vier .Jahre Paralysebehandlung mit Silbersalvarsan und Sulfoxylat, 347 

ihnen erortem, ob nicht die Behandlung selbst schuld am progredienten 
Verlauf hat; diese Moglichkeit wird unwahrscheinlich gemacht dadurch, 
daB die gleiche Behandlung von den zahlreichen andern Fallen gut ver- 
tragen wurde. 

Auf der anderen Seite hebt sich ein unverkennbar giinstiger Einflufi 
der Behandlung hervor. Zahl und Dauer der Remissionen gehen weit iiber 
das hinaus. was wir als spontane Remissionen zu sehen gewohnt sind. 
AuBer den Remissionen ist die Verzogerung des Ablaufs in einer weiteren 
Zahl von Fallen unverkennbar. Besonders eindrucksvoll ist das Ver- 
halten einer Anzahl terminaler Falle, die sich nach der Behandlung fiir 
zum Teil lange Zeit erholen. 

Aus alledem geht hervor, daB die Behandlung von groBem EinfluB 
auf den Krankheitsverlauf ist und daraus ein EinfluB auf den Krank- 
heitsprozeB angenommen werden muB. Dieser EinfluB ist aber offenbar 
ein beschrankter; zwar sind noch einzelne Falle ohne erneute Kur jahre- 
lang in guter, arbeitsfahiger Remission geblieben, die groBe Mehrzahl 
der Remissionen aber ist wieder riickfallig und auch, wenn dann erneute 
Remissionen eintreten, dann doch wieder progredient geworden. Von 
einer Heilung der Paralyse zu reden ist nicht erlaubt. Wenn aber die 
Beeinflufibarkeit des paralytischen Krankheitsprozesses durch spezifische 
Behandlung eine Tatsache ist, so ist das ein wichtiges Ergebnis fiir die 
Pathogenese der Paralyse. Es zeigt auch von der therapeutischen Seite her, 
(lafi im Krankheitsprozefi der Paralyse ein noch spezifisch beeinflufibarer 
Faktor steckt. Es ist unentschieden , ob die unangetastet bleibende prinzi- 
pielle Unheilbarkeit der Paralyse auf anderen wesentlichen Faktoren des 
Krankheitsprozesses, oder auf der Unzuldnglichke.it unserer Behandlung 
beruht. 

Die Beobachtung der Falle, auf die sich die Annahme einer Beein- 
flussung stvitzt, erweckt den Eindruck, als ob der Einflufi auf hohen 
Einzeldosen und einer hohen Gesamtdosis beruht. Die Hohe der Einzel- 
dosis ist durch vorsichtiges Ansteigen und Beriicksichtigung des Ver- 
haltens nach jeder Einzelinjektion fiir jeden Fall individuell festzu- 
stellen. Langsam bin ich zu immer hoberen Einzeldosen gekommen und 
suche jetzt bei jedem Fall als Einzeldosis des Silbersalvarsans 0,6, des 
Neosilbersalvarsans 0,9 zu erreichen. Die Gesamtdosis muB 8 g Silber¬ 
salvarsan oder 12 g Neosilbersalvarsan erreichen. Niedrigere Gesamt- 
dosen halte ich fiir eine insuffiziente Behandlung von Paralyse. Das 
sind Einzel- und Gesamtdosen, die weit iiber sonst iibliche Behandlungen 
hinausgehen, die insbesondere mit den vom Reichsgesundheitsrat auf- 
gestellten Richtlinien fiir die Anwendung der Salvarsanbehandlung 
nicht iibereinstimmen. DaB bei der Paralyse diese Dosen ohne Schaden 
vertragen werden, diirfte aus meinen Fallen mit geniigender Sicherheit 
hervorgehen; wie das auch von verschiedenen Autoren, zuletzt von 

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F. Sioli: 


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Stern-Piper"') betont ist. Fur die Sulfoxylatpraparate bestimmte, 
wiinschenswert zu erreichende Dosen anzugeben, bin ich noch nicht im- 
stande. 

Bei einzelnen Fallen ist auBer Arsenpraparaten noch irgendwelche 
andere Behandlung zugesetzt worden, so Quecksilberpraparate, wie 
Novasurol und das diesem ahnliche Mesinurol, oder Protein korper- 
behandlung in Form von Milchinjektionen; die kleine Zahl der Falle er- 
laubt kein abschlieBendes Urteil, aber ich habe nicht den Eindruck, als 
ob eine Veranderung der Wirkung erzielt ware. Bei 3 Fallen ist ver- 
einzelt Urotropin in 40% Losung intra vends gegeben worden; 2 dieser 
Falle sind mit die besten, der Fall 3, der in seiner sehr guten Remission 
interkurrent starb, und der Fall 4, der, ein an sich sehr vorgeschrittener 
Fall, stationar geworden ist; die Verbindung des Urotropins mit der 
spezifischen Behandlung scheint mir daher beachtenswert und weiter zu 
verfolgen, man kann an eine unmittelbare Einwirkung des Urotropins 
auf den Liquor, oder an eine osmotische Wirkung hypertonischer Lo- 
sungen denken. 

SchlieBlich ist vom Verhalten der Reaktionen zu reden. Es ist aus 
der Literatur geniigend bekannt, daB die Reaktionen nicht etwa als ein 
sicherer MaBstab fiir Krankheitsbild und Krankheitsverlauf der Para¬ 
lyse zu betrachten sind und auch spontaner Wechsel in ihrer Starke 
vorkommt [siehe insbesondere Nathan und Weichbrodt 13 )] ; auch die 
Beeinflussung der Wa.R. des normalen Kaninchens durch Quecksilber 
und Salvarsan rat zur Vorsicht (Emanuel 1 *) ); daB die Salvarsanbehand- 
lung die Lymphocytose der Spinalfliissigkeit fast immer wesentlich 
herabsetzt, ist wohl zuerst von Assmann 16 ) beschrieben und ist von 
Plant 8 ) als regelmaBiges Behandlungsergebnis jeder antiluetischen Kur, 
ohne daB es eine klinische Besserung bedeutet, betont worden. Wenn ich 
daher auch sehr vorsichtig an die Frage der BeeinfluBbarkeit der Re¬ 
aktionen und des Entsprechens ihrer Besserung mit klinischer Beein¬ 
flussung heranging, so zeigen doch die Tabellen, daB die Veranderung 
der Reaktionen nicht ohne Bezug auf das Krankheitsbild erfolgt. Fast 
alle als gute Remissionen erscheinende Falle zeigen auch sehr betriicht- 
liche und andauernde Besserungen der Reaktionen und mit klinischer 
Verschlechterung geht einWiederansteigen der Reaktionen, insbesondere 
der Lymphocytose Hand in Hand; klinisch unbeeinfluBte Falle sind 
auch in den Reaktionen weniger beeinfluBt. DaB alle Reaktionen ganz 
negativ geworden sind, habe ich nur im Fall 3, der in seiner sehr guten 
Remission interkurrent starb, gesehen. 

Ein abschlieBendes Urteil liber die Bedeutung der Reaktionen und 
ihro Veranderung ist wohl nicht mbglich. 

Die Therapie der Paralyse ist ein Problem, dem eine praktische Be¬ 
deutung bisher noch nicht beigelegt werden kann; da/3 aber im paralytischen 


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Vier Jahre Paralysebehandlung mit Silbersalvarsan und Sulfoxylat. 349 


Krankheitsprozefi ein durch spezifische Behandlung in vielen Fallen be- 
einflufibarer Faktor steckt, ist ein ivissenschaftliches Problem, dessen posi¬ 
tive Bedeutung beriicksichtigt werden mu/3. 


Literaturverzeichnis. 

*) Zumbusch: Behandlung der frischen Syphilis. Munch, med. Wochenschr. 
1921. S. 1656. — 2 ) Fischer: Unspezifische Behandlung und Prophylaxe der pro- 
gredienten Paralyse. Dtsch. med. Wochenschr. 1921. S. 1087. — 3 ) Raecke: Zur 
Salvarsanbehandlung der progressiven Paralyse. Dtsch. med. Wochenschr. 1913. 
Nr. 28. — 4 ) Runge: Salvarsanbehandlung der progressiven Paralyse. Dtsch. med. 
Wochenschr. 1914. S. 998. — 5 ) Schamke: Zur Behandlung der Paralyse mit 
Salvarsan. Neurol. Zentralbl. 1914. Nr. 14. — *) Friedlander: Zur Behandlung 
und Beurteilung syphilidogener Geisteskrankheiten. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. 
Psychiatr. 43, S. 369,1918. — 7 ) Stern-Piper: Erfahrungen mit der Silbersalvarsan- 
behandlung der progressiven Paralyse. Munch, med. Wochenschr. 1922. S. 1007. 
— 8 ) Plant: Die Behandlung der Lues des Zentralnervensystems. Zeitschr. f. d. 
ges. Neurol, u. Psychiatr. Ref. 17, S. 185, 1918. — ®) Schacherl: Zum gegen- 
wartigen Stand der Therapie der nervosen Spfttlues. Jahrb. f. Psychol, u. Neurol. 
38, S. 413, 1918. — 10 ) Weichbrodt: Die Therapie der Paralyse. Arch. f. Psychiatr. 
u. Nervenkrankh. 61, 1919. — n ) Nonne: Syphilis und Nervensystein. 4. Aufl. 
Berlin 1921. — 12 ) Sioli: Uber die Behandlung der progressiven Paralyse mit 
Silbersalvarsan und Sulfoxylat. Dtsch. med. Wochenschr. 1920. Nr. 8. — 
ia ) Nathan und Weichbrodt: Untersuchungen liber die Wassermannsche Reaktion 
bei Paralytikern. Arch. f. Dermatol, u. Syphilis. 185, S. 308, 1921. — I4 ) Emanuel: 
Beeinflussung der Wassermannschen Reaktion des normalen Kaninchens durch 
Quecksilber und Salvarsan. Berl. klin. Wochenschr. 1921. S. 197. — 1S ) Assmann: 
Erfahrungen iiber Salvarsanbehandlung luetischer und metaluetischer Erkrankim- 
gen des Zentralnervensystems unter Kontrolle durch die Lumbalpunktion. Dtsch. 
med. Wochenschr. 1911. Nr. 35. 


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Erfahrungen fiber den Einfluti der intravenbseii Salvarsan- 
behandlung auf den Verlauf der progressiven Paralyse. 

Von 

Prof. Konig. 

(Aus der Dr. Hertzschcn Kuranstalt in Bonn [leitende Arzte: Prof. Dr. Konig und 

San.-Rat Dr. Wilhelmy].) 

(Eingegangen am 22. Januar 1923.) 

Nachdem wir vor einiger Zeit da/.u iibergegangen sind, die in unsere 
Beobachtung kommenden Falle von progressiver Paralyse mit Re- 
currens-Impfungen zu behandeln und die jahrelang gciibte intravenose 
Salvarsanbehandlung — von der in einigen Fallen mit Sa. kombinierten 
Proteinkorpertherapie haben wir keine wie immer gearteten Einfliisse 
gesehen, ebensow r cnig von Phlogetan, doch sind unsere Erfahrungen 
beziiglich des letzteren Pr&parates noeh zu gering, uni ein Urteil abgeben 
zu kbnnen — verlassen haben, mochte ich versuchen, mir iiber das posi¬ 
tive oder negative Ergebnis dieser Behandlungsw’eise Rechenschaft zu 
geben. Wenn auch eine groBe Zahl von Veroffentlichungen iiber diese 
Frage vorliegt — es wxirde den Rahmen dieser Arbeit uberschreiten, 
wollte ich eine genaue historische t)bersicht iiber die Entwicklung der 
Sa.-Behandlung der Paralyse und der Beobachtungen bei derselben 
geben, es ist dies in einer vor kurzcm erschienenen, von mir veranlafiten 
Doktorarbeit geschehen — so scheinen mir gewisse Punkte noeh einer 
Besprechung wert, gewisse Fragen einer Klarung bediirftig. Dazu 
scheint mir gerade unser Krankenmaterial, das sich in vielem von dem 
einer Klinik oder offentlichen Anstalt unterscheidet, besonders geeignet. 
Wahrend man in der Klinik oder Anstalt in der Page ist, sich die Kranken 
fiir eine bestimmte liehandlung auszuwahlen, sind wir in der Privat- 
anstalt gezwungen, jeden Kranken, ob er nach Art und Dauer der Er- 
krankung Aussicht auf Besserung bietet cxler nicht, zu behandeln, so dab 
man dadurch vielleicht ein reineres Bild der allgemein giiltigen Becin- 
flussungsmoglichkeit bekoinmt. Dazu kommt, daB wir, wenigstens in 
den moisten Fallen, die Kranken jahrelang, oft bis zum Ende beobachten 
und verfolgen konnen, Itei Ruckfallen wieder in unsere Hande Ite- 
kommen. SchlieBlich sind es fast ausschlieBlich Kranke der gebildeten 
Stande, und ebenso, wie auch sonst die Symptoniatologie und der Ver- 


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Konig: Erfahrungen iiber den EinfluB usw. 


351 


lanf bei Psychosen der gebildeten Stande sich in vielem von denen der 
ungebildeten unterscheiden, so treten auch hier gewisse Eigenheiten des 
Verlaufs in Erscheinung. Schon die Frage der Remission hat eine ganz 
verschicdene Bedeutung. Ein Handarbeiter wird viel eher wieder als 
vollarbeitsfahig in einer Remission erscheinen, als ein Gelehrter oder 
GroBkaufmann; Defekte, die bei den letzteren deutlich sichtbar werden, 
unter Umstanden eine ausschlaggebende Rolle spielen und ihre Tatigkeit 
unmdglich machen, konnen bei den mechanisch tatigen Handarbeitern 
wohl unbemerkt bleiben und sie nicht an ihrer Tatigkeit hindern. 
Ich habe mich immer schon gewundert iiber die Angaben iiber die hohen 
Prozentsatze von Remissionen mit voller Arbeit sfahigkeit. Wohl sahen 
wir auch bei unseren Kranken Remissionen, aber die Wiederkehr der 
vollen Arbeitsfahigkeit gehort doch zu den groBen Seltenheiten, so daB 
einzelne Falle — ich erinnere mich aus fruherer Zeit eines hohen Mini- 
sterialbeamten, der in einer Remission vortragender Rat wurde — sich 
einem unausldschlich einpragen. Zweifellos ist dieser Unterschied der 
Beobachtungen in der Verschiedenheit des geistigen Niveaus, der 
Arbeitsart der Kranken begriindet. Dieselben Erfahrungen dieser Art, 
wie wir sie schon in der Zeit vor dem Sa. gemacht habeu — man kann 
nach den verschiedensten Statistiken etwa 10% Spontanremissionen 
annehmen — werden uns auch bei den mit Sa. behandelten begegnen, 
so daB unserc Ergebnisse, wie ich schon jetzt sagen will, in gewisser Be- 
ziehung ein ungiinstigeres Bild ergeben, als andere Beobachtungen. 

Von den groBen Hoffnungen, die man nach der Einfiihrung des Sa. 
auch fur die Behandlung der Paralyse an dieses Praparat gekniipft hatte, 
war man relativ rasch zu einer groBen Enttauschung gekommen, was 
nicht verwunderlich ist, wenn man beriicksichtigt, daB man geglaubt 
hatte, durch eine oder nur ganz wenige Sa.-Injektionen EinfluB auf den 
Verlauf dieser Krankheit nehmen zu konnen. Allmahlich vergroBerte 
man die Dosen, weniger die einzclnen als die Gesamtdosen, kam zu 
Wiederholungen der Kur, ging auch zu anderen, heroischeren Appli- 
cationsmethoden als der intravenosen iiber, zur endolumbalen, intra- 
karotidialen, endokraniellen usw. Alle diese Methoden fiihrten aber zu 
keinem wesentlich besseren Ergebnis als die intravenose, was meiner 
Ansicht nach auch nur bei stark mechanistischer Auffassung vom Wesen 
der Wirkungsweise des Sa. erwartet werden konntc. Immerhin liegt 
eine ganze Reihe von Mitteilungen vor, aus denen hervorzugehen scheint, 
daB durch die Sa.-Behandlung bei einer Reihe von Fallen wenigstens eine 
gunstige Wirkung ausgeiibt worden ist. Ich verweise nur auf die seiner- 
zeitigen Mitteilungen von Baecke 1 ), Bunge' 1 ) u. v. a., die Erfolgc von 


l ) Dtsch. med. Wochensckr. 1913. Nr. 28. 
3 ) Ibidem. 1914. Nr. 20. 


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352 


Konig: Erfahrungen iiber den EinfluB der intravenosen 


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Weichbrodt 1 ), Sioli 2 ) und die zuletzt erschienenen Erfahrungen von Stern- 
Piper 3 ). Auch dieser letzte Autor — die Arbeit ist im Sommer 1922 er- 
schienen — steht auf dem Standpunkt, ,,daB der Prozentsatz der er- 
zielten Besserungen zu groB ist, als daB es moglich wit re, sie nur als spon- 
tane Remissionen zu deuten“. An dieser Anschauung werden wir 
also trotz Weygandts*) ablehnendem Standpunkt festhalten miissen, 
wenn auch meine eigenen Beobachtungen keine ganz so giinstigen Re- 
sultate ergeben, wobei ich auf das schon Gesagte iiber die prinzipielle 
Verschiedenheit in der Beurteilung der Arbeitsfithigkeit und Remissions- 
tiefe verweise. Es war auch weniger die Frage der Remissionen, die mich 
interessierte, als die Frage, ob durch die von uns gelibte Form der 
Sa.-Zufiihrung ein EinfluB auf die Dauer und die Art des Verlaufs 
erzielt worden sei, da sich mir im Laufe der letzten Jahre wiederholt 
ein dahingehendes Empfinden aufgedrangt hatte. Die nachfolgende Zu- 
sammenstellung meines Materials wird zeigen, daB es tatsachlich in 
ausgesprochener Weise der Fall ist. Bevor ich jedoch dazu tibergehe, 
mochte ich kurz auf die Gesamtdosen eingehen, die wir gegeben haben. 
Es waren dies in vielen Fallen recht groBe. Wir sind dem Beispiel und der 
Anregung Bunges folgend allmahlich zu immer hoheren Gesamtdosen 
iibergegangen, sofern es aus auBeren Griinden moglich war. In den 
Einzelgaben sind wir iiber mittlere Dosen nicht hinausgegangen und 
haben durch diese VorsichtsmaBregel nur ganz selten, und auch da nur 
andeutungsweise den angioneurotischen Symptomenkomplex gesehen, 
ohne daB wir jemals gezwungen gewesen waren, aus diesen oder anderen 
Griinden einer Schadigung die Behandlung abzubrechen. Das Zuriick- 
gehen auf die Anfangsdosis geniigtc, um die Behandlung, unter Um- 
standen unter dauernder Verwendung kleinerer Einzeldosen, weiter- 
fiihren zu konnen. Die einschleichende Behandlung, wie sie von Dreyfus 
in die Sa.-Behandlung der Neurolues eingefiihrt worden ist, hat uns 
seit Jahren die beaten Resultate ergeben. Da raeineBeobachtutigen 
sich iiber die letzten 8 Jahre erstrecken, so kamen alle in der Zeit an- 
gegebenen Sa.-Praparate zur Anwendung. Urspriinglich Neo-Sa., dann 
Na.-Sa. und schlieBlich Si.-Sa., dem wir trotz der empfehlenden Angaben 
von Dreyfus b ) iiber das Neo-Si.-Sa.treu blieben, da es sich uns in der Ver¬ 
wendung sehr bewahrt hatte und wir bei ihm trotz enorm hoher Gesamt¬ 
dosen, wie erwahnt, so gut wie keine unangenehmen Nebenerscheinungen 
sahen. Der grdBte Teil unserer Kranken ist mit Si.-Sa. behandelt wortlen, 
und ich beschranke mich darauf, von diesem die Einzeldosen anzugelien, 

J ) Ibidem. 1920. S. 205. 

2 ) Ibidem. 1918. Nr. 44. — Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. 61. 

3 ) Miinch. med. Wochenschr. 1922. Nr. 27. 

4 ) Miinch. med. Wochenschr. 1922. Nr. 8. 

5 ) Miinch. med. Wochenschr. 1922. Nr. 8. 


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Konig: Erfahxungen liber den EinfluC der intravenosen 


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auBer je 100 g Hg. in Einreibungen in 2 Serien 22,0 Na.-Sa. Danach 
vollige Remission, die vom Sommer 1917 bis Friihsommer 1919 anhalt, in 
der er in schwierigerStellung praktisch tatig war. Wahrend der Remission 
in 2 Serien nochmals 18,6 Na.-Sa. Am 14. X. 1819 wurde seine neuerliche 
Aufnahme wegen zunehmender GroBenideen notwendig. Er erhalt jetzt 
neuerlich 7,5 Na.-Sa. und dann noch 9,0 Si.-Sa., so dab er im ganzen 
48,1 Na.-Sa. und 9,0 Si.-Sa. erhalten hat. Vom Moment der 2. Aufnahme 
ab zunehmende Dernenz bei korperlich sehr gutem Zustande. Der Tod 
erfolgte imHerbst 1922im unmittelbaren AnschluB an einen paralytischen 
Anfall. 

Wenn wir nun trotz dieser hohen Dosen nicht nur keine Heilung, 
kaum nennenswerte Besserungen oder sehr viel zahireichere Remissio- 
nen gesehen haben, so diirfte dies wohl ein Beweis dafiir sein, daB auf 
diesem Wege, durch quantitative Steigerung der Sa.-Zufuhr keine Be- 
einflussung des Krankheitsprozesses selbst zu erreichen sein diirfte 
und diese Erkenntnis bestimmte uns auch von diesem einige Zeit ver- 
folgten Wege abzugehen und uns anderen Methoden zuzuwenden. 

Haben wir also auch keine in diesem Sinne giinstigen Erfolge dieser 
Behandlungsmethode gesehen, so hat dieselbe doch zweifellos einen ge- 
wissen EinfluB ausgeiibt, wie aus der nachfolgenden Zusammenstellung 
einwandfrei hervorgehen diirfte. Aus der Zahl der in den letzten 8 Jahre n 
in unserer Anstalt aufgenommenen 114Paralytikern sind fiir meineUnter- 
suchungen nur 75 zu verwerten. Von den iibrigen, die teils nach kiir- 
zerem, teils nach langerem Aufenthalt unsere Anstalt verlassen haben, 
konnte ich iiber ihr weiteres Schicksal keine Auskunf t erhalten. Die groBe 
Zahl erklart sich daraus, daB es zum Teil Auslander waren, die entweder 
in ihre Familie oder in auslandische Anstalten kamen. Von den 75 
Kranken, iiber deren Schicksal ich GewiBheit hatte oder eflangen konnte, 
sind 46 mit Sa. behandelt worden, bei 29 ist auf Wunsch der Angehorigen 
die Behandlung unterbheben bzw. eine andere (Proteinkorpertherapie 
mit Abijon oder Fieberbehandlung mit Phlogetan) gemacht worden. Bei 
einigen wenigen Kranken haben wir diese letzteren Methoden, wie schon 
erwahnt, mit Sa. kombiniert, ohne daB wir irgendeinen Unterschied im 
Verlauf hiitten feststellen konnen. 

Die Fragen, die ich mir bei der Durchmusterung des Materials zur 
Beantwortung und Klarstellung vorgelegt habe, waren neben der Haufig- 
keit und Tiefe der Remissionen die Dauer der Erkrankung oder besser 
gesagt die Lebensdauer nach Ausbruch der Erkrankung, der korperliche 
Zustand, die Art des Todes und schlieBlich dachte ich noch einen Beitrag 
dazu Uefern zu konnen, ob, wie von mancher Seite behauptet worden ist, 
die Friihbehandlung der Lues mit Sa. einen rascheren Ausbruch der Para¬ 
lyse in manchen Fallen bedingt. 

Was nun die Remissionen anbelangt, so habe ich eingangs schon er- 


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Salvarsanbehandlung auf den Verlauf der progressiven Paralyse. 355 


wahnt, daB das Ergebnis in dieser Beziehung kein besonders giinstiges 
ist. Im Einzelnen ware dazu folgendes zu sagen. Unter den 29 nicht mit 
Sa. behandelten Fallen finden sich 3 Remissionen von 2 bis 6 Monaten 
Dauer, so daB dieKranken zu Hause sein konnten ohne jedoch ihre voile 
Arbeitsfahigkeit w'ieder zu erhalten. Es entspricht dies ungefahr dem 
gewohnlich genannten Satz von 10% Spontanreraissionen, genau 10.34 ° , 0 . 
Die 6 mit Neo-Sa. behandelten Falle weisen eine Remission nach 3,2 auf 
von P /2 Jahren Dauer mit fast volliger Arbeitsfahigkeit. Es sind dies 
16,66%. Den groBten Prozentsatz weisen die 11 mit Na.-Sa. behan¬ 
delten Falle mit 3 auf, d. i. 27,27%. Davon eine kurze Remission von 
2 Monaten nach 16,0, eine von 1 Jahr nach 15,0, und eine jetzt bereits 
seit fast 4 Jahren anhaltende nach etwa 12,0. Wahrend jedoch in den 
beiden ersten Fallen die Remission keine vollstandige war, insofern als 
die Kranken eigenartig, gegenfriiher verandert, waren und nicht dieselbe 
Arbeitsleistung zeigten wie friiher, ist im letzten Fall die Remission eine 
totale. Volliges geistiges und nervoses Wohlbefinden, voile intensive 
Arbeitsfahigkeit mit produktiven Leistungen. Da Kraepelin 1 ) bereits 
Remissionen von 2 bis 3jahriger Dauer als Ausnahmen bezeichnet, 
mochte ich die Krankengeschichte dieses eigenartigen Falles hier in 
kurzem Auszug wiedergeben. 

L. S., Kaufmann,geb. 9. IV. 1866. I. Aufnahme 24.1.1919 bis 30.111.1919. Vater 
an Tabes gestorben. Infektion 1888. 3 Jahre Schwefelbader und Schmierkuren. 
Heirat 1898. 1 gesunder Sohn, keine Fehlgeburten der Frau. Zwischendurch Jod- 
kali genommen. Nov. 1915 schlaflos, nervos, erregt, schlapp. Nachlassen desGe- 
diichtnisses. Wassernmnn im Blut positiv. Januar 1916 7 Xeo-Sa.-Spritzen und 
12 Hg.-Einreibungen. DanachBesserung. August 1916 zur Nachkur nach Holland. 
I)ort im Hotel Erregungszustand. Wurde in eine Anstalt gebracht, von dort nach 
Deutschland in die Anstalt P. Dort bis November 1916. Dann wieder geschaftlich 
sehr tatig, groBe Umstitze. Oktobcr 1818 wieder erregt, kam nach B. Dort rasche 
Beruhigung. ImI)ezemberl918groBe geschaftlicheDifferenzen, auBerdem Rencontre 
mit Englandcm. Danach sehr erregt, auBerte GroBenideen, sprach von den vielen 
Millionen, die er verdiene usw. 

Pupillen different, r.>- 1., R. L. 1. —, r. spurweise. R. C. prompt. Deutliche 
artikulatorische Sprachstorung. K.-Z. auch mit Jendrassik nicht auslosbar, 
Achilles 0. Hypalgesie, Romberg -{-, Puls 78, Blutdruck 136, R. R. Urin frei von 
EiweiB und Zucker. Wassermann im Blut —, im Liquor von 0,6 an-}-, EiweiB stark 
vermehrt, 23 Zellen. 

25.1. Schreibt viel, will sich mit riesigen Summen an alien moglichen Unter- 
nehmungen lieteiligen. 

26.1. Prahlt mit seinen Beziehungen, will telephonieren, in die Stadt gehen, 
droht mit Gewalttitigkeit. Benihigt sich dann. Wird einer Schwester gegeniibcr 
handgreiflich zartlich. 

27. I. Erziihlt iminer dieselben Aachen mit groBer Weitschweifigkeit. 

31.1. Schreibt unendliche Briefe, zum Teil iibelsten erotischen Inhalts an 
friihere Geliebte. 

3. II. Sehr gehoben, fast ausschlieBlich erotisch eingestellt. 

1 ) Psychiatrie. 9. Aufl. 2. 


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356 


Konig: Erfakrungen fiber den EinfluB der intravenosen 


4. II. Begimiende Pneumonie. Temperatur 39,9. 

9. II. Kritischer Temperaturabfall. Sehr gereizt, will aufstehen, fordert Pfle- 
gerin auf, zu ihm ins Bett zu kommen. 

15. II. Gereizt, weinerlick, uneinsichtig, groBe Plane. 

25. II. Ruhig, geordnet, korrekt, korrigiert einen Teil seiner AuBerungen. 

26. II. Beginn einer Na.-Sa.-Kur. 

1. III. Leichter, 3 Minuten dauernder paralytischer Anfall mit BewuBtseins- 
verlust. 

30. III. Hat 6,0 Xa.-Sa. erhalten. Bei gutem Befinden entlassen. 

Wiederaufnahme 7. IX. 1919. Sclilechter Schlaf, Beinschmerzen, sonst gutes Be¬ 
finden. 1st gescliaftlich tatig. Erhiilt 2,1 Xa.-Sa. Kur muB abgebrochen werden, 
da Herzstorungen auftreten. 

Xachuntersuchung 1.19X. 22. Patient hat in den Jahren 1920, 21 und 1922 je 1,0 
Na.-Sa. erhalten. Wassermann im Blut stets —. Herzbeschewrden (deutliclie Ver- 
groBerung). Geschaftlich sehr tatig. Pupillenbefund unverandert. Sprache frei. 
Psychisch vollig intakt. 

An der Diagnose Paralyse bzw. Taboparalyse durfte wohl kaum zu 
zweifeln sein. Wenn auch die Veranderungen an den Pupillen, das 
Fehlen der Lichtreaktion, der Kniezeichen und Achillesreflexe, der 
positive Romberg, nur das Vorhandensein einer Tabes beweisen wiirden, 
womit sich auch die Liquorveranderungen und der Ausfall der Wasser- 
mannschen Reaktion vereinbaren lassen, so sprechen doch die Sprach- 
storungen, die Erregungszustande, die GroBenideen dafiir, daB auBer- 
dem ein echt paralytischer ProzeB vorliegt. Eigenartig an dem Fall ist, 
daB bereits einmal im Jahre 1916 nach einem mehrmonatigen Er- 
regungszustand eine gute, fast 2 Jahre anhaltende Remission vorhanden 
gewesen war. Die jetzige Remission setzte nach einem mehrmonatigen 
typisch paralytischen Erregungszustand im Verlauf einer Na.-Sa.-Kur 
ein und hat, wie wir uns bei der Nachuntersuchung iiberzeugen konnten, 
jetzt fast 4 Jahre lang angehalten. Auffallend ist die Riickbildung der 
Sprachstorung, wahrend die iibrigen korperliehen Symptome unver- 
iindert geblieben sind. 

Glier ein gleich gunstiges Ergebnis vermag ich bei den mit Si.-Sa. 
behandelten Kranken nicht zu beriehten. Wohl finden sich unter den 29 
Fallen 5 Remissionen, was einem Prozentsatz von 17,24% entsprieht, 
doch ist keine von so langer Dauer wie in dem vorstehend geschilderten 
Fall — die langste etwa 1 Jahr — und auch nur bei 2 ist fur die Zeit von 
3 / 4 bzw. 1 Jahr eine uneingeschrankte Arbeitsfahigkeit vorhanden ge¬ 
wesen. Zurzeit befindet sich von alien 46 behandelten Fallen nur mehr 
der angefiihrte in Remission. FaBt man alle Remissionen zusammen, 
so ergeben sich 9 bei 46, d. i. 19,56%, also rund das Doppelte der Spon- 
tanremissionen. 

Bei einem groBen Teil durchaus unabhangig von dem Auftreten von 
Remissionen ist die Dauer des Leidens, d. h. die Lebensdauer der 
Kranken von dem Zeitpunkt der ersten echt paralytischen Ersehei- 


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Salvarsanbehandlung auf den Y'erlauf der progressive!! Paralyse. 357 

nungen, wobei ich natiirlich das oft jahrelang vorausgehende neur- 
asthenische Prodromalstadium unberiicksichtigt lasse. Da ich es mir 
zur Regel gemacht habe, bei der Erhebung der Anamnese mit moglichster 
Genauigkeit festzulegen, wann die ersten retrospektiv vom Arzt als 
sicher paralytisch zu bewertenden Krankheitserscheinungen aufgetreten 
sind, war es mir an der Hand unserer Krankengeschichten leicht, einen 
Uberblick iiber die GroBe dieser Zeitraume in den einzelnen Fallen zu 
gewinnen, da die Kranken entweder bis zum Ende in unserer Anstalt 
verblieben waren, oder mir die Krankengeschichten der anderen An- 
stalten zur Verfiigung standen. Wahrend von den 29 nicht, und den 
6 mit Neo-Sa. behandelten Kranken keiner mehr am Leben ist, lebt von 
den 11 Na.-Sa.-Kranken noch einer und von den 29 mit Si.-Sa. be¬ 
handelten noch 16, so daB naturgemaB in dieser Kategorie die Be- 
rechnung der durchschnittlichen Lebensdauer nur ein ungenaues Re- 
sultat ergeben kann, die tatsachlichen Zahlen werden erheblich groBer 
sein. Aber auch so diirfte der Unterschied deutlich erkennbar in Er- 
scheinung treten. 

Die Lebensdauer der nichtbehandelten Kranken schwankt zwischen 
3 Monaten (1 Fall) und 6 Jahren (1 Fall). 1m Durchschnitt ergibt sich 
eine Lebensdauer von 23,8 Monaten, was ungefahr den sonstigen An- 
gaben entspricht (Smith 24, Torkel 27, Raecke 28, Behr 32, Junius und 
Arndt fur Manner 28, fur Frauen 24 Monate) 1 ). Eine noch geringere 
Durchschnittszahl zeigt sich bei den mit Neo-Sa. behandelten Fallen, 
wobei allerdings zu bedenken ist. daB es sich um ganzlich ungeniigend 
behandelte Falle handelt. Wir finden bei diesen 6 Fallen eine Durch- 
schnittslebensdauer von 21,7 Monaten. wobei vielleicht bemerkenswert 
ist, daB 1 Fall der 3,2 erhalten hat, 2'/4Jahre lebte, ein anderer, der spater 
in einer anderen Anstalt Tuberkulin erhielt, 3 Jahre. 

Andere Ergebnisse erhalten wir nun bei den weit ausgiebiger be¬ 
handelten Na.-Sa.-Fallen. Hier finden wir bereits einen Durchschnitt 
von 36,8 Monaten. Noch deutlicher wird der Unterschied, wenn wir die- 
jenigen, die bis zu 8,0Na.-Sa.erhalten haben, von denen, diedariiber be- 
kommen haben, gesondert betrachten. YVahrend bei den ersteren der 
Durchschnitt 24,2 Monate ist, ist er bei den letzteren 51,6 Monate! Ein 
ganz ahnliches Resultat erhalten wir bei den Si.-Sa.-Kranken, bis zu 
8,0 ergibt einen Durchschnitt von 22 Monaten, iiber 8,0 48 Monate. 
Fassen wir schlieBlich die beiden Behandlungsgruppen zusammen, so 
ergibt sich fur die Gesamtheit eine Durchschnittslebensdauer von 
32,6 Monaten, bis zu 8,0 22,5 Monate, uber 8.0 49,5 Monate. Wir sehen 
also, daB sich die Zahlen ziemlich gleich bleiben: 23,8 bzw. 21,7, 24,2 
und 22 Monate bei nicht oder geringbehandelten Kranken, 51 bzw. 48 


*) Zit. nach Kraepelin, Psychiatrie. 


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358 Konig: Erfahningen iiber den EinfluB der intravenosen 

oder 49,5 Monate bei Kranken, die mit groBen, zum Teil sogar recht 
groBen Dosen behandelt worden sind. Nach dieser Feststellung diirfte 
es wohl zweifellos sein, daB eine intensive Sa.-Behandlung die Lebens- 
dauer verlangert. Es ware nun die Frage zu erortern, wodurch diese 
Verlangerung bedingt ist, ob durch die spezifische antiluetische Wirk- 
samkeit des Sa. oder durch die in demselben enthaltene Arsen-Kom- 
ponente, deren roborierende Wirkung uns ja aus anderen Praparaten 
zur Geniige bekannt ist. Man miiBte die ganzen Problerae der Para¬ 
lyse aufrollen, wollte man diese Frage genau beantworten. Dazu scheint 
mir in diesem kurzen Rechenschaftsbericht nicht der Platz zu sein. 
Meines Erachtens nach sind beide Faktoren wirksam. Es findet eine 
Abtotung einer gewissen Anzahl in erreichbaren Gegenden befindlicher 
Spirochaten statt und die Widerstandskraft des Organismus gegen die- 
selben und die von ihneri produzierten Toxine wird gleichzeitig gestarkt. 
Darin diirfte die verlangerte Lebensdauer begriindet sein ebenso wie 
das haufigere Auftreten von Remissionen. Ich darf vielleicht in diesem 
Zusammenhang auch kurz darauf hinweisen, daB wir trotz der ein- 
gehenden Bearbeitung, die die Pathogenese, die pathologische Anatomic, 
Serologie der Paralyse erfahren hat, war iiber das eigentliche Wesen des 
Vorgangs, den wir als Remission bezeichnen, nicht klar sind, auch nicht 
angeben konnen, warum in dem einen Fall eine solche auftritt, in dem 
andern nicht. Auch die genaue Kontrolle der korperlichem Symptome, 
der Veranderungen im Liquor, wie sie von einer Reihe von Autoren 
durchgefiihrt worden ist, hat uns hierin nicht wesentlich weitergebracht, 
allein schon aus dem Grunde, weil psychische Besserungen, also das, was 
wir Remissionen nennen, durchaus nicht immer Hand in Hand mit 
riicklaufigen Veranderungen der korperlichen Krankheitszeichen ein- 
hergehen. Soweit es mir moglich war, habe ich natiirlich auch bei unseren 
Kranken versucht, das Verhalten dcs Liquors zu kontrollieren. Die Aus- 
beute ist allerdings nicht groB geworden. Nur in 7 Fallen war es mir 
moglich, wiederholte Kontrolluntersuchungen vorzunehmen. Es liegt 
dies an dem C'harakter der Privatanstalt, in der wir gezwungen sind, 
bei jedem, wenn auch kleinen Eingriff nicht nur das Einverstandnis des 
Kranken selbst — sofern er zu einem derartigen EntschluB fahig ist —, 
sondern auch das der Angehorigen einzuholen, das leider in den meisten 
Fallen nicht gegeben ward. Die Wassermannsche Reaktion im Blut 
woirde natiirlich regelmaBig nach Beendigung einer Injektionsserie oder 
in groBeren Zwaschenraumen gepruft, aber mit dieser allein, die haufig 
inkonstant, manchmal von vornherein negativ ist, laBt sich nicht viel 
anfangen, so daB ich die Falle, in denen der Blut-Wassermann allein 
negativ wurde, meist auch nur voriibergehend, unberiickischtigt lasse. 
Eine Verminderung der Zellzahl sah ich in 4 Fallen, nach Dosen von 12,0 
und 20,2 Si.-Sa., und zwar einraal von 98 auf 12 und einmal von 160 auf 


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Salvarsanbehandlung auf den Verlauf der progressiven Paralyse. 359 


13 Zellen, in alien Fallen ohne Eintreten einer Remission. In einem Fall, 
der unaufhaltsam in tiefste Verblodung iiberging, stieg die Zellzahl 
sogar nach 12,0 Si.-Sa. von 11 auf 52. Der Liquor-Wassermann blieb 
bis auf 3 Falle ganzlich unbeeinfluBt. In einem Fall wurde er, der ur- 
spriinglich von vornherein stark positiv war, erst von 0,2 an positiv, im 
zweiten von 0,6 an und nur im dritten Fall wurde er ganz negativ, und 
zwar bei einem Kranken, der in 208 Injektionen 27,0 Si.-Sa. erhalten 
hatte, dabei aber das typische Bild des paralytischen Blodsinns mit 
phantastischen GroBenideen bot. 

Praktisch bedeutungsvoller erscheint mir folgende Feststellung, die ich 
bei der Durchsicht der Krankengeschichten machen konnte. Wahrend 
wir unter den nicht oder kaum behandelten Fallen elfrual einen lang- 
sam zunehmenden korperlichen Verfall, der sehlieBlich die Kranken ins 
Moosbett oder Dauerbad brachte, sahen, und der Tod manchmal nur 
mehr zum Skelett abgemagerte, in contracturierten Stellungen liegende, 
kaum mehr menschenahnliche Wesen erloste, erlebten war dies bei den 
mit Sa. behandelten Fallen nur zweimal, ja, bei den mit mehr als 8,0 
Na.-Sa. oder Si.-Sa. behandelten liberhaupt nicht. Allerdings lebt ein 
groBer Prozentsatz dieser Kranken ja noch. Aber der ganze Verlauf ge- 
staltet sich anders. Auch bei fortschreitender Verblodung bleiben die 
Kranken korperlich riistig, teilweise in glanzender Verfassung, konnen 
im Garten spazierengehen, sehen gut aus, bis dann sehlieBlich fast regel- 
maBig ziemlich plotzlich der Tod eintritt. Mit Ausnahme von wenigen 
Fallen, in denen interkuirierende Krankheiten das Ende herbeifiihrten 
— einmal erfolgte in einer Remission 6 Wochen nach der Entlassung 
Suicid —, trat der Tod im Zusammenhang mit einem oder mehreren 
paralytischen Anfallen auf, entweder im Anfall selbst oder durch die un- 
mittelbaren Folgen desselben. Diese Tatsache war uns schon im Laufe 
der letzten Jahre wiederholt aufgefallen. Relatives Wohlbefinden, guter 
korperlieher Zustand bis zuletzt, dann plotzliche Anfalle und Tod. Man 
hat dann oft den Eindruck, als ob eine bis dahin kiinstlich aufrecht- 
erhaltene Widerstandskraft zusammenbreche oder, besser gesagt, iiber- 
waltigt werde. 

Das scheint mir das Hauptresultat einer intensiv getriebenen Sa.- 
Therapie zu sein, daB dieselbe die Lebensdauer verlangert, den Kranken 
langere Zeit korperlich aufrechterha.lt und daB der Tod dann plotzlich 
eintritt. Man kann nun dariiber verschiedener Meinung sein, ob ein 
solches Ergebnis, besonders was den ersten Punkt anbelangt, erstrebens- 
wert ist oder nicht. Abgesehen davon, daB es im Einzelfall unter Um- 
standen von groBer Bedeutung sein kann, den Kranken langer am Leben 
zu erhalten, diirfte wohl die Tatsache, daB die Kranken korperlich riistig 
bleiben und ohne langes Siechtum ihr Ende finden, in jedem Fall zu be- 
griiBen sein, nicht nur im Interesse der Kranken selbst, sondern auch der 


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360 


Konig: Erfahrungen iiber den EinfluB der infra venosen 


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Angehorigen, fiir die diese Erkrankung haufig mehr Qual und Sorge be- 
deutet als fiir den raeist euphorisch dementen Paralytiker. Wir wollen 
hoffen, daB die neueren Behandlungsversuche mit Malaria- oder Re- 
currens-Impfungen auch aul die Dauer bessere Resultate ergeben 
werden, das mogliche Ergebnis der Sa.-Behandlung der Paralyse 
steht fiir raich auf Grund der obigen Feststellungen ziembch sicher. 
Ob eventuell Kombinationen der eben erwahnten Therapie mit 
Sa. zu giinstigeren Ergebnissen fiihren werden, wird uns die Zu- 
kunft lehren. 

Mit wenigen Worten mochte ich noch auf eine Erage eingehen, die 
von verschiedenen Seiten aufgeworfen worden ist, ob namlich durch eine 
Sa.-Behandlung nach der Infektion der Ausbruch eitier Paralyse ■— fiir 
die ebenfalls hierher gehorige Tabes steht mir nicht geniigend Material 
zur Verfiigung — begiinstigt bzw. beschleunigt wiirde. Leider konnte ich 
nur in nicht ganz dem drittenTeil aller zur Beobachtung gekommenen 
Paralytiker, in 35 Fallen, genaue Angaben iiber den Zeitpunkt der In¬ 
fektion und der eventuellen Behandlung erhalten. In alien iibiigen 
Fallen wurde eine Infektion entweder negiert oder die Angaben waren 
so wechselnd und ungenau, daB sie nicht mit zur Berechnung herange- 
zogen werden konnten. Dieser geringe Bruchteil an positiven Angaben 
ist darauf zuriickzufiihren, daB in vielen Fallen die Angehorigen von der 
Infektion iiberhaupt nichts wissen und die Kranken haufig schon in 
einem psychischen Zustand sind, daB ihre Angaben absolut unzuver- 
lassig sind. In manchen Fallen mag auch eine bewuBte Negierung vor- 
liegen. Eine Durchforschung der 35 Falle, bei denen ich genaue Angaben 
erhalten konnte, ergibt keine Anhaltspunkte dafiir, daB tatsachlich durch 
eine Sa.-Behandlung nach Feststellung des Primaraffektes der Aus¬ 
bruch einer Paralyse beschleunigt wiirde, wenn auch, wie wir gleich 
sehen werden, die wenigen mit Sa. friih behandelten Falle zu denen mit 
relativ kiirzeren Intervallen gehoren. Vergleichen wir zunachst die 
beiden Reihen der nach der Infektion nicht (15) mit den iiberhaupt (20) 
behandelten Fallen miteinander, so zeigt sich kaum ein wesentlicher 
Unterschied. Die Intervalle erstrecken sich bei der ersten Reihe auf 
7 bis 29 Jahre, bei der zweiten auf 5 bis 35 Jahre. Eine Berechnung des 
Durchschnittsintervails ergibt 18,6 bzw. 18,4 Jahre, also ungef&hr das- 
selbe. Auffallend war mir, daB sich entgegen den Statistiken von Four¬ 
nier l ), Junius und Arndt 1 ), Kraepelin 1 ) kein Anschwellen der Paralyse- 
zahlen zwischen dem 10. und 15. Jahr feststellen lieB, sondern daB sich 
die Zahlen ziemlich gleichmaBig auf die einzelnen Jahre verteilen. FaBt 
man die einzelnen Jahrzehnte zusammen, so findet man in der ersten 
Reihe im ersten Jahrzehnt 2, im zweiten 7, im dritten 6, bei der zweiten 


x ) Zit. nach Kraepelin. 


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Salvarsanbehandlung auf den Verlauf der progressiven Paralyse. 361 

Reihe im ersten 3, im zweiten 11, im dritten 3 und im vierten 3, wobei 
die grofiere Anzahl im zweiten Jahrzehnt bei beiden in der zweiten 
Halfte gelegen ist. Es konnte sein, daB der spatere Ausbruch der Er- 
krankung bei unserem Material zum Teil darauf zuriickzufiihren ist, 
daB es Kranke sind, die gut zu leben in der Lage waren, sich haufig 
pflegen konnten, mit der Arbeit ausgespannt haben, so daB vielleicht 
ihre Widerstandskraft langer vorgehalten hat. Abgesehen davon konnen 
auch bei der Errechnung dieser Zahlen dadurch leicht grofiere Diffe- 
renzen entstehen, daB eine allgemein giiltige Norm, was als Krankheits- 
ausbruch anzusehen ist, nicht besteht und wohl auch nicht geschaffen 
werden kann. Wahrend der eine das erste feme Wetterleuchten der 
Paralyse etwa in Form neurasthenischer Beschwerden von Kopf- 
schmerzen, Reizbarkeit, Schlafstorungen u. dgl. als Krankheitsbeginn 
auffaBt, verlegt der andere den Beginn der Erkrankung erst in den Zeit- 
punkt, zu dem auch der Umgebung der Ausbruch einer schweren Er¬ 
krankung klar und bewuBt wird. In diesem Sinne sind auch bei meinen 
Berechnungen hier sowohl wie bei der friiher besprochenen Lebensdauer 
die entsprechenden Zahlen zustande gekommen. Von alien 20 behandel- 
ten Fallen haben nur 3 Sa. gleich nach festgestellter Infektion erhalten, 
in welchen Dosen war nicht mehr zu eruieren. In den anderen Fallen 
wurde nur Hg. gegeben, verschiedentlich auch Jodkali. Eine ganze Reihe, 
es diirften 7 gewesen sein, haben in spateren Jahren mehr oder minder 
intensive Sa.-Kuren durchgemacht. Die 3 mit Sa. behandelten zeigen 
Intervalle von 5 (nur Sa.), 7 (Sa. + Hg.) und 11 (nur Sa.) Jahren. Da 
Intervalle von nur 5 Jahren auch sonst zur Beobachtung kornmen, ware 
es meines Erachtens verfehlt, aus diesen vereinzelten Beobachtungen 
Schliisse irgendwelcher Art ziehen zu wollen. Der Zeitpunkt fiir der- 
artige Beobachtungen diirfte auch noch zu friih sein. Eine scharfere 
Erkenntnis und eine fiir die Beurteilung der ganzen Paralysefrage 
zweifellos bedeutsame Klarung der Frage, ob durch systematische, mit 
regelmaBigen Kontrollen von Blut und Liquor einhergehende Behand- 
lung der Ausbruch einer Paralyse (oder Tabes) verhindert werden kann, 
wiirde sich erst dann erbringen lassen, wenn von jedem Luetiker der 
genaue Behandlungsverlauf festgelegt und zentral gesammelt wiirde, 
damit beim Ausbruch einer Paralyse (Tabes) durch Nachfrage — etwa 
beim Reichsgesundheitsamt — festgestellt werden konnte, welclie Be- 
handlung der Betreffende durchgemacht hat. Auf diese Weise wiirden 
sich allmahlich jene Behandlungsmethoden herauskristalhsieren, nach 
denen es niemals zum Ausbruch einer der vorerwiilinten Krankheiten 
kommt. Einer solchen Organisation wiirden zweifellos eine Reihe 
groBter Schwierigkeiten und Hemmnisse entgegenstehen, aber solange 
man auf die Angaben der Patienten oder seiner Angehorigen angewiesen 
ist — der Name des Arztes ist oft gar nicht mehr bekannt oder der Arzt 
Archiv fiir Psychiatric. Bd. 68. 24 



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362 Konig: Erfahrungen liber den EinfluB usw. 

ist verstorben —, wird man keine sichere Antwort auf dieseFragen geben 
konnen. 

Wenn ich das Ergebnis meiner an 75 Paralytikern gemachten Unter- 
suchungen zusammenfasse, so komme ich zu folgendem SchluB: Die 
Sa.-Behandlung der Paralyse mit grofien Dosen vermehrt die Zahl der Re- 
missionen, verlangert die Lebensdauer der Kranken, verhiitet einen lang- 
samen allmdhlichen V erf all, so dafi der Tod bei relativ gutem korperlichen 
Zustand plotzlich erfolgt. 


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(Aus der Prov.-Heil- u. Pflegeanstalt Bonn 
[Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. A. Westphal].) 

Schwierigere Fragen aus dem Gebiete der experimental len 
Horfahigkeitsbestimmung bei psychogener Schwer- 
horigkeit und Taubheit 1 ) 2 ). 

Von 

Priv.-Doz. Dr. 0. Lowenstein, 

Oberarzt der Anstalt. 

Mit 10 Textabbildungen. 

(Eingegangen am 26. Januar 1923.) 

Die Idee, aus den unbewuBten Bewegungen, die als Reaktion auf ge- 
horte akustische Reize von jedem Menschen ausgefuhrt werden, auf den 
Grad der zugrunde liegenden Horfahigkeit zu schlieBen, ist so nahe- 
liegend, daB sie kaum einer Rechtfertigung bedarf. Und die Idee selbst 
ist so einfach, daB man auf den ersten Blick kaum sieht, wo da iiber- 
haupt schwierigere Fragen entstehen konnen. Aber wie uberall, wo es 
darauf ankommt, Ideen in die Praxis umzusetzen, ist auch hier eine 
Technik notwendig, die es zu beherrschen gilt. Die Schwierigkeiten 
dieser Technik sind von doppelter Art. Es sind einmal Schwierigkeiten 
des Experimentierens an sich. Diese Schwierigkeiten konnen durch 
bloBe Ubung iiberwunden werden. Es sind zweitens Schwierigkeiten, 
die sich aus der psychologischen Natur des Experimentes ergeben; zur 
Uberwindung dieser Schwierigkeiten gehort ein gewisses MaB von Ein- 
sicht in das Wesen des psychologischen und pathopsychologischen 
Experimentes. DaB es sich dabei aber keineswegs um schwer uberwindbare 
Schwierigkeiten handelt, geht schon daraus hervor, daB nach unseren 
bisherigen Erfahrungen wenige Tage der Ubung geniigt haben, um einen 
einigermaBen geschickten und vor allem interessierten Untersucher so 
weit in die Untersuchungstechnik einzufiihren, daB er den Bediirfnissen 
der Praxis zu genugen vermag. 

x ) Nach einem Vortrage, gehaltcn in der Gesellschaft westdeutscher Ohren- 
arzte zu Koln ain 26. XI. 1922. 

2 ) Vgl. hierzu Lowenstein: Ui>er eine Methode zur Fest.stellung der wahren Hor¬ 
fahigkeit und die Unterscheidung der organischen von der psychogenen Schwer- 
horigkeit und Taubheit. Munch, med. Wochenschr. 1920, Nr. 495, S. 1402 ff., 
sowie Brunzlow-Lowenstein: Zeitschr. f. Ohrenheilk. u. f. Krankh. d. Luftwege. 81, 
Heft 1—2, 1921. 

24* 


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364 O. Lowenstein: Schwierigere Fragen aus dem Gebiete der experimentellen 


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Die feinen Bewegungen, mit denen Kopf, Extremitaten und Atmung 
jeden BewuBtseinsvorgang begleiten, stellen in ihrer Gesamtheit eine 
Spraehe dar, die zwar nicht von lautlicher Natur ist, die aber deshalb 
wahrscheinlich nicht weniger fein differenziert ist als die Lautsprache 
selbst. Aber wie man eine Lautsprache erst lernen muB, um sie zu ver- 
stehen, und wie es notwendig ist, den Schliissel zu ihr zu besitzen, um 
sie erlernen zu konnen, so bedarf es auch eines Schliissels, um in das 
Verstandnis dessen einzudringen, was in den unbewuBten Ausdrucks- 
bewegungen ausgedriickt wird. Aber wie schon der Name sagt, unter- 
scheidet sich die Spraehe, die in ihrer hoheren Ausbildung zur bewuBten 
und mehr oder weniger willkiirlichen Gebardensprache wird, von unserer 
im allgemeinen angewandten Lautsprache dadurch, daB sie sich un- 
bewuBt und unwillkurlieh vollzieht. Doch gerade darin liegen die Vor- 
teile, die sie uns bietet, wenn wir sie als Grundlage fiir die Feststellung 
der wahren Horfahigkeit in solchen Fallen benutzen wollen, in denen 
die Angaben unserer Kranken aus irgendeinem Grunde unzuverlassig 
erscheinen und daher der Objektivierung bedurfen. Denn eben weil die 
Spraehe der Ausdrucksbewegungen sich unbewuBt und unwillkurlieh 
vollzieht, bedurfen wir zu ihrer Feststellung nicht der aktiven Mit- 
wirkung der Kranken. Wir erwarten bei unseren Untersuchungen von 
unserem Kranken nur, daB er unseren Intentionen nicht bewuBt ent- 
gegenarbeitet. Mit einem solchen bewuBten Entgegenarbeiten werden 
wir so lange nicht zu rechnen haben, als der Kranke die Natur der an ihm 
vorgenommenen Untersuchungen nicht kennt, und als nicht bewuBte 
Boswilligkeit eingreift und den normalen Ablauf der Ausdrucksbe¬ 
wegungen stort. Es gibt freilich auch noch eine andere Form von Be¬ 
wegungen, von denen wir im allgemeinen annehmen, daB sie sich zwar 
bewuBt, aber doch nicht willkiirlich vollziehen, und die dennoch den 
Ablauf der unbewuBten Ausdrucksbewegungen ganz wesentlich storen 
oder doch wenigstens verandern miissen. Ich denke dabei an die Zitter- 
zustande, die so oft als Ausdruck der hysterischen Erregung in die Er- 
scheinung treten, und die — so wenigstens seheint es auf den ersten 
Blick -— die Durchfiihrung unserer Methodik storen und ihre Anwend- 
barkeit in Frage stellen miissen. Diese Frage, die Frage, ob bzw. inwie- 
weit hysterische Zitterzustande ein Hindernis fiir die Anwendbarkeit 
unserer Methode zur Feststellung der wahren Horfahigkeit ist, soil eine 
der Fragen sein, die wir heute besprechen wollen. 

Eine zweite Schwierigkeit ergibt sich vielfach aus der Frage, ob 
psychomotorische Horreaktionen nicht ledighch als rein auBerliche Re- 
aktionen auf akustische Reize aufzufassen sind, denen Beziehungen zum 
Inhalte des akustischen Reizes ganz und gar fehlen konnten. Mit 
anderen Worten: Ob die Feststellung der wahren Horfahigkeit nach 
unserer Methodik dariiber etwas auszusagen vermag, ob die akustischen 


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Horfahigkeitsbestimmung bei psychogener Schwerhorigkeit und Taubheit. 365 

Reize, von denen wir nachweisen, daB sie gehort wurden, nicht nur 
gehort, sondern auch ihrem Inhalte nach verstanden sind. Diese Frage 
nach dem inhaltlichen Erfassen von an sich wahrgenommenen Reizen, 
nach dem, was wir als Apperzeption im Gegensatz zur Perzeption be- 
zeichnen, ist das zweite, was wir heute besprechen wollen. 

Die dritte Frage ist von unfallrechtlicher Natur: Welche unfall - 
rechtlichen Konsequenzen ziehen wir aus objektiven Feststellungen, die 
— wie sich zeigen wird — in direktem Gegensatze zu dem subjektiv 
bestimmten Verhalten eines Unfallverletzten stehen? Wie bemessen wir 
die Rentenfestsetzung bei einem Unfallverletzten, der sich benimmt, 
als ob er taub ware, bei dem wir aus guten Griinden Simulation aus- 
schlieBen konnen, und dem wir dennoch nachweisen, daB bei ihm eine 
wesentliche Einschrankung der wahren Horfiihigkeit jedenfalls objektiv 
nicht besteht? 

Wir beginnen mit der Behandlung der ersten Frage: Inwieweit ver- 
mogen hysterische Zitterzustande den Nachweis der wahren Horfahig- 
keit zu storen? Es leuchtet ohne weiteres ein, daB heftige Zitter- 
bewegungen den Ablauf der psychomotorischen Reflexe moglicherweise 
ernstlich zu storen imstande sind. Um zu zeigen, wie wir diese Schwierig- 
keiten iiberwinden komien, miissen wir etwas weiter ausgreifen und uns 
liber die Natur dieser hysterischen Zitterzustande klar werden, so wie 
sie uns in experimentellen und klinischen Untersuchungen entgegen- 
treten. Diese Untersuchungen 1 ) haben uns gelehrt, daB alle hysterischen 
Zitterzustande trotz der Vielgestaltigkeit ihrer Ausdrucksformen das 
eine Gemeinsame haben, daji sie in hohem Grade ablenkbar sind; daB 
jeder sensorische oder sensible Reiz, der imstande ist, die Aufmerksam- 
keit zu fesseln, diese zugleich von der Vorstellung des Zitterns ablenkt 
und im allgemeinen fiir kiirzere oder langere Zeit ein Sistieren des 
Zitterns liervorruft. Es fand sich, daB relativ geringwertige Reize sen- 
sibler oder sensorischer Art, die ein Augenblicksinteresse in unserem 
Patienten hervorzurufen imstande waren, geniigten, um die Aufmerk- 
samkeit des Kranken von seinem Zittern abzulenken, und dadurch den 
Ablauf des Zitterzustandes in entscheidender Weise zu modifizieren. 

Das moehte ich zunachst an einem Beispiele zeigen. In der Abb. I sehen wir 
einen typischen Zitterzustand vor uns. Er stammt von einer 26jiihrigen Frau, 
bei der wir die Diagnose ..Degenerative Psychopathic von hysterischem Geprage' 4 
gestellt hatten. In ihrer Familie waren wiederholt nervos-psychopathische Cha- 
raktere vorgekommen. Sie selbst besaB eine gut entwickelte Intelligenz, hat 
uber schon von friiher Jugend an eine hochgradige Haltlosigkeit des ganzen 
VVesens, Neigung zu auffalligem Verhalten, zu phantastischer Ausschmuckung 


Vgl. hierzu sowie zum folgenden: Lcwenstein : Experimented Hysterie- 
lehre. Zugleich ein Versuch zur experimentellen Grundlegung der Begutachtung 
psychogener Unfallfolgen. Bonn: Friedr. Cohen 1923 (z. Z. im Druck). 


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366 0. Lowenstein: Schwierigere Fragen aus dcm Gebiete der experimentellen 




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tier Wirklichkeit (Pseudologia phantastica) und iibertriebenen AffektauBerungen 
gezeigt. Seit einigen Jahren litt aie auch an hysterischen Anfallen und 
hysterischen BewuBtseinsveranderungen. lm Jahre 1914 hatte sie als 17jahriges 
Madchen einen Freiherm mit altadligem Namen geheiratet, der wenige Tage 
spater im Felde fiel. Sie selbst fiihrte seitdem das Leben einer Hochstaplerin; 
trotzdem sie bald darauf einen zweiten Mann mit biirgerlichem Namen ge¬ 
heiratet hatte, fiihrte sie den Namen ihres ersten Mannes weiter, bezeichnete 
sich als SchloBherrin und FideikommiBbesitzerin, wurde wiederholt wegen Hoch- 
stapelei und Erpressung unter Anklage gestellt, trennte sich wieder von ihrem 
Manne, gebar mehrere uneheliche Kinder und wurde schlieBlich in die Anstalt ein- 
geliefert, da sie wegen Betruges angeklagt war und da Zweifel an ihrer Zurechnungs- 
fahigkeit und strafrechtlichen Verantwortlichkeit entstanden waren. Bei der 
korperlichen Unlersuchung gab sie Analgesie am ganzen Korper an; sie zeigte 



Abb. 1. Beseitigung eines hysterischen Zitterzustandes durch ablenkende Verbal- 

suggestion (+ 1 bis + la). 


auBerdem einen Zitterzustand von der Art. wie in Abb. 1 graphisch registriert und 
wiedergegeben ist. Wir sehen einen maBig mechanisierten Zitterzustand, der so- 
wohl durch leichte Schmerzreize in angeblich analgetische Hautzonen als auch durch 
ablenkende Verbalsuggestionen regelmaBig zum Stillstand gebracht werden konnte. 
Von -f 1 bis -fla wurde eine ablenkende Verbalsuggestion gesetzt, die in der Tat 
ein Sistieren des Zitterns hervorrief. 

Genau so wie die Ablenkung der Aufmerksamkeit eine Verminderung 
des Zitterns hervorzurufen imstande ist, kann die Hinlenkung der Auf¬ 
merksamkeit eine Vermehrung hervorrufen. Diese Hinlenkung der 
Aufmerksamkeit braucht nicht unmittelbar von dem Inhalte der Sug¬ 
gestion auszugehen; sie kann auch mittelbar von den Vorstellungen 
ausgehen, welche die dem Inhalte nach ganz anders gerichteten 
Suggestionen erst mittelbar im BewuBtsein erzeugen. So kann z. B. die 
gleiche Suggestion, die normalerweise eine Ablenkung von der Vor- 
stellung des Zitterns und damit eine Verminderung des Zitterzustandes 
hervorruft, unter anderen Umstanden eine Vermehrung desselben er¬ 
zeugen, wenn sie namlich den Kranken zu der Cberzeugung fiihrt, daB 
der durch sie hervorgerufene BewuBtseinszustand eine solche Ver- 


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Horfahigkeitsbestimmung bei psychogener Schwerhorigkeit und Taubheit. 367 


mehrung erzeugen miisse. Naturlieh ist auch die dritte Mbglichkeit 
gegeben: Suggestionen, die nicht ausreichen, urn die Aufmerksamkeit 
abzulenken, die auch von dem Kranken nicht so verarbeitet werden, dab 
sie in irgendwelche Beziehung zu dem produzierten Zitterzustand ge- 
setzt werden, miissen mit Bezug auf ihn irrelevant bleiben. 

Fiir die Feststellung der wahren Horfahigkeit bei zitternden Schwer- 
horigen bleiben solche akustischen Suggestionen, die den Zitterzustand 
nicht beeinflussen, gleichgiiltig. Jede akustische Suggestion aber, die ein- 
deutig eine Vermehrung oder Verminderung des Zitterzustandes hervorzu- 
rufen imstande ist, indent sie die Aufmerksamkeit auf dasZittern hin-oder von 


ihm ablenkt, kann 
im Sinne der Fest¬ 
stellung der wahren 
Horfahigkeit ver- 
wendet werden. Ihre 
Resultate sind oft 
besonders schon 
und eindeutig. 
Wohl konnen sehr 
starke Zitterzu- 
stande die Fest¬ 
stellung des wah¬ 
ren Horvermogens 
erschweren, beson¬ 



ders wenn sie so ^bb. 2. Hysterisches Zittem, Taubheit, Analgesie. Ab- 
stark sind, dab der lenkbarkeit des Zittems. 


Kranke mit ihnen Bei 4 : angeblich nicht gehorter Schreckreiz, bei -f 5: 
den Apparat zu angeblich nicht gehorte Verbalsuggestion. 


zerstoren droht. 


In solchen Fallen mub die Versuchsanordnung durch Einschaltung massi- 
verer, mit starken Gummiplatten bespannter Aufnahmekapseln und 
durch Zwischenschaltung von abdampfenden Kapseln abgeandert wer¬ 
den. Fur die Durchfiihrung derartiger Experimente bedarf es gelegent- 
lich grober Geduld und haufigerer Wiederholung der Versuche, bevor 
manzum Ziel gelangt. Auf die Dauer aber haben derartige Falle bisher 
die Feststellung der wahren Horfahigkeit nicht hindern konnen. 

Abb. 2 gibt ein Beispiel eines derartigen Experimentes. Wir sehen links von +4 
einen starken Zitterzustand, der bei + 4 durch einen angeblich nicht gehorten 
Schreckreiz (Knall), welcher jedoch eine tvpische Schreckzuckung erzeugte, zuiu 
Verschwinden gebracht wurde, der zwar nach einigerZeit von neuem auftrat, aber 
bei + 5 durch eine ablenkende, angeblich nicht gehorte Verbalsuggestion abermuls 
zum Verschwinden gebracht werden konnte. 

Bei jeder Feststellung der wahren Horfahigkeit macht die Fest¬ 
stellung des inhaltlichen Verstehens einen wesentlichen Teil der Unter- 



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368 O. Lowenstein: Schwierigere Fragen aus dem Gebiete der experimentellen 


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reehter FuB 


linker FuB 


suchung aus. Zwar haben die Untersuchungen der letzten Jahre gezeigt, 
daB zweifellos jedem BewuBtseinsinhalt und ganz gewiB jedem mit dem 
BewuBtseinsinhalt verbundenen Gefiihlszustand eindeutige korperliche 
Begleiterscheinungen entsprechen. Aber dennoch mussen wir von vorn- 
herein bekennen, daB es uns nach dem gegenwartigen Stande unserer 
Kenntnisse unmoglich ist, aus der blofien Kurvenform allein schon auf 

die Natur des Be- 
wu Bt se insinh altes 
zu schlieBen, der 
dieses Kurvenbild 
erzeugte. 

Dock dessen be- 
darf es auch nicht, 
um inhaltlicheHdr- 
bestimmungen zu 
machen. Wennich 

— wie das in 
Abb. 3 geschieht 

— einen plotz- 
lichen Schreckreiz 
setze, und ich neh- 
me (bei + 1) eine 

Ausdrucksbewe- 
gung wahr, die den 
im allgemeinen zu 
beobachtenden 
Schreckreaktionen 
entspricht, so bin 
ich in der Lage zu 
erklaren, daB der 
Kranke etwas 
wahrgenommen 

habe, auch wenn der Kranke selbst etwa angibt, nichts, nicht ein- 
mal seine eigene motorische Reaktion, sei ihm bewuBt geworden. Ich 
kann also hier die Angaben des Kranken bis zu einem gewissen Grade 
objektiv richtigstellen. Aber ich hiite mich doch zu behaupten, daB 
dem Kranken iiber die Art des akustischen Reizes, der hier stattgehabt 
hat, etwas bewuBt geworden sei. Denn ich kann in einem solchen Fall 
die Moglichkeit nicht ausschlieBen, daB die durch den Knall erzeugten 
Schreckbewegungen als akustikomotorische Reflexbewegungen an- 
gesprochcn werden mussen, die dem BewuBtsein fremd geblieben sind. 
DaB solche Reflexbewegungen moglich sind, daran wollen wir prinzipiell 
nicht zweifeln, wenn sie uns auch in Kontrollversuchen an Gesunden 



Atmmig 


Zeit (*/* Sekunde) 


Abb. 3. Bei +1 Wirkung eines angeblich nicht gehorten 
Knalles. Schreckwirkung mit hinzutretendem — psycho- 
genem — Zittern, besonders des rechten FuBes. 


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Horfahigkeitsbestimmung bei psychogener Schwerhorigkeit und Taubheit. 369 

niemals begegnet sind; denn wir wissen ja doch, daB auch das groBhirn- 
lose Tier, bei dem jedenfalls von einem verstehenden Horen nicht mehr 
die Rede sein kann, in der gleichen Weise Schreckreaktionen darbietet. 
Wenn aber unser Kranker angibt, auch die Schreckreaktion als solche 
nicht wahrgenommen zu haben, trotzdem er bei der isolierten Priifung 
der Bewegungsempfindlichkeit sehr viel kleinere Bewegungen richtig 
wahrnimmt, so ist es in erster Linie dieser Widerspruch, der mich miB- 
trauisch macht gegen seine Angaben. Gabe der Kranke an, die Schreck¬ 
reaktion oder gar den Knall wahrgenommen zu haben, so wiirde ich 
nicht berechtigt sein, aus dieser Angabe einen RiickschluB auf seine 
Horfahigkeit zu machen. Die Tatsache aber, daB er trotz heftigster 
Schreckreaktion, die noch dazu durch 
einen nachfolgenden psychogenen Zit- 
terzustand unterstrichen wird, angibt, 
weder objektiv einen Knall noch sub- 
jektiv eine Reaktion wahrgenommen 
zu haben, berechtigt mich, an der 
Zuverlassigkeit seiner Angaben zu 
zweifeln. 

In solchen Fallen wird man weiter- 
gehen und die akustikomotorischen 
Reaktionen priifen, die im Gefolge 
von Verbalsuggestionen auftreten. 

Man wird den Schwellwert festzu- 
stellen haben, bei dem akustikomo- 
torische Reaktionen gerade eben noch 
auftreten. Diesen Schwellwert wird 
man als vorliiufige Horgrenze ansprechen. Abb. 4 zeigt, wie das gemeint 
ist. Es handelte sich um einen Mann mit organisch bedingter Schwer¬ 
horigkeit, bei dem jedoch der Grad der Schwerhorigkeit nach An¬ 
gabe des Ohrenarztes mit dem zu erhebenden objektiven Befunde 
nicht in Einklang zu bringen war. Wir naherten uns ihm mit Fliister- 
sprache, und dabei fanden wir, daB wir beim Horen mit beiden Ohren 
durch Fliistersprache aus 2 m Entfemung regelmaBig Reaktionen er- 
zielen konnten. In Abb. 4 sehen wir bei + 7 bis -}- 7 a ein Beispiel fur die 
Art einer solchen Reaktion, die sich an Kopf und Atmung abspielte. 
Es handelte sich also um eine Pfropfschwerhorigkeit, die organisch be- 
dingt war, die aber durch eine psychische Komponente verstarkt wurde, 
deren MaB wir genau ermitteln konnten. 

In diesen und anderen Fallen fand sich, daB die Reaktionen, die wir 
oberhalb der Horschwelle erzielen konnten, auBerordentlich verschieden 
waren, wenn der Inhalt der von uns gesetzten Suggestionen verschieden- 
artig war. So fand sich, daB relativ gleichgiiltige Mitteilungen quantitativ 



Abb. 4. Wirkung einer Verbalsug- 
gestion (von +7 bis + 7a) aus 2 ni 
Entfemung. 


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370 O. Lowenstein: Schwierigere Fragen aus dem Gebiete der experimentellen 


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geringe Reaktionen erzeugten, wahrend solche Reizworte, auf die der 
Untersuchte gewohnheitsmaBig zu reagieren pflegte, wie z. B. das 
Nennen des eigenen Namens, sehr viel starkere Wirkungen zeitigten. 
Es fand sich ferner, daB die Reaktion weiterhin gewaltig zunahm, wenn 
die Suggestion bei dem Untersuchten auf Komplexe traf, d. h. auf stark 
gefiihlsbetonte Vorstellungen. Wenn wir feststellen konnten, da/i Art und 
Grad der Reaktion in genau der gleichen Weise wechselten, in der der 
Inhalt der als Reiz gesetzten Suggestionen wechselte, so fanden wir hierfiir 
keine and ere Erklarung als die, da/3 der Wechsel der Reaktionen vom Ver- 
stdndnis des wechselnden lnhaltes ahhangig war. 

Um diese Erkenntnisse in eine Form zu bringen, die die Feststellung 
des inhaltlichen Horens fiir die Praxis durchfiihrbar machen sollte, be- 
dienten wir uns eines Verfahrens, das ich als ,,indirekte Methode zur 
Feststellung des inhaltlichen Hdrens“ bezeichnet habe. 


rechte Hand 


Atm ung 

Zeit <>/t Se¬ 
ll unde) 

Abb. 5. Nachweis des inhaltlichen Horens bei experimenteller Simulation von Taubheit. 

Um verstandlich zu machen, um was es sich dabei handelt, be- 
trachten wir dieKurven der Abb. 5. Sie stammen von einem 22jahrigen 
Studenten der Medizin, der die Aufgabe erhielt, zum Zwecke des Ex- 
perimentes Taubheit zu simulieren. 

Bei + 8 der Abb. 5 wurde er unter die Wirkung einer Furchtsuggestion gesetzt, 
in dem ihm mitgeteilt wurde, daB sogleich etwas auf ihn einwirken wiirde, das ihin 
wehe.tun werde. Diese Suggestion wurde bis + 8a hin standig gesteigert. Von 
— 8a ab hingegen wurde in genau dem gleichen Tone, und ohne daB ini Sprechen 
eine Pause eingetreten ware, an die Stelle der Furchtsuggestion eine Losungs- 
suggestion gesetzt, indem der Versuchsperson mitgeteilt wurde, daB alles das, was 
vorher gesagt worden war, nur zum Zwecke des Versuches gesagt ware. Diese 
Suggestion dauerte bis + 9 (nicht mehr mit abgebildet). Von -f 9 ab horte jede 
Suggestivwirkung auf. Wir sehen, wie den verschiedenen Stadien der Suggestiv- 
einwirkung verschiedene Kurvenstadien entsprechen. Wir sehen ganz besonders. 
daB bei -f- 8a ein Wechsel des Kurvenstadiums eintritt, indem die Atmungs- 
schwankungen der rechten Hand, die im Stadium der Furcht gegeniiber dem In- 
differenzstadium abgeflacht waren, nunmehr im Stadium der Losung wieder starker 
hervortreten. Dieser Wechsel im Kurvenstadium kann nur auf den Wechsel im 
Infinite der gesetzten Suggestion bezogen werden. 

Wir wiirden also im vorliegenden Falle nachweisen konnen, daB die 
Versuchsperson nicht nur unbestimmte akustische Reize wahrgenommen 



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Horfahigkeitsbestimmung bei psychogener Schwerhorigkeit und Taubheit. 371 


hat, sondern da!3 sie auch das Gehorte verstand und mit den adaquaten 
Geftihlstonungen begleitete. In der Tat sagte die Versuchsperson uns 
hinterher aus, daB sie trotz ihres Versuches des Sperrens gegen den In- 



Abb. 6. Nachweis des inhaltlichen Horens bei hysterischer Taubheit. Reaktionen 

in Fliistersprache aus 10 in. 


halt der Suggestionen sich zuerst eines Gefiihls der Furcht und spa ter 
eines Gefiihls des Erlostseins nicht erwehren konnte. 



Abb. 7. Nachweis des inhaltlichen Horens bei hysterischer Taubheit. Reaktionen 

in Fliistersprache aus 3 m. 

Die gleichenResultate, die wir in Abb. 5 bei experimented simulierter 
Taubheit erzielen konnten, fanden wir in denjenigen Fallen wieder, in 
denen es sich nicht um simulierte, sondern um hvsterische Taubheit 
handelte. Auch hier konnten wir deutlich die beiden Stadien der Furcht 
und der Losung voneinander abgrenzen. Die Abb. 6 und 7 geben hierfur 
ein Beispiel. In beiden Fallen handelte es sich um hvsterische Taubheit, 



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372 0- Lowenstein: Schwierigere Fragen au6 dera Gebiete der experimentellen 


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bei denen es mit Flustersprache noch aus 3 bzw. aus 10 m Entfernung 
gelang, Reaktionen zu erzielen, die nach dem Inhalte der Suggestionen 
wechselten. In beiden Fallen reicht das Stadium der Furcht von + 5 
bis +5 a, das derLosung von -f 5 a bis -f 5b. Ein deutlicher Wechsel 
ist bei -f- 5 a wahrnehmbar. 

In dem Falle der Abb. 6 handelte es sich um eine rein hysterische Taubheit; die 
Horpriifung, deren Ergebnisse abgebildet sind, wurde in Flustersprache aus 10 m 
Entfernung vorgenommen. In dem Falle der Abb. 7 handelte es sich um einen Fall 
von geringer organischer (Mittelohr-) Schwerhorigkeit, die psychogen zur Taubheit 
gesteigert wurde; die Horpriifung wurde in Flustersprache aus 3 m Entfernung. 
d. i. der Grenzwert, bei dem inhaltliche Reaktionen gerade noch nachweisbar 
bdeben, vorgenommen. In Abb. 6 sind die Bewegungen der linken Hand, des Kopfes 
und der Bauchatmung, in Abb. 7 diejenigen der Brust- und der Bauchatmung 
wiedergegeben. In beiden Figuren sehen wir unter dem Einflusse der Furcht- 
suggestion (von + 5 bis -f 5a) Veranderungen auftreten, die sich — als bei + 5a 
der Inhalt der Suggestion geandert, die Furchtsuggestion in eine Losungssuggestion 
iibergefiihrt wurde — alsbald zuriickbildeten. Man sieht jedenfalls in beiden Fi¬ 
guren ein deutlich abgegrenztes Kurvenstadium, das von 4- 5 bis +5a reicht. 


rechte Hand 


Brustatmung 


Bauchatmung 

Zeit ( 1 3 Sekunde) 

Abb. 8. Nachweis des inhaltlichen Horens auf der Grundlage der erhohtenSuggesti- 
bilitAt. Bei -f 5a Zuckung bei Schmerzankiindigung. Der angekiindigte Sehmerz- 

reiz wurde nicht gesetzt. 

Wenn man streng darauj achtet, daft die Suggestionen der Furcht und 
der Losung sich nicht in Hirer akustischen Form , d. h. in dem Tone, in dem 
sie gesetzt werden, unterscheiden, und da($ zwisclien der Beendigung der 
Furchtsuggestion und dem Beqinn der Losungssuggestion nicht etwa 
eine Pause eintritt. so kann der Wechsel in der Kurvenform nur auf 
den Wechsel im Inhalte der Suggestionen bezogen werden; d. h. aber, 
daji der hysterisch Taube die gesetzten Reize nicht nur gehort, sondern zu- 
gleich auch verstanden hat , dafi weder die Perzeption noch die Apperzeption 
gestort war. 

Eine zweite Methode fiir den Nachweis des inhaltlichen Verstehens 



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Horfahigkeitsbestimmung bei psychogener Schwerhbrigkeit und Taubheit. 373 


bei hysterischer Taubheit haben wir als ,,direkte Methode “ bezeichnet. 
Diese Methode ist in ihrer Anwendungsmoglichkeit insofem beschrankt, 
als ihre Anwendung eine erhohte Suggestibilitat bei der Versuchsperson 
voraussetzt. Die Methode besteht darin, daB wir der Versuchsperson 
ankiindigen, wir wiirden bei einem gegebenen Zeichen. etwa beim Nennen 
der Zahl ,,drei“ mit einem elektrischen Strom einen starken Schmerzreiz 
setzen. Wir zahlen darauf bis ,,drei“ und sehen zu. welche Wirkung das 
Nennen der Zahl ,,drei“ im graphischen Bilde hervorruft. Sehr suggestible 
Personen reagieren darauf mit einer 


Zuckung in genau der gleichen Weise, 
wie wenn der Schmerzreiz, den sie er- 
warteten, wirklich gesetzt worden ware. 

In Abb. 8, die von der nicht schwerho- 
rigen Versuchsperson der Abb. 1 stammt, ist 
das Prinzip der Methode erlautert. Die An- 
kiindigung des Schmerzes bei +5 fiihrte 
wiederum zum Sistieren des Zitterzustandes, 
der vorher vorhanden war. Diese Ankiin- 
digung wurde bei + 5 in der oben bezeich- 
neten Art scharf abgeschnitten. Als Resultat 
beobachten wir eine deutliche Zuckung in 
der Kurve der rechten Hand und der Bauch- 
atmung, trotzdem in Wirklichkeit ein 
Schmerzreiz nicht gesetzt wurde. Das gleiche 
beobachten wir — stark vermehrt und psy¬ 
chogen unterstrichen — in der Kurve der 
Abb. 9, die unter den gleichen Umstanden 
bei einem hysterisch Tauben entstand. Wir 
sehen bei + 4 eine starke, sekund&r verstarkte 
Reaktion, trotzdem an dieser Stelle ein 
Schmerzreiz nur angekiindigt — und zwar in 
Fliistersprache aus 3 m — nicht wirklich ge¬ 
setzt war. Das Stkrkeverhaltnis der Re- 
aktionen, die hier bei angeblicher Taubheit 



Kopf 


Brust- 

ntnumiz 


Baucli- 

atmuniz 


(Zeit ‘/ 2 ^- 
kunde) 


sehr viel starker war als in Abb. 8, in der es 
sich um eine nicht Schwerhorige handelte, 
ist natiirlich auch vielfach umgekehrt. 

Aus dem Auftreten einer solchen 


Abb. 9. Xachweis des inhaltlichen 
Horens auf der Grundlage der er- 
hohten Suggestibilitat. Bei -f 4 
Zuckung nach Schmerzankiindi- 


rein suggestiv erzeugten Schmerz- 
reaktion schlieBen wir, daB die von 
uns gesetzte Suggestion inhaltlich 
verstanden wurde. Zu welchen Wir- 


gung in Fliistersprache aus 3 m 
Entfernung. Der angekiindigte 
Schmerzreiz wurde nicht gesetzt. 
Hysterische Taubheit. 


kungen ein solcher, mit der direkten Methode angestellter Versuch 
bei Hysterikern mit der Neigung zu psychogenen Reaktionen fiihren 
kann, ersehen wir aus den Kurven der Abb. 9. Die Furchtsuggestion 
wurde in genau der gleichen Weise gesetzt, wie das oben beschrieben 
ist; als bei + 4 das Signal gegeben wurde (Nennen der Zahl j.dreF 1 ), 


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374 O. Lowenstein: Schwierigere Fragen aus dera Gebiete der experimentellen 


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bei dem der angekiindigte Schmerzreiz erwartet wurde, zuckte die 
Versuchsperson in genau der gleichen Weise, wie wenn der Schmerzreiz 
wirklich gesetzt worden ware. Dabei handelt es sich um eine angeblich 
vollstandig Taube. Auch dieses Verhalten beweist inhaltbches Verstehen. 

Die an mehr als 300 Fallen von hysterischer Taubheit vorgenommenen 
inhaltlichen Horbestimmungen haben um gelehrt, da/3 der hysterisch Taube 
gam allgemein in demselben Grade hort und versteht, in dem er nicht durch 
organische Schadigungen daran gehindert wird. 

Vergleichende Untersuchungen, die wir auf den verschiedensten Ge- 
bieten hysterischer Storungen anstellten, fiihrten zu ahnlichen Resul- 
taten. DaO die hysterischen Zitterzustande abhangig sind von dem Grade, 
in dem die Aufmerksamkeit auf sie gerichtet wird, haben wir schon 
oben betont. Wir fiigen hinzu, dali die hysterische Blindheit nicht am 
Sehen hindert, die hysterische Schmerzlahmung nicht an der Perzeption 
von Schmerzempfindungen und die hysterische Lahmung nicht an der 
Ausfiihrung derjenigen Bewegungen, die als Flucht- und Abwehr- 
bewegungen unwillkiirlich auf jeden plotzlich gesetzten Schmerzreiz 
ausgefiihrt werden. Analoge Verhaltnisse fanden wir hinsichtlich aller 

iibrigen hysterischen Symptome, die war in den 
letzten Jahren untersuchten. In der vollstan- 
digen Analogie, die sich dabei hinsichtlich des 
Krankheitswertes aller hysterischen Symptome 
ergab, haben wir nicht zuletzt auch einen Be- 
weis fiir die Richtigkeit der Ergebnisse zu er- 
blicken, die ich soeben fiir die hysterische 
Schwerhorigkeit und Taubheit vorgetragen habe. 
Der unmittelbare Kranlcheitswert der hysterischen 
Symptome im allgemeinen und der hysterischen 
Schwerhorigkeit und Taubheit im besonderen ist gleich Null zu setzen. 

Wenn wir uns eine Vorstellung machen wollen von dem Horbild, das 
unsere Untersuchungen zutage gefordert haben, so konnen wir das in 
Form zweier konzentrischer Kreise (Abb. 10). 

Der Radius des aulleren Kreises R bezeichnet die absolute Horgrenze. 
d. h. diejenige Entfernung, auBerhalb welcher wir eine akustikomoto- 
rische Reaktion iiberhaupt nicht mehr wahrnehmen konnen. Der Radius 
des kleinerenKreises r bezeichnet diejenige Entfernung. innerhalb welcher 
ein inhaltliches Verstehen jederzeit nachgewiesen werden konnte. 
Zwischen R und r aber befindet sich eine Zone (II), innerhalb der wir 
zwar jederzeit akustikomotorische Reaktionen nachweisen konnten, in 
der es uns aber nicht gelang, ein inhaltliches Verstehen nachzuweisen. 
Natiiiiich kann es sich bei der vorstehenden schematischen Figur nicht 
um scharfe Grenzen handeln, sondern wiederum nur um Zonen, die in 
der vorstehenden Figur durch Linien schematisiert sind. DaB das auch 



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Horfahigkeitsbestimmung bei psychogener Schwerhorigkeit und Taubheit. 375 

so sein muB, ergibt sich schon allein aus der verschiedenen Wertigkeit 
der lautlichen Bestandteile, die fiir die Priifung des Sprachgehors not- 
wendig sind. 

Was ergibt sich aus diesen Tatsachen fiir die Rentenfestsetzung der 
hysterisch Schwerhorigen und Tauben? Damit kommen wir zur Beant- 
wortung der dritten und letzten der von uns oben aufgeworfenen Fragen. 
Bevor wir sie beantworten konnen, miissen wir wenigstens kurz Stellung 
nehmen zu der Frage nach dem Wesen der Hysterie, so wie es sich uns 
nach den Ergebnissen unserer experimentellen Uutersuchungen darstellt. 
Wenn — wie wir oben gesagt haben — die hysterische Taubheit nicht am 
Horen, die hysterische Blindheit nicht am Sehen, die hysterische Analge- 
sie nicht an der Ausfuhrung von Flucht- und Abwehrbewegungen gegen 
plotzliche Schmerzreize hindert, wenn — wie wir vorher sagten — das 
hysterische Symptom ganz allgemein keinen Krankheitswert besitzt, so 
miissen wir auch konsequent sein und anerkennen, daB die Hysterie 
keine Krankheit ist. Also, wird man schlieBen, ist wohl die Hysterie 
nichts anderes als Simulation? Ein solcher Schlufi mire unrichtig. Zahl- 
reiche klinische und experimentelle Tatsachen, deren Auseinander- 
setzung an dieser Stelle zu weit fiihren wiirde, sprechen gegen die 
Richtigkeit eines solchen Schlusses. Die Disjunktion: Entweder Rrank- 
heit oder Simulation ist eben unvollstandig. Es bleibt ein Drittes: Die 
Hysterie ist nichts anderes als die normalpsychologische Reaktion. die 
bestimmten psychischen Konstitutionen eigentiimlich ist. Solche Kon- 
stitutionen konnen sowohl bei Gesunden als auch bei geistig Minder - 
wertigen als auch bei Geisteskranken vorkommen. 

Das stimmt iiberein mit der Tatsache, daB wir hysterische Symptome 
in der Tat sowohl bei Gesunden als auch bei Minderwertigen als auch bei 
Geisteskranken vorfinden. Fiir die Beurteilung im Einzelfalle wird man 
zu fragen haben, inwieweit hinter dem Symptom eine abnorme Konsti- 
tution oder ein KrankheitsprozeB steht. An und fiir sich braucht das 
Symptom nicht auf eine psychische Krankheit hinzuweisen. 

Wie mag denn wohl der psychische Mechanismus aussehen, auf 
Grand dessen er entstehen kann? Das ist eine Frage, die ich in dem 
kurzen Rahmen eines Vortrags nur andeutungsweise beantworten kann. 
DaB bestimmte Vorstellungen, z. B. die Vorstellung einer Bewegung, 
auch beim gesunden Menschen zur Ausfuhrung der vorgestellten Be¬ 
wegung zu fiihren vermag, ist eine Tatsache, die unter der Bezeichnung 
,,ideomotorisches Prinzip“ (Carpenter) seit mehr als sechzig Jahren be- 
kannt ist. Wenn ich einer Versuchsperson ein Fadenpendel in die Hand 
gebe, und ihr zugleich die Vorstellung einer bestimmten Bewegung 
suggeriere, so kann man regelmaBig nach einiger Zeit beobachten, daB 
das Fadenpendel die durch meine Suggestion vorgestellte Bewegung 
ausfuhrt. DaB die Vorstellung bestimmter Krankheiten zu abnormen 


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376 O. Lowenstein: Schwierigere Fragen aus dem Gebiete der experimentellen 


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Korpersensationen im Sinne dieser Voratellungen fiihren kann, ist eine 
viel zu bekannte Tatsache, als daB sie durch spezielle Beispiele erlautert 
werden miiBte. Wo Krankheitsvorstellungen auf konstitutionell oder 
sonstwie begriindete hypochondrische Voratellungen stoBen, da kann die 
aus ihr resultierende Uberzeugung des Krankaeins auf dem Wege langst 
bekannter, normalpsychologischer Mechaniamen die uns ebenfalls be- 
kannten hysterischen Symptome zeitigen. Vulgar auagedriickt beruht 
ein so entstandenes Symptom auf Einbildung: aber auf ehrlicher Ein- 
bildung, nicht auf Simulation. 

Die einfache Formel, die wir damit auf experimentell empiriacher 
Grundlage gepragt haben, macht die komplizierten Theorien, die viel- 
fach fiir die Genese hysterischer Symptome aufgestellt wurden, iiber- 
fliissig. Sie gibt uns zugleich leicht zu handhabende Grundlagen fiir die 
unfallrechtliche Begutachtung aolcher hysterischer Symptome an die 
Hand, die sich im AnschluB an entschadigungspflichtige Unfalle ent- 
wickelt haben. Von einer hysterischen Taubheit im besonderen werden 
wir zunachst experimentell nachzuweisen verauchen, ob bzw. bis zu 
welchem Grade sie den von ihr Betroffenen hindert, durch Suggestionen 
in angeblich unterschwelliger Sprache erzeugten Voratellungen von be- 
vorstehenden Gefahren auszuweichen. Wo etwa ein hysterisch Tauber, 
der angibt, im AnschluB an einen Bergwerksunfall oder an eine Granat- 
erschiitterung im Felde ertaubt zu sein, auf solche Suggestionen, die 
in Fliistersprache aua 5 m Entfernung gesetzt werden, mit Abwehr- 
bewegungen reagiert, die dem Sinne der gesetzten Suggestionen ent- 
sprechen, da bleibt objektiv von der angegebenen Taubheit nichts mehr 
iibrig. Da bleibt nichts als die subjektive Krankheitsiiberzeugung, und 
diese Uberzeugung beruht auf einem Irrtum, der zumTeil aus konstitutio¬ 
nell begriindeten hypochondrischen Vorstellungen, zum anderen Teil 
aber auch aus unrichtigen pathologischen Vorstellungen iiber die Genese 
der in Fragc stehenden Erkrankungen entstanden sein kann. Weder das 
eine noch das andere braucht krankhaft zu sein; es kommt zwar haufig 
bei geistig Minderwertigen vor, kann auch W’ohl in psychopathischer 
Minderwertigkeit begriindet sein. Aber diese Begriindung hypochondri- 
scher Konstitution und hysterischer Reaktion ist durchaus nicht con¬ 
ditio sine qua non fiir ihr Vorkommen. Die Hysterie ist eben an sich 
keine Krankheit, sondern lediglich der Ausdruck eines Charakters, einer 
besonderen Personlichkeitsartung; die hysterischen Symptome sind auf- 
zufassen als Mamfestationen dieses Charakters, in dem sie normal- 
psychologisch begriindet und folglich der Idee nach ausrottbar sind 1 ). 

Wenn daher bei einer hysterischen Personlichkeit im AnschluB an einen 
Unfall auf Grund eines normalpsychologisch erklarbaren Irrtums iiber die 

’) Eine ausfuhrliche Darstellung und experimentelle Ableitung dieser Ge- 
dankengange findet sich in meiner ..Experimentellen Hysterielehre'*. 


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Horfahigkeitsbestinimung bei psychogener Schwerhorigkeit und Taubheit. 377 

Wirkung dieses Unfalls hysterische Reaktionen entstehen, so wird man die 
dadurch gezeitigten Symptome — wenn sie nachweislich objektiv keine 
schadigende Wirkung hervorrufen — nur so lange als entschadigungs- 
pflichtig anzusehen haben, als nicht von sachverstandig arztlicher Seite 
eine Aufklarung dariiber erfolgt ist, dab objektiv eine Schadigung nicht 
stattgefunden hat. Ob der Trager der hysterischen Reaktion sich durch 
solche autoritativ arztliche Belehrung beeinflussen lassen will oder nicht, 
bleibt seine Sache. Rein juristisch betrachtet liegt kein Problem darin, 
dab eine solche Uniiberzeugbarkeit — wenn sie nicht ihrerseits wiederum 
krankhaft begriindet ist — nicht zum Schaden des Versicherungstragers 
ausgelegt werden darf. Rein arztlich betrachtet hingegen erweist man 
einem solchen mit hysterischen Reaktionen belasteten Individuum den 
besten Dienst, wenn man sein Interesse an der Aufrechterhaltung un- 
richtiger, zu hysterischen Symptomen fiihrender (j berzeugungen nicht 
dadurch noch vermehrt, dab man die Uniiberzeugbarkeit mit Renten 
belohnt. 

Die Frage nach den unfallrechtlichen Konsequenzen, die wir aus dem 
Vorliegen einer hysterischen Hbrstorung zu ziehen haben, kann nur im 
Rahmen einer allgemeinen experimentell begriindeten Hysterielehre 
beantwortet werden, die nicht nur die hysterischen Horstbrungen, 
sondern in gleicher Weise alle iibrigen hysterischen Symptome in den 
Kreis ihrer Betrachtungen einbezieht, und die die Ergebnisse des Ex- 
perimentes mit denen der klinischen Erfahrung verbindet. Ihr fitllt eine 
doppelte Aufgabe zu: Einmal rein empirisch den Mechanismus aufzu- 
decken, dem das hysterische Symptom seine Entstehung verdankt, und 
zu zeigen, ob dieser Mechanismus noch als normalpsychologisch anzu¬ 
sehen ist. Sie hat die fernere Aufgabe. die psychischen Folgezustande 
dieses Mechanismus, d. h. also das hysterische Symptom, experimentell 
hinsichtlich seines Krankheitswertes zu analysieren. Dabei kommt es 
fiir die Begutachtung und fur die Festsetzung der Rente nicht darauf an, 
in dem Verhalten des Hysterikers Widerspriiche aufzudecken; die 
kommen selbstverstandlich vor; das folgt aus dem Wesen der Hysterie; 
durch ihr Vorkommen unterscheidet sich das hysterische nicht von jedem 
anderen Verhalten, das sich auf Irrtum, Vorurteil und Aberglauben auf- 
baut. Es kommt vielmehr darauf an, experimentell zu zeigen, in welchem 
Grade die Funktion — bewubt oder unbewubt — erhalten geblieben ist 
und gegebenenfalls erfullt wird; ob bewubt oder unbewubt ein Aus- 
wcichen vor Schadlichkeiten eintritt, das mit dem bei gesunder, nicht 
auf hysterische Weise eingeschrankter Funktion zu beobachtenden V’er¬ 
halten ubereinstimmt. Diese letzte Feststellung, die also von rein 
symptomatologischer Natur ist, ist die eigentliche Aufgabe der spezieUen 
Hysteriebegutachtung. 

Die Zeit von 1885 bis 1895 hat uns unter dem Einflub der sozialen 

Arcbiv ftir Psychiatrie. Bd. 68. 25 


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378 


O. Lowenstein: Schwierigere Fragen usw. 


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Gesetzgebung das massenhafte Erscheinen psychogener Unfallfolgen 
gebracht. Die Einsicht in die Natur dieser psychogenen Unfallfolgen, 
insbesondere die Erkenntnis der Tatsache, dad es sich dabei nicht um 
Krankheiten handelt, sondern lediglich um die normalpsychologische 
Auswirkung bestimmt gearteter Charaktere, kann uns genau die ent- 
gegengesetzte Entwicklung bringen. Die psychogenen Unfallfolgen 
werden zweifellos in weitem MaBe verschwinden, wenn wir erst einmal 
gelernt haben werden, mit kiihler Folgerichtigkeit die Konsequenzen 
aus den Ergebnissen unserer experimentellen Forschungen zu ziehen; 
wenn wir gelernt haben werden, die arztlichen Gesichtspunkte von den 
juristischen und sozialen Gesichtspunkten zu trennen; wenn wir be- 
tonen, daB die rein arztliche Erkenntnis die dazu berufenen Organe nicht 
hindern soil, soziale Gesichtspunkte zu betatigen; daB wir als Arzte aber 
den uns zur Beratung iiberwiesenen den besten Dienst erweisen, wenn 
wir unter rein arztlichen Gesichtspunkten an der Beseitigung der hyste- 
rischen Unfallfolgen arbeiten. Zu ihr gelangen wir am besten, wenn wir 
uns durch kiihle Verstandeserwagungen, nicht durch Sentimentalitaten 
leiten lassen; wenn wir nach MaBgabe dessen, was wir im Experiment 
festgestellt haben, mit der Beseitigung der Renten zugleich ein wesent- 
liches Interesse beseitigen, das an der Fixierung der Unfallfolgen schuld 
ist. Renten sind Notbehelfe; sie verschwinden wie ein Tropfen im Meere 
gegeniiber den groBen wirtschaftlichen Schadigungen, die re vera durch 
das Festhalten an irrtiimlichen, scheinbar krankmachenden Vor- 
stellungen hervorgerufen werden. 


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Das Problem des UnbewuBten. 


Von 

Dr. med. et. phil. Riilf, Bonn. 

(Aus der Universitiitsklinik und Poliklinik fiir Psychisch- und Nervenkranke zu 
Bonn [Direktor: Geh. Rat. Westphal].) 

(Eingegangen am 11. Januar 1923.) 


1. Das Problem. 

2. Das UnbewuBte in den normalen psychischen Vorgangen. 

3. Das UnbewuBte in den pathologischen psychischen Vorgangen. 

4. Die Losung des Problems. 

I. Das Problem. 

Nachdem das Problem des UnbewuBten durch E. v. Hartmann in den 
70er Jahren des vorigen Jahrhunderts in die allgemeine Philosophic ein- 
gefiihrt worden war, nachdem es hierdurch wie durch die Vorarbeiten 
Fechners Eingang in die Psychologie gefunden hatte, beginnt es nun 
auch in der Psychiatric seine Wellen zu schlagen. 

Die Griinde hierfiir werden nicht nur durch die theoretischen 
Disziplinen der allgemeinen Philosophie und der Psychologie gegeben. 
Die praktischen Aufgaben, die von der Psychopathologie gestellt wer¬ 
den, geben immer neuen AnlaB, sich mit der Frage nach dem Unbe¬ 
wuBten und seinen Beziehungen zum BewuBtsein zu beschaftigen. 

In der Psychopathologie waren es hauptsachlich zwei Ausgangs- 
punkte, von denen man auf das Problem des UnbewuBten stiefi. Der 
eine, rein theoretischer Natur, liegt in den Anschauungen, die besonders 
unter der Agide Freuds iiber den psychischen Mechanismus der hysteri- 
schen Nerven- und Seelenstorungen ausgebildet wurden. Das von hier 
aus angeregte Problem bheb auch fiir den groBten Teil derjenigen 
Forscher bestehen, die die einseitige Auffassung Freuds iiber die Natur 
der ,,Komplexe“ und den Zeitpunkt ihrer Entstehung ablehnten. Es 
behielt sogar dann noch seine Bedeutung, als man die starre Scheidung, 
die Freud zwischen dem bewuBten und unbewuBten Teil der Seele 
feststellen zu kdnnen glaubte, nicht mehr anerkannte. 

Der andere Ausgangspunkt, von dem man zu der Frage nach 
dem Bestehen unbewuBter psychischer Vorgange gelangte, ist ein 
eminent praktischer. Er war uns bereits gegeben in den Erfahrungen, 

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Riilf: 


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zu denen uns die unter dem Versicherungsgesetz so breit ernpor- 
gewucherten Unfall neurosen fiihrten. Besonders machtig drangte er 
sieh jedoch auf in dem furchtbaren Erlebnis des Weltkrieges, unter 
dessen Eindruck und Nachwirkungen wir ja leider noch stehen. Es 
handelt sich uni die Frage der therapeutischen Beeinflussung und der 
Rentenwiirdigkeit, die hier besonders brennend wurden. 

Freilich kann die Therapie auch der theoretischen Unterlage bis 
zu einer gewissen Grenze entbehren. Wollte sie erst immer auf die 
Theorie warten, so hatte sie selbst nicht nup auf die groBen Fortschritte 
verzichten miissen, die sie auf vielen Gebieten gemacht hat, sie hatte 
sogar dem Ausbau der Theorie selbst Schaden getan. Denn diese ent- 
wickelt sich ja in vielen Fallen erst an der Praxis und stiitzt dann 
diese um so kraf tiger. 

Das ist nicht zum wenigsten gerade bei dem Problem des Unbe- 
wufiten in der Neurologie der Fall gewesen. Denn in ihren Studien zur 
Hysterie betonen Breuer und Freud, daB die therapeutischen Erfah- 
rungen, die sie an ihren Kranken machten, sie zur Annahme einer unter- 
bevvuBten Sphare fiihrten. 

Ob der SchluB, den diese Forscher aus ihren Erfolgen zogen, 
richtig ist, oder wieweit er richtig ist, soil diese Untersuchung zeigen. 
Aber auch unsere Untersuchung wird sich nicht zum wenigsten an den 
praktischen Resultaten orientieren miissen, welche die Therapie bei der 
Behandlung der Neurotiker erzielen konnte. lm iibrigen werden wir 
auch die Ergebnisse der normalen Psychologie zu beriicksichtigen 
haben. Wie sehr diese imstande sein miissen, nicht nur unsere thera¬ 
peutischen MaBnahmen, sondern auch die Beurteilung der Renten¬ 
wiirdigkeit zu beeinflussen, liegt auf der Hand. Denn mit welchem 
Rechte z. B. wiirden wir noch dem Kriegsneurotiker eine Rente zu- 
sprechen diirfen, wenn wir zu der Ansicht gelangten, daB es eine un- 
bewuBte psychische Tatigkeit iiberhaupt nicht gebe, und daB das neu- 
rotische Symptom einer mehr oder minder bewuBten Absicht ihres 
Tragers seine Entstehung verdanke? 

Das UnbewuBte in seiner metaphvsischen Fassung w-erden wir fiig- 
lich beiseite lassen konnen, wenn auch Vix x ) nicht ganz zu Unrecht aus- 
fiihrt, daB jede genauere Beschaftigung mit dem Problem ins Meta- 
physische hineinfiihrt. Da aber die Psychologie, in der die Frage nach 
dem unbewuBt Psychischen ihre Stellung hat, nun einmal ein Teil der 
Philosophic ist und die Grundprobleme jener schlieBlich in dieser 
wurzeln, so scheint bei der Erorterung der Frage nach der Existenz un¬ 
bewuBt psychischer Vorgange das philosophische Gebiet jedenfalls 
nicht ganz vermieden werden zu konnen. 

*) l u', W.: Die Pliilosophie des Als-Ob in ihrer Anwendung auf den Begriff des 
BewuBtaeinsund UnbewaiBten. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 63,183 f. 1911. 


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Das Problem des UnbewuBten. 


381 


Wie wenig das moglich ist, das scheint uns nicht zum wenigsten der- 
jenige Psychiater zu beweisen, der neuerdings in die Diskussion iiber das 
UnbewuBte eingegriffen und dabei die Forderung aufgestellt hat, das 
Philosophische aus der Psyehiatrie auszuscheiden. In seiner Abhand- 
lung ,,Zur Methode des Psychologisierens in der Psychiatrie“ spricht 
Horstmann 1 ) in der Zusamraenfassung, die er am Schlusse aufstellt, 
unter Nr. 1 die Mahnung aus, man solle im Auge behalten, daB philo¬ 
sophische Erorterungen eigentlich nicht mehr in den Geschaftsbereich 
des Arztes gehoren, und man solle philosophische Fragen nur dann an- 
schneiden, wenn sich das zur Klarstellung eines psychiatrischen Pro¬ 
blems absolut nicht umgehen laBt. Das letztere scheint nun aber nach 
Horstmann gerade fiir das Problem des UnbewuBten zuzutreffen. Nach- 
dem dieser Autor unter Nr. 3 darauf hingewiesen hat, daB der Realismus 
in seiner naivsten Form, wie man ihn haufig in psychiatrischen Ab- 
handlungen vorfindet, keineswegs der Weltanschauung der Autoren 
entspricht — es fanden sich nur wenige Materialisten unter Psychiatern 
und Naturwissenschaftlern —, sondern nur als Forschungsmethode zu 
betrachten sei, da alle klinischen Argumentationen in der somatischen 
Heilkunde wie in der psychischen 2 ) im Materialismus griinden, wirft er 
in Nr. 4 die Frage auf, ob man sich beim Psychologisieren nicht gauz 
allgemein auf den Identitatsstandpunkt einigen konnte ohne Riicksicht 
auf die eigene Weltanschauung. GewiB konne man niemandem einen 
metaphysischen oder erkenntnistheoretischen Standpunkt diktieren. 
Man konne ihn nur diskutieren. ,,Die Frage will griindlich iiberlegt 
sein.“ 

Es ist deutlich, daB die griindliche Uberlegung der Frage eben nur 
auf Grund der philosophischen Erwagungen angestellt werden kann, 
die Horstmann umgehen mochte. Und die Abhandlung dieses Autors 
ist auch nicht zum geringsten Teil die Offenbarung seiner eigenen 
philosophischen Anschauung. Darin hat Horstmann freilich unbedingt 
recht: Philosophiert man schon, so muB es mit Sachkenntnis und Ge- 
schmack geschehen. 

Bei dem Problem des UnbewuBten lassen sich in der Tat die philo¬ 
sophischen Ankniipfungspunkte am wenigsten vermeiden. Wir wollen 
diese aber nur einleitungsw r eise und im engsten AusmaBe beriihren. 

Die Beantwortung der Frage, ob es iiberhaupt ein unbewuBtes 
psychisches Geschehen gebe, hangt einfach von der philosophischen 
Weltanschauung ab. Wer noch heute jenem Materialismus huldigt, 
wie er im vorigen Jahrhundert als Reaktionserscheinung gegen die Aus- 
wiichse metaphysischer Spekulation bei den Vertretern der Naturwissen- 

Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 77, 623. 1922. 

2 ) Das letztere konnte man angesichts gewisser neuerer Richtungen in der 
Psyehiatrie mit einein Fragezeichen versehen. 


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RiiJf: 


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schaft so verbreitet war und in irgend einer gemilderten Form immer 
von neuem hervortritt, fiir den ist das Problem des unbewufit Psychi- 
schen natiirlich erledigt. Auf diesem Standpunkte ist Psychisches 
und BewuBtsein identisch 1 ). Es kann deshalb kein unbewuBt Psychi¬ 
sches geben. Was nicht bewuBt ist, ist ein cerebraler Vorgang. Wie 
das Cerebrum es anfangt, etwas Geistiges hervorzubringen, darauf 
bleibt zwar der Materialismus die Antwort schuldig. Es geniigt fiir ihn 
die Tatsache, daB die cerebrale Funktion notwendig ist, wenn ein 
geistiger Vorgang stattfinden soil. Funktioniert das Cerebrum normal, 
dann haben wir eben normale BewuBtseinswirkungen; ist es krank, so 
sind auch die BewuBtseinsvorgange abnorm. Wird es vollig vernichtet, 
dannhort BewuBtsein, Seele und Leben zugleich auf. Kann man sich eine 
vollstandigere kausale Abhangigkeit der ,,Seele“ vom Gehirn denken? 

Es ist hier nicht der Ort, die erkenntnistheoretischen und meta- 
physischen Bedenken, die sich gegen eine solche Auffassung erheben, 
zu erortern. Sie stehen am Anfangspunkt jeder philosophischen Be- 
trachtung und mogen deshalb dieser iiberlassen bleiben. Hier handelt 
es sich um die Frage, ob sich vom materialistischen Standpunkt, der 
fiir die naturwissenschaftliche Forschung im allgemeinen und fiir die 
medizinische deshalb ebenfalls an erster Stelle Beriicksichtigung 
verdient, iiberhaupt ein Zugang zum Problem des Bew'uBtseins und 
des UnbewuBten finden laBt. Das ist einfach nicht der Fall. Denn die 
psychischen Phanomene geben, mag man zunachst iiber das hier 
zur Rede stehende Problem denken, w r ie man will, AnlaB, die kausale 
Reihenfolge umzukehren. Das Psychische geht, tatsachlich oder ,,phii- 
nomenologisch“ 2 ) betrachtet, seinen eigenen Weg, beherrscht in den 
Willenshandlungen das Korperliche, tragt in sich Bedingungen fiir die 
Starke gewisser psychischer und dadurch auch korperlicher Wirkungen, 
die eben aus rein korperlichen Vorgangen nicht erklart werden konnen. 
Es tragt auch in sich die Bedingungen fiir die Abstufung der BewuBt- 
seinsintensitat grundlegender psychischer Phanomene, einer Abstufung, 
die wir alle Grade von lebensvernichtender Starke bis zur kaum merk- 
lmren GroBe durchlaufen sehen. Diese sogar individuell wechsclnde 
Intensitat — man denke nur an die verschiedene Empfanglichkeit fiir 
Angst-, erotische Affekte u. dgl. -— kann eben nur aus der psychischen 
Konstitution erklart werden. So dunkel dieses Wort bei naherer Analyse 
sich erweisen mag, war bewegen uns jedenfalls im Rahmen verstand- 
licher Begriffe, wenn wir BewuBtseinsabstufungen im ebengenannten 
Sinne durch psychische Bedingungen erklaren, greifen aber sofort ins 
Leere, wenn wir irgendeinen materiellcn — Zellen-, atomistischen, 

A ) In welchem Sinne d;is schlieBlich auch fiir unsere Auffassung zutrifft, werden 
wir am Schlusse dieser Abhandlung sehen. 

2 ) Nicht im Sinne einer bestiinmten nu>dernen Schule genommen. 


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Das Problem des UnbewuBten. 


383 


Elektronenvorgang — fiir die eben genannten oder andere psychische 
Eigenschaften und Vorgange als kausale Unterlage einfiihren wollen. 
Von dieser aus konnen wir fiir das Problem des BewuBtseins, das uns 
vielmehr als erste Tatsache entgegentritt, nichts leisten, um wie viel 
weniger das Problem des UnbewuBten klaren, wenn es ein UnbewuBtes 
uberhaupt geben sollte. Wann treten bewuBte, wann und ob unbewuBte 
Phanomene auf? Kann auf diese Frage eine Antwort gefunden wer- 
den, so sicher nicht von der materiellen Seite aus. 

Wir miissen also wohl einen nichtmaterialistischen Standpunkt ein- 
nehmen, um uberhaupt einen Zugang zu unserem Problem finden zu 
konnen. Welchen man wahlen will, ist wieder Sache der philosophischen 
Weltanschauung. Man kann sich auf den Identitatsstandpunkt stellen. 
Der philosophisch Orientierte wird darin freilich Bedenkcn finden konnen. 
Nicht mit derselben Wucht, prinzipiell jedoch in gleichem MaBe kehren 
sich erkenntnistheoretische Bedenken gegen diesen ebenso nie gegen 
den materialistischen. Fiir die Erkenntnis ist nun einmal seit Kant, 
um es mathematisch zu bezeichnen, das Materielle die abhangig Variable. 
Wenn nun auch die Identitats theorie nicht den groben Fehler des 
Materialismus begeht, dieses Verhaltnis umzukehren und dazu noch in 
ein genetisch-kausales zu verwandeln, so erhebt sie doch das Materielle 
auf eine zum mindesten nebengeordnete Stufe, die man vom natur- 
wissenschaftlichen Standpunkt sicher gerne wird gelten lassen wollen, 
vom philosophischen aber Bedenken erregt. 

Es bleibt als dritter Standpunkt der psychophysische Parallelismus 
auf phanomenologischer Grundlage, der den Bedingungen der Erkennt- 
nistheorie geniigt, zur universalen Form erweitert zwar an unsere 
metaphysische Weitherzigkeit groBe Anforderungen stellt, dafiir aber 
der Forderung nach geschlossener intrapsychischer Kausalitat am 
besten Rechnung tragt 1 ) und dazu noch die Moglichkeit gewahrt, das 
Problem des BewuBtseins und des Psychischen uberhaupt bis zu jener 
Tiefe zu verfolgen. bis zu der man nun einmal getrieben wird, wenn man 
es zusammen mit dem Problem des UnbewuBten im weitesten Zu- 

*) Die Forderung einer in sich geschlossenen psychischen Kausalitat ist eine 
rein philosophische, weshalb wir ihre Diskussion hier vermeiden. Wer sich, wie 
Bumke, damit zufrieden gibt, daB die Kette des Psychischen jeden Augenblick 
abreiBt, w&hrend das Materielle weiterlauft, den konnen wir nicht iiberzeugen. 
Er hat auch, vom einzelwissenschaftlichen Standpunkt der Psychiatrie betrachtet, 
nicht die Verpflichtung, sich iiberzeugen zu lassen. Wir ziehen es nur vor, einen 
Standpunkt zu wahlen, der auch den allgemeinphilosophischen Anforderungen 
am besten zu geniigen scheint. 

Es ware freilich auch noch die Theorie der psychophysischen Wechselwirkung 
zu beriicksichtigen. Sie scheint uns jedoch zu groBen erkenntnistheoretischen 
und metaphysischen Bedenken ausgesetzt. Trotz der Verteidigung, die diese 
Theorie durch namhafte philosophische Autoren findet, glauben wir deshalb 
die Theorie des psychophysischen Parallelismus bevorzugen zu sollen. 


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384 


Riilf: 


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sammenhange darstellen will. Denn das UnbewuBte ist doch nicht eiu 
Reservat des Psychischen auf der Hbhe seiner Entwicklung. Ob es hier 
ein Heinmtsrecht hat, wird ja sogar bezweifelt. Je mehr wir aber in der 
Stufenreihe des Organischen herabsteigen, um so starker scheint es 
sich vorzudrangen. Wir diirfen es mit Riieksicht auf die groBen bio- 
genetischen Zusammenhange nicht vollig auBer Acht lassen, wenn wir 
das Problem vollstandig losen wollen. 

Konnen wir nun wirklich, fragt Vix, den Termiten mit ihren paar 
Ganglienknoten ein ZielbewuBtsein bei der Herstellung ihrer Kunst- 
bauten zutrauen? Und wenn wir die Fahigkeit hierzu erst in einer 
Unzahl von Generationen entstanden denken. so daB auf jede nur ein so 
verschwindcnder Anted kame, daB wir diesen auch ohne eine besonders 
hervorragende BewuBtseinstatigkeit entstanden denken kbnnten. miiBte 
nicht dennoch. so fragen wir weiter. in jeder Generation und bei jedem 
Individuum die bewuBte Zweckvorstellimg von dent erst nach Jahr- 
tausenden oder .Jahrhunderttausenden in fortlaufend zusammenhan- 
gender Arbeit zu erreichenden Ziel vorhanden gewesen sein? Wenn 
nicht, so hatte ein Chaos, aber kein Kunstbau zustande kommen miissen. 

Wenn wir aber das UnbewuBt-Psychische in seiner Gesamtheit er- 
fassen wollen, konnen wir dann bei irgendeiner Tierklasse stehen bleiben ? 
Denn auf welcher Stufe des Organischen wir uns auch zuerst das Psv- 
chische hervorgetreten denken mogen, ja mogen wir es uns, was wohl zu- 
treffen mag und aus methodischen Griinden anzunehmen sich empfiehlt, 
an die Entstehung des Organischen selbst gekniipft denken — wenn 
wir nicht auf den unzulanglichen materialistischen Standpunkt wie- 
der zuriickkommen wollen, so miiBten wir nur das Hervortretcn des 
Psychischen in einer, wenn auch noch so dunklen BewuBtseinsform mit 
der ersten organischen Form gegeben erachten, das Geistige selbst in un- 
bewuBter Form aber schon mit der Vorstufe des Organischen, dem An- 
organischen, verkniipft denken. Und so waren wir denn gliicklich oder 
auch ungliicklicherweise an jener Grenze angelangt, an der das Psvcho- 
logische in das Metaphysisehe einmundet. 

Aber vielleicht konnen wir jede Grenziibersehreitung vermeiden. ja 
iiberhaupt den ganzen Streit um das UnbewuBte umgehen, wenn wir es, 
wie auch Vix vorschlagt, nach den Prinzipien der Vaihinrjerschen Als- 
Ob-Philosophie als Fiktion, wenn auch als ,,greulichste“ aller Fiktionen, 
gelten lassen. Denn das hat doch nun einmal der Kampf um das Un- 
bewmBte in der Psychiatrie gelehrt, daB nach einigem Hin- und Her- 
streiten praktisch alle Kampfenden ziemlich nahe sich zusammen- 
fanden. Kretschmer , der voin UnbewuBten anfangs gar nichts wissen zu 
wollen schien, glaubt seine Abweichung von Bleuler, der doch so ziem¬ 
lich auf dem entgegengesetzten Standpunkt steht, schlieBlich nur auf 
eine verschiedene begriffliche Fassung des Psychischen zuriickfiihren zu 


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Das Problem des UnbewuBten. 


385 


konnen, und Bleuler gibt gegeniiber Bumke, der ebenfalls das UnbewuBte 
leugnet, selbst auf die Gefahr miBverstanden zu werden, zu, daB er an 
ein absolut UnbewuBtes auch nicht glaube. Spuren von Verbindungen 
mit dem Ich, auf denen das BewuBtsein iiberhaupt beruhen soil, 
gibt es nach Bleuler wegen der Allseitigkeit der psvchischen Verkniipfun- 
gen auch mit dem ,,UnbewuBten“. 

Es scheint demnach, als wenn es sich in der Tat nur um eine begriff - 
liche Verschiedenheit zwischen den einzelnen Fassungen des UnbewuBten 
handelt. Und da praktisch der Gebrauch dieses Terminus ohnehin nicht 
gut vermieden werden kann, so konnte man das unbewuBt Psychische 
im Sinne der Vaihin r/erschen Fiktion am Ende doch gelten lassen. 
Der Begriff des UnbewuBten ist ,,rechnungsergiebig“. Damit hatte 
er die Berechtigung seiner Zulassung zum wissenschaftlichen Gebrauch, 
wenn auch eben nur als Fiktion, erwiesen. 

Die Adoption des unbewuBt Psychischen im Sinne einer Fiktion 
hinge dann wohl von der Schatzung ab, die wir der Als-Ob-Philo¬ 
sophic iiberhaupt entgegenbringen. Wir konnen da unsere Stellung- 
nahme nur ganz kurz kennzeichnen. Was die Als-Ob-Philosophic als 
Fiktionen betrachtet, sind meistens doch nur die Idealbegriffe, deren 
die besonnene Forschung sich von je bedient in dem BewuBtsein, 
sie niemals realisieren zu konnen. Unendliches, Atom, Freiheit, der 
Begriff sind Richtungsziele, denen wir uns im Laufe der noch so weit 
fortschreitenden Forschung nur asymptotisch nahern konnen. Erst 
realisiert gedacht werden sie in subjektiver Wendung zu Fiktionen, die 
im Gegensatz zu Theorie und Hvpothese den Stempel der Unmoglich- 
keit vom Standpunkt menschlich-begrenzter Einsichtsfahigkeit an sich 
tragen. So scheint uns die Als-Ob-Philosophic, abgesehen von ihrer 
geistreichen Fassung durch ihren Urheber, nichts Neues zu bringen. 

Gerade bei dem Begriff des UnbewuBten scheint das Verhaltnis 
eines nur naherungsweise zu erfassenden Zieles fiir unsere Erkenntnis 
obzuwalten. DaB es Grade der BewuBtseinsstarke gibt, leugnet kaum 
jemand. Wir brauchen uns nur die BewuBtseinsintensitat bis zu einem 
mikroskopischen Grade herabgemindert zu denken, um zu erkennen, 
daB der psychische Vorgang gegeniiber den in normaler Starke auftreten- 
den BewuBtseinsvorgangen etwa dieselbe Rolle spielt wie das unendlich 
Kleine in der hoheren Mathematik. Der Mathematiker vernachlassigt das 
unendlich Kleine gegeniiber dem Endlichen, und doch wird es ihm zur 
Grundlage einer hoheren Rechnungsart, die zu den weittragendsten Ent- 
deckungen gehort, die der Menschengeist je gemacht hat. So erscheint es 
auch moglich, daB die zu minimaler BewuBtseinsstarke herabgesunkenen 
psychischen Inhalte gegeniiber den normal kraftigen an sich keine Rolle 
mehr im BewuBtsein spielen und dennoch durch die Summierung ihrer 
Wirkungen in der Zeit, gewissermaBen das ,,Zeitintegral‘‘ ihrer Wir- 


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Riilf: 


kungen der Gegenstand einer hoheren Psychologic — Freud sagt im 
Gegenteil: Tiefenpsychologie — werden konnen, weil erst von diesen 
nicht raehr als bewuBt aufzufassenden psychischen Inhalten die weit- 
tragendsten Wirkungen auf das BewuBtsein selbst ausgehen. 


II. Das UnbewuBte in den normalen psychischen Vorgangen. 

Sollte das wirklich der Fall sein, so ware wolil zu erwarten, daB das 
UnbewuBte bereits im normalen psychischen Leben zur ausgiebigsten 
Geltung kame. Wir hatten uns deshalb zunachst der Frage zuzu- 
wenden, inwieweit wir in der Breite der Norm das Wirken eines Unbe- 
wuBten aufzuzeigen vermogen. Wir werden dabei nicht geringen Wert 
darauf legen, das UnbewuBte in denjenigen geistigen Funktionen nach- 
zuweisen, die mit unserem Affektleben in keinem Zusammenhang 
stehen. Denn das ist ja der eigentliche Kern der Rimfceschen Gegen- 
argumentation, daB das UnbewuBte racist auf jenen Seiten unseres 
Lebensbuches stehe, die wir ungerne aufschlagen. 

Eine weitere unbedingt zu beachtende Voraussetzung ist folgende: 
Sollten wir imstande sein, ein wirklich UnbewuBtes nachzuweisen, so 
muB gefordert werden, daB wir nicht Charaktere, die nur dem Be¬ 
wuBtsein zukoramen, auf jenes iibertragen. Hier scheint die Mahnung 
Horstmam is, nicht ohne vorherige wissenschaftliche Klarung und Vor- 
bereitung an die Behandlung psychologischer Fragen zu gehen, be- 
sonders angebracht. So muB es einfach als unzulanglich erscheinen, 
wenn z. B. Bleuler 1 ), dessen Ausfiihrungen iiber das Vorhandensein und 
Wirken einer unbewuBten psychischen Tatigkeit wir nur zustimmen 
konnen, Funktionen des BewuBtseins wie Wahrnehmungen, Affekte, 
Uberlegungen, Handlungen, als solche in das UnbewuBte hineinnehmen 
will. Wir kennen alle diese Funktionen eben nur als mit dem Charakter 
der BewuBtheit behaftet. Was sie ohne diese ihnen unabtrennbar an- 
haftende Form sind, konnen wir gar nicht sagen. Man kann nicht wie 
Freud das Psychische gewissermaBen in zwei Etagen teilen, zwischen 
denen die psychischen Inhalte hin- und hergeschoben werden, ohne 
dabei selbst ihre Daseinsform zu verandern. Die BewuBtheit ist nicht 
ein Raum, in den Inhalte einfach eintreten, um mit derselben Eigen- 
art behaftet wiedcr aus ihm entsclnvinden zu konnen. Es ist Daseins¬ 
form seiner Inhalte selbst. 

Die Frage, ob all die psychischen Funktionen, die wir nur aus 
dem BewuBtsein kennen, in ihrer Eigenart auch unbewuBt verlaufen 
konnen, ist ja nur die Erweiterung des Problems der ,,unbexvuflten 

1 ) Bleuler, E.: Zur Kritik des UnbewuBten. Zeitsclir. f. d. ges. Neurol, u. 
Psychiatr. 40.80f. 1019. Ders.: Uber unbewuBtes psychisches Geschehen. Ebenda. 
04^ 122f. 1921. 


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Das Problem dcs UnbewuBten. 


387 


Vorstellun(/en“ , das in der Philosophic und Psychologic der letztcn Jahr- 
zehnte, besonders im AnschluB an die Hartmannsche Philosophic und 
die Fechnersche Lchre 1 ) von den negativen Empfindungen eine iiberaus 
eingehende Behandlung erfahren hat. Die Frage ist von der wissen- 
schaftlichen Psychologie in negativem Sinne entschieden worden. Der 
Begriff der unbewuBten Vorstellung ist als eine contradictio in adjecto 
erkannt worden. Wir kennen die Vorstellung nur als bewuBte Vor¬ 
stellung. Beides ist identisch. Sollte die Vorstellung, die wir einraal im 
BewuBtsein gehabt haben, nach dem Schwinden aus diesem noch ein 
weiteres psychisches Dasein haben — eine Annahme, die wir infolge der 
fortbestehenden Wirkung des Vorstellungsinhaltes auf spater auf- 
tretende BewuBtseinsinhalte und -vorgange als gerechtfertigt nach- 
weisen werden —, so muB sie sich in das UnbewuBte in einer Form be- 
geben haben, auf die wir den Begriff der Vorstellung nicht mehr 
anwenden konnen. Auf das bestimmteste ist das zu fordern von den 
hoheren intellektuellen Vorgangen, die sich aus den Vorstellungen ent- 
wickeln, den Urteilen und Schliissen und den durch diese gew 7 onnenen 
Begriffen. Eine Rationalisierung des UnbewuBten in der Form, daB die 
bewuBten intellektuellen Funktionen und Inhalte als solche ins Un¬ 
bewuBte hineingenommen werden, ist abzuweisen. Und nicht minder 
gilt das von den Empfindungen, aus den die verschiedenen Arten 
der Vorstellung, die Erinnerungsvorstellung, die Phantasievorstellung, 
die abstrakte Vorstellung, ihre urspriingliche Nahrung beziehen, und von 
den aus den Empfindungen zusammengesetzten Wahrnehmungen. Un¬ 
bewuBte Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen. Urteile und 
Schliisse sind unmogliche Begriffe, und so kann man natiirlich auch nicht 
die auf diesen Funktionen sich aufbauenden komplizierteren intellek¬ 
tuellen Vorgange, wie Uberlegungen, Gedankengange usw., als solche 
ins UnbewuBte hineinverlegen. 

Was fiir die intellektuelle Seite unseres psychischen Lebens gilt, ist 
nicht weniger fiir die vohtive zu fordern. Ein unbewuBter Wille kann 
vor dem Forum strenger w r issenschaftlicher Begriffsbildung ebensowenig 
standhalten wie eine unbewuBte Vorstellung. Wir kennen den Willen 
in seiner engeren Bedeutung, d. h. als Wahlwillen, ebenfalls nur aus dem 
BewuBtsein. Ja, sein Charakter als der aus bewuflter Uberlegung her- 
vorgehende Antrieb fiir unsere Zweckhandlungen schlieBt die Form 
der BewuBtheit unmittelbar in sich. Sollte er wirklich in dem Unbe¬ 
wuBten oder durch dieses hindurch auf die zeitlich spatere Bew'uBtseins- 
tatigkeit irgendeinen EinfluB gewinnen konnen, so miiBte er besonders 
sich in das UnbewuBte in einer Form begeben haben, auf die der 


*) Vorbereitet ist dieses Problem schon durch die Leibniz sche Lehre von den 
perceptions insensibles. 


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388 


Riilf: 


Charakter des BewuBtseins unter keinen Umstanden mehr Anwendung 
finden konnte. 

Nicht so einfach erscheint die Frage, ob wir es mit einer bewuBten 
oder unbewuBten Tatigkeit zu tun haben, bei jenen nicht durch intellek- 
tuelle Funktionen vorbereiteten intentionalen Antrieben, die wir als 
Vorstufe des Wahlwillens zu betrachten haben, den Trieben und Instink- 
ten. Hier spielt jedenfalls soviel MinderbewuBtes eine Rolle, daB ein 
Ubergang von BewuBtem zu UnbewuBtem in diesen SeelenauBerungen 
unraittelbar gegeben erscheint. Doch da sie ebenso wie zum Willen eine 
sehr nahe Beziehung zu den Gefiihlen haben, bei denen wir diesel be 
Zwitterstellung wiederfinden, so konnen wir die Frage zugleich mit 
dem Problem der Stellung des Gefiihls zu BewuBtem und UnbewuBtem 
behandeln. 

DaB freilich auch das Gefiihl, das dritte der grundlegenden psychi- 
schen Elemente, in seiner ausgebildeten Form nicht in das UnbewuBte 
verpflanzt werden kann, ergibt sich unmittelbar aus seiner Parallel- 
stellung zu Wille und Vorstellung. Und noch weniger werden wir das 
mit dem Affekt, dieser Steigerungsform des Gefiihls, vornehmen diirfen. 
Es ware doch mit das Widerspruchvollste, was wir uns denken 
konnen, wenn wir diejenigen BewuBtseinsauBerungen, in denen sich das 
psychische Leben zu seiner hochsten Intensitat steigert, als solche ein¬ 
fach ins UnbewuBte versinken lassen diirften. Wohl aber erscheint das 
Gefiihl selbst durch jene Eigenschaft, die wir soeben bei den Trieben und 
Instinkten hervorgehoben haben, einen Ubergang vom Bewufiten zum 
UnbewuBten bewerkstelligen zu konnen. Bei der nahen Beziehung, 
die das Gefiihl nicht nur zur volitiven, sondern, wie Bumke richtig er- 

kannt hat, auch zur intellektuellen Seite unseres psychischen Lebens 

# 

hat, wird uns die Fahigkeit der Gefiihle, sich zur Unmerklichkeit herab- 
zumindern und zugleich durch die polare Gegensatzlichkeit, die sie in 
sich tragen, gegenseitig zu kompensieren, fiir die Losung der Frage nach 
dem UnbewuBten iiberhaupt am Schlusse dieser Untersuchung die er- 
wiinschte Handhabe bieten. 

Zunachst also haben wir kein Recht, von unbewuBten Vorstellungen, 
Wollungen, Gefiihlen zu sprechen. Ja, es konnte sogar aussichtslos er- 
scheinen, das Problem des UnbewuBten iiberhaupt zu Ibsen, da wir zur 
Beschreibung irgendcines Psychischen doch nur die aus dem BewuBt- 
sein selbst stammenden Charaktere benutzen konnen. Damit wiirde, 
wie auch in dem Streit um das UnbewuBte bemerkt worden ist, alles, 
was wir von letzterem glauben aussagen zu konnen, sofortden Charakter 
des Bewufiten erhalten, solange wir das UnbewuBte iiberhaupt als etwas 
Psychisches betrachten. Psychisches und BewuBtes ware damit iden- 
tisch. Wir werden aber sehen, daB sich uns in der soeben angedeuteten 
Weise ein andrer Weg zur Losung des Problems bietet. 


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Das Problem des UnbewuDten. 


389 


Vorerst hatten wir freilich die Aufgabe zu zeigen, inwieweit das Un- 
bewuBte in den normalen BcwuBtseinsauBerungen eine Rolle spielt. Da 
ist zunachst zu sagen, daB.es iiberhaupt keine AuBerung unseres Be- 
wuBtseins gibt, die nicht vom UnbewuBten durchtrankt und durch- 
wirkt ware. Beginnen wir zunachst rait der intellektuellen Seite, und 
zwar rait dera Ursprung aller intellektuellen Tatigkeit, der Empfindung, 
oder vielraehr, da es isolierte Erapfindungen nicht gibt, rait der Wahr- 
nehmung! 

Zunachst ist haufig genug darauf hingewiesen worden, daB wir bei 
fliichtigen Wahrnehmungen vieles nicht bemerken, was wir bei nach- 
traglicher Erinnerung uns vor das BewuBtsein zu rufen irastande sind. 
ilelbstverstandlich ist das fur den materialistisch orientierten Forscher 
kein Beweis fur die Existenz eines unbewuBt Psychischen. Er nimmt 
eben nachtragliche ,,Ekphorierung“, oder wie es man nennen will, 
von Gehirn,.engrammen“ an, denen vorher nichts Psychisch.es ent- 
sprochen hat. Fur diesen Standpunkt sind iiberhaupt unsere gesaraten 
Darlegungen geltungslos. Die Widerlegung dieses Standpunktes bez. 
der Nachweis seiner Unzulanglichkeit ist oben bereits gegeben. Es 
verbirgt sich unter jenen Kunstausdriicken doch nur die einfache 
materialistische Anschauung, der zufolge das Psychische nach Analogie 
der Gallen- oder Urinsekretion — asthetische Rangstufen gibt es, wie 
Du Bois Reymond, in seiner beriihmten Ignoramus-Rede rich tig bemerkt 
hat, fiir die wissenschaftliche Betrachtung nicht — als Gehirnsekret 
aufzufassen ist. 

Wer also dieser Anschauung nicht beizutreten verraag, der wird 
wohl annehmen miissen, daB die Eindriicke, die er bei fliichtiger Wahr- 
nehmung in sich nicht bewuBt aufgenommen hat, nicht nur raateriell, 
sondern auch psychisch, wenn auch in unbewuBter Form, einen Nieder- 
schlag in ihm gefunden haben, wenn er imstande ist, sie nachtraglich 
in sich wachzurufen und es ausgeschlossen ist, daB nur ein Vergessen 
tatsachlich bewuBt gewesener Wahrnehmungen stattgefunden hat. 
Wie weit es moglich ist, solche tatsachlich nicht bewuBt aufgenommene 
Wahmehmungsbestandteile nachtraglich zu BewuBtsein zu bringen, 
hat neuerdings Urbantschitsch 1 ) experimentell vermittelst tachisto- 
kopischer Versuche nachgewiesen. Wenn auch diese Versuche, die der 
Autor nur an einer Vp. angestellt hat, der Nachpriifung an einer gro- 
Beren Anzahl von Vpp. bediirfen, da wohl starke individuelle Unter- 
sehiede in der Erweckbarkeit unbewuBt aufgenommener Eindriicke 
zu erwarten sind, so konnen doch seine Versuche als experimentell 
gelungener Nachweis in dieser Frage betrachtet werden. Auch die 

*) Vidor Urbantschitsch: t)ber unbewuCte Gesichtseindrucke und deren Auf- 
treten im subjektiven optischen Anschauungsbilde. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, 
u. Psychiatr. 41, 18, S. 170f. 


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390 


Riilf: 


Berichte O. Potzefc iiber die Traumbilder fliichtig aufgenommener 
Gesichtseindriicke 1 ) konnen als Beleg fiir das Haften von Wahrnehmun- 
gen in unbewuBt psychischer Form gelten. 

Es ist nun weiter nicht schwer einzusehen, daB uberhaupt in jeder 
Wahrnehmung eineUnzahl vonElementen steckt, die uns mehr oder min- 
der, zum Teil vollig unbewuBt sind. Denn in jeder Wahrnehmung machen 
.sich nicht nur Empfindungsbestandteile bemerkbar, die durch den je- 
weiligen Wahrnehmungsakt aufgenommen werden, sondern auch alle 
diejenigen, die den friiher gemachten Wahrnehmungen desselben Gegen- 
standes zugrunde gelegen haben. Darauf beruht ja das Erkennen 
der Gegenst&nde, daB die „Residuen“, wie man die von den friiheren 
Wahrnehmungen zuriickgebliebenen Gedachtnisbestandteile nennt, weil 
man mit diesem neutralen Ausdruck jedes Prajudiz fur oder gegen den 
psychischen Charakter der irgendwie in uns retinierten Sinneseindriicke 
vermeidet, mit den jeweilig aufgenommenen Wahrnehmungsbestand- 
teilen zu einem einzigen Wahrnehmungskomplex verschmelzen. Man 
stelle sich nun vor, wie unzahlige Male wir einen Gegenstand der tag- 
lichen Umgebung wahrgenommen haben, in wieviel Wandlungen und 
Situationen er in unsere Sinne eingegangen ist, um zu ermessen, was alles 
in unserer Wahrnehmung steckt, ohne doch jedesmal zu entwickeltem 
BewuBtsein zu gelangen. Denn wenn etwa alle friiheren Wahrnehmungen 
des betreffenden Gegenstandes, deren Residuen durch die augenblick- 
liche Wahrnehmung vermittelst der assoziativen Verkniipfungen an die 
BewuBtseinsschwelle gerufen werden, iiber diese treten wiirden, so 
miiBten sie als reproduzierte Erinnerungsbilder neben dem jeweiligen 
Wahrnehmungskomplex in unserem BewuBtsein erscheinen. Das ist 
natiirlich unmoglich. Die Kapazitat unseres BewuBtseins ist viel zu 
gering, um eine so umfassende Versammlung friiherer Erinnerungs¬ 
bilder auf einmal in sich aufzunehmen. Und doch ist es sicher, daB alle 
friiheren Wahrnehmungsakte auf die gegenwartigen ihren EinfluB im 
Sinne einer Verdeutlichung des Gegenstandes und einer groBeren apper- 
zeptiven Bereitschaft ausiiben. Man vergegenwartige sich nur, mit 
welcher Sicherheit wir eine Reihe komplizierter, mit groBer Geschwindig- 
keit uns nacheinander dargebotener Gegenstande, etwa bei Anblick 
eines Films, zur Erkenntnis bringen. Es ist ein ungeheurer Verdichtungs- 
und VerschmelzungsprozeB, der in dieser erst von Herbart in seiner 
ganzen Tragweite erkannten Apperzeption steckt. So wird uns in unserer 
jeweiligen Wahrnehmung alle friihere Wahrnehmung des betreffenden 
Gegenstandes bewuBt und ward uns doch nicht bewuBt. Man kann nur 
sagen, die friiheren Wahrnehmungen des betreffenden Gegenstandes 
klingen in der augenblicklichen Wahrnehmung mit an. Wir sind uns in 


J ) Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 87, 278. 


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Das Problem des UnbewuBten. 


391 


der Regel nicht einmal bewuBt, daB wir einen Gegenstand des tag- 
lichen Gebrauchs, den wir erblicken, schon fruher einmal wahrgenommen 
haben. Es gehort ein besonderer, sich freilich leicht einstellender Be- 
wuBtseinsakt dazu, um auch diese Erkenntnis — das Wiedererkennen — 
zu gewinnen. Dieser tritt aber nur dann auf, wenn sich dem Erkennen 
irgendwelche Schwierigkeiten in den Weg stellen. Man muB einfach zu- 
geben, daB ohne die unbewuBte Mittatigkeit friiherer Wahrnehmungs- 
akte der augenblickhche Wahrnehmungsakt unmoglich ware. 

Aber es sind nicht nur die friiheren Wahrnehmungsbestandteile 
und die in diesen enthaltenen Empfindungen, die im gegenwartigen 
Wahrnehmungsakte mitwirken, sondern — und damit konnen wir zu- 
gleich die ubrigen Stufen der intellektuellen Tatigkeit in unsere Be- 
trachtung mit einbeziehen —, auch die Erinnerungs- und Phantasie- 
vorstellungen, die von den betreffenden Gegenstanden jemals in unserem 
BewuBtsein aufgetaucht sind, um unter Bildung von ,,Residuen“ 
ebenfalls wieder aus diesem zu entschwinden. Ebenso tragen zum 
Zustandekommen des Wahrnehmungsaktes alle Urteile und Schliisse, 
die wir iiber den Gegenstand gewonnen haben, ja alle irgendwie er- 
reichten Kenntnisse bei, die wir je im Lernen, im Lehren, in der wissen- 
schaftlichen Beschaftigung oder irgendwie vollzogenen praktischen 
Betatigung an dem Gegenstande gewonnen haben. 

Wie unendlich kompliziert dadurch das mit einem Schlage sich vor 
das BewuBtsein stellende Wahrnehmungsgebilde ist, kann man leicht an 
einigen Beispielen ermessen, die zugleich die individuellen Unterschiede 
der doch scheinbar fur uns alle gleichen Wahrnehmungsgegenstande, da¬ 
mit aber um so deutlicher die unbewuBte Mitwirkung einer Unsumme von 
Kenntnissen beim Wahrnehmungsakte beweisen. Man stelle sich nur die 
Unterschiede vor, wie der Laie und der Fachmann eine Maschine, der 
Gelehrte und Ungelehrte das Abbild eines mikroskopischen Praparates, 
der Banause und der Kiinstler ein Gemalde wahrnehmen. Mit einem 
Blick erkennt der Ingenieur die Bedeutung einer komplizierten Ma¬ 
schine, wo der Laie nur ein Gewirr von Radern, Scheiben, Zahnstangen 
usw. wahrnimmt. Es wird niemand annehmen, daB all das, was der In¬ 
genieur in muhevollen Jahren und Jahrzehnten wissenschaftlicher 
Arbeit und praktischer Betatigung sich an Kenntnissen von dem Wesen 
und der Bedeutung der Maschinen angeeignet hat, vollentwickelt in 
seinem BewuBtsein beim jeweiligen Anblick der ihm vertrauten Ma¬ 
schine enthalten ist. In seinem UnbewuBten liegen die aus der unend- 
lichen Menge des Erfahrungsmaterials gebildeten Apperzeptionsinassen 
bereit, um dem Wahrnehmungsbilde die ihm eigene Bedeutung zu geben. 
Das UnbewuBte des Laien entbehrt der Erfiillung mit diesem Apper- 
zeptionsmaterial, und so ist auch das Wahrnehmungsbild, das er von 
der Maschine schlieBlich ebenso hat wie der Fachmann, fiir ihn doch 


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Riilf: 


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nur ein mehr oder minder bedeutungsloses Eisenchaos. Da nun alles 
Lernen, Forschen und praktische Arbeiten doch nur auf Grund des 
urteilsmaBig verarbeiteten wissenschaftlichen Materials moglich ist, 
das mathematische Wissen in seinem algebraischen Teil iiberhaupt jeder 
Anschaulichkeit entbehrt, so kann man sich vorstellen, welch eine 
Menge von Urteilen und Schliissen in jedem Wahrnehmungsbild in 
irgendeiner vermittelten Form unbewuBt mit ankbngen muB, urn dem 
Gegenstand eine im Nu erkannte Bedeutung zu geben. In einem ganz 
anderen Sinne, als Helmholtz meinte, ist also in der Tat jede Wahr- 
nehmung aufgebaut auf einer Unzahl irgendwie unbewuBt in uns nieder- 
gelegter Urteile und Schliisse. 

Leicht lassen sich diese Betrachtungen auf die anderen Beispiele 
iibertragen. Beim Anschauen von Kunstwerken, bei der Lektiire eines 
Gedichts, beim Anhoren eines Dramas usw. schwingen, was fiir unsere 
spateren Ausfiihrungen sich als bedeutungsvoll erweisen wird, zugleich 
all die Gefiihlsmassen sinnheher, asthetischer, ethischer usw. Natur mit 
und geben, ohne daB sie doch irgendwie zu entwickeltem BewuBtsein 
zu gelangen brauchen, dem Objekt der Kunstbetrachtung sein Gepriige. 
Wortlos in die Ansehauung eines Kunstwerkes versunken und ohne be- 
wuBte Reproduktion all der durch assoziative Faden an die BewuBt- 
seinsschwelle gezogenen Residuen fruherer Vorstellungs- und Gefuhls- 
massen sehen wir doch das Wahrnehmungsobjekt eine bestimmte Form 
und Farbung annehmen, die ohne Mitwirkung jener zugleich wieder 
mit einer Unzahl von Urteilen und Schliissen verbundenen seelisch- 
geistigen Unterlage ausbleiben wiirde, wie das ja auch in der Tat beim 
kunstfremden Individuum der Fall ist, in dessen BewuBtsein sich doch 
derselbe Wahrnehmungsgegenstand wiederspiegelt. 

Ahnliches wie fiir die Wahrnehmungen gilt auch fiir die Erinnerungs- 
und Phantasievorstellungen. Auch diese werden in ihrer besonderen 
Qualitat und formalen Ausgestaltung bestimmt durch die Residuen 
aller friiheren Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Phantasievorstellungen 
wie all der intellektuellen und Gefiihlsmassen, die wir soeben gekenn- 
zeichnet haben. Ohne selbst die BewuBtseinsschwelle zu iiberschreiten, 
geben sie doch der reproduzierten Erinnerungs- und Phantasievorstel- 
lung das qualitativ formale und Gefiihlsgeprage. 

Wir gelangen nun zu den hochsten und am schwierigsten zu fassen- 
den intellektuellen Vorgangen, dem Denken. Es handelt sich um einen 
gegenwartig heiBumstrittenen Boden. Allgemein anerkannte Resultate 
haben die experimentellen Untersuchungen, die in den beiden letzten 
Jahrzehnten liber den Denkvorgang angestellt worden sind, noch nicht 
zutage gefordert. Die Schwierigkeit des Problems liegt darin, daB die 
abstrakt-unanschauliche Natur des Denkens seiner Habhaftwerdung 
im BewuBtsein weit grbBere Schwierigkeiten entgegensetzt als die aus 


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Das Problem des UnbewuBten. 


393 


Erinnerung und Phantasie oder gar die ausWahrnchmung gewonnenen 
Vorstellungen. Wegen dieser Unanschaulichkeit hat man ja anch neuer- 
dings den Denkvorgang als eine vierte fundamentale BnvufStseinsfunktion 
neben die Vorgange des Vorstellens, Wollcns und Fiihlens stellen zu 
iniissen geglaubt. Bedenken wir nun, daB das Den ken ebenso wie die 
anderen oben behandelten intellektuellen Funktionen durch die unter der 
BewuBtseinsschwelle verbleibenden Apperzcptionsmassen gestutzt wird, 
so scheint in der Tat vom gesamten Denkvorgang im BewuBtsein selbst 
kaum etwas Greifbares iibrig zu bleiben. Manche Psychologen sind auch 
der Ansicht, daB ohne Riickhalt an dem Wort oder einer Vorstellung 
ein Denkvorgang im BewuBtsein nicht vollzogen werden kann. 

Jedenfalls beweist nun auch das mit dem Denken so innig verbundene 
Sprechen und die Ubermittlung des Gedachten an das Verstehen des 
Horenden in ganz besonderem MaBe das Mitwirken einer unbewuBten 
intellektuellen Tatigkeit. An jedes Wort kniipft sich ja das gesamte 
Erfahrungsmaterial, das mit dessen Bedeutung verbunden ist. Dieses 
Erfahrungsmaterial stammt aus der gesamten individuellen und gene- 
rellen Entwicklung. Man vergegenwartige sich, wieviel Zeit der 
Sprechende oder Horende brauchen wiirde, um nur einen ganz geringen 
Teil der mit dem Wort verbundenen Bedeutung, vielleieht nur seine 
grammatikahsche und syntaktische Form, mit an die Oberfliiche des 
BewuBtseins zu bringen. Und doch miissen nicht nur die intellektuellen 
Residuen der grammatikalischen und syntaktischen Kenntnisse asso- 
ziativ angeregt sein, um eine richtige Wort- und Satzform zu ermog- 
lichen, sondern auch die Residuen der an die Worte sich kniipfenden 
Bedeutungsinhalte mit der Gesamtheit der oben zur Geniige gekenn- 
zeichneten, die Bedeutung erst konstituierenden Apperzeptinnsmassen. 

Die Unanschaulichkeit des Denkvorganges und die hierdurch ver- 
ursachte Schwierigkeit bzw. Unmoglichkeit, des Denkvorganges im Be¬ 
wuBtsein ebenso habhaft zu werden wie einer Vorstellung, eines Willens- 
oder Gefiihlsvorganges mag nun besonders die Frage nahelegen, ob das 
Denken nicht auch unbewuBt stattfinden konnte. Wenn wir uns fragen, 
was wir denn eigentlich beim Denken im BewuBtsein haben, so konnte 
man eigentlich nur antworten: die Denkintention — auBer natiirlich der 
Sinnenwelt, die ja fortdauernd bei wachem BewuBtsein uns von auBen 
zustromt. Wir konnen also eigentlich nur sagen, daB wir unseres Widens, 
ein Denkresultat zu finden, bewuBt sind, verbunden mit einer gewissen, 
auch in korperlichen Zeichen sich kundgebenden Spannung. Wir haben 
auch das BewuBtsein des Wahlens, wie es ja dem Wahlwillen entspricht, 
der unserem Denken die Richtung gibt, aber wir konnen nicht die zum 
Vollzuge der Logizitat unerlaBlichen Assoziationsvorgange beobachten. 
Nur dunkel w erden w ir uns beim Naclulenken gewisser Konstellationen 
der Denkrichtung bewuBt, auf die wir noch spater zu sprechen kommen 

Archlv f Ur Psychiatrie. Bd. 68. 26 


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Riilf: 


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werden. ,,Greifbar“ bewuBt wird uns schlieBlich, wenn auch wiederum 
nicht in anschaulicher Form, das Denkresultat, angelehnt zumeist an 
die sprachliche Form oder auch irgendeine sinnlich anschauliehe oder 
reproduzierte Vorstellung. 

Zum Beweise einer unbewuBt vor sich gehenden Denktatigkeit wird 
ja nun haufig auf jene zu unserer freudigen Gberraschung sich zuweilen 
fertig vor unser BewuBtsein stellenden Denkresultate hingewiesen, zu 
denen wir oft vergeblich in miihsamen Gberlegungen vorzudringen ver- 
suchten, bis sie sich plotzlich unvermittelt, wahrend wir vielleicht mit 
ganz anderen Dingen beschaftigt waren, von selbst in unserem BewuBt¬ 
sein einfanden. Nichtvrir denken, sondern es denkt in uns, ganz ohneunser 
Hinzutun und ohne unsere bewuBte Mithilfe — so scheint es wenigstens. 
Es ist klar, wie wichtig die Entscheidung dieser Frage fiir die Psycho- 
pathologie ist. Denn wenn etwa wirklich unbewuBt vor sich gehende 
Denkvorgange stattfinden sollten, die aus der Tiefe heraus die bewuBte 
Tatigkeit beeinflussen, sowiirde unsere Beurteilung des Neurotikers und 
seiner Handlungen in ganz bestimmte Bahnen gelenkt werden. Trotz- 
dem werden wir zunachst kein Recht haben, das UnbewuBte zu ratio- 
nalisieren. Denn wenn auch jene unvermittelt vor das BewuBtsein sich 
stellenden Denkresultate den Beweis liefern, daB eine Fortentwieklung 
psychischer Tatigkeit auch ohne unser BewuBtsein stattfindet — die 
ganze seelisch-geistige Entwicklung des Individuums ist schlielilich ein 
Beweis dafur —, so folgt doch nicht daraus, daB diese Entwicklung sich 
in denselben Formen abspielen miisse wie die BewuBtseinstatigkeit. 
Trotz seiner Unanschaulichkeit wissen wir vom Denken nur durch das 
BewuBtsein. Ebensowenig wie Vorstellen, Fiihlen und Wollen diirfen 
wir die Logizitat selbst als solche ins UnbewuBtsein versenken. Wenn 
im UnbewuBten, was ja nicht geleugnet werden kann, ein Fortschritt 
iiber den friiheren unser BewuBtsein erfiillenden DenkprozeB statt- 
gefunden hat, so muB er sich in Formen vollzogen haben, die mit den 
bewuBtseinsgemaB entwickelten logischen Formen — Urteilen und 
SchlieBen — nichts zu tun haben. 

Dasselbe, was wir vom Denken gesagt haben, gilt naturlich auch, und 
a potiori, von dem psychologischen Vorgange der Assoziationstatigkeit. 
Diese spielt sich ja, wie wir soeben bemerkten, iiberhaupt nicht im Be¬ 
wuBtsein ab. DaB diese aber arbeitet, davon haben wir ein sehr deut- 
liches Wissen bei dem sogenannten Besinnen. Das BewuBtsein wahlt 
dabei von den lnhalten, die es noch nicht hat, die ihm also nur ein Un- 
bewuBtes liefern kann, den einen aus, indem es ilm iiber die Schwelle des 
BewuBtseins laBt, wahrend sie andere zuriickweist. Gerade hierbei 
finden jene eigenartigen BewuBtseinskonstellationen statt, die die 
moderne Denkpsychologie aufzudecken sich bemiiht und mit ver- 
schiedenen Namen belegt hat. Wie hier das UnterbewuBtsein arbeitet, 


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Das Problem des UnbewuBten. 


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dafiir hat ja Bleuler mit Recht das Beispiel der vermittelten Assoziation 
angefiihrt, bei der das vermittelnde Glied unbewuBt bleibt. 

So sehen wir denn in alien intellektuellen Funktionen von der Wahr- 
nehmung bis zum Denken eine Unzahl unbewuBter psvchischer Elemente 
stecken. Dasselbe la-Bt sich aber auch von den praktischen AuBerungen 
der bisher nur von der theoretischen Seite betrachteten psychischen 
Funktionen beweisen, von jenen motorischen Aktionen, die wir 
Handlungen nennen. Bei diesen zeigt sich das Mitwirken des Unbe¬ 
wuBten in zweifacher Richtung. Zunachst zeigt die Ausfiihrung der 
Handlung selbst in alien ihren Phasen eine Reihe unbewuBter Momente. 
Nur bei den ganz ungewohnten Handlungen werden wir uns aller 
ihrer Teilcleinente bei der Ausfiihrung bewuBt. Bei den gewohnheits- 
maBig ausgefiihrten Handlungen jedoch gibt unser Wille nur die all- 
gemeine Richtung der motorischen Aktion dem BewuBtsein kund, wie 
beim Gehen, Sprechen, sich An- und Auskleiden usw., die Handlung 
selbst lauft automatisch ab und wird von unserem BewuBtsein nur 
beachtet, wenn sie ausdem gewohntenGeleise springt, auf Widerstande 
stoBt oder sonstwie ihren Zweck verfehlt. Zweifellos ist der Automatis- 
mus als solcher bei den Zielhandlungen zum groBtenTeil nach Art der 
vegetativen Automatismen als eine der bewuBten Mitwirkung entzogene 
bew. unbediirftige AuBerung niederer Hirnzentren zu betrachten. Aber sie 
zeigen doch recht wesentliche Unterschiede von den vegetativen Auto¬ 
matismen und auch den reinen Reflexfunktionen. Wahrend die vege¬ 
tativen Funktionen — abgesehen von den einleitenden Aktionen bei der 
Harn- und Stuhlentleerung und dem nur gelegentlichen Eingreifen 
unseres bewuBten Widens bei der Atmung — in starr vorgezeiehneten 
Bahnen ablaufen, die Reflexe diesen Ablauf in noch starrerer Form zeigen 
und dabei prinzipiell in ihrer Auslosung vom bewuBten Widen unab- 
hangig eines auBeren Reizes zu ihrem Vollzuge bediirfen, ist die Zweck- 
und Zielhandlung in alien ihren Teilen nicht nur abanderungsfahig, 
sondern sie wird in der Tat jedesmal bei ihrer Ausfiihrung den jeweiligen 
Umstanden angepaBt. Diese Anpassung aber vollzieht sich, wenn sie, 
wie meistens, nur geringfiigig ist, unbewufit. Niemand von uns legt 
l>eim Ausziehen jedesmal seine Kleider ganz genau in derselben Weise 
bin oder setzt sich auf seinen Stuhl vor den Schreibtisch in genau der¬ 
selben Weise usw. Wir werden uns aber dieser geringfiigigen Anderungen 
eben nicht bewuBt. Aber unser BewuBtsein ist wach und muB dabei wach 
sein. Fallen wir in Ohnmacht, so hbrt jede Zweck- und Zielhandlung 
trotz ihres zum iiberwiegenden Teil automatischen Verlaufs auf ein- 
geschliffenen Bahnen auf. wahrend vegetative Automatismen dabei 
weiter laufen und auch die Reflexauslosung in diesem Zustande moglich 
ist. Und 8chlieBlich steckt die Zweck- und Zielhandlung nicht nur in 
der Ausfiihrung ihrer einzelnen Teile voll unbewuBter Elemente, sondern 

26 * 


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Riilf: 


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sie wird bei gewohnter Ausubung haufig als Ganzes unbewuBt ausge- 
fiihrt. Der Mann, der seine Haustiir unbewuBt zugeschlossen hat, ist 
ja ein haufig angefiihrtes Beispiel. Wir werden diese und ahnliche Bei- 
spiele selbst dann gelten lassen, wenn die Annahme naheliegt, daB in 
vielen Fallen die Handlung wohl mit BewuBtsein ausgefiihrt, nur 
aber vergessen worden ist. 

Aber — und damit gelangen war zu dem fur das normale und auch 
pathologisehe Handeln wichtigsten Sphare des UnbewuBten — nicht 
nur nach der Seite ihrer Ausfiihrung, sondern auch ihrer Motivierung 
steckt die Handlung voll unbewuBter Elemente. Selbst bei den aus 
unserem bewuBten Willen hervorgehenden Handlungen werden wir uns 
langst nicht aller der motivierenden Tendenzen bewuBt, die zu ihrer 
Ausfiihrung beitragen. Wir konnen guten Glaubens annehmen, daB die 
augenblicklich in unserem BewuBtsein vorherrschende Motivations- 
tendenz die eigentliche Triebfeder unserer Wahlhandlung ist. Erst eine 
spatere Zeit klart uns liber unseren Irrtum auf. GewiB wird un- 
gewohnliche Char akter starke, gepaart mit hochster Weisheit und Selbst - 
einsicht, die MogUchkeit geben, der hauptsachlichsten Motive be¬ 
wuBt zu werden, die uns zu unseren jeweiligen Handlungen antreiben. 
Aber wer besitzt beide Eigenschaften in ihrer Vollendung und in ihrem 
Verein? Das y voj&l aavrov ist eineschwere Kunst. Der groBte Weise des 
Altertums mochte sie souveran beherrschen, dem Menschen von durch- 
schnittlicher Intelligenz und maBigenTugenden diirfen wir sie nicht zu- 
trauen. Er besitzt nicht die Fahigkeit, sich bei seinen Wahlhandlungen 
stets aller Motive bewuBt zu werden. 

Wiirden unsere Handlungen allein von intellektuellen Erwagungen 
bestimmt werden, so wiirde es dem Wahl willen in vielen Fallen vielleicht 
noch gelingen, alle nicht zu klarer BewuBtheit gelangten Antriebe von 
seinem Machtbereich auszuschlieBen. Aber auBer der hochsten Form 
der bewuBten Intention, die sich eben im WaMurillen dokumentiert, 
wirken aus der Tiefe der Psyche jene keineswegs immer zu klarer Be¬ 
wuBtheit gelangenden ,,niederen“ Tendenzen, die als Triebe bezeichnet 
die organische Vorstufe des Wahlwillens bedeuten, im Tiere als alleiniger 
Motivationsfaktor fungieren, aber auch im Menschen eine Wirksamkeit 
entfalten, die im allgemeinen weiter reicht, als wir es uns eingestehen 
wollen. 

Das Entscheidende aber ist der Nachweis, daB die grundlegenden 
Triebe der Selbst- und Gattungserhaltung nicht nur mehr oder minder 
unbewuBt die Wege des aus klarem BewuBtsein schopfenden Wahlwillens 
uberall durchkreuzen, sondern vollkommen unbewuBt ihre Wirk¬ 
samkeit entfalten konnen. Die ganze Natur des Menschen scheint darauf 
angelegt, die Triebe der Selbst- und Gattungserhaltung derart insUn- 
bewuBte versinken zu lassen, daB sie in der Regel nur bei bestimmten 


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Das Problem des UnbewuBten. 


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Anlassen zutage treten, dann namlich, wenn entweder ein auBerer An- 
reiz diese Triebe herausfordert, oder wenn physiologischer Mangel 
selbsttatig die Triebe vveckt und mit denihnen assoziierten Erinnerungs- 
und Phantasievorstellnngen ins BewuBtsein ruft. Ware das anders, so 
miiBten wir wohl von diesen beiden Trieben, besonders aber vom Gat- 
tungserhaltungstrieb, noch haufiger geplagt werden, als das in derTat 
schon der Fall ist. SchlieBlich steht doch der groBte Teil unseres Denkens 
und Handelns im Dienste beider Triebe. Die materialistische Geschichts- 
auffassung behauptet sogar: alles, — selbst das hdchste intellektuelle und 
Gefiihlsstreben. Aber auch wenn wir nicht so weit gehen wollen, so 
bleibt doch den beiden Trieben fur unbewuBte Wirksamkeit ein ge- 
niigend groBes Feld iibrig. DaB der Nahrungstrieb uns zur Ausiibung 
eines Berufes zwingt, ist sicher. Aber weder ist er der einzige Antrieb, 
noch ist uberhaupt ein TriebbewuBtsein dabei regelmaBig vorhanden. 
Auch Ehrgeiz, Pflichtgefiihl, Erkenntnisstreben, allgemeiner Betati- 
gungsdrang usw. spielen bei der Berufsausiibung eine Rolle. Welcher 
von diesen Trieben jeweils unsere Berufsausiibung allein oder iiber- 
wiegend beherrscht, wer will es ermessen? SchlieBlich sind Anlage und 
jeweilige Disposition, diese beiden selbst deni BewuBtsein groBtenteils 
entriickten psychophysiologischen Faktoren, doch bestimmend fiir 
unser allgemeines und zeitweiliges Tun. 

Noch weniger werden wir vom Geschlechtstrieb, der sich ja im all- 
gemeinen seltencr in unsercm BewuBtsein bemerkbar macht, behaupten 
diirfen, daB er bei alien Gedanken und Handlungen, (lie seiner Befriedi- 
gung dienen, auch tatsachlich im BewuBtsein vorhanden ist. Im Grunde 
genommen stehen ja schon alle Gedanken, Wollungen und Handlungen, 
die der Selbsterhaltung dienen, indirekt zugleich auch im Dienste 
der Gattungserhaltung. Was jenen fordert, sichert auch diesen. Was 
aber geradezu auffallen muB und fiir die Beurteilung des neurotischen 
Handelns von groflter Wichtigkeit ist, das ist die Tatsache, daB selbst in 
denjenigcn Fallen, in denen der der Gattungserhaltung dienende Trieb, 
der Geschlechtstrieb im eigentlichen Sinne, geweckt wird — sei es durch 
iiuBeren Reiz, sei es durch Phantasietatigkeit — regelmaBig gar nicht 
der Zweck, dem er client, mit ins BewuBtsein tritt. Ja, je machtiger 
der Geschlechtstrieb das BewuBtsein beherrscht, um so starker clrangt 
er nicht nur uberhaupt alle Motive und Erwiigungen, die seiner Aus- 
iibung sich entgegenstellen konnten, zuriick, sondern auch die Vorstel- 
lung des Zweckes, den er verwirklichen soil, selbst. Das geht so weit, 
daB der Geschlechtstrieb sich auch dann durchzusetzen vermag, wenn 
sogar die Absicht, diesem Zweck nicht dienen zu wollen, unser BewuBt¬ 
sein beherrscht. Jenes Prinzip der Natur — Hegel wiirde sagen • List 
der Natur —, welches uns zur Erfiillung unserer Triebhandlungen rein 
um der Lust willcn zwingt. die sie mit sich bringen, ganz ohne Riick- 


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Riilf: 


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sicht, ja ohne BewuBtsein des Zweckes, dem sie dienen, iiberschlagt sich 
hier gewissermaBen, indem es die* Triebbetatigung erzwingt, selbst wenn 
tins das BewuBtsein des gewollten Gegenteils ihres Zweckes erfiillt. 

Die von der Natur selbst herbeigefiihrte Verdrangunr/ der Zweckvor- 
stellung aus dem BewuBtsein bei der Triebbefriedigung im allgemeinen 
geht nun aber bei dem Sexualtrieb noch einen Schritt weiter. Denn dieser 
findet sich ja beim Menschen gegeniiber dem der Trieberfiillung direkt 
zustrebenden Tiere zu jenem hoheren erotischen Gefiihl sublimiert, 
das gewissermaBen eine Verdrangung in der zweiten Potenz zur Folge 
hat. Das Geschlechtsgefuhl des normal entwickelten Kulturmenschen, 
besonders bei dem eben zur Mannbarkeit und noch mehr bei dem 
eben zur Jungfraulichkeit erwachten Individuum, auBert sich ja, zumal 
unter der Wirkung des jugendlichen Dranges nach Idealisierung, nicht 
direkt im Streben nach Befriedigung der Sinnenseite. Die grobere 
Erotik tritt besonders bei dem in passiver Rolle verharrenden weib- 
lichen Individuum unter dem EinfluB der von friiher Jugend aner- 
zogenen Schamhaftigkeit noch auf Jahre meistens stark zurtick. Eine 
bewuBte Verdrangung findet, beim mannlichen Geschlecht friiher, erst 
statt, wenn der physiologische Trieb zu lange auf normale Betatigung 
warten muB und deshalb seine Anspriiche dem BewuBtsein in immer 
starkerem MaBe aufdrangt. 

So sehen wir also bei dem fur die richtige Auffassung der neuro- 
tischen so besonders wichtigen, wenn auch keineswegs ausschlieBlich in 
Betracht kommenden Triebe schon normalerweise eine doppelte und 
dreifache Verdrangung stattfinden. 

DaB auBer dem Selbst- und Gattungserhaltungstrieb noch andere 
mehr oder minder ins UnbewuBte zuriicktretende Triebe bei den Hand- 
lungen mitwirken, haben wir bereits oben erwahnt. Wir konnen aber 
deren Erorterung unterlassen, da sie fur die Psychopathologie eine ge- 
ringere Rolle spielen. 

Einen kurzen Blick miissen wir jedoch auf die Instinkte werfen, da 
diese nach ihrer ganzen Eigenart gewissermaBen den Gbergang vom Be- 
wuBten zum UnbewuBten zu demonstrieren scheinen. Denn der Instinkt 
soil ja den noch nicht in verstandesmaBiger Gberlegung zu klarer Ziel- 
vorstellung gelangten, aber dennoch zielsicher sich betatigenden 
BewuBtseinsakt bedeuten. Wir konnen die Form, in der sich der 
Instinkt im BewuBtsein auBert, wohl als einen Gefiihlszustand be- 
zeichnen. Er stellt sich dar als die nicht verstandes- bezw. vorstellungs- 
maBig, sondern gefiihlsmaBig durch das BewuBtsein reprasentierte Be- 
tatigungsrichtung. Und in dieser Form wird er sich doch wohl auch 
bei jenen Triebhandlungen der Tiere auBern, die zu einem unsere Be- 
wunderung immer von neuem herausfordernden Erfolge fiihren. Wir 
konnen jedenfalls unmoglich annehmen, dall die Tiere bei ihren Kunst- 


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Das Problem des UnbewuBten. 


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bauten das erstrebte Ziel vorstellungsmaBig im BewuBtsein tragen wie 
der Bauraeister das zu erbauende Haus. (Jm eine rein reflektorische 
Handlung ohne Mitwirkung des BewuQtseins kann es sich aber eben- 
falls nicht handeln. Dean das Herbeibringen der Baustoffe und die 
Anpassung an tlie Ortlichkeit beim Bau usw. sind nur mit BewuBtsein 
vollziehbar. So wird uns der Instinkt ein lehrreiches Beispiel fiir eine 
mil BewuBtsein, aber ohne bewufite Erkenntnis des Endzwecks ausgefiihrte. 
Handlung. Wir brauchen hiervon nur die Nutzanwendung bei der Be- 
urteilung des neurotischen Tuns zu ziehen, uni manchen Streit der 
Meinungen zu schlichten. 

Auch in jener iibertragenen Form, in der uns der Instinkt nicht 
sowohl eine gefiihlsmaBig sich auswirkende Triebhandlung als vielmehr 
eine gefiihlsmaBig sich betatigende Erkenntnis bedeutet, kann er uns 
ein Beispiel fiir die mehr oder minder ins UnbewuBte zuriicktretende 
seelisch-geistige Tatigkeit sein. Haufig genug kdnnen wir uns iiber das 
Handeln oder auch nur Meinen unserer Mitmenschen keine klare be- 
wuBte Erkenntnis bilden, tappen wir doch, wie wir oben genauer er- 
kannten, bei der Selbsterkenntnis schon im Dunkeln. Wo aber das klare 
BewuBtsein mangelt, da kann noch immer ein gliicklicher Instinkt uns 
zum Ziele fiihren. Erst die spatere Ausreifung unseres Innern in Form 
der klar bewuBten Erkenntnis lehrt uns, daB wir das Erkenntnisziel 
auch gefiihlsmaBig zu erfassen imstande sind. 

Nachdem wir so das Verhaltnis unserer Triebe und Instinkte zum 
UnbewuBten kurz erlautert halien, brauchen wir iiber die Beziehung des 
dritten seelischen Elements, des Gefiihls, zum UnbewuBten nur noch 
wenig hinzuzufiigcn. Die Hauptsache ist schon soeben bei den dem 
Gefiihls- und Affektleben so nahestehenden Trieben und Instinkten 
gesagt worden. Wir konnen uns deshalb auf die Feststellung be- 
schriinken, daB wir an sich das Gefiihl, das wir ja auch nur aus dem 
bewuBten Seelenleben kennen, zwar als solches nicht ins UnbewuBte 
versenken diirfen, daB aber gerade dieses seelische Element so feiner 
Abstufungen fahig ist, daB es im Einzelfalle auch der scharfsten In- 
trospektion entgehen kann. Und wenn auch Plethysmographie und 
andere experimentelle Methoden feinste affektuelle Regungen in jenen 
Fallen nachweisen konnen, wo Reize oder die hierdurch angeregten 
Seelenvorgiinge Beziehungen zu unserem Wohl und Wehe haben, bei 
den hbheren Gemiits- oder gar intellektuellen Gefiihlen diirften auch 
diese Methoden versagen. Im iibrigen konnen solche Experimente bei 
positivem Ausfall immer nur dartun, daB eine Gefiihlserregung statt- 
gefunden hat, beim negativen Ausfall atier nicht beweisen, daB eine 
solche nicht vorhanden gewesen ist. Wir haben dabei noch zu bedenken, 
daB gerade die intellektuellen Gefiihle von einer Feinheit sind, daB ihr 
Bestand von manchen Psychologen iiberhaupt bestritten wird. Immer- 


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Rlilf: 


hin diirfte es doch nicht schwer fallen, ihres Vorhandenseins sicher zu 
werden in jenen Fallen der Uberlegung, wo wir zwischen Wahrheit und 
Irrtum schwanken. Uns scheint das Bestehen von logischen und Er- 
kenntnisgefiihlen eine unbestreitbare Tatsache. Von welcher Tragweite 
das ist, haben wir bereits angedeutet und wird sich uns spater fiir die 
Losung des Problems des UnbewuBten noch erweisen. 

Damit haben wir einen kurzen Uberblick iiber das Wirken des Un¬ 
bewuBten in den normalen psychischen Vorgiingen gewonnen und 
brauchen nur noch einnial darauf hinzuweisen, daB auch all das, 
was wir als seelisch-geistige Anlage, Disposition, Charakter usw. be- 
zeichnen, irgendwie im UnbewuBten psychisch realisiert sein muB, 
sofern wir nicht mit materialistischer Wendung einen ausschlieBlich 
cerebralen Vorgang als Unterlage dafiir annehmen wollen. Schon jetzt 
mogen wir aber erkennen, daB, abgesehen von der auBerordentlichen 
KompUkation des Problems, dessen Losung gar nicht in der Entscheidung 
der Alternative: beumfU oder unbewufit zu liegen braucht. Denn wenn wir 
Grund zu der Annahme haben, daB die Intensitat eines BewuBtseins- 
vorganges sich bis zum feinsten Grade abstufen kann, und daB das auf 
die Gefiihle in besonderem Grade zutrifft, dann kommt es fiir die Bear- 
teilung gar nicht darauf an, ob ein seelischer Vorgang absolut unbewufit 
oder in schwdchstem Grade bewufit abgelaufen ist. Auch im letzteren Falle 
wird er eben fiir das Ich nicht in geniigendem MaBe eifaBbar und auch 
nicht unmittelbar fiir den Wahlwillen verwertbar. 


ill. Das UnbewuBte in (len pathologischen psychischen Vorgiingen. 

Wir wollen jetzt jene zu den neurotischen Symptomen in so naher 
Beziehung stehenden halbpathologischen Phanomene des Hypnotismus 
und der Suggestion kurz beriihren. In diesen spielen mehr oder minder 
unbewuBte, wahrscheinlich auch vcillig unbewuBt verlaufende seelisch- 
geistige Vorgiinge eine ja auch dem Laien langst bekannt gewordene 
Rolle. Der aus der Hvpnose Erwachte weiB tatsachlich nichts von den 
absurden Handlungen, die er im hypnotischen Zustande begangen 
hat. Er weiB nicht, daB er unter AuBerung des Wohlbehagens eine Kar- 
toffel fiir einen Apfel verzehit hat. Er muB aber doch in der Hypnose 
eine bewuBte Tatigkeit entfaltet haben, denn sonst hatteer auf die Ein- 
gebungen des H} 7 pnotiseurs nicht eingehen konnen. Und wenn er eine 
jiosthypnotische Suggestion piinktlich ausfiihrt, ohne sich der Griinde 
fiir seine Handlung bewuBt zu werden, so ist das ebenfalls ein Beweis 
fiir eine im vollen Sinne des Wortes unbewuBte psychische Tatigkeit. 
Nehmen wir aber einmal mit Bumke gegen Bleuler an, daB eine voll- 
kommene UnbewuBtheit der suggerierten Handlung nicht statthat. das 
Wesentliche an dem Verhaltnis dieser zum BewuBtsein ist doch, daB die 


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Das Problem des UnbewuBten. 


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Handlung durch die Macht der Eingebung so von dem IchbewuBtsein 
abgesperrt ist, daB dieses das Suggerierte nicht in den assoziativ-logischen 
Zusammenkang mit seinen aus dem normalenBewujitsein stammendenlnhal- 
ten bzw. Beqehrunqen zu bringen vermag. Dadurch entzieht sich das Sugge¬ 
rierte bei derhypnotischen Handlung der Erkenntnis durch das IchbewuBt¬ 
sein iiberhaupt und bei der posthypnotischen der Erkenntnis hinsichtlich 
der Motive fur seine Realisierung. Damit sind aber die Bedingungen 
des UnbewuBten, und zwar zweifellos UnbewuBt-Seelischen, gegeben. 

Diese halbpathologischen Phanomene geben uns nun einen weiteren 
Hinweis, auf welchem Wege wir uns unbewuBte psychische Vorgange 
zustande gekommen denken konnen. Wir haben es ja bei der Hypnose 
nicht mit einer vollkommenen Aufhebung des BewuBtseins zu tun wie 
im Schlaf. Im echten Schlaf und in einer durch Trauma oder Intoxi- 
kation herbeigefiihrten BewuBtlosigkeit ist eine Suggestion ausge- 
schlossen. In der Hypnose haben wir es mit einer Einengung des Be- 
ivvfttseins zu tun, wie ja das geniigend erkannt und dargestellt worden ist. 
Durch diese Einengung, die als Folge der suggerierenden Eingebung 
auf mehr oder weniger lange Zeit festgehalten werden kann, vollzieht 
sich jene Absperrung, jene Dissoziation, durch die das Eingegebene 
von der assoziativ-logischen Verarbeitung im Zusammenhang mit den in 
normalem Zustande aufgenommenen und weiter verarbeiteten BewuBt- 
seinsinhalten ferngehalten wird. Dadurch wird es aber zu eiwas Un- 
beivufitem, einem seelischen Fremdlcorper. DieVermutung, daB neurotische 
Symptome auf einem ahnlichen Wege zustande kommen konnten, wird 
durch die bekannte Tatsache nahegelegt, daB die zu neurotischen 
Symptomen Disponierten in der Regel auch leicht hypnotisierbar bzw. 
suggestibel sind. 

Die Einengung des BewuBtseins nun wird bei den hysterischen Re- 
aktionen und Produktionen, zu deren Erklarung wir hiermit iibergehen, 
natiirlich nicht allein auf dem Wege einer Fremdsuggestion zustande 
kommen, wenn wir auch gerade bei den Massenhysterien haufig diesen 
Entstehungsmodus beobachten. Eine Einengung des BewuBtseins durch 
Hypnose liegt bei den letzteren uberhaupt nicht vor und ist auch bei den 
ersteren nur ausnahmsweise die Quelle hysterischer Produktionen — 
wenn etwa durch nicht sachverstandige Hypnose das disponierte In- 
dividuum in einen Zustand langer dauernder BewuBtseinseinengung 
verbunden mit Ubererregung versetzt wird. Die Ursache der hysterischen 
Reaktion ist aber bei den Kriegs- und Unfallneurosen, an die wir wegen 
ihrer manifesten Entstehungsart und der Anregung, die sie gerade 
dem Psychiater fur die Erorterung des Problems des UnbewuBten 
gegeben haben, besonders ankniipfen wollen, unmittelbar gegeben. 
Es ist hier eben das krankmachende Erlebnis selbst, das die Einengung 
des BewuBtseins bei dazu disponierten Individuen besorgt. 1st die Ein- 


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Riilf: 


wirkung des Erlebnisses vermoge seiner eigenen Intensitat stark 
genug, so ist vielleicht, wie wenigstens raanche Autoren annehmen, 
eine hysterische Disposition iiberhaupt nicht notig. Wahrscheinlich 
konnen wir alle in solchem Falle hysteriforin reagieren und niemand ist 
rnehr imstande, das seelische ,,Gleichgewicht“ schnell genug wieder- 
herzustellen. Das seelische Gleichgewicht bedeutet eben nichts anderes 
als den Ausgleich des affekterregenden Erlebnisses mit dem iibrigen 
Seeleninhalt. 1st dieses eindrucksvoll genug. urn seine Selbstandigkeit 
zu behaupten, so bleibt die geraiitliche und assoziativ-logische Verar- 
beitung, die die Voraussetzung fiir den Ausgleich ist, aus. Es kommt 
nicht jene ,,Usur“ zustande, wie sich Brener und Freud so treffend aus- 
driicken, durch die das normale Individuum seine affekterregenden 
Erlebnisse aufzuspalten und seelisch zu verdauen vermag. Das Er- 
lebnis wird zum Fremdkorper. Es kommt zur „Abspallung, Dissoziation , 
Verdrangung, Isolierung, Komplexwirkung'' , oder wie man sonst den 
Vorgang bezeichnen mag, durch den der normale Ausgleich ver- 
hindert wird. 

Wahrend aber in dem Ursachenkomplex, aus dem die neuro- 
tischen Symptome entstehen, das auBere Erlebnis nur die Rolle der 
Auslosung spielt, liegt der tiefste Grund fiir deren Manifestierung im 
Selbst- und Gattungserhaltungstrieb, die wir ja oben schon im normalen 
Leben eine so bedeutsame Rolle bei der Verdrangung spielen sahen. 
Die Einengung der Interessensphare, die diese beiden grundlegenden 
Triebe schon in der normalen Breite beim Durchschnittsindividuum 
zur Folge haben, wird bekanntlich beim neurotischen Individuum zur 
egozentrischen Einstellung, die die gegebene Grundlage fiir die Ab- 
spaltung stark affekterregender Ereignisse ist. Das nervenstarke und 
zugleich ethisch hochstehende Individuum, das stark genug ist, die An- 
spriiche jener beiden organischen Grundtriebe zugunsten hoherer In- 
teressen zuriickzudrangen, besitzt die Kraft und Weite seelisch- 
geistiger Assimilation, durch die es nocli so tief in seinen Bestand 
eingreifende Reize in sich aufzunehmen und zu verdauen ver¬ 
mag. Der Held treibt diesen VerdauungsprozeB so weit, daB von dem 
Selbsterhaltungstrieb nichts mehr librig bleibt : er bringt seine eigene 
Existenz zum Opfer fiir hohere Zwecke. Das neurotische Individuum, 
dessen Aufmerksamkeit besonders stark auf die Durchsetzung jener 
beiden Triebe gerichtet ist, schafft sich hierdurch selbst die Grundlage 
fiir die Einengung des BcwuBtseins und die Isolierung der durch lebens- 
bedrohende Reize entstandenen Seelenwirkungen. Aber diese selbsttatige 
Herbeifiihrung der Einengung ist nicht ein AusfluB bewufiter Wahlliand- 
lung, sondern eine konstitutiandl durch neurotische Disposition erzwungene. 

Entsprechend unserer Doppelnatur kann nun auch das neurotische 
.Symptom sowohl auf korperlichem wie auf seelisch-geistigem Gebiet 


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Das Problem des UnbewuBten. 


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zustandekommen. Anf ersterem wird es sich hauptsachlich in jenen 
motorischen Aktionen zeigen, durch die wir unsere Natur als hand- 
lungsfahiges Inclividuum bewahren, auf dem Gebiet der Muskelaktionen. 
Die pathologische AuBerung, die es hier zustande bringt, kann nur 
sein eine Hyper-, Hypo-, A- und Parakinese, wobei wir unter letzterer 
alle ungeordneten Bewegungen verstehen. Um die meist durchaus 
unbeuru/ite Entstehung dieser Symptome zu begreifen, brauchen wir 
nur in die Breite des normalen Lebens hineinzublicken oder uns die 
Krankheitssymptome des gewohnlichen Neurasthenikers zu vergegen- 
wartigen. Zittererschcinungen bei starken Affekten, der tremor digitorum 
des Neurasthenikers, der Tic sind so bekannte Erscheinungen, daB wir 
nicht notig haben, zur Erkliirung dieser jedesmal einen komplizierten 
seelischen Mechanismus mit Verdrangung, Komplexwirkung u. dgl. in 
Bewegung zu setzen. DaB sehr starke Affektwirkung nun ein solches 
Symptom ganz ohne bewuBtes Zutun deslndividuums bei besondererDis¬ 
position aueh besonders stark und besonders lange andauernd gestalten 
wird, liegt so klar zutage, daB ein naheres Eingehen darauf sich eriibrigt. 

Aber es bleiben genug Falle iibrig, in denen die groteske Form, 
die Dauer der Symptome, die Umstande ihres starkeren Hervortretens, 
ihres volligen Ausbleibens — bei Kriegsgefangenen z. B. — und schlieB- 
licli ihres Aufhorens — bei Entfernung aus der Gefahrzone — die Mit- 
wirkung bew uBter Zutat von seiten des befallenen Individuums nahe- 
legen. Diese Falle sind es hauptsachlich, an deren Analyse die Frage 
des UnbewuBten praktisch zur Entscheidung gebracht werden miiBte. 
Ohne weiteres muB da die im iibrigen nicht iiberraschende Tatsache 
von vornherein zugestanden werden, daB es geniigend Aggravanten gibt, 
die ihr neurotisches Symptom pflegen, solange es ihnen von Nutzen 
ist. Wie weit dabei das BewuBtsein mehr positiv im Sinne eines scharf 
ausgepriigten Wahlwillens oder mehr negativ im Sinne eines ,,Sichgehen- 
lassens“ (Kretschmer) mitwirkt, ist kaum der Miihe w'ert zu erortern. 
Simulation im eigentlichen Sinne bei linger andauernden neurotischen 
Symptomen darf wegen der Schwierigkeit bzw. Unmoglichkeit der zu 
ihrer Aufrechterhaltung notwendigen Ausdauer ausgeschlossen werden 
und wird selbst von den Autoren meistens nicht behauptet, die dem 
bewuBten Mitwirken das weitgehendste Zugestandnis machen. Ob mit 
einem solchen Zugestandnis nicht zugleich das Eingreifen vom bewuBten 
Widen mehr oder wenig unabhangiger psychischer Antriebe mit zuge- 
geben wird, soli nicht weiter erortert w'erden. Wir wollen nur fragen, 
wie wir das Zustandekommen und die Unterhaltung der neurotischen 
Symptome in den oben bezeichneten Fallen auf Grund unserer Vorstel- 
lung vom UnbewuBten zu erklaren haben. 

Die initiale Entstehung bereitet nun nach dem oben Gesagten bei 
den Hypo-, A- und Parakinesen, sofern sie sich unmittelbar an den er- 


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Riilf: 


regenden Affekt anschlieBen, keine Schwierigkeiten. Denn ebenso wie 
fur die Hyperkinesen haben wir ja auch fiir die ebeu genannten Ab- 
weichungen im normalen Leben Analoga. Lahmungsgeftihle, Sprach- 
stockungen, schlotternder Gang usw. werden ale voriibergehende Er- 
scheinungen nach heftigen Erregungen auch bei eindrucksfahigen Ge- 
sunden beobachtet. Es handelt sich also um die Entstehung der grobercn 
Formen dieser Anoraalien und den psychophysischen Mechanismus ihrer 
Fixierung. Wiirden wir verlaBliche Selbstschilderungen von Neuro- 
tikern iiber die Entstehung und das Verschwinden solcher hysterischer 
Reaktionen haben, so konnten sie uns wohl von groBem Nutzen fiir den 
Einblick in die Psyche des Kranken, besonders aber fiir die Frage sein, 
inwiefern unbewuBte Vorgange zum Zustandekommen und zum Ver¬ 
schwinden der Symptome beitragen. Besonders wertvoll waren uns 
solche Selbstschilderungen, wenn die Auslosungsursache nicht ein mit 
groBer Schreckwirkung einhergehendes Ereignis wie Granateinschlag 
gewesen ist. Hier wiirde uns die Annahme eines ,,Affektreflexes“ 
(Kretschmer) fiir die Entstehung geniigen. Nun sind die Selbstschilde¬ 
rungen der Hysteriker mit groBer Vorsicht zu gebrauchen. Wir haben 
aber eine zwar kurze, doch um so pragnantere Schilderung eines Arztes, 
der wohl nicht ausgesprochener Hysteriker ist, aber doch in einem Falle 
hysteriform reagierte. 

Ambold 1 ) gibt von sich eine derartige Schilderung. Er bekennt sich 
nur als Neurastheniker. Er sei im Felde an Pneumonie erkrankt und im 
iiberfiillten Lazarettzug abtransportiert worden. Hier erwachte er mit 
einem intensiven Schiitteltremor. Sein anfangliches Erstaunen w'urde 
bald abgelost von der Reflexion iiber die ursachliche Bedeutung dieses 
Tremors. Es sollte, wie er alsbald erkannte, als manifestos Symptom 
die Aufmerksamkeit von Arzten und Pflegepcrsonal auf sich ziehen, 
um die ersehnte Hilfe zu erzwingen. Den Tremor zu unterdriicken war 
er mit hochster Willensanstrengung imstande, nachdem er sich klar- 
gemacht hatte, daB er sein Ziel auf direkte Weise erreichen konnte. 
Am andern Morgen lagen die Hande ruhig da, aber er konnte noch den 
Schiitteltremor nach Belie be xx hervorrufen. Nach Uberfiihrung ins 
Heimatlazarett stand ihnx der Schiittelmechanismus nicht mehr zur 
Verfiigung. 

Aus dieser Selbstschilderung, die wohl nicht nur subjektiv glaub- 
haft ist, sondern auch objektiv den psychischen Tatbestand richtig 
wiedergibt, geht wohl zunachst hervor, daB viillig ohnc Mitwirkung des 
BewuBtseins sich der Schiitteltremor in einem Falle einstellte, wo von 
einer plotzlichen Affektwirkung nicht die Rede sein konnte. Der Kranke, 
der doch schon mit dem BewuBtsein, sich eine Pneumonie zugezogen zu 


l ) Miinch. med. Wochenschr. 1922. Nr. 9. 


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Das Problem des UnbewuBten. 


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haben, abtransportiert war, erwacht und sieht zu seinem Erstaunen, 
daB er einen Schiitteltremor hat. Die Beobachtung ferner, daB er nur 
mit groBer Willensanstrengung imstande war, den Tremor zu unter- 
driicken, spricht ebenfalls gegen eine bewuBte Mitwirkung nicht nur bei 
der Entstehung, sondern auch bei der Fortdauer des Tremors. DaB der 
Tremor alsbald schwand, wird uns bei der besonderen Struktur der 
sachverstandigen Arztpsyehe, die sich sofort durch die Erkennt- 
nis zu beruhigen verstand, daB sie ihr Ziel auf direkte Weise erreichen 
konne, nicht uberraschen. Und wenn A. imstande war, den Schiittel- 
tremor selbst hervorzurufen, solange er noch im Lazarettzuge sich be- 
fand, nicht aber mehr, als er im Heimatlazarett angelangt war, so ist 
das wiederum ein Beweis fiir die Grenzen, die der Tatigkeit des be- 
wuBten Widens bei der Hervorrufung oder Unterhaltung neurotischer 
Symptome gezogen sind. 

Aus diesem Fall geht jedenfalls hervor, daB das KrankheitsbewuBt- 
sein verbunden mit dem Gefiihl der Hilflosigkeit einen Komplex schaffte, 
der ins UnterbewufUsein versenkt, von hier aus durch Wirkung auf das 
Nervensystcm die Hyperkinese hervorrief. Das Erstaunen A .s iiber das vor- 
gefundene Symptom und die Notwendigkeit, erst die Reflexion zu Hilfe 
zu nehmen, um sich iiber die Bedeutung des Symptoms klar zu werden, 
seheint mir ohne weiteres die Vermittlung eines unbcwufiten psychischen 
Vorgangs fiir die Hervorrufung der Hyperkinese zu beweisen. DaB A. gar 
selbst nach Erkenntnis dieser Bedeutung und Auffindung eines direkten 
Wcges zur Erreichung des Zweckes, dem seine Neurose diente, trotz- 
dem noch, solange er sich im Lazarettzuge befand, nur mit groBter 
Willensanstrengung den Schiitteltremor unterdriicken konnte, beweist 
a her auch, daB die Hyperkinese nicht nur ohne Mitwirkung des be- 
wuBten Willens entstanden war, sondern auch gegen diesen sich zu be- 
haupten verstand, wenigstens bis zu einem gewissen Grade. Man 
braucht nur eine starkere neurotische Disposition oder einen heftiger 
wirkenden Affekt vorauszusetzen, um die Grenze zu erkennen, bei 
der es dem Willen trotz groBter Anstrengung nicht mehr gelingt, 
das neurotische Symptom zu beseitigen — solange wenigstens die un- 
giinstigen Umstande fortwirken, die den Komplex im UnterbewuBten 
,,eingeklemmt“ halten. So wird der Fall Ambold meines Erachtens 
zum Schulbeispiel fiir jene Absj)altung, Verdrangung, Komplexwirkung 
usw., aus der so viele neurotische Symptome zu erklaren sind, ein 
Schulbeispiel fiir die Entstehung einer sog. Zweckneurose. 

Wenn wir nun naher nach dem psychischen Mechanismus fragen, 
der selbst bei der sachverstandigen Psyche eines Arztes die Entstehung 
einer Zweckneurose herbeizufuhren vermag, trotzdem sogar das BewuBt- 
seiti in diesem Falle das von der Neurose produzierte Mittel nicht einmal 
als das geeignetste fiir den in diesem Falle zu erreichenden Zweck aner- 


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Riilf: 


kannte, sokonnen wir nun auf die Rolle verweisen, die wir dem Selbst- 
erhaltungstrieb l>ei der Produktion neurotischer Symptome zusprachen. 
Der Selbsterhalturu/st rich ist eben starker als jede bewufite Reflexion. 
Beim disponierten Individuum fiihrt er ohne, ja gegen den Willen des- 
selben zu jener Einengung des BewuBtseins, die die nachste Yor- 
aussetzung fiir die Versenkung des Komplexes ins UnbewuBte ist. 

Wahrend so auf der subjektiven Seite egozentrische Einstellung des 
neurotisch disponierten Individuums in Verbindung mit dem Selbst- 
erhaltungstrieb die giinstigen Vorbedingungen sind, wird auf der objek- 
tiven Seite die Reizstarke die BewuBtseinseinengung begiinstigen. Denn 
die schon unter normalen Umstanden mit der Starke des Reizes wach- 
sende Starke und Dauer der auf den Reiz und dessen Nachwirkungen 
im BewuBtsein gerichteten Aufmerksamkeit wird bei dem neurotischen 
Individuum infolge der oben genannten subjektiven Vorbedingungen 
sich noch erhohen und verlangern. Die Konkurrenz dieser objektiven 
und subjektiven Vorbedingungen wirkt also nach Art der durch Hypnose 
hervorgerufenen BewuBtseinseinengung. Hier ist es ein lebendes Indi¬ 
viduum, das die Suggestion hervorruft, dort nur ein physischer Vor- 
gang. Dieser spricht aber — man denke an Granateinschlag — eine so 
machtige Sprache, daB er die suggestive Kraft des Hypnotiseurs mehr 
als zu ersetzen vermag. 

Wir konnen uns also wohl vorstellen, daB auf diese Weise uicht nur 
ohne, sondern auch gegen den bewuBten Willen das neurotische Sym¬ 
ptom zustandekommen und aufrechterhalten werden kann. Es hat 
manchen pflichtbewuBten Soldaten gegeben, der nicht gerade erbaut 
iiber sein neurotisches Symptom war und die Riickkehr nach der Front 
erschnte. Wir wurden unseren Kriegern unrecht tun, wenn wir solche 
Falle ubersehen wurden. Der Selbsterhaltungstrieb erzwingt eben beim 
disponierten Individuum die Einengung des BewuBtseins und entzieht 
damit dem BewuBtsein gegen dessen Willen die Moglichkeit der gernut- 
lichen und assoziativ-logischen Verarbeitung, der ,,Usur“ der leben- 
bedrohenden Einwirkung bzw. seiner affektiven Nachwirkung. 

In welcher Richtung der bei starkem Affekt ins UnbewuBte ver- 
senkte ,,Gefahrkomplex“ wirkt, hangt wieder von der DisjKisition des 
Individuums ab. Es kann zu korperlichen Wirkungen kommen, und 
dann treten die uns bereits aus dem normalen Leben und den Symptomeu 
des Neurasthenikers zum Teil bekannten hypt>r- oder hypo- oder para- 
kinetischen Erscheinungen ein, nur eben in starkerem MaBe als bei jenen 
beiden. Aber nicht nur die quergestreifte, sondern auch die glatte 
Muskulatur ist ja den Angriffen des Affektreizes und dem ins UnbewuBte 
versenkten Gefahrkomplex ausgesetzt. Wirkungen auf die Puls-i 
frcquenz, vasomotorische Storungen aller Art, Anorexic, Storungen der 
Darmperistaltik, der Sexualfunktion, Driisenfunktion. der Blasenent- 


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Das Problem ties UnbewiiCten. 


407 


leerung etc. sind bekannte Erscheinungen. Wenn wir von der Storung 
der Blasenfunktion, die ja zum Teil der Willkiir unterworfen ist, ab- 
sehen, so ist es klar, daB die iibrigen Symptome nicht vom bewuBten 
Willen hervorgerufen werden konnen, und da, wie uns jedenfalls nach 
dem Fall A. sicher zu sein seheint, das UnbewuBte sich hier mit dem 
unbewuBt Psychischen deckt, so werden wir auch fiir die an der glatten 
Muskulatur sich abspielenden Symptome durch Vermittlung einer un¬ 
bewuBt psychischen Wirkung zustande kommend denken konnen — 
wenn auch nicht in jedem Falle miissen. 

Die von dem starken Affektreiz hervorgerufenen psychischen Wir- 
kungen konnen bekanntlich ebenfalls von verschiedenster Art sein. 
Wir brauchen an dieser Stelle auf die mannigfaltigen Symptome wie 
Ganserzustande, Zwangszustande, Reaktionspsychosen, Wunsch- und 
Zweckpsychosen, nicht einzugehen. Wir fragen nur nach dem Mechanis- 
mus der Entstehung. Hier werden wir aber am w r enigsten die Vermitt¬ 
lung eines unbewuBt Psychischen ausschlieBen durfen. Mit Recht wirft 
Bleuler Kretschmer vor, daB seine Erkliirung hysterischer Reaktion auf 
Grund von BewuBtseinswirkungen einseitig auf die hyper- und akine- 
tischen Symptomenreflexe bei Kriegs- und Unfallshysterikern zu- 
geschnitten ist. Freilich werden wir auch beim Zustandekommen der 
psychotischen Zustandsbilder alle t)bergange von bewuBter bis zu 
voldg unbewuBter psychischer Auslosung annehmen miissen. Wenn ein 
Kranker bei Hersagen der Monate regelmaBig einen iiberspringt, so 
werden wir Bumke zugeben miissen, daB bei solchem Vorbeireden be- 
wuBte Mithilfe nicht vollig auszuschlieBen ist. Entsteht aber ein echtes 
psychotisches Zustandsbild mit Halluzinationen, Wahnideen, langer 
dauernden stuporosen, Verwirrtheits- oder Errcgungszustanden, so sind 
wir eben gezwungen, wenn es sich nicht um ganz akut entstandene 
Fade handelt, die Mitwirkung einer tinbewmBt-psychischen Vermittlung 
anzunehmen. Nicht daB etwa bei den akuten Fallen das BewuBtsein 
die psychischen Symptome hervorruft wie etwa bei dem oben erwahnten 
Fade des Vorbeiredens. Vielmehr ist die unmittelbare Wirkung des 
Affektes auf BewmBtsein und Psyche ausreichend, um die hierdurch 
hervorgerufenen psychotischen Zustandsbilder auch ohne den psychi¬ 
schen Mechanismus der Verdrangung, Ersatzbildung usw. zu erklaren. 
Auch hier haben wir ja die Vorbilder bereits in der Breite des normalen 
psychischen Lebens. Bei starken Affekten ist das BewuBtsein unfahig, 
die normale Assoziationstatigkeit aufrechtzuerhalten. Aber der Aus- 
gleich stellt sich bald wieder ein. Kann dieser nicht zustande kommen, 
so kommt es zu den Hemmungs-, Verwirrtheits-. Erregungszustanden 
in jenen ausgebildeten Formen und mit jenen weiteren Folgezustanden 
•— Halluzinationen, Wahnideen usw. — die wir aus der Psychopathologie 
kennen. 


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408 


Riilf: 


Der unbewuBt -psychische Mechanism us, cier auf dem Wege der 
Verdrangung usw. seine pathogene Wirkung ausiibt, wird also bei mehr 
,,chronischer Entstehung“ der Neurose oder Psychose, wenn wir uns so 
ausdriicken diirfen, zur Geltung kommen, wo also nicht sowohl die Starke 
als die Bauer bzw. Nachwirkung des AuBenreizes in Betracht kommt. 
EinTag Gefangenschaft wird noch keine Haftpsychose zurFolge haben, 
dazu gehort eben eine Reihe von Tagen bzw. Wochen. Eine besonders 
weitgehende Bedeutung kommt deshalb dem unbewuBt-psychischen Me- 
chanismus zu bei jenem Heer neuro - psychischer Storungen, bei dem 
nicht der Selbst-, sondern der Gattungserhaltungs- bzw. Sexualtrieb in 
seiner Auswirkung beeintrachtigt wird. Benn der erotische Trieb mit 
alien seinen Ausstrahlungen in die physiologische und in die hohere 
Gemiitssphare schafft jene dauernden seelisch-geistigen Spannungen 
mit ihrera machtigen und reichen Gefiihlsinhalt, der besonders bei 
dem affektlabileren weiblichen Geschlecht der Ausgangspunkt fiir 
pathogene Wirkung bei mangelhaftem oder vdllig versagendem Ausgleich 
jener Spannungen wird. Wenn wir uns nun erinnern, welche weit¬ 
gehende Rolle die Verdrangung beim Gattungserhaltungstrieb schon im 
normalen Leben, besonders beim weiblichen Geschlechte, spielt, so 
werden wir es verstandlich finden, daB bei neurotischer Bisposition 
sich dem psychischen Mechanismus der Verdrangung fiir seine Betati- 
gung das weiteste Feld eroffnet. Bie nicht in normaler Weise abrea- 
gierten Triebe konnen nur von einem kraftigen Nervensystem nieder- 
gehalten werden. Andernfalls wird der „eingeklemmte Affekt“ — wir 
mdchten sagen: die nicht ausgeglichene innerseelische Spannung — seine 
Entladung in pathologischen AuBerungen auf korperlichem und see- 
lischem Gebiet suchen. Von einer Mitwirkung des BewuBtseins kann bei 
der Genese dieser neurotischen Symptorae nur insofern die Rede sein, 
als die Verdrangung selbst von diesem ausgeht. Bas Weitere besorgt 
aber das unbewuBt Psychische selbst, wenn wir nicht eben wiederum in 
unzulanglich raaterialistischer Wendung all den Gefiihlsreichtum, 
den wir im BewuBtsein erleben, mit alien seinen Auswirkungen im in- 
tellektuellen Gebiet sich nach dem jedesmaligen Ausscheiden aus dem 
BewuBtsein in einen MolekularprozeB restlos umwandeln lassen wollen. 

Eine Gegeninstanz gegen das Wirken oder Mitwirken eines unbewuBt- 
psychischen Vorganges bei Auslosung des neurotischen Symptomen- 
komplexes kbnnte ex juvantibus abgeleitet werden. Gerade jene erfolg- 
reiche Therapie, die in der Kriegszeit so viele Neurotiker von ihren 
korperlichen Symptomen befreit hat, schien doch darauf eingestellt, an 
dem BewuBtsein des Kranken — sofern man ihn als einen solchen iiber- 
haupt gelten lassen wollte — anzugreifen und ihn durch eine bewuBt 
schmerzhaft suggestive, hartnackig fortgesetzte, mit der Autoritat des 
railitarischen Vorgesetzten urakleidete Einwirkung zur Aufgabe seines 


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Das Problem des UnbewuBten. 


409 


Symptoms zu veranlassen. Die mit die3em Verfahren einhergehende 
,, Cberrumpelung“ sollte den Neurotiker zur Verabschiedung seiner 
Krankheit zwingen. Es scheint also bei diesem therapeutischen System 
mit der Absicht gehandelt zu werden, mehr oder weniger auf den be- 
wuBten Willen zu w'irken, der dann wohl auch an dem Zustandekommen 
des neurotischen Symptoms schuld gewesen sein miiBte. 

tjber die Art und Weise nun, wie der bewuBte Wille an der Genese 
oder doch an der Aufrechterhaltung des neurotischen Symptoms arbeitet, 
hat nun Kretschmer') eine genauere Theorie ausgearbeitet. Nach- 
dem das neurotische Symptom selbst durch den schon oben kurz er- 
wahnten ,,Affektreflex“, d. h. auf dem Wege eines unvermittelten Uber- 
springens der Reizwirkung vom BewuBtsein auf das Nervensystem her- 
vorgerufen war, sollen ,.diffuse Willenseinflusse“ zur Fixierung des 
Symptoms beitragen. Die Moglichkeit einer solchen Fixierung exempli- 
fiziert Kretschmer aneinigen Beispielen aus der normalen Reflexerregung. 
Wenn wir auf die Quadricepssehne einen leichten Schlag ausiiben, der 
noch nicht den Patellarreflex auszulosen vermag, zugleich aber bewuBt 
eine geringe willkurliche Quadricepsinnervation hinzufiigen, so konnen 
wir damit ein lebhaftes Kniesehnenphanomen hervorrufen, das sich 
in keiner Weise von der gewohnlichen Reflexform unterseheidet. Wenn 
wir dagegen eine kraftige Innervation bei diesem Versuch auf den Streck- 
muskel wirken lassen, so ist das Result at eine Willkiirbewegung, die 
mit der Reflexform keine Ahnlichkeit mehr hat. Zugleich entsteht bei 
jener geringen ,,diffusen“ Quadricepsinnervation, die die echte Reflex¬ 
form zur Folge hat, subjektiv das Gefiihl des Zweifels, ob wir iiberhaupt 
willkiirlich innerviert haben. In ahnlieher Weise konnen wir einen echten 
FuBklonus hervorrufen, wenn wir, ermiidet von korperlicherAnstrengung, 
im Sitzen den FuB nur auf die vordere Halfte aufsetzen und die leichte 
Zitterneigung, die durch die korperliche Anstrengung entstanden w r ar, 
durch eine diffuse Willkurinnervation unterstutzen. Die Kinder, die in un- 
geheiztem Zimmer zu Bett gebracht werden, machen sich haufig das Ver- 
gntigen, das dabei entstehende Zahneklappern durch Willkiireinwirkung 
zu einem ungeheuren Schnattern zu verstarken, das sie noch lange auf- 
rechterhaltenkonnen, wenn der Kaltereflex selbst schonverschwundenist. 

Die Nutzanwendung auf unser Problem ergibt sich von selbst. Nach- 
dem durch den Affektreflex die Hyperkinese eingeleitet ist, wird durch 
den diffusen WillenseinfluB das Symptom unterhalten. Als drittes 
Stadium schlieBt sich dann nach Kretschmer die chronische Reflexein- 
schleifung an. Das Symptom wird ,,objektiviert“. Die bewuBte Mit- 
wirkung im zweiten Stadium aber wird dem eigenen Blick des Neuro- 

Kretschmer, Ernst: Die Gesetze der willkiirlichen Reflexverstiirkung in ihrer 
Bedeutung fiir das Hysterie- und Simulationsproblem. Zeitsclir. f. d. ges. Neurol.u. 
Psychiatr. 63, 183 f. 1921. 

Archiv fiir Psychiatrie. Bel. 68 . 27 


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410 


Riilf: 


tikers verschleiert (lurch jenes Zweifelgefiihl, das wir bei der Unterstii- 
tzung der Reflexauslosung durch diffuse Willenseinflusse erleben. 

Wie wir sehen, koramt es fiir die Frage der Mitwirkung des BewuBt- 
seins bei dieser Erklarung hauptsachlich auf das zweite Stadium an. 
Nun ist zweifellos zuzugeben, daB es genug Hysteriker gibt, die durch 
leichte Nachhilfe das initial durch die Wirkung des Affekts auf das 
Nervensystem entstandene Zittern aufrechtzuerhalten suchen. Die 
Frage ist aber, und die scheint uns von Kretschmer nicht gelost, ob durch 
die bewuBte Willenseinwirkung, mag sie zunachst noch so muhelos stun, 
das Zittern so lange aufrechterhalten werden kann, bis die Einschleifung 
gelungen und damit das dritte Stadium eingeleitet ist. Wir mochten 
glauben, daB das ebensowenig moglich ist wie die Simulation eines 
Schiitteltremors im eigentlichen Sinne. Kretschmer halt letztere ebenfalls 
fiir unmoglich wegen der alsbald sich einstellenden Ermiidung. Diese 
Ermiidung diirfte aber bei jeder bewuBten Einwirkung auf das Nerven¬ 
system sich alsbald geltend machen, mag die Intensitat der Einwirkung 
noch so schwach sein. Es kommt eben nicht auf die Intensitat, sondern 
auf die Dauer der bewuBten Willensbet&tigung an. Wir konnen den 
nach Ermiidung hervorger ufe nen FuBklonus nicht unbegrenzt aufrecht¬ 
erhalten. Die unangenehmen Sensationen, die sich alsbald einstellen, 
verhindern das. Auch das Kalteschnattern der Kinder nimmt schlieB- 
lich in nicht zu langer Zeit ein Ende, wenn auch das kindliche Vergniigen 
ausdauernder ist als der Ernst Erwachsener beim willkiirlich unter- 
stiitzten FuBklonus. Es muB unseres Erachtens ein vom bewuBten 
Willen unabhangiger Reiz von langerer Dauer hinzutreten, um das durch 
Affektwirkung ausgeloste Symptom aufrechtzuerhalten. Und da fragt 
es sich eben, ob dieser Reiz ein psychischer oder ein rein korperlichcr ist. 
Wir waren zu der Annahme gelangt, daB es sich um einen psvchischen 
Reiz handelt, der im UnbewuBten liegt, weil eine vom bewuBten Widen 
ausgehende Wirkung von langerer Dauer uns unmoglich scheint. 

Der Annahme eines solchen zwangsmaBig wirkenden psychischen 
Faktors scheint uns Kretschmer selbst niiher zu kommen, wenn er als einen 
zum Zustandekommen bzw. zur Aufrechterhaltung des neurotischen 
Symptoms weiteren Faktor, eine ,,Hilfsvorstellung“ einfiihrt. Zwischen 
den Widen und den motorischen Endeffekt sod sich die Vorstellung des 
WoUenmiissens einschieben, die bei alten Neurotikern in besonders 
hohem Grade zur Fixierung und Objektivierung des Symptoms beitrage. 
Kretschmer hat sogar nichts dagegen, wenn man diesen Vorgang mit 
Autosuggestion bezeichnet. Wir diirften uns nur nicht mit diesem vod- 
klingenden Fremdwort selbst suggerieren, daB wir damit zu den ge- 
heimnisvollen Tiefen des hysterischen Seelenvorganges vorgedrungen 
waren. Denn dieser Tatbestand enthalte iiberhaupt nichts Krankhaftes 
Er entspreche vielmehr der gesetzlichen Erfahrung, daB der Durch- 


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Das Problem des UnbewuBten. 


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schnittsmensch fur jede ethisch nicht salonfahige Handlung in mehr 
oder weniger hohem Grade seine Hilfsvorstellungen bilde, die ihn vor 
sich selbst entschuldigen — sofern er nicht melancholisch oder ein 
Zwangsneurotiker sei. Damit entpuppe sich die Hilfsvorstellung viel- 
raehr als ein Zeichen relativer geistiger Gesundheit. 

Nun, wir halten den Kriegsneurotiker, Unfallsneurotiker usw. in ge- 
wisseru Sinne fiir einen ,,Z\vangs“neurotiker, und die melancholisch- 
hypochondrische Stimmung des Unfallneurotikers ist ja ebenfalls ein 
bekanntes Symptom. Und wenn wirklich ein Wollenmussen, bzw. 
dessen krankhaft hervorgerufene Vorstellung, bei der Auslosung bzw. 
bei der Fixierung des neurotischen Symptoms mitspielt, so ist doch 
damit wohl das ZwangsmiiBigc zugegeben. Dieses Wollenmussen ist 
in der Tat das Moment, das den Hysteriker als einen Kranken und 
nicht als einen Simulanten oder auch nur Aggravanten legitimiert. 
DaB der Gesunde fiir seine ethisch nicht ,,salonfahigen“ Handlungen 
Hilfsvorstellungen konstruiert, ist richtig. Nur handelt es sich hier 
eben um eine mehr oder minder bewuBte oder gar gewollte Tauschung 
anderer und seiner selbst. GewiB kann man, wenn man sich auf einen 
streng deterministischen Standpunkt stellt, sich das Verhalten dieses 
Normalen als psychologisch nezessitiert denken, nicht aber — und 
darauf kommt es an — als psychopathologisch erzwungen. Das letztere 
trifft aber fiir den Neurotiker zu. Betrachten wir das Verhalten beider 
vom Standpunkt der ,,freien Willensbestimmung“, so miissen w r ir den 
Neurotiker exkulpieren. Beim Gesunden diirfen wir das nicht. Einen 
Unterschied zwischen einem ,,Entartungs-“ und ,,Gelegenheits“- 
hysteriker wie Kretschmer konnen wir da nicht machen. Im letzten 
Grunde handelt es sich bei beiden auch nicht einmal um ein Wollen- 
miissen, sondern um ein Nichtanderskonnen. Denn der Wille in seiner 
eigentlichen Bedeutung als Wahlwille kommt dabei gar nicht in Frage. 
Und wenn wir sogar diesen Tatbestand als Folge einer Autosuggestion 
bezeichnen diirfen, dann haben wir doch wohl das zwangsmaBig Psycho- 
pathologische, das hierin liegt, begriffen und sind wohl auch auf dem 
bisher bezeichneten Wege in der Lage, in die Tiefen des hysterischen 
Seelenvorganges vorzudringen. Obes uns gelingen mag, auch die letzten 
geheimnisvollen Tiefen dieses Seelenvorganges aufzudecken, muB die 
weitere Untersuchung zeigen. 

Wahrend nun in der geistvollen Theorie Kretschmers von der Ent- 
stehung der Hyperkinesen hochst beachtenswerte Gesichtspunkte fiir das 
Verstandnis von deren Zustandekommen stecken, aus denen wir selbst 
bei abweichendem Standpunkt viel lernen konnen, so glauben wir, daB 
die von diesem Autor konstruierte Entstehung der Akinesen viel angreif- 
barer ist. Wir mochten jedenfalls fiir sicher halten, daB es dem diffusen 
WillenseinfluB doch noch viel leichter ist, einen durch Affekt ent- 

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Rlilf: 


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standenen Tremor, den wir ja schon beim gewohnlichen Neurastheniker 
so haufig in Dauerform vorfinden, aufrechtzuerhalten und zu ver- 
st&rken, als eine Schrecklahmung. Hier haben wir in der Norm und 
auch beim Neurastheniker kein Vorbild, an dem wir diesen Vor- 
gang plausibel machen konnten. Welch ungeheuere Energie, welche 
dauernde, in keinem Augenblick versagende Wachsamkeit des BewuBt- 
seins wiirde dazu gehoren mussen, um ein Glied, etwa einen Arm, 
dauernd unbeweglich zu halten. Schon der in der Norm sich von Zeit 
zu Zeit einstellende Zwang zum Lage- bzw. Stellungswechsel wiirde jede 
Anstrengung des BewuBtseins, diesen zu verhindern, bei dem geringsten 
Versagen der Wachsamkeit sehr schnell vereiteln. Selbst wenn wir wirk- 
lich voriibergehende Zustande erleben, bei denen es uns angenehm er- 
scheint, ein schlaff herabhangendes Glied nicht zu bewegen, zugleich 
auf diese Weise ein ,,sensibles Vergessen“ herbeizufiihren, d. h. Gefiihl- 
losigkeit, die man ja in der Form der Hypo- und Anasthesie so haufig 
bei hvsterischen Lahmungen antrifft, und schlieBlich auch die vaso- 
motorischen Storungen zu begreifen, niemals kann unseres Erachtens 
auf diesem Wege plausibel gemacht werden, wie ein vom BewuBtsein 
ausgehender Willensantrieb imstande ware, diese Symptome, vorallcm 
aber die Lahmung selbst, festzuhalten. Es muB eben ein vora BewuBt¬ 
sein vollig unabhangiger Mechanismus einwirken, um den in der Norm 
von Zeit zu Zeit rein reflektorisch eintretenden Lagewechsel zu ver¬ 
hindern und das Glied in seiner Lahmungsstellung zu fixieren. Da wir 
nun diesen Mechanismus nicht auf der kdrperlichen Seite suchen konnen— 
die organische Theorie Oppenheims hat sich nun einmal als unzureichend 
herausgestellt -— so werden wir an dem unbewuBt-psychischen Vermitt- 
lungsglied nicht vorbeikommen. Es driingt sich uns bei den Akinesen und 
auch bei den Stellungsanomalien — Kontrakturen — aus dem eben ge- 
nannten Grunde des in der Norm reflektorisch eintretenden Zwanges zum 
Lagewechsel in noch vicl hoherem Grade auf wie bei den Hyperkinesen. 

Die Annahme eines unbewuBt psychischen Fnktors fiir die Entstehung 
der hysterischen Symptome scheint uns im Gegensatz zu Kretschmer e nt- 
scheidend fiir die Bewertung der Hysteric uberhaupt und ihrer Stellung 
zur Gesundheitsbreite. Wir haben ja schon oben Gelegenheit gehabt, 
das Kriterium des Wollenmussens oder Nichtanderskonnens als unter- 
scheidendes Merkmal zwischen beiden aufzustellen. Indem wir aber 
dieses Nichtanderskonnen als ein pathologisch erzwungenes erkannten, 
ist damit von selbst der Beweis gegeben, daB aus den Tiefen des Seeli- 
schen und nicht aus den dem Wahlwillen zugfinglichen Hohen des Be¬ 
wuBtseins die Hysteric zu erklaren ist. Wir haben also — immer unter 
Voraussetzung des nichtmaterialistischen Standpunktes — nur die 
Wahl, die Hysteric letzten Endes durch eine Storung der unterbewuflten 
psychischen Spheire. zu erklaren. 


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Das Problem des UnbewuBten. 


413 


Auch vom Standpunkte Bumkes darf eigentlich die Hysterie 
nicht als Krankheit bezeichnet werden. Wir haben ja aber schon an- 
gedeutet, daB trotz ihrer abweichenden Stellungnahme dieser Autor 
mit Kretschmer und sogar mit Bleuler mannigfache Beriihrungspunkte 
hat. Wir werden das in der Folge noch rnehr erkennen. 

Die Moglichkeit, durch Einwirkung von der bewuflten Sphare aus das 
hysterische Symptom zu beseitigen, ist aber naturlich uberhaupt kein 
Gegenbeweis gegen die Mitwirkung eines unbewuBt-psychischen Faktors 
bei der Hervorrufung des Symptoms. Denn wenn es moglich ist, daB durch 
Einwirkung auf das BewuBtsein des zur Neurose Disponierten die Einen- 
gung der BewuBtseinssphare zustande kommt, durch die der Krankheits- 
komplex seinen Eingang in die Tiefen des unbewuBt Psychischen findet, 
so liegt naturlich nicht der geringste Hinderungsgrund vor, daB nicht 
auch durch Einwirkung auf das BewuBtsein jene Einengung wieder be- 
seitigt werden konnte. Darin besteht ja das ganze Wesen der von Breuer 
und Freud eingefiihrtcn psychokathartischen Methode, daB sie durch 
Aufdeckung des unbewuBten Seeleninhaltes die verdrangten Erlebnis- 
inhalte und die diesen assoziierten Affekte ans Licht des BewuBtseins 
zieht, dadurch die Isolierung, die „Einklemmung“ beseitigt und damit 
die Abreaktion des manifest gewordenen Affektes herbeifiihrt. Die all- 
gemein psychologischen Bedingungen aber fiir die Moglichkeit einer 
solchen Einwirkung auf das UnbewuBte vom BewuBtsein aus beruhen auf 
dem gesetzmaBigen Zusammenhang zwischen beiden. Wenn wir alles, 
was wir mit BewuBtsein erlebt haben, gedachtnismaBig, d. h. aber 
— unbeschadet eines parallel gehenden engraphischen Prozesses in der 
Hirnrinde — in unbewuBt psychischem Zustande aufbewahren, um es 
bei Gelegenheit durch die Fahigkeit der Reproduktion wieder zu neuem 
BewuBtseinsleben zu erwecken, so ist es eben die Kunst der psycho¬ 
kathartischen Methode, diesen ReproduktionsprozeB in psychopatho- 
logischem Falle zu befordern, indem sie die Hindernisse, die sich der 
Reproduktion entgegenstellten, beseitigt. Dazu brauchen wir gar nicht 
einmal in alien Fallen mit Hypnose, Psychoanalyse oder mit irgendeiner 
schulmaBig ausgebildeten Methode vorzugehen. UnbewuBt wirkt ja 
jeder Arzt, der verstandnisvoll durch sein Wesen auf die Psyche des 
Kranken einwirkt, psychokathartisch, ,,seelenbefreiend“. Er fiihrt da¬ 
mit die Bedingungen der Abreaktion herbei. Man kann und muB sogar 
manchmal auch mit grbberen Mitteln arbeiten — k la Kauf mann. Nicht 
selten kommt man bekanntlich schon auf indirektem Wege zum Ziele, 
indem man durch korperliche Beruhigung, etwa mit Bettbehandlung, 
zugleich die seelische Beruhigung und damit die Moglichkeit herbeifiihrt, 
daB der Kranke durch sich selbst die Fahigkeit zum Ausgleich des 
gestorten seelischen Gleichgewichts in der oben angedeuteten Weise 
gewinnt. Die Notwendigkeit zu einer solchen Behandlung liegt ja auch 


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Riilf: 


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in jenen frischen Fallen vor, in denen neben den lokalen Symptomen 
zugleich allgexneines Krankheitsgefiihl als Folge des erlebten schweren 
Affektes vorhanden ist. Wir werden nicht fehlgehen, wenn wir in mehr 
oder minder ausgesprochenem Mafic dieses Krankheitsgefiihl bei alien 
oder doch den meisten durch Granateinschlag oder andere stark affekt- 
erregende Erlebnisse Betroffenen voraussetzen. 

Gbrigens finden wir auch bei Kretschmer die Grenze z wise hen Krank- 
heits- und Gesundheitsaufierung bei Hysterie in einer Weise bezeichnet, 
die wir wohl akzeptieren konnen. Denn wenn es auch manchmal scheinen 
will, als ob dieser Autor die Hysterie, soweit sie wenigstens nicht auf 
Entartung beruht, iiberhaupt nicht als Krankheit gelten lassen, der 
Hysterie der Kriegsneurotiker sogar nur sokratische Heiterkeit entgegen- 
setzen will, so bestimmt er doch an einer Stelle selbst, dafi cine hysterische 
Erkrankting da vorliegen soli, wo im Zustandsbild der Reflexvorgang 
— in deni von ihm eingefiihrten Sinne — iiber den Willensvorgang das 
entschiedene t)bergewicht hat. Da wir nun, wie uns wenigstens scheint, 
plausibel gemacht haben, dafi in alien Fallen, soweit nicht Aggravation 
oder Simulation mitspielt, dieses Verhaltnis vorliegt, so wird wohl 
auch der Kriegs- und Unfallsneurotiker als ein Kranker zu bezeichnen 
sein, wenn auch nicht immer alle seine Symptome als krankhaft anzu 
sprechen sind. Soweit der bewufite With mitwirkt, ist Krankheit aus- 
geschlossen, alles ubrige ist krankhaft und fallt der Mitwirkung eines un- 
bewufit-psychischen Faktors zur Last. 

W&hrend nun Kretschmer doch noch den Krankheitsbegriff Hysterie 
anerkennt und trotz seiner ablehnenden Stellung gegeniiber der Mit¬ 
wirkung eines unbewufit-psychischen Faktors bei Auslosung der 
neurotischen Symptome noch mannigfache Konzessionen an den 
gegnerischen Standpunkt macht , will Forster von einer Krankheit 
Hysterie iiberhaupt nichts wissen, und wenn er auch in die eigentliche 
Diskussion iiber das Problem des Unbewufiten nicht eingegriffen hat, 
so kann er doch als der radikalste Vertreter derjenigen Autoren gelten, 
die das Unbewufit-Psychische in jeder Form ablehnen. Wir wollen 
deshalb einen kurzen Blick auf seine Anschauungen werfen. 

Forster 1 ) erklart rundweg, dafi es keine Krankheit Hysterie gibt, 
sondern nur eine hysterisehe Reaktion, und dafi diese Reaktion an sich 
ebenfalls nicht krankhaft ist, sondern dafi jeder Mensch in mehr oder 
weniger ausgesprochenem Mafic zu dieser hysterischen Reaktion neigt. 
Von deni EinfluB, den die Umgebung ausiibt durch die Weise, wie sie 
auf diese Reaktionsweise ihrerseits reagiert, hangt es ab, ob sich die 
hysterische Reaktionsweise weiter entwickelt und befestigt, oder ob sie 
unterdriickt wird. Der Zweck der hysterischen Reaktion ist, sich Vor- 

J ) Forster. E.: Hysterische Reaktion und Simulation. Monatsschr. f. Psychiatr. 
u. Neurol. 42. 298f. u. 370f. 1917. 


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Das Problem des UnbewuBten. 


415 


teile zu verschaffen. Die Neigung dazu beginnt schon beiin Saugling, 
der durch nachtliches Schreien die Mutter aus dem Bett treibt, liegen 
gelassen sich aber ans Durchschlafen gewohnt. Die Neigung setzt sich 
fort ira Kinde, das, wenn es sich stoBt, schreit, um getrostet zu werden 
oder ein Stuck Kuchen zu erlangen, und im Knaben, dcr sich mit Kopf- 
schmerzen entschuldigt, weil er im Wettspringen unterlegen ist. Die 
Neigung findet ihren AbschluB beim Erwachsenen, der trotz korperlicher 
Gesundheit unter Ausdruck des Bedauerns eine Bergtour ausschlagt, 
weil er nicht schwindelfrei sei. Wenn wir vom Saugling absehen, so 
seien alle diese Reaktionen als bewuBt anzusehen und deshalb auch mit 
einem SchuldbewuBtsein verbunden. Voraussetzung fiir die Entwick- 
lung solcher Reaktionsweise sei aber immer die empfangliche Umgebung, 
die darauf eingeht. Ist diese nicht vorhanden oder wird gar durch 
erzieherische Einfliisse entgegengearbeitet, so bleibt die hysterische 
Reaktion aus. 

Hiernach miiBte, wie ohne weiteres ersichtlich, eigcntlich jede List 
und jeder Betrug, den der Gesunde anwendct, um sich einen un- 
erlaubten Vorteil zu verschaffen, jede Unwahrheit, die er ausspricht, 
iiberhaupt jede vom rechtmaBigen Wege abweichende Handlung oder 
AuBerung, als eine hysterische Reaktion aufgefaBt werden. Diese Kon- 
sequenz scheint auch dadurch nicht vermieden werden zu konnen, daB 
nach Forster diese an sich nicht krankhafte Reaktion besonders auf 
psychopathischer und degenerativer Grundlage sich entwickeln soil. 
Denn auch die korperlichen Reaktionen, die wir in eminentem Sinne 
als hysterische zu bezeichnen gewohnt sind, sollen nach Forster durch 
die lebhafte Affektreaktion der Disponierten und eine korperliche Ver- 
anlagung hervorgerufen werden, die in muskularer Gewandtheit, vaso- 
motorischer Erregbarkeit und einer gewissen Energie besteht. Durch 
diese Mittel vermag das betreffende Individuum alle korperlichen 
Symptome nicht nur wie A- und Hyperkinesen und Anfalle, sondern 
auch die psychischen Symptome, wie Ganserzustande zu produzieren. 
Letzteres wird ermoglicht durch die mit starkem Affekt verbundene 
Einengung des Vorstellungskreises und das phantasievoile Hineiover¬ 
set zen in eine andere Situation. 

Entsprechend der Ansicht, daB die hysterische Reaktion auf Tau- 
schung der Umgebung zugespitzt ist, ist nun die bekannte Therapie 
Forsters. In ,,rigoroser verbaler Suggestion'* iiberzeugt er seine Pa- 
tienten, daB sie nicht an einer Krankheit leiden, sondern an einer 
schlechten Angewohnheit. Was also Kaufmann erst nach gelungener 
Uberrumpelung bei etwaigem Riickfall seinen Kranken einredet, das 
sagt Forster ihnen von vornherein auf den Kopf zu. Nicht krank, 
sondern schlecht erzogen und willensschwach seid ihr. Die Willenskraft 
muB gestarkt werden. Bei leiehten Fallen geniigte das. Bei schwereren 


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Riilf: 


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nimmt Forster den Strom zuhilfe, aber, wie er ausdrucklich den ,,Pa- 
tienten" erklart, nicht weil sie krank seien, sondern urn die Willenskraft 
zu star ken. Auch kalte Duschen und kalte Packungen werden angewandt. 
Tm iibrigen behandelt Forster seine Patienten wie ,,ein stronger Lehrer.“ 

Man konnte nun auf Grund der theoretischen Ansichten und prak- 
tischen Mafinahmen Forsters meinen, daB dieser Autor Hysteric init 
Simulation gleichbedeutend setzt. Diese Annahme liegt um so naher, 
als doch die hysterische Reaktion, in welcher Forster die Hysterie auf- 
gehen laBt, eine ab ovo, konnte man fast sagen, angewandte und geiibte 
Verstellung, also eine bewufite Vorspiegelung falscher Tatsachen sein soli. 
Trotzdem behauptet Forster, daB die hysterische Reaktion aus dem 
subjektiv ehrlichen Gefiihl entstehe, den Anforderungen nicht ge- 
wachsen zu sein, und daB die hysteriseh Reagierenden fast ausnahmslos 
psychopathisch veranlagte Individuen seien. Die Reaktion entspreche 
also der Persdnhchkeit, auch wenn ,,l>ewuBt unwahre“ Mittel angewandt 
werden. Simulation liege nur da vor, wo ,,vollig normale Patienten 1 ' 
(sic!), die den Anforderungen gewachsen seien und diesen sich auch 
gewachsen fuhlen, aus einem gauz speziellen Grunde nach bewuBter 
Gberlegung und vorgefaBtem genauen Plane zu einem bestimmten Zeit- 
punkte beginnen, eine Krankheit vorzutauschen. 

Diese theoretischen Ansichten scheinen uns nicht ganz ohne Wider- 
spriiche zu sein. Handelt der Hysteriker im subjektiven Gefiihl derEhr- 
lichkeit, so kann dieses Gefiihl mit der von Jugend auf geiibtcn ,,hysteri- 
schen Reaktion", die doch eine bewuBte Verstellung ist, nicht auf eine 
Stufe gestellt werden. Das subjektive Gefiihl der Ehrlichkeit ist eben 
ein Beweis dafiir, daB es sich nicht um eine bewuBte Tauschung handelt, 
und es kann keine Rede davon sein, daB die hysterischen Symptome 
etwa bewuBt unwahre Mittel sein sollten. Sow r eit sie das sind, handelt 
es sich eben um echte Simulation, selbst wenn ihr Produzent ein 
Hysteriker im herkommlichen Sinne des Wortes ist. 1st gar die hysteri¬ 
sche Reaktion ein AusfluB der Psychopathic oder Degeneration, so ist sie 
damit eo ipso als kiankhaft, als ein psychopathologisches Symptom und 
da mit pathopsychisch nezessitiert erwiesen, und es erscheint wiederum 
unmoglich, sie als einen AusfluB bewuBter Reaktion nach Analogic der 
von Jugend auf geiibten Heuchelei zu betrachten. 

Es ist auch weiter durchaus folgerichtig, wenn Forster, wie ubrigens 
auch Kretschmer , dem Hysteriker keine Rente bewilligen will, w r eil die 
hysterische Reaktion ja keine Krankheit sein soil. Nur scheint uns das 
wieder im Widerspruch zu stehen mit der Erkenntnis, daB der Hysteriker 
im subjektiven Gefiihl der Ehrlichkeit handelt, und daB seine Symptome 
sich meistens auf der Grundlage der Psychopathic und Degeneration 
etablieren. Fiir uns bemiBt sich, um diesen Punkt kurz zu beriihren, 
die Frage der Zuerkennung und Hbhe der Rente nach dem MaBe der 


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Das Problem des UnbewuBten. 


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Widensstarke, die die psychopathische Konstitution oder die Intensitat 
der Syrnptome dem Individuum laBt, um seiner Krankheitserscheinungen 
Herr zu werden. Dali zur Forderung dieser bewuBt von dem Individuum 
auszufuhrenden Selbstheilung die Rente nur eine maBige sein darf, 
braucht nicht weiter ausgefuhrt zu werden. 

Beweist nun nicht aber die Moglichkeit einer solchen dureh das ,,er- 
krankte“ Individuum auszuiibenden, doch nur durch seine bewuBten 
Widenskrafte zu vollziehenden Selbstheilung, vor allem aber auch die 
Moglichkeit einer padagogischen Einwirkung in dem von Forster ge- 
iibten Sinne, die, wenn auch vielleicht nicht schuldhafte, so doch tat- 
sachliche Mitwirkung des BewuBtseins bei Produzierung und Unter- 
haltung der hysterischen Syrnptome? Diese Frage scheint uns schon 
oben im negativen Sinne beantwortet durch den Hinweis auf die gesetz- 
maBige Verkniipfung des BewuBtseins mit der unterbewuBten Sphare 
imd die hierdurch geschaffenen Vorbedingungen fiir die Einwirkung 
beider aufeinander. Auf Grund dieser Vorbedingungen mochten wir 
sogar in der Forsterschen Heil- bzw. heilpadagogischen Methode einen 
vorziiglichen Kern fur unsere therapeutischen Mafinahmen erkennen. 
Indem sie, wenn auch wohl in zu ,,rigoroser“ Form, an die hochsten Be- 
wuBtseinskrafte, die ethischen, appelliert, muB sie in besonders hervor 
ragender Weise geeignet erscheinen, um das Individuum zur Losung der 
„eingeklemmten“ Affekte, zum Ausgleich und zur Verarbeitung der 
durch den urspriinglichen Affekt dissoziierten Seeleninhalte und -zu- 
stande zu fuhren und damit auch die krankhaften Vorbedingungen zu 
beseitigen, die von der unterbewuBten Sphare aus das krankhafte 
Symptom aufrechterhalten. Sie starkt das Gesundheitsgeivissen. 

Freilich scheint die Heranziehung dieses Begriffs, der dazu noch 
durch seinen moralisierenden Beigeschmack dem rein naturwissen- 
schafthch orientierten Denken nach der Ansicht mancher Autoren in- 
adaquat erscheint, die Genese des neurotischen Symptoms wieder in die 
BewuBtseinssphare zu versetzen. Denn ein Gewissen kann sich nur da 
regen, wo das BewuBtsein der Schuld oder doch der Mitschuld an der 
Entstehung bzw. Unterhaltung des neurotischen Symptoms vorhanden 
ist. Doch scheint uns die psychologisehe Motivierung dieses Gewissens 
mehr aus dem BewuBtsein der Fahigkeit des bewuBten Widens, an der 
Bescitigung der neurotischen Syrnptome mitarbeiten zu konnen, als aus 
dem BewuBtsein irgendeiner Schuld an der Entstehung dieser Syrnptome 
entnommen werden zu miissen. Bis zu einem gewissen Grade regt sich 
auch bei korperlichen Erkrankungen das Gesundlieitsgewissen, besonders 
wenn man nicht der lebhaft gefiihlten Verpflichtung nachkommt, das 
Notwendige zur Wiederherstellung seiner Gesundheit zu tun. Diese 
Gewissensregung ist bei psychogen entstandenen Erkrankungen starker, 
w r eil bei diesen Fallen der Wide aus eigener Kraft an der Unterdriickung 


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der Symptome mitwirken kann. Der Wille, dieses zu tun, ist aber ein 
nioralischer Wille. Daher erscheint uns der von Kohnstamm eingefiihrte 
Begriff des Gesundheitsgewissens keineswegs unzutreffend gewahlt. 
Die Fahigkeit des bewuBten Willens aber, an der Unterdriickung bzw. 
an der Ausmerzung der neurotischen Symptome mitzuarbeiten, beruht 
wieder auf der gesetzmaBigen Verkniipfung des BewuBtseins mit der 
unterbewuBten psychischen Sphare. Nur daB bei hoheren Graden der 
Neurose dieser moralische Wille selbst nicht stark genug ist, um aus 
eigener Kraft die kathartische Prozedur, die ,,Autokatharsis“, zuwege 
zu bringen. Es muB dann eben der sachverstandige Arzt mit eingreifen, 
um auf irgendeinem Wege der Suggestion oder der heilpadagogischen 
MaBnahmen, wobei auch ein rigoroses Wort im Sinne Forsters fallen darf, 
auf den Willen einzuwirken und damit den kathartischen ProzeB zu 
beforderu. 

Es konnte nun schlieBlich sein, daB der bewuBte Wille dennoch als 
der eigentliche genetische Faktor fur die Entstehung des neurotischen 
Symptoms anzuschuldigeh ware, daB aber — vielleicht infolge eines 
psyc-hologischen Zwanges — das Beurufltsein bzw. das Ich seine Mit- 
arbeit vor sick selbst verheimliche.. Bei diesem Standpunkt, den ungefahr 
— wie bis zu einem gewissen Grad auch Kretschmer und Forster — 
Bumke 1 ) einnimmt, kann es sich, was ja schlieBlich auch die beiden 
anderen Autoren nicht von ihren Patienten annehmen, wohl aber mehr 
oder weniger voraussetzen mviBten, nicht um die Annahme jenes klaren 
BewuBtseins handeln, aus deni sonst unsere Handlungen flieBcn. Es kann 
keine Rede davon sein, betont Bumke, daB etwa der Fronthysteriker 
in klarem BewuBtsein des erstrebten Zieles — Ruckkehr in die Heimat — 
seine Symptome produziert. Luge und Verstellung, bose Absicht oder 
schuldhaftes Nichtwollen seien nicht die Kategorien, unter die man 
das Gebaren des Hysterikers stellen konne. Der Hysteriker lebt sich w’ie 
ein guter Schauspieler in seine Gefiihle, Stimmungen und Auffassungen 
ein, ohne diese zu simulieren. 

Ein Vcrstandnis fiir das Gebaren des Hysterikers konnen wir nacli 
Bumke nur gewinnen, wenn wir uns der Illusionen entledigen, die wir 
uns liber den gesunden Menschen machen. Der Gesunde gibt sich in der 
Regel gar nicht voile Rechenschaft iiber die wahren Strebungen seiner 
Seele und die wirklichen Beweggriinde seiner Handlungen. All das, was 
wir auf dem Gebiete des Aberglaubens und der Erotik an jenen Ver- 
wicklungen und W 7 iderspriichen vorfinden, die Ibsen mit dem Worte 
Lebensliigen, Fontane mit Hilfskonstruktionen bezeichnet, ist ein Beleg 
dafiir. W 7 ie konnten sonst jene ehrlichen Selbstbekenntnisse und lebens- 

*) Bumke, Oswald: Fber unbewuBtes psychisches Geschehen. Zeitschr. f. d. ges. 
Neurol, u. Psychiatr. 56, 142 f. 1920 u. 66, 343 f. 1921. — Ders.: Das Unter- 
bewuBtsein. Eine Kritik. Berlin: Springer 1921. 


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Das Problem des UnbewuBten. 


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wahren Dramen so erschiitternd auf uns wir ken? ,,Sie zerren Dinge an 
das Tageslicht, die man herkommlicherweise' vor sich und anderen 
verschweigt, die deshalb aber noch lange nicht unbewuBt sind.“ Nur so 
ist auch das Gebaren des Angeklagten zu verstehen, der mit subjektiv 
durchaus ehrlichem Affekt im Gerichtssaal die Vorwiirfe zuriickweist, 
die sich spater doch als begriindet herausstellen. In den meisten Fallen 
ist der Tatbestand zu verwickelt, als daB wir ihn sprachlich fassen 
konnten. Die Losung all dieser Verwieklungen in einem rationalisierten 
UnterbewuBtsein aber konnte man nur durch psychoanalytische Marchen 
zuwege bringen. Wir lassen uns ja auch im taglichen Leben unser Urteil 
nicht triiben durch die schonen Griinde, die die Menschen fur ihre 
a us Lie be und HaB und anderen Leidenschaften entstandenen Hand- 
1 ungen anzufiihren wissen. Warum sollten wir also die Denkarbeit des 
Pseudodementen, der WeiB als Schwarz bezeichnet oder zum Ergebnis 
jeder Rechenaufgabe 1 hinzufiigt, in sein UnterbewuBtsein verlegen, 
zumal die Kranken hin und wieder sogar ihre bewuBte Mitarbeit ein- 
gestehen? Mit der Verlegung ins UnterbewuBtsein ist also das Problem 
der Hysterie nicht gelost, meint Bumke. 

Die groben Auftragungen der Vorbeiredner haben wir bereits friiher 
gewurdigt. Aggravieren konnen die Hysteriker naturlich auch. Wie steht 
es al>er mit den iibrigen Beispielen, die Bumke, anfiihrt? Konnen wir 
wirklich das Gebaren, die Handlungen und Rechtfertigungen, die die 
Neurotiker vorbringen, mit denen der Sunder und Fehlenden auf eine 
Stufe stellen? Nein, das konnen wir nicht. Wir miissen, selbst wenn wir 
uns auf den streng deterministischen Standpunkt stellen, nach unseren 
friiheren Ausfiihrungen unterseheiden zwischen psychology sch und 
psychopathologisch verursachten Handlungen. Betrachten wir aber gar 
das menschliche Handeln voin Standpunkte der morahschen oder auch 
nach Analogic des Strafrechts zu formulierenden Willensfreiheit, so er- 
gibt sich sofort, daB wir die Handlungen und Reden der Sunder und 
Fehlenden unter dem Gesichtspunkt der Verantwortlichkeit betrachten 
miissen. Den Hyper- und Akinetiker oder gar den im Dammerzustand 
Handelnden diirfen wir nicht fiir seine abnormen korperlichen und 
psychischen Symptome verantwortlich machen. So konnen uns auch die 
Selbstbekenntnisse jener Normalen, die trotz heiBem Bemiihen der Macht 
ihrer Triebe, die sich starker erweisen als ihre bessere Einsicht, unter- 
liegen — 

,,.Video meliora proboque 

Deteriora sequor“ —, 

erschiittern, und ihr Schicksal kann dem Dichter zum Vorwurf dra- 
matischer Gestaltung werden. Die Krankheitsgeschichten der Hysteriker 
und ihre Produktionen haben mit echter Tragik nichts zu tun. Der 


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Rulf: 


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Sunder sucht wohl die Regungen des Gewissens und die hierdurch hervor- 
gerufenen Gegenvorstelhingen aus dem BewuBtsein zu verdrangen, uni 
sich die wahren Motive seines Handelns nicht eingestehen zu miissen. 
Diese Herabdriickung der Vorstellungen von der Hbhe der BewuBtseins- 
klarheit ist aber nicht vollig in Vergleich zu setzen mit jener Verdrangung 
und jenen unbewuBten seelischen Wirkungen, aus denen neurotische 
Symptome hervorgehen. Das Gesundheitsgewissen, das Bumke heran- 
zieht, trotzdem es ihm noch nicht fein genug erscheint, um den sehwach- 
bewuBten Mechanismus des Hysterikers zu charakterisieren, darf mit 
dem moralischen Gewissen nicht vollig auf eine Stufe gestellt werden. 
Es kann, wie oben auseinandergesetzt wurde, nur auf die Verantwort- 
lichkeit des seiner Sinne machtigen Neurotikers fur die Bemiihungen 
zur Beseitigung seiner Krankheit herangezogen werden. 

Bumke weist besonders auf zw r ei Fehlerquellen hin, die bei der Frage, 
inwieweit bewuBte oder unbewuBte seelische Tatigkeit mitspielt, unser 
Urteil triiben. Die Betrachtungen des Autors hieriiber sind uns be¬ 
sonders wertvoll, weil deren konsequente Weiterfiihrung mitten in die 
von ihm bekampfte Ansicht hineinfiihren. Sie geben uns den will- 
kommenen Ansatzpunkt fiir die Entwicklung unserer eigenen Anschau- 
ungen iiber das VVesen der unbewuBten seelischen Tatigkeit. 

Wie die moderne Denkpsychologie nachgewiesen oder vielmehr be- 
statigt hat, treten zunachst viele Gedanken in unserem BewuBtsein ohne 
sprachliche Formulierung oder ohne Stiitze durch ein Erinnerungs- 
oder Phantasiebild auf. Da nun das Denken, vie wir bereits sahen, eine 
unanschauliche psychische Funktion ist, so entgehe, meint Bumke , 
der Selbstwahrnehmung leicht ein solcher BewuBtseinsablauf. Bumke 
laBt deshalb den Beweis von dem angeblichen Fortgang unseres Denkens 
im UnbewuBten, den man aus dem plotzlich vor unser BewuBtsein sich 
stellenden, bisher vergeblich gesuchten Denkresultat ableiten will, nicht 
gelten. Das Denken habe sich doch im BewuBtsein abgespielt, aber 
sich, weil unanschaulich, der Selbstbeobachtung entzogen. 

Ware das nun der Fall, so ware damit eigentlich bewnesen, daB der 
Gedanke in der Tat unbewuBt gewesen ist. Denn der Selbstbeobachtung 
entzogen heiBt ja doch so viel w'ie vom Ich bzw ; . vom BewuBtsein, in 
dessen Form allein sich die reflektierende Tatigkeit des selbstbeobachten- 
den Ich abspielen kann, nicht erlebbar. Was vom BewuBtsein nicht erlebt 
werden kann, existiert auch unmittelbar nicht fiir dieses 1 ). DasVorhanden- 
sein einer Denktatigkeit, das nicht vom Ich unmittelbar erfaBt w'erden 

1 ) Der Widerspruch, der in der Annahme liegt, daB etwas im BewuBtsein ist 
und dennoch der Erkenntnis des Subjekts sich entzieht, also subjektiv nicht erleht 
wird, scheint iiberliaupt von den Autoren, die das UnhewuBt-Psychische bekainpfen, 
nicht vermieden werden zu konnen. So sagt z. B. Levin in einem V'ortrag iiber 
,,Das UnbewuBte und seine Bedeutung fvir die Psychopathologie" in der Berliner 


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Das Problem des UnbewuBten. 


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kann, konnte hochstens aus der Wirkung, die die Denktatigkeit auf 
spatere BewuBtseinsinhalte oder -handlungen ausiibt, erschlossen 
werden. Das aber ist ja gerade der Beweisgang, durch den man auf 
einen unbewuBt sich abspielenden DenkprozeB sehlieBt. Darnit ware 
dann wieder die von Burnke mit Recht zuriickgewiesene Rationali- 
sierung des UnbewuBten eingefiihrt. 

Auf der anderen Seite aber ist das haufig auftretende BewuBtsein 
der Plotzlichkeit, d. h. des vom BewuBtsein selbst nicht erarbeiteten 
Denkabschlusses, wie cs sich nach langem vergeblichem Nachdenken 
bei irgendeiner Gelegenheit einstellt, ein echtes. Das Denkresultat 
erscheint wie ein Geschenk in das BewuBtsein hineingefallen bzw\ in 
dieses aus dem Unbew'uBten emporgestiegen. Und schlieBlich zeigt 
nicht nur die gelegentliche Selbstbeobachtung, sondern auch die ex- 
perimentelle Denkpsychologie, daB man sich auch der sprachlich un- 
formulierten Denkvorgange mehr oder minder bewuBt ist. Nur deren Be- 
schreibungistschwer, weil es sich eben um unanschaulichepsychische Vor- 
gange handelt. Man hat eine ganze Anzahl Ausdriicke zur Kennzeich- 
nungdieserunanschauhchen,noch nicht zumAbschluBgekommenenDenk- 


Ges. f. Psych, u. Nervenhcilkunde (Zeitschr. f. d. ges. Psychiatr. u. Neurol. Ref. 
21. 5. VI. 1920) unbedenklich, daB man den Begriff des BewuBtseins nicht mit der 
Fahigkeit des Subjekts, sich eines Vorganges bewuBt zu sein, identifizieren diirfe. 
Wenn ihm irgendwelche Vorgange aus der Kompliziertheit und Fulle des Erlebens 
nicht zu BewuBtsein kommen, „so ist das noch kein Beweis dafiir, daB sie sich nicht 
doch im BewuBtsein abgespielt haben“. Der offenbare Widerspruch, der hier 
zwischen Vordersatz und Nachsatz besteht, erscheint doch keineswegs dadurch 
behoben, daB fur Leu'in der Unterschied zwischen Mehr- und MinderbewuBtem 
kein quantitativer, sondern ein qualitativer ist. Selbst wenn man diese Auf- 
fassung, was Bedenken erregen kaxm, gelten lassen wiirde, in jedem Falle ist das 
vom Subjekt nicht bewuBt Erlebte, sofem man ihm die Form psychischer Exi- 
stenz zuerkennt, ein Psychisch-UnbewuBtes. 

Auch Kretschmer, der mit so viel Geist und Temperament das UnbewuBt- 
PsychLsche zu ironisieren versteht, ist diesem Widerspruch zum Opfer gefallen. 
Es erscheint jedenfalls von seinem Standpunkte aus nicht gliicklich ausgedriickt, 
wenn er in seiner Abhandlung ,,Zur Kritik des UnbewuBten 41 (Zeitschr. f. d. ges. 
Psychiatr. u. Neurol. 46, S.380, 1919) die Behauptung aufstellt „.. .was iiberhaupt 
zum Blickfeld“ — sc. des BewuBtseins —, ,,das heiBt zur Seele gehort, das ist auch 
noch irgend wie bewuBt, wenn auch nur in fliichtigen Augenblicken und im unmerk- 
Uchslen Grade'" (von mir kursiv). Selbst wenn es nur in unmerklichem Grade zur 
Seele gehort, so miiBte es ein unbewuBt Psychisches sein. Was nicht bemerkt wird, 
hat keine Stelle im BewuBtsein, auch nicht an der auBersten Peripherie des Blick- 
feldes. Das gilt natiirlich a potiori von dem, was in „unmerklichstem“ Grade zur 
Seele gehoren soil. Vor allem aber miiBte es nicht nur in fliichtigen Augenblicken, 
sondern immer vom BewuBtsein erfaBt werden — sofern es zur Seele gehort. 

Wir werden auf Grand der Formel Seele-BewuBtsein und unter Benutzung 
des Bildes vom Blickfeld und Blickpunkt des BewuBtseins im letzten Teil unserer 
Abhandlung die, wie uns scheint, einzig mogliche Losung dieses fiir die Leugner 
•des UnbewuBt-Psychischen prinzipiell kaum iiberwindbaren Widerspruches geben. 


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bzw. Reproduktionsprozesse gepragt. So nennt der Psychologe jenen 
eigenartigen BewuBtseinszustand, den wir erleben, weun wir uns auf 
einen Namen besinnen, den wir zwar noch nicht reproduzieren konnen, 
der uns aber ,.auf der Zunge schwebt“, ein Ricktungsbewufitsein. Andere 
Bezeichnungen fiir diese eigenartigen, zum Teil peinlich empfundenen 
Bewufitseinszustande sind Beivufiteeinsluge, Bewufitheit statt BewuBtsein, 
Bewufitseinskonstellation , PlatzgewifSheit, determinierende Tendenz usw. 
lmmer haben wir in solchen Zustanden das lebhafte BewuBtsein eines 
noch nicht zum AbschluB gekommenen unanschaulichen Denkvorganges. 
Geht gar der Denkvorgang ohne solche Reproduktions- oder logische 
Hemmnisse im BewuBtsein vor sich, so gibt es erst recht nichts, was 
seine Erlebbarkeit, mag es sich um noch so abstrakte Inhalte handeln, 
hindert. Der Mathematiker, der Logiker erfaBt, auch wenn nicht Sym- 
bole seine Cberlegungen stiitzen, bewuBt die Resultate seiner Denk- 
arbeit, von der er zugleich die GewiBheit hat, daB er zu diesen auf 
dem Wege bewuBter Geistesarbeit gekommen ist. Das ist es ja aber, 
was den plotzlich bei irgendeiner mit dem betreffenden Gedankeninhalt 
gar nicht zusammenhangenden im BewuBtsein sich einstellenden 
GedankenabschluB auszeichnet — z. B. das Einfallen eines Namens bei 
irgendeiner Gelegenheit —, daB er ohne unmittelbar vorhergehende 
bewuBte Geistesarbeit reproduziert wird. Dadurch unterscheidet sich 
eben der Einfall von dem, sei es sprachlich formulierten oder nicht 
formulierten, immer aber bewuBt vor sich gehenden GedankenprozeB. 
Ohne also das UnterbewuBtsein ,,rationalisieren“ zu wollen, miissen wir 
annehmen, daB der DenkprozeB in irgendeiner Form, die mit der be- 
wuBten logischen Denkarbeit ja nicht identifiziert zu werden braucht, 
weitergegangen ist. Welcher Art diese Form ist, kann uns vielleicht der 
zweite von Bumke gegen die Annahme einer unbewuBten psychischen 
Tatigkeit ins Feld gefiihrte Einwand lehren. 

Diesen Einwand leitet Bumke aus den Gesetzen des Gefiihlsablaufs 
ab. Die mit bestimmte i Eindriicken verkniipften Gefuhle und Affekte 
konnen zunachst je nach der BewuBtseinskonstellation verschiedenartig 
sein. Was uns heute ergotzt, stoBt uns morgen ab und umgekehrt. 
Zweitens liegt es in der Eigenart der Gefiihle, daB sie sich zahe an die 
Vorstellungen und Gedanken heften, in deren Gemeinschaft sie sich erst- 
mahg eingestellt haben. Wir kennen ja die paradoxen Sympathien und 
Antipathien, die wir aus diesem Grunde mit bestimmten Personen oder 
Sachen verkniipfen. Die dritte und folgenschwerste Eigenart der Ge 
fiihle ist aber ihre Fahigkeit, sich von dem gefiihlserregenden Eindruck 
loszulosen und selbstandig fortzuwirken. So kann, wie wir das haufig er¬ 
leben, ein VerdruB uns langere Zeit in MiBstimmung versetzen, wenn der 
VerdruB errcgende Gegenstand langst der Vergessenheit anheimgefallen 
ist. Durch diese Loslosung von dem urspriinglichen AnlaB wird aber der 


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Das Problem des UnbewuBten. 


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Affekt in die Lage versetzt, sich an andere BewuBtseinsinhalte zu heften, 
und so kann es leicht geschehen, daB die Ursache dieses Affektes, fiir 
den wir nicht die richtige Begriindung im BewuBtsein aulfinden konnen, 
in einem vermeintlichen unterbewuBten Gedanken gesucht wird, wahrend 
die Wahrheit ist, daB er iiberhaupt keiner rationalen Erklarung durch 
den iibrigen BewuBtseinsinhalt fahig ist. 

Diese Schwie’rigkeit, fiir Gefiihle, deren eigentliche Ursache weiter 
zuriickliegt, eine verstandliche Erklarung zu finden, wird nun durch die 
Art, in der der Gefiihlsablauf im BewuBtsein stattfindet, in be- 
sonders hohem MaBe vermehrt. Denn die Gefiihle haben in noch hoherem 
Grade wie die Gedanken — Bumke sagt, fast immer — die Neigung, 
ohne sprachliche Formulierung im BewuBtsein aufzutreten. Fiigen wir 
noch hinzu, daB die Gefiihle nicht immer im Intensitatsgrade eines 
Affektes auftreten, sondern haufig genug fliichtig und in jenem schwach- 
sten Grade einer kaum merklichen Stimmungsveranderung unser Be¬ 
wuBtsein erfiillen, so haben wir in der Tat die Bedingungen bcisammen, 
die einer Analyse der Gefiihle die groBten Schwierigkeiten entgegen- 
setzen. 

IV. Die Losung des Problems. 

Wie losen wir diese Schwierigkeiten? Wir glaubten zwar oben be- 
haupten zu sollen, daB wir auch der sprachlich unformulierten Gedanken 
im BewuBtsein habhaft werden konnen, miissen aber zugeben, daB das 
schwierig sein wird, wenn der Gedanke nur ganz fliichtig unser BewuBt¬ 
sein passiert. So wie der GefiihlsprozeB kann sich auch der Gedanken- 
prozeB ganz fliichtig, unentwickelt und mit auBerordentlich verminderter 
Intensitat vollziehen. In solchen Fallen kann es sogar schwierig wer- 
den, festzustellen, ob ein unformulierter Gedanke oder ein Gefiihl in 
unserem BewuBtsein gewesen ist. Und in bezug hierauf sagt Bumke 
nur in einer Anmerkung: An diesem Punkte zeigt sich, me unmoglich 
eine scharfe Trennung zunschen Denken und Fiihlen ist 1 ). 

Machen wir mit diesem Ausspruch Ernst, so haben wir, meine ich, 
das Problem des UnbewuBten gelost. Denn wenn es wirklich Ubergange 
zwischen Denken und Fiihlen gibt, dann hindert uns nichts anzunehmen, 
daB das Gefiihl selbst, mag es stark oder schwach, fliichtig oder beharr- 
lich sein, einen Denkinhalt in sich birgt. Dann wird eben das Gefiihl zum 
Trager eines in ihm verborgenen Denk- bzw. Vorstellungsinhalts. Dann 
haben wir aber nicht mehr ein rationalisiertes UnterbewuBtsein, sondern 
ein rationalisiertes Gefiihl vor uns. Oder vielmehr: beides ist dasselbe. 
Denn explizite ist ja, wenn nur ein Gefiihl in unserem BewuBtsein vor- 

J ) Bumke, 0.: t)ber unbewuBtes psychisches Geschehen. Zeitschr. f. d. ges. 
Neurol, u. Psychiatr. 56, 146. Anm.: Von mir kursiv. 


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handen ist, der Gedanke nicht dabci, und wir konncn mit vollem Rechte 
sagen: Der Oedanke ist unterbeivufit. Da aber doch das Gefiihl selbst im 
BewuBtsein war, war der Gedanke roit ihm darin. So verstehen wir das 
Walton der tierischen und ruenschlichen Triebe bzw. der durch diese 
angeregten oder vielmehr diesen zu Grunde liegenden Gefiihle ohne ein 
BewuBtsein des Zweckes, deni sie dienen. Eine weitere Stufe bilden 
die nicht triebmaBig, aber doch rein gefiihlsmaBig vollzogenen Meinungen 
und Handlungen. Wir sind uns ja haufig genug bewuBt, daB wir nicht 
auf Grund eines klar entwickelten Gedankens, sondern gefiihlsmaBig 
zu einer Meinung oder Handlung gekommen sind. Wir sprechen in bezug 
auf solche Falle von einer Logik des Gefiihls und erkennen nun, dab das 
keine Trope ist, sondern der adaquate Ausdruck einer BewuBtseinstat- 
sache. Erst auf der hochsten Stufe arbeiten sich die Ziel- und Zw T eck- 
vorstellungen aus dent rein GefiihlsmaBigen heraus. 

Es scheint uns nun auch, daB ein tieferer Blick in die Psychogenese 
unsdiesen innerenZusammenhangzwdschenDenkenundFiihlen odersogar 
zwischen der Vorstellung als dem Inbegriff aller intellektuellen Vorgange 
von der Empfindung bis zunt abstrakten Gedanken einerseits und dem 
Gefiihl anderseits nachzuw r eisen vermag, und daB uns dabei auch der 
innere Zusammenhang des dritten seelischen Grundelementes, des 
Willens, mit dem Gefiihl offenbar wird. Man hat ja vom entw'icklungs- 
geschichtlichen Standpunkt, der doch die seelische Seite ebenso beriihrt 
wie die korperliche, AnlaB zu der Frage gehabt, welcher von den drei 
psychischen Grundfaktoren wohl der urspriingliche sei. Man hat schlieB- 
lich aus psychologischen Griinden dem Gefiihl den Primat zuerkannt. 
Das dumpfe Gefiihl des Wohls und Wehes diirfte in der Tat die urspriing- 
lichste und am wenigsten modifizierte SeeleniiuBerung sein, die man vor 
Differenzierung von Sinnesorganen, durch die der Organismus ja erst 
zunt Vorstellungselement gelangt, dem niederen Lebewesen zutrauen 
kann. Auf welcher Stufe der organischen Entwicklung sich dieses 
primitive Gefiihl zuerst gezeigt hat, kann man dabei sogar dahingestellt 
lassen. Der Einfachheit wegen nehmen wir an: mit der Entstehung des 
Organischeu selbst. 

Nun rnachen wir es wie der Naturforscher. Als dieser neben der 
Kraft und dem Stoff, den beiden physischen Gegenbildern von Wille 
und Vorstellung, in neuester Zeit als drittes und umfassendstes Natur- 
element die Energie aufstellte, lieB er diese drei nicht unvermittelt neben- 
einattder stehen, sondern er lieB die beiden ersteren aus der letzteren 
hervorgehen. Wie gerade die Entwicklung unserer physikalischen An- 
schauungen in den letzten Jahren zu dieser Erkenntnis fiihren muBte, 
ist bier nicht auseinanderzusetzen. Auf dem Gebiete der Psychologie 
haben wir aber noch viel mehr AnlaB, Wille tend Vorstellung als A6- 
kommlinge des Gefiihls aufzufassen. Denn mit dem Willen hat das Ge- 


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Das Problem des UnbewuBten. 


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fiihl sowohl die lntensitatsseite gemein wie die polaren Gegensdtze: 
Je starker dasGefiihl, um so starker auch das mit ihm vergesellschaftete, 
haufig kaum von ihm, besonders bei seiner Steigerung zum Affekt, zu 
trennende Trieb- oder Strebenselement. Und der Lnst- und Unlustseite, 
diesen beiden Grundmodifikationen des Gefiihls, entspricht auf der 
Willensseite das Hin- und Fortstreben. Mit der Vorstellung aber hat 
das Gefiihl die Qualitatsseite 1 ) gemein. Denn die bestimmte Farbung 
des Gefiihls entspricht ebenso vielen Vorstellungsverschiedenheiten. 
Wir mochteo der Ansicht Wundts u. A. folgen, die annehmen, daB das 
Gefuhl ebenso vieler Abwandlungen fahig ist, als es Vorstellungen gibt, 
durch die es erregt wird. Wir haben nicht nur die verschiedenen Arten 
der sinnlichen, intellektuellen, ethischen, asthetischen und religiosen 
Gefiihle anzuerkennen, sondern auch anzunehmen, daB innerhalb dieser 
Hauptarten das Gefuhl noch der verschiedensten Modifikationen je 
nach der speziellen Beschaffenheit des Gegenstandes, durch den es er¬ 
regt wird, fahig ist. 

Das Gefuhl ist also nach unserer Anschauung das urspriingliche 
Seelenelement, gewissermaBen die Urenergie der Seele, aus der sich Wille 
und Vorstellung mit der weiteren seelisch-geistigen Entwicklung losgelost 
haben. Das ist unseres Erachtens die Konsequenz der affektualistischen 
Seelentheoric, der gerade wir Psychiater alien Grund zu folgen haben, 
nachdem wir erkannt haben, daB auch die psychopathologischen Seelen- 
auBerungen affektualistisch fundiert sind. Denn den Unterschied zwi- 
schen Verstandes- und Affektpsychosen haben wir ja langst aufgegeben, 
nachdem es uns klar geworden ist, daB auch die paranoischen Ver- 
anderungen sich auf einer krankhaft umgewandelten Gefiihlsgrundlage 
etablieren; — von den ,,Willenspsychosen“ ganz zu schweigen 2 ). 

Die einheitliche Auffassung des seelisch-geistigen Geschehens, die 
sich uns noch mehr aufdrangt als die des Naturgeschehens, fiir die jene 
erst das erkenntnistheoretische Vorbild gewesen ist, zwingt uns also, 
auch das Psychische auf der hochsten Stufe seiner Entwicklung nicht 
als ein Konglomerat von Willens-, Vorstellungs- und Gefiihlsvorgangen 
zu betrachten. Es ergibt sich vielmehr die Konsequenz, die Gefiihls- 
grundlage als den eigentlichen fundamentalen Seelenfaktor beizu- 
behalten und ihm die Fahigkeit zuzuerkennen, das Willens- und Vor- 
stellungsmaBige, ebenso wie es beides urspriinglich aus sich entlassen 
hat, wieder in sich zuruckzunehmen, derart, daB beides in ihm ebenso 
ununterscheidbar aufgehoben ist wie etwa zwei chemische Elemente 
in ihrer Verbindung. Und das ist eben die eigentliche Ursache des Un- 

*) Erkenntnistheoretisch ist Qualitiit identisch mit Vorstellung. 

2 ) In der Bezeichnung „Gemutskrankheiten“ ist das instinktive BewuBtsein, 
daB die Psychosen Erkrankungen der Gefiihlssphare sind, daB also Seele — Gefuhl 
zu setzen sei, langst zura Ausdruck gekommen. 

Archlv fiir Psychiatrie. Bd. 68. 28 


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Riilf: 


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bewvfiten. Im Gefiihl ruhen uns unbewuBt unsere Vorstellungen und 
Wollungen in der oben dargestellten Form. Erst wenn diese sich aus 
jenem hervorgearbeitet haben, erkennen wir klar Ziel und Inhalt unseres 
Strebens. Im BewuBtsein des Tieres, das eines entwickelten intellek- 
tuellen Lebens entbehrt, sind z. B. die Ziel- und Zweckvorstellungen 
noch nicht vorhanden. Es folgt unmittelbar seinen Gefiihlen und Trie- 
ben. Wie sehr selbst beim Menschen diese Zweck vorstellungen bei 
Betatigung der fundamentalen Triebe der Selbst - und Gattungserhaltung 
unterhalb der BewuBtseinsschwelle verharren, haben wir friiher gesehen. 

Es kommt. nun noch ein Hauptmoment in Betracht, das die 
Gefiihle, deren Fahigkeit zu weitgehender Intensitatsherabsetzung wir 
bereits friiher erkannten, bis zur Unmerklichkeit herabzudriicken 
geeignet ist. Es liegt in der allgemeinen Tendenz des zur Intellektualitat 
erwachten menschlichen Individuums, die Affektivitat, deren allzu 
starkes Hervortreten seine intellektuellen Ziele wie die Anforderungeu 
der hoheren Gemiitssphare beeintrachtigen wiirde, moglichst zuriick- 
zudrangen. Diese Tendenz laBt nicht nur leicht das als Heuchelei 
erscheinen, w r as nur der Ausdruck seines hoheren intellektuell-ethischen 
Strebens ist. Es wird zum gesetzlichen Verhalten des Gefiihlsablaufes 
selbst, moglichst einen Ausgleich der mannigfaltigen liber die BewuBt- 
seinsschwelle strebenden Gefiihlskomponenten herbeizufiihren. Der 
Mensch sucht sich in eine moglichst , .ausgeglichene Stimmung“ zu ver- 
setzen. Die Stimmung ist aber selbst nichts weiter als die Resultante 
aller in uns vorhandenen Gefiihle und der aus diesen hervorgehenden 
Strebungen und Vorstellungen. Vermoge der Gegensatzlichkeit der 
Gefiihle, deren Grundmodifikation in eine Lust- und eine Unlustkoin- 
ponente zerfallt, kann der Ausgleich zustandekommen. Die psvcho- 
logische Konsequenz davon ist, daB wir selbst bei Abwesenheit irgend- 
eines besonders hervortretenden Gefiihls dennoch annehmen konnen, 
dafi alle Gefiihle unserer Seele im Beivufitsein vorhanden sind, dafi aber 
keine bestirnmle Gefuhlsrichtung vorherrscht, so wie ein Massenpunkt 
keine Bewegung zeigt, wenn all die Krafte, die aus verschiedensten 
Richtungen auf ihn wirken, sich gegenseitig aufheben. Vorhanden 
sind die Krafte dabei doch. Man begreift leicht, wie ,,mikroskopisch'‘ 
bei diesem Vorgang die Gefiihle werden konnen. 

Wir gelangen also zu folgendem Resultat: Wir konnen in der Tat 
BewuBtsein = Seele setzen. Denn Seele ist im letzten Grunde identisch 
mit Gefiihl. Wollungen und Vorstellungen sind Abkommlinge des Ge¬ 
fiihls, gehen aus diesem hervor und werden wieder in dieses zuriick- 
genommen. Die Gefiihle selbst gleichen durch die Gegensatzlichkeit 
ihrer Grundniodifikationen einander aus bzw. streben nach Ausgleich. 
Die Resultante aller dieser Gefiihle ist das uns jeweilig beherrschende 
Gefiihl bzw. die Stimmung. 


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Das Problem des UnbewuBten. 


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Von dieser Auffassung aus eroffnet sich uns auch der eigentliche 
Sinn dessen, was wir seit Wundt Blickfeld und Blickpunkt des BewuBt- 
seins zu nennen pflegen. Eben das jeweils vorherrschende Gefiihl (bzw. 
die Stimmung), meist, aber nicht notwendig in V T erbindung mit der 
diesem Gefiihle assoziierten Begehrungen, Vorstellungen, sprachlich for- 
raulierten oder nicht formulierten Gedanken, steht neben dem AuBen- 
weltsbild, das ja fortwahrend durch unsere Sinne in unser BewuBtsein 
einstromt und gewissermaBen den ruhenden Hintergrund abgibt, auf 
dem die aus unserem Innern reproduzierten Gefiihle usw. vorbeirollen, 
im Blickpunkte desBewuBtseins. Die nachsten durch Assoziation mit dem 
jeweilig im Blickpunkte stehenden Gefiihl, Willen oder Vorstellung ver- 
kniipften Seeleninhalte umgeben noch, herangezogen durch die Kraft der 
reproduktiven Tatigkeit, als Bhckfeld des BewuBtseins diesen Blick¬ 
punkt. Alles iibrige versinkt unter den Horizont des Blickfeldes, ohne 
im eigenthchen Sinne des Wortes das BewuBtsein verlassen zu haben. 
Es versinkt nur in der Gesamtgefiihlsmasse, aus der sich im Kampfe 
der einzelnen Gefiihle gegeneinander und der in ihnen verborgenen 
Wollungen und Vorstellungen immer nur eines in den Blickpunkt des 
BewuBtseins zu erheben vermag. 

Mit diesen Andeutungen miissen wir uns an dieser Stelle begniigen. 
Wir konnen hier keine ausgefiihrte Psychologie auf affektualistischer 
Grundlage niederlegen, noch weniger eine Metaphysik des Gefiihls. So viel 
wird aber auf Grund unserer Ausfiihrungen deutlich sein, daB sie uns die 
Moglichkeit geben, den Streit der Meinungen iiber das UnbewuBte in 
jenem hoheren Standpunkt zu vereinigen, in dem sich schon so haufig 
der Streit der Parteien iiber ein grundlegendes Problem aufgelost hat. 
Fur das spezielle pathopsychische Problem aber gelangen wir zusammen* 
fassend zu folgendem 

Ergebnis: 

Schon im normalen Lebcn verbergen sich im Gefiihl all die Strebungen 
und Vorstellungen, die unseren Handlungen die Richtung geben. 
Das gilt besonders von den grundlegenden Trieben der Selbst- und 
Gattungserhaltung. Zwar haben sich im Menschen im Gegensatz zum 
Tier, das diesen Trieben blindlings folgt, die Zielvorstellungen und 
Wollungen, die diesen Trieben entsprechen, neben den Gefiihlen iiber die 
Schw'elle des BewuBtseins emporgearbeitet. Die klare, nie versagende 
Erkenntnis aber fiir die Motive unseres Denkens und Handelns in alien 
Lebenslagen wiirde die Erreichung des Sokratischen Ideals bedeuten, 
zu dem der Mensch erst nach Erlangung der intellektuellen und 
ethischen Vollkommenheit fahig ware. Psychologisch ausgedriickt heiBt 
das: nur der Idealmensch vermochte all die Gefiihle, Wollungen und 
Vorstellungen, die sein Handeln in jedem Falle bestimmen, in den 
Blickpunkt des BewuBtseins zu erheben und zugleich die Fahigkeit ge- 

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Riilf: Das Problem des UnbewuBten. 


winnen, sein Tun nach den hochsten Gesetzen von Intellekt und Ethik 
zu bestimmen. Normalerweise bleiben die Gefiihle, Wollungen und Vor- 
stellungen, die in so unendlich komplizierender Konkurrenz unserem 
Tun die Richtung anweisen, mehr oder weniger weit vom Bliekpunkte 
unseres BewuBtseins entfernt im Blickfelde liegen oder versinken gar 
unter den Horizont des BewuBtseins in der allgeraeinen Gefiihlsmasse, 
die den Kern unserer ,,Seele“ bildet. Wahrend aber dem psychisch 
gesunden Individuum wegen der potentiellen Abanderungsfahigkeit 
seines Denkens und Handelns die Verantwortbchkeit fiir sein Tun zu- 
gemutet wird, ist das bei dem psychisch oder auch nur neurotisch er- 
krankten Individuum nicht mehr bzw. nicht mehr in vollem MaBe mog- 
lich. Denn die psychoneurotische, Erhrankung greift eben am seelischeu 
Kerne, dem Gefiihl selbst, an. Die krankhafte Affektlabilitat gestattet 
dem Neurotiker zunachst prinzipiell nicht die Seeleninhalte, die fiir 
die Bestimmung seines Handelns in Betracht kommen, in den Blick- 
punkt des BewuBtseins zu erheben. Die BewuBtseinseinengung, die 
der starke Affekt herbeifiihrt, engt diese Fahigkeit selbst ein. Denn 
sie zwingt aus pathopsychischen Ursachen das Individuum, neben 
den Motiven, die sein Handeln im Dienste der Selbsterhaltung be¬ 
stimmen, andere Motive nicht aufkommen, sie nicht in den Blickpunkt 
des BewuBtseins treten zu lassen. Und selbst wenn es die Fahigkeit dazu 
hatte, der starke Affekt wirkt auf die disponierte Psyche so, daB auch 
das BewuBtsein zunachst nicht die Kraft hat, die Folgen zu beseitigen, 
die unmittelbar von dem BewuBtsein auf das Nervensystem sich 
geltend machen, oder mittelbar durch die mehr oder minder unbe- 
wuBten Seeleninhalte auf das Nervensystem ausgeiibt werden. Denn 
nachdem das affekterregende Erlebnis den Blickpunkt des BewuBtseins 
verlassen hat, zumTeil aus diesem wegen seiner Uniustfarbung vom In¬ 
dividuum absichtlich vom Bliekpunkte und -felde verdrangt worden ist, 
behalt es dennoch seine pathogene Wirksamkeit bei. Es wird in dieser 
bestarkt durch die gesetzmaBigen Beziehungen, die alle Seeleninhalte, 
die bewuBten und unbewuBten, miteinander verbindet. Im Blick- 
punkte des Neurotikers steht aber die krankhaft erzwungene Einengung 
der Interessensphare auf die Selbsterhaltung. V T on dieser aus erhalten 
die unterbewuBten bzw. mehr oder weniger aus dem BewuBtsein ab- 
gedrangten Erlebnisinhalte mit den ihnen assoziierten unlustgefarbten 
Gefiihlstbnen immer neue Antriebe zur Aufrechterhaltung, eventuell 
Verstarkung des neurotischen Symptoms. 

Durch welche Mittel der Arzt die Fahigkeit gewinnt, diese Einengung 
zu beseitigen oder das erkrankte Individuum in seinem Streben nach Be- 
seitigung dieser Einengung zu unterstiitzen und damit die Heilung bzw. 
Selbstheilung herbeizufiihren, haben wir oben gesehen. 


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(Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universitat Kiel 
[Direktor: Geheirarat Prof. Dr. Siemerling].) 

Psychopathic und chronische Encephalitis epidemica mit eigen- 
artiger Symptomatology. 

(„Lorvierte Onanie.“) 

Von 

Prof. Range, 

Oberarzt der Klinik. 

(Eingegangen am 25. Januar 1923.) 

A. F., 20 Jahre, stud, theol. 

Vorgeschichte (nach Angaben der Angehorigen, besonders eines Binders und 
tier behandelnden Arzte). Hereditat: Grofivater miitlerlicherseits Balte, Privat- 
gelehrter, sehr begabt, aber fingstlich, unentschlossen, weltfremd, pedantisch, sehr 
gerechtigkeitsliebend, religios sehr interessiert, trat als Ev.-Lutherischer zur alt- 
lutherischen Kirche iiber. Ein Bruder desselben Kunstmaler, lebte in ungliick- 
licher Ehe, war unbeholfen, unpraktisch, erblindete spfiter. Grofimutter miitter- 
licherseits gesund, zah, ausdauernd, energisch, dirigierte ihren Mann. Ihr Bruder 
erblindete in spaterem Alter. Mutter: Jlings te von 7 Geschwistern, Nachkommling, 
etwas kleinlich-pedantisch, nach andrer Auskunft aber recht unordentlich. Eigen- 
artig. Von pessimistischer Grundstimmung, nimmt alles schwer, zeigt haufigen 
Stimmungswechsel, trittwenig hervor, schiichtern, „seelisch nicht ganz ausgereift", 
stark religios in orthodoxem Sinne. Liebt Verkehr mit andem, hat aber wenig 
solchen. Ihre Geschwister zum groflten Teil etwas nervos, leicht aufgeregt, schwierig 
zu behandeln. Alle sehr musikalisch. 2 Tochter ihres filtesten Bruders (Couainen 
miitterlicherseils) geisteskrank. — Grofivater vdterlicherseite sehr intelligent, sehr 
zuriickhaltend, abnorm streng gegen seine Kinder, hart bis zum auBersten, sehr 
sparsam. Grofimutter vaterlicherseitfi „Seele von Mensch“, optimistisch, gesellig. 
Voter emerit. Geistlicher in kl. Stadt. Sehr wissenschaftlich interessiert gewesen, 
hatte aber „eigene Anschauungen“, stritt sehr viel mit wissenschafthchen Gegnem. 
Lehnte einen Ruf als Ordinarius an eine Universitat auf Rat des Schwiegervaters, 
da es dort zu „liberal“ war, ab. Heitre, offene Natur, gut mu tig, aber nicht weich, 
hatte etwas Gelehrtenstolz. Jetzt senil-dement. Eine verheiratete Schwester von 
ihm sehr energisch, selbstbewuBt, in spateren Jahren etwas sonderbar, altjiingfer- 
lich, viril. Unter den iibrigen Verwandten des Vater nichts Besonderes. — Pat. 
Jiingster von 9 Geschwistem. Alleste Schwester litt von Kind auf an Asthma, sol! 
friiher Morphinistin gewesen sein (von anderer Seite bestritten). Verhebte sich im 
32. Jahr, zeigte das auffallend, hatte eine Art erotischen Beziehungswahn, glaubte 
sich falschlicherweise wiedergeliebt, machte dem betr. Herrn eine Liebeserklarung, 
war unbelehrbar, aufgeregt, auBerte Suicidgedanken. 3 Monate in einer Privat- 
heilanstalt. Hielt dort an ihrem Liebeswahn fest, beruhigte sich aber spiiter. 
Zweitdltester Bruder brach vor einem Examen .,nervos" zusammen. starb infolge 


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Runge: 


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schwercr Verwundung durch Ungliicksfall irn Felde, benahm sich dabei heldenhaft. 
Ein weiterer Bruder starb im Feld an Genickstarre. — Bin dritter (von mir selbst 
gesehener) Bruder macht einen intelligenten Eindrnck, zeigt aber ein auffallend 
geschraubtes Wesen und eine inanierierte Au.sdmck.swei.se, ist offenbar von recht 
schwachlicher Konstitution. A. F. selbst: immer et was „zart“, wurde als Jiingster 
verhatschelt, bekam oft seinen Willen, etwas eigensinnig. War weichen Gemiits. 
sentimental, empfindsam. Im ganzen sonstvon normaler, heitrer Stimmungslage, 
leitete einen Schiilerverein, hatte viel Verkehr, viel wissenschaftliche, kiinstlerische 
Interessen, gute Begabung, verfaBte lyrische Gedichte, musikalisch, im Klavier-, 
Harmonium- und Orgelspiel Autodidakt, komponierte. Lemte auf Schule und 
Gymnasium leidlich, jedoch kein Musterschiiler. Machte auch durame Streiche 
gelegentlich mit. Turnte gern, guter Schwi miner. 

Bestand Februar 1120 mit 18* 2 J* das Abitur. Hatte vorher angespannt ge- 
arbeitet, die Eisenbahnfahrten zur Schule strengten ilm stets selir an. War zuletzt 
etwas nervos geworden. Bald darauf, Ende Februar 1920, fieberhafte Erkrankung, 
die vom Arzt als Grippe bezeichnet wird. Hatte mehrere Wochen leichtes Fieber. 
geringe Bronchitis, Schnupfen, auBerdem aber litt er an Schlaflosigkeit, Kopf- 
schmerzen, Schmerzen in den Gliedern, ..geistiger Schwache“. Keine Delirien. 
Konnte angeblich anfangs schlecht Urin lassen, nur auf Umschlfige. — Stand erst 
nach Ablauf von 4 Wochen auf. Litt dann nachher noch an Schlaflosigkeit, Schmerzen 
in den Htinden. Bekam allmdhlich eine gebiickte Haltung, einen „starren, unbelebten“ 
Blick. Hatte eine innere Unmhe. -— Hatte sich bereits vor der Erkrankung in ein 
Madchen verliebt, was ilm selir beschaftigte. Da das Madchen seine Liebe nur rein 
freiuidschaftlich erwiderte, kam es im Sommer 1920 zu einem Bruch, der ihn selir 
deprimierte. Immer wiederholte Anniihenmgsversuche seinerseits hatten keinen 
Erfolg. — Trotz der Beschwerden ging er mit dem Bruder nach Pfingsten 1920 auf 
die Universitiit. Zeigte dort eine zunehmende Iiiteresselosigkeit und WiUensschlaff- 
heit. Schlief nachts nicht, dagegen erst gegen Morgen und dann bis mittags, nach dem 
Mittagessen uneder einige Stunden. Besuehte infolgedessen nur wenig Kollegs. 
Apathisch, sonderte sich ab, hatte dauemd denMundoffen. Atmete oberflarhlich und 
schnell, klagte iiber Atemnot. Konnte sich nicht konzentrieren, hatte eine innere 
Unruhe, litt unter der Liebesaffare. Der Bruder brachte ihn nach 2 Monaten nach 
Haus. Ohne daB sich der Zustand geiindert hatte, besuchtcn beide Winter 1920/21 
eine andere Universitiit. Ende 1920 und Juli 1921 nochmalige leichtere, fieber¬ 
hafte Erkrankungen, angeblich Grippeanfalle. Am 15. XI. 1920 lieB er sich in der 
Nervenklinik der Universitiit untersuchen. klagte nach der dortigen Auskunft 
iiber Aufgeregtheit, machte einen madchenhaft-scheuen, verlegenen, kindlichen. 
psychopathischen Eindruck, bot aber keine korperlichen Storungen. Die subjek- 
tiven Beschwerden bestanden weiter, insbesondere die Schlaflosigkeit und Schlaf- 
verschiebung, die Willensschwache und innere Unruhe. Von Weihnachten 1920 
ab Vorbereitung auf das Hebraicum in einem kleinen Landort, bestand dies Friih- 
jahr 1921. Schon vorher verschli miner ten sich die Atemstorungen (nach anderer 
Version begannen sic damals iiberhaupt erst). Es handelte sich um eine anfalls- 
weise einsetzende Atembeschleunigung und Atemvertiefung mit starkem ..Pusten". 
was aber bei lebhafter Unterhaltung, Ablenkung und im Schlaf aufhorte. Verlor 
infolgedessen eine Hauslehrerstelle nach kurzer Zeit. Im Sommer 1921 emeuter 
Universitatsbesuch, bei Fortbestehen der Beschwerden. Gab aber doch Privat- 
unterriclit. Besuehte kaum noch Kollegs. Die Liebesgeschichte driickte weiter auf 
ihn. In den Herbstferien 1921 wurde er noch apathischer, verlor jeden Lebensmut, 
auBerte Selbstmordideen und fing dann im September an, sich haufig mit beiden 
Hdnden oiler mit dem Taschentuch und alien moglichen Kleidungsstucken am Hals zu 
v'urgen, wiihrend die Atemstorungen etwas nachlieBen. Er wiirgte sich schlieBlich. 
wo er sich gerade befand, auf der StraBe oder sonst wo. Er gab an.'daB er es nicht 


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Psychopathic u. chron. Encephalitis epidemica m. eigenart. Symptomatology. 431 


aus Selbstmordabsichten tue, sondem, um sich cine „angenehnie Art von Schwin- 
dcl“ zu erzcugen. Schon im Sommer 1920 legte er oft den Kopf nach hinten und 
verdrehte die Augen. Das Wiirgen wurde immer haufiger und riicksichtslos durch- 
gefiihrt, so daB sich eine Entziindung an der Haut des Halses entwickelte. Er- 
mahnungen, arztliche Behandlung nutzten nichts. Gleichzeitig setzte eine Schwache 
des rechten, dann eine fast vollige Lab lining des linken Armes ein, die durch 
Elektrisieren gebessert wurde. 

l orn 2. bis 9. X. 1921 in der Heil- und Pflegeanstalt zu Kropp: Bei der Auf- 
nahme deprimiert, weint, stohnt. jammert iiber seinen Zustand. Versucht sich 
fortgesetzt mit der Hand oder dem Rockkragen zu wiirgen, hatte sich bereits eine 
10 cm lange Wunde am Hals mit starker Irritation der umgebenden Haut beige- 
bracht. AuBer einer Rotung der Conjunctiven und leichter Sehnenreflexsteige- 
rung fand sich eine als funktionell angesehene ,,Bewegungsstorung‘‘ der rechten 
Schulterarmmuskulatur, so dad der Oberarm schlaff herunter hing und aktiv nicht 
gehoben werden konntc. wahrend die Motilitat des Vorderarms und der Hand un- 
gestort war. — Depressiv. iingstlich und etwas gehemmt. Trotzdem aber ziemlich 
anspruchsvoll und unzufrieden, verwohnt. Queruliert in einem Brief nach Hause 
stark, schilt auf den Arzt, droht mit Suicid, wenn er nicht abgeholt werde. — 
Atmung zeitweilig stark beschleunigt und gerauschvoll, zwischendurch und z. B. 
bei Ablenkung ruhiger. Auf Schlafmittel leidlicher Schlaf. — Keine rechte Krank- 
heitseinsicht. Am 19. X. 1921 in die Priml-He deinstall Jlten 1 ) iiberfiihrt. Dort. 
Fortsetzung der Wiirgeversuche mit Bettuch, Kopfkissen, Uberdecke. trotz 
energischer suggestiver Einwirkung. SchieBlich durch Handschuh am Wiirgen 
gehindert. Fiingt al>er. als nach 6 Wochen die Handschuh wieder abgenommen 
werden, sofort in CJegenwart des Arztes wieder an zu wiirgen. Weill, daB er sich 
schadet, tut es trotzdem. Hat eine krampfhaft gezwungene Haltung mit Beuge- 
haltung der Arme und Fauste. Bei passiven Bewegungen Widerstand, kann aber, 
wenn er will, alle Bewegungen ausfiihren. — Queruliert weiter, teilweise recht 
boshaft. Kratzt sich viel am Hals. Sehr anspruchsvoll. lBt nicht allein, muB 
standig gefiittert werden. Klagt iiber groBe innere Unruhe. Anfang November 
nachts motorische Unruhe, singt laut. Keine intellektuellen Ausfalle. 21. Nil. 1921 
nach Haus entlassen. 

Erholte sich hier korperlich. wurde geistig regsanier, las Roniane, spielte 
Schach, zeigte mehr Interesse, I-ebensmut, „Gesundungswillen“. Das Wiirgen 
wurde aber fortgesetzt und steigertc sich. Um ungestort zu sein. schloB sich F. 
ofter ein. Bei Versuehen, ihn am Wiirgen zu hindem, wurde er ausfallend, grob. 
Auffallender Stimmungswechsel, trotziges Verhalten. Wurde schlieBlich von den 
Angehorigen zur Verhinderung des Wiirgens mit einer Kette ans Bett gefesselt. 

30. 1. 1922. Aufnahme in die Klinik: 

Wird mit gefesselten Hftnden gebracht. Nach Abnahme der Fcsseln driickt F. 
sofort mit beiden Fdusten gegen dieHalsgegend unterhalb des Kehlkopfes, indem er den 
Kopf nach hinten beugt und die Augen schlieBt. Wird schlieBlich daliei blaB, die 
Atmung sistiert. LiiBt dann los, worauf die Atmung tief und schnaufend wieder 
einsetzt und langere Zeit so bleibt, bis ein emeu ter Wiirgeversuch einsetzt. Wieder- 
holt diesen ca. 50mal in der Stunde, unbekummert um seine Umgebung, wird 
gereizt, wenn man ihn durch Festhalten hindert, sucht sich loszureiBcn. Auch Vor- 
haltungen helfen nicht. Gibt als Grund fiir das Wiirgen an: „Ich liabe ein in- 
stinktives Gefiihl, das mir sagt, ich miiBte es tun!“ Er tue es, ohne es zu wollen. 
Ende September sci es zuerst im AnschluB an Aufregung iiber eine Licbcsangelegen- 
heit aufgetreten. Gibt im Laufe der Beobachtung liei mehrfachen Explorationen 

1 ) Fur die frdl. Ubcrlassung der Krankengeschichten spreche ich der Direk- 
tion der Kropper und der Iltener Anstalt meinen verbindliehsten Dank aus. 


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Bunge: 


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folgendes an: Februar 1920 „schwere Grippe' 1 mit hohem Fieber, Kopfschmerzen, 
Schwindel, Schlaflosigkeit. Sie kani im AnschluB an eine Familienszene (Streit 
zwischen Bruder und Schwester), die ihn aufgeregt hatte, zum Ausbruch. Kurz 
vorher Abitur gemacht. Lag 2 Monate. Nchlief wenig, hatte eine groBe Unruhe, 
walzte sich herum, die Glieder zuckten. Nachher bestand eine groBe Schwache, 
eine starke innere Unruhe, eine Schlaflosigkeit weiter. >Seit Herbst 1919 liebte er 
ein Madchen, Tochter eines Geistlichen, verkehrte in ihrem Elternhaus, verstand 
sich mit ihrer 40jahrigen Mutter gut. Das Madchen behandelte ihn freundlich, 
erwiderte seine Liebe aber nicht. Im Mai 1920 teilte ihm dies ihre Mutter mit und 
wiinschte Unterbrechung des Verkehrs. Dariiber sehr deprimiert, weinte, kam 
nicht dariiber hinweg, auch wahrend seines Aufenthaltes auf den Universitaten 
nicht. — Dort bestanden die Beschwerden weiter. Schildert aber seine Unffthig- 
keit zur Arbeit nicht als so stark wie die Angehorigen. Behauptet, daB die Atem- 
storungen erst im Friihjahr 1921 aufgetreten seien. Damals auch starke Riicken- 
schmerzen, ging seitdem „krumm‘. Freunde und Verkehr hatte er wenig, trotz 
seiner Mitgliedschaft in einer Studentenverbindung Die innere Unruhe, die 
Schlafstorungen bestanden weiter. Versuchte immer wieder Annaherungen an das 
von ihm geliebte Mildchen. Bei einer geselligen Zusammenkunft am Ende des 
Sommersemesters 1921 bevorzugte sie sichtlich einen anderen. Ein Geschenk und 
samtliche Briefe schickte sie ihm zuriick. Er beschwerte sich dariiber bei der 
Mutter, die sehr grob antwortete, da ihm in dem Brief auch noch ein beleidigendes 
MiBverstandnis untergelaufen war. In jener Zeit verungliickte er mit dem Rad, 
geriet in einen See kam bis zum Hals ins Wasser, arbeitete sich wieder heraus. 
Machte sich dann aber Vorwurfe, daB er iiberhaupt wieder herausgekommen sei, 
wiinschte, ertrunken zu sein. Hatte dann haufiger Selbstmordgedanken infolge des 
Erlebnisses mit dem Madchen. Dachte daran. sich zu erhangen. Er habe sich in 
diese Vorstellung hineingedacht und getraumt. Habe oft den Atem angehalten. 
SchlieBlich habe er den Versuch gemacht, sich mit einem Handtuch zu erwiirgen, 
war aber zu energielos, es ganz fertig zu bringen. Bemerkte dabei zum ersteumal 
ein angenehmes Gefiihl. Er habe dabei ein Schwindelgefiihl, die „Empfindung eines 
Hohenrausches“, die fur ihn angenehm sei, es sei ein wolliisiiges Schwindelgefiihl! 
Angst habe er nicht dabei. Die Empfindung sei von der sexuellen Erregung durch- 
aus verschieden. Besonders gern tue er es, wenn die andern sich dariiber erregten. 
Gedanken habe er sich iiber das Wiirgen nie gemacht, obwohl er sich bewuBt sei, 
seinen Eltern damit Rummer zu machen. Sein religioses Leben sei seitdem vollig 
in die Irre gegangen, habe seine Religion verleugnet, ohne Ideale gelebt, ohne Ziel 
und Aufgabe. Er sei vollig mit sich unzufrieden, vollig mit Gott und der Welt zer- 
fallen gewesen. Allmfihlich habe er aber in der letztenZeit seinenGlauben wieder - 
gefunden und sehe seine Aufgabe, Gott zu dienen, vor sich. Die Lektiire von 
Kiigelgen: „Erinnerungen eines alten Mannes' 1 hatte das bewirkt. 

Bestatigt die Angaben der Angehorigen iiber Belastung und Vorgeschichte. 
Gibt zu, verwohnt, etwas eigensinnig, etwas schwer erziehbar, leicht beeinfluBbar 
und etwas weichen Gemiites, nicht besonders energisch, etwas von sich einge- 
nommen gewesen zu sein. Lernte auf der Schule leicht, korperlich etwas zart, aber 
bis auf Kinderkrankheitengesund. Trieb Musik, leitete einen literarischen Schiiler- 
zirkel. Ging trotz vieler Freundschaften gem eigene Wege. Gibt iiber sein Sexual- 
leben an: er sei im 16. Lebensjahr von einem Studenten zur mutuellen Onanie ver- 
fiihrt, die einige Monate betrieben wurde. Setzte sie dann alleine fort und betrieb 
sie bis jetzt. Wahrend seiner Verliebtheit wurde sie erheblich seltener, nachher 
wieder erheblich starker. Hatte sehr damit zu kampfen und es nie ganz lassen kon- 
nen. Seit dem Wiirgen sei es seltener geworden. Herbst 1920 mit 20 Jahren wurde 
er im elterlichen Haus von einem Dienstmadchen zum sexuellen Verkehr verfiihrt, 
der einige Male wiederholt wurde. Seitdem nie wieder geschlechtlich verkehrt. — 


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Psychopathie u. chron. Encephalitis epidemica m. eigenart. Sj’mptomatologie. 433 


Macht einen etwas kindlichen, unfertigen Eindruck, zeigt im ganzen wenig Affekt, 
scheint zeitweilig apathisch, zuweilen etwas lAppisches Lachen, witzelt etwas. Kein 
Interesse an den Vorgftngen der AuBenwelt, keine Initiative. Vollig klar, orientiert. 
Keine Stdrung der aktiven Aufmerksamkeit, passive dagegen mangelhaft. Beim 
Assoziationsversuch (nach Xachlassen des Wiirgens) erfolgen die Reaktionen 
prompt. Tachistokopische Darbietungen werden ebenfalls nach Nachlassen des 
Wiirgens in normalen Grenzen wahrgenommen. MerkfAhigkeit ungestdrt. All- 
gemeinkenntnisse miiOig. Xeuere Ereignisse hat sich F. vielfach nicht eingeprkgt. 

Somatischer Befund: Kleine schmAchtige Statur, Gewicht 47,4 kg bei 160 cm 
Grofie, blasse Gesichtsfarbe, etwas unentwickelte, kindliche Gesichtsziige, Korper- 
bau etwas unterentwickelt; Pubes von femininem Typ. Einformig-miider Ge- 
sichtsausdruck, Gesicht wenig belebt. Kein Fieber. Pupillenreflexe in Ordnung. 
Beim Blick seitwarts erreicht der auBere Homhautrand nicht den fiuDeren Lid- 
winkel. Leichtes Hangen der Augenlider, ofteres Gfthnen. Aktive Bewegungen 
miide, langsam. Geringe Beugecontractur der Finger im 1. Interphalangealgelenk 
und der Arme in den Ellenbogengelenken, so daB ausgiebige Streckung nicht mog- 
lich ist. Linker Arm dauemd in Beugehaltung. Rectusdiastase. Sehnenreflexe 
in Ordnung. Rechts fragl. Babinskisches Phanomen, Oppenheim beiderseits 
positiv, Abdominal- und Cremasterreflexe o. B. Keine RigiditAt, keine Sensibili- 
tAtsstbrung. Beim Gehen pendeln die Arme nicht mit. Im Stehen ofter leichtes 
Riickwartstreten, was durch einen leichten StoB vori die Brust verstArkt wird. 
Keine Propulsion, Rumpfhaltung leicht gebeugt. Innere Organe o. B. Puls 72 
regelm&Big. 

Macht weiter fortwahrend Wiirgeversuche. 2- bis 4stiindige nasse Packungen, 
langere Bader, Schlafmittel, Epiglandol hindern ihn gar nicht oder nur voriiber- 
gehend daran. Xach mechanischer Verhinderung des Wiirgens, z. B. durch Pak- 
kungen, wiirgt F. bedeutend intensiver und haufiger als vorher, als wenn er durch 
den Widerstand dazu gereizt wiirde. Wiirgt entweder, wie beschrieben, mit den 
Fftusten oder mit dem Hemdkragen. Auf dem Hohepunkt des Wiirgens wird jedes- 
mal die Carotis beiderseits pulslos, die Atmung sistiert. Es tritt starke Blasse des 
Gesichts ein, worauf F. das Wiirgen abbricht, das Gesicht sich wieder rotet, die 
Atmung tief, schnaufend und beschleunigt wieder einsetzt. Gerat wahrend des 
Wiirgens formlich in Ekstase. Die dabei eintretende psychische Erregung ahnelt 
einem Orgasmus. Wiirgt in Gegenwart der Arzte, Schwestem, Kranken, Besucher 
unbekiimmert weiter. Wird er festgehalten, versucht er mit den FiiBen zu stoBen. 
In der Zwischenzeit zeigt F. eine leidlich gute Stimmungslage, unterhalt sich auch, 
schreibt einen geordneten Lebenslauf, zeigt alier keinerlei Xeigung zur Beschafti- 
gung. Ausgesprochen querulalorische Ziige: hat unausgesetzt Wiinsche, belAstigt 
oft unnotig das Pflegepersonal und seine Umgebung. Schreibt einen querulatori- 
schen Brief an die Eltern, indem er sich absprechend fiber die Behandlung auBert 
und meint, daB er durch „diese Qualerei hier“ langsam zugrunde gehe. Macht 
weichlichen, verwohnten Eindruck. Ihm aufgetragene kleine Arbeiten fiihrt er 
nicht aus, wiirgt immer wieder, waseht sich nicht, ist kaum zuin Zahneputzen zu 
bringen, iBt auBerordentlich langsam, kommt infolge des Wiirgens zeitweise gar 
nicht dazu und muB gefiittert werden. Liest zuweilen in einem Buch, aber nur 
kleine Absatze. LAuft oft zum Klosett, anscheinend um ungestdrt wiirgen zu kon- 
nen, hockt sich dort auf den FuBboden und wiirgt, ebenso in Gegenwart seines Be- 
suches. Beobachtet seine Umgebung zieinlich genau. Schlaft auf Schlafmittel leid¬ 
lich, um gleich nachher wieder zu wiirgen. Temperatur am 9. II. abends 37,5, 
sonst kein Fieber. Puls meist 80 bis 108. ■— 10. II. Geht in leicht gebeugter Hal- 
tung, laBt sich beim Hinsetzen auf den Stuhl fallen, ohne irgendwelche Mitbe- 
wegungen. oiler sinkt beim Essen hintenuber, wobei die gebeugten Arme eine Zeit- 
lang in der Luft schweben bleiben. Sitzt oft regungslos da. Macht auch heute 


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wahrend der Exploration im Sonderzimmer Wiirgeversuche. Warum er es tue, 
wisse er nicht, es geschehe mechanisch, instinktiv. — Gfthnt oft. Statt zu ant- 
worten, wiirgt er sich oft. Bestreitet Suicidneigung. Beiderseits leichte Ptosis, 
Augenlider sinken nach litngerer Unterhaltung inuner mehr kerunter, Bulbi er- 
reichen nach oben und seitwarts nicht ganz die Endstellung, deutlicher Nystagmus 
naeh oben und seitwarts. Lebloses Gesicht, wenig Mimik. Im linken Arm und 
Bein bei passiven Bewegungen zuerst leichter Widerstand, dann nicht mehr. Arm- 
contractur wie vorher. Keine Adiadochokinesis, Tremor der ausgestreckten 
Hande, hnks starker als rechts. Kopf meist hinteniiber. Beim Stehen Neigung 
zum Riickwartstreten. Arme pendeln nicht. Schrift zitterig, schwer leserlich. 
fSchlaft ohne Schlafmittel wenig, wiirgt auch nachts. Bei Ableukung durch Unter¬ 
haltung hort es kurze Zeit auf. — Nystagmus abends weniger deutlich. Rechts 
Andeutung von Babinski. Am 12. und 15. II. wieder leichte Temperatursteige- 
rungen (37,7 und 37,5). Wiirgt nachts stehend oder sitzend. Stohnt und schnauft 
dartach derart, daB er storend wird. Tags iiber sehr miide. — Weiterhin bestand 
der gleiche Zustand bei F. mit Schwankungen bis in den Herbst 1922 hinein fort. 
Bessere Zeiten, in denen er weniger wiirgte, frischer. regsamer, lebhafter schien. 
mehr Interesse an der Umgebung, etwas mehr Impulse und Antrieb zeigte, wech- 
selten mit solchen starkeren und intensiveren Wiirgens. ausgesprochenerer Apathie 
und zuweilen einer geradezu auffallenden Dosigkeit und Miidigkeit, die sich in 
seinem Benehmen und Gesichtsausdruck auspr&gte, einer ausgesprochenen Willens- 
schlaffheit ab. In Zeiten, in denen er weniger wiirgte, traten die tachypnoischen 
Anfalle starker und hiiufiger hervor. F. erklarte einmal direkt, er miisse so atnien 
oder eben wiirgen. In den Stadien heftigeren und haufigeren Wiirgens steigerte er 
sich formlich in eine Art Wiirgekstase hinein, licli sich dann dabei durch niemand 
storen, wiirgte auch in Gegenwart seiner Besuche, beachtete die Neckereien seiner 
Mitpatienten nicht. Versuche, ihn daran zu hindern, miBgliickten nach wie vor. 
F. schalt dann und stieB die betreffende Schwester mit den FiiBen. Dauerbader, 
Packungen, Schienenverbiinde um die Arme batten keinen nachhaltigen Erfolg, 
nach Abnahme letzterer wiirgte F. in verstarktem MaBe. Das Wiirgen wurde zeit- 
weilig so stark und hiiufig, daB ihm danach die Zunge aus dem Munde hing und 
er starke SchweiBausbriiche bekam. Im Mai, wiihrend einer besseren Zeit, gelingt 
es, ihn dazu zu bewegen, das Wiirgen weniger hiiufig vorzunehmen und die Hiiufig- 
keit desselben selbst durch Ziihlen zu kontrollieren: kommt dann von 90 auf 25 
Wiirgeversuche pro Tag herunter. SchlieBlich aber steigert sich die Hiiufigkeit 
und Intensitat des Wiirgens nach kurzer Zeit wieder und es stellt sich heraus, daB 
F. offenbar, um die Ziihlung der Wiirgeversuche teilweise zu umgehen, in der Weise 
wiirgt, daB er den Hals gegen die Bettkante driickt. Gibt auf Befragen imrner 
wieder an, daB die Empfindung beim Wiirgen ganz anders als bei einer sexuellen 
Erregung sei. Es koinme ,,instinktnuifiig aim dem U nterbeumfitsein so iiber ihn". 
Der schonste Augenblick dabei sei der, kurz bevor er wieder loslasse. Es sei wolil 
eine Art Selbst befriedigung. aber anders als das Onanieren. Einmal gab F. an, 
daB ihm bei dem Wiirgen allerhand „einfalle“, ein andermal, daB er bei dem 
Wiirgen Gestalten sehe und iStimmen bore, besonders wenn er den Hals gegen die 
Bettkante driicke, z. B. seinen Namen rufen bore. Worte, die man friiher zu ihm 
gesprochen habe, aber auch neue, die er noch nie gehort habe. Er sehe 
beim Wiirgen „wirre Gestalten", „Schulbanke mit Kindern" u. a. Die Finger 
sind durch das dauernde Wiirgen teilweise deformiert; platt gedriickt. End- 
glieder zum Teil etwas dorsalflektiert. Haut am Halse dicht iiber den Scliliissel- 
beinen und unterhalb des Kehlkopfs gebriiunt und gerotet. Die Arme werden 
meist in Beugehaltung auf der Brust gelmlten, in Bereitschaft zum Wiirgen. 
Ein Brief seiner Angehorigen, der ihn wegen einer Absage zu Tranen riihrt, 
hindert ihn nicht, sofort darauf wieder zu wiirgen. — Zeigt im Anfang noch 


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Psychopathic u. chron. Encephalitis epidemics m. eigenart. Symptomatology. 435 


eine etwas querulatorische Einstellung, klagt viel iiber das Pflegepersonal, das gut 
fiir ihn sorgt. Im iibrigen keine wesentlichen Affektschwankungen, meist leicht 
apathisch, schlaff, willenlos, kann sich beim Lesen nicht konzentrieren. Auf- 
fassung, Gedankengang ungestort. Orientierung stets erhaltcn. Antwortet auf 
Fragen erst nach langerer Pause und Wiederholung derselben. Gereizt, emport, 
wenn man ihn am Wiirgen hindert, nachher aber doch auch dankbar. Wahrend 
der starkeren Wiirgeperioden vemachltissigt sich F. fiuBerlich, wascht sich wenig 
oder gar nicht, Mundumgebung meist mit Speiseresten verunreinigt. Erhalt 
wahrend einor starkeren Wiirgperiode am 18. III. abends eine Laudanon—Scopola- 
mininjektion. Fiihlt sich danach am 19. III. miide und abgespannt, wiirgt weiter 
viel, auch am 20. III., trotzdem er auch am 19. III. abends die gleiche Injektion er- 
halten hatte. Nachmittags plolzlich 20 Minuten anhaltender tonischer Krampf der 
Extremitdten und des Gesichts. Derselbe setzt langsain ein, wahrend F. sich unter- 
halt; erst tonischer Krampf der Finger und Hftnde mit Pfotchenstellung, dann 
2 Minuten lang auch tonischer Krampf der FiiBe und Beine, zuletzt auch des Ge- 
sichts. Mund wird in die Breite gezogen. Starkes Lidflattern, tiefe Blasse, zyano- 
tische Verfiirbung der Lippen. Kein BewuBtseinsverlust, Pupillenreaktion nach 
Angabe der Schwester etwas triige. F. versucht durch Anstemmen der Beine der 
Kriimpfe „Herr zu werden“. Nachher matt. Fangt, sobald er die Hande bewegen 
kann. gleich wieder an zu wiirgen. In den nachstenTagen wiirgt F. wieder sehr stark. 
Am 24. III. nachmittags tonischer Krampf der linken Hand von 7 Minuten Dauer. 
Vom 13. bis 24. IV. wieder abendliche Temperatursteigerungen von 37,4 und 37,5°C. 
Am 20. IV. klagte F. iiber eine Art Verfolgungsangst, glaubte von alien scheel an- 
gesehen zu werden, fiirchtete, daB sich alle auf ihn stiirzen werden, um ihn nach der 
unruhigen Station zu bringen und dort zu drangsalieren. (,.Es ist so eine Art Ver- 
folgungswahnsinn, an dem ich leide.“) LaBt sich dies aber schlieBUch ausreden 
und lacht dariiber. AuBert in der gleichen Zeit, daB er tief ungliicklich sei, wenn er 
an sein verpfuschtes Leben und sein Studium denke. Am liebsten erwiirge er sich. 
verliere aber dabei die Sinne und die Kraft, so lange zu wiirgen, bis er tot sei. Macht 
wahrend der Monate Juli imd August bis zum 29. VIII. eine Injektionskur mit Na¬ 
trium kakodvlicum in hohenDosen von 1,Obis 5g pro dosi (intravenos) und einer Ge- 
samtdosis von 42g durch. Am Ende der Kur von Ende August ab zeigt F. mehr Reg- 
samkeit, beschaftigt sich mit Reinigungsarbeiten, wird allmahlich frischer und 
froher, spielt Schach, Harmonium, wiirgt weniger. Zeigt statt dessen wieder aus- 
gesprochene tachypnoische Anfalle. Mehrere tiefe und beschleunigte Atemziige, 
die allmahlich abklingen, sind von einer fast apnoischen Pause gefolgt. Die Besse- 
rung, die starkere Aktivitat und Regsamkeit halten nocli bis etwa 20. IX. an, 
wahrend das Wiirgen schon wieder haufiger geworden ist. Ende September und 
Anfang Oktober wieder auBerst starkes und gehauftes Wiirgen, die Besserung des 
psychischen Verhaltens ist wieder vollig geschwunden, jegliche Willenskraft an- 
scheinend erloschen. Wiegt neuerdings nach jedern Wiirgeakt im Sitzen seinen 
Oberkorper einige Male hin und her, beleckt mit der Zunge mehrere Male die Lippen. 
31. X. Chvostek schwach positiv, wird deutlicher nach mehreren tiefen Atem- 
ziigen. Kein Trousseau. Elektrische Erregbarkeit des Medianus: KSZ 2,0, ASZ 
4,.">, AOZ 3,0 M. A. 1. XI.: w ill im AnschluB an eine Priigelei mit einem andern 
Kranken wieder einen nicht beobachteten tonischen Krampf in Handen, FiiBen 
und Gesicht l>ekorumen haben. Solcher Krampf koinme hauptsachhch, nach- 
dem er lfingere Zeit tief geatmet ha be. Auch zu Haus habe er das hin und 
wieder gehabt, einmal so, daB er nicht sprechen konnte. Es sei aber erst nach 
dem Wiirgen aufgetreten. In letzter Zeit fallt auf, daB F. sich gelegentlich nach 
dem Wiirgen in die Genitalgegend greift oder mit den Oberschenkeln, die an 
den Leib gezogen werden, reibende Bewegungen macht. 4. XI.: Gibt heute nach 
einer ziemlich lange dauernden und ihn stark erregenden Exploration, bei der er in 


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seiner gewohnten Weise, aber anhaltender tief nnd beschleunigt geatmet hatte, 
plotzlich an, wieder einen Krampf zu haben: FiiBe leicht plantar flektiert, Zehen 
gebeugt. Finger halb gebeugt und gespreizt, Daumen opponiert. Passiv kann der 
Krampf gegen einigen Widerstand iiberwunden werden, aktiv nicht. Chvostek 
positiv, Trosseau angedeutet. Will aucli im Gesicht einen Krampf haben, objektiv 
nichts festzustellen. Der Krampf schwindet naeh wenigen Minuten bei ruhiger 
Atmung. — Wird vom 5. XI. ab bis Ende November, da bisher jede Therapie dem 
Wiirgen gegenuber versagt hat, 5mal hypnotmert. Kommt die ersten Male nicht, 
dann aber schnell in tiefen Schlaf, in dem suggestive Erzeugung von Katalepsie und 
andere Suggestionen gut gelingen. Auch eine posthypnotische Suggestion gelingt 
zuletzt prompt. Berichtet in der Hypnose auf Aufforderung den Grand fiir den 
ungliicklichen Ausgang der Liebesgeschichte (Abneigung des Madchens), iiber den 
(nicht in selbstmorderischer Absicht erfolgten) Sturz mit dem Rad ins Wasser, 
iiber den Grand des W T iirgens: Will wegen seines Onanierens Selbstmordgedanken 
bekommen haben, weshalb er versucht habe, sich zu erwiirgen, wobei das Lust- 
gefiihl aufgetreten sei. Es sei kein Ersatz fiir die Onanie. Fiihlt sich auf eut- 
sprechende Suggestionen nach dem Erwachen aus der Hypnose jedesmal besonders 
frei und leicht; die in der Hypnose vollig rahige und langsame Atmung wird naeh 
dem Erwachen wieder etwas tiefer und schneller. Wiirgt auf entsprechende Sug¬ 
gestion am Tag nach der Hypnose (Hypnose am Abend vorher) zunachst jedesmal 
erheblich weniger, nach der 3. und 4. Hypnose einen halben bis ganzen Tag gar nicht, 
dann aber immer wieder mehr. Wird aber sichtlich frischer, beschaftigt sich 
wieder etwas. Vom 21. bis 23. XI. fieberhafte Erkrankung, Magenschmerzen ohne 
objektiven Befund; Fieber bis 39,7 und 39,8°. Wiirgt am 22. und 23. XI. wahrend 
des Fiebers nicht! 27. XI.: Wiirgt weiter, aber im ganzen weniger, nachdem ihm 
auf sein dringendes Bitten eine 5. Hypnose in Aussicht gestellt ist unter der Voraus- 
setzung, daB er sich selbst mehr bemiihe, den Wiirgtrieb zu unterdriicken. Sehr 
langsam beim Aufstehen, Anziehen, Abschreiben. — Heute 5. Hypnose. Schlaft 
besonders tief. 1. XII.: Hat seit der letzten Hypnose nicht mehr gewiirgt! Erst 
heute wieder einige Male. 2. XII.: Auch heute wieder einige Male gewiirgt, worauf 
er sehr energisch zur Rede gestellt und ermahnt wird. 1st danach tief beschamt und 
wiirgt nicht mehr. 15. XII.: Hat das Wiirgen vollig unterlassen. Ist viel regsamer. 
interessierter, zeigt mehr Antriebe unter weiterer suggestiver Beeinflussung. Geht 
mehrfach mit Freunden aus. Hat bei einer Adventsfeier eine Ansprache gehalten. 
Beschfiftigt sich mit kleinen Weihnachtsarbeiten, Reinigungsarbeiten, Abschreiben, 
was aber alles noch recht langsam geht. Ist aber voriibergehend zum schnellern 
Handeln anzutreiben. Atmung immer leicht beschleunigt und vertieft, jedoch 
sind die tachypnoischen Anfalle etwas schwacher und seltener ge worden. Da bei 
wird jedesmal der Kopf hin und her gewiegt. Besucht die Privatstation, spielt 
Klavier und Harmonium. Hat immer noch etwas Kindlich-Naives in seinem Wesen. 
Macht geme Witze, was auch dem Brader auffallt. Jeglicher quernlatorische Zug 
ist geschwunden. Somalischer Befund: Haltung immer noch leicht gebeugt, 
Augenlider hangen nur wenig. Keine Pupillen-, Sehnen- und Hautreflexstorangen, 
Babinski und Oppenheimsches Phanomen bestchen nicht mehr, Arme in leichter 
Beugehaltung, pendeln beim Gehen nicht. Ganz geringe Rigiditat der Arme, An- 
deutung von Pseudokatalepsie. SpeichelfluB nicht mehr vorhanden. MaCige Be- 
wegungsarmut, Lidschlag selten. Etwas wenig Mimik. Gibt an, zuweilen 
unwillkiirlich lachen zu miissen. Mund leicht geoffnet, schiebt oft die Zunge 
zwischen die Zahne, Atmung 26 pro Minute, wird zeitweise plotzlich schneller und 
tiefer, dabei wird der Kopf im Takt der Atmung hin und her gewiegt. Nach 20 Knie- 
beugen keine Atmungsbeschleunigung. Zuweilen leichtes Ruckwartstreten. Chvo¬ 
stek angedeutet. Keine deutliche galvanische Cbererregbarkeit am Medianus melir. 

29. XII.: Ist Weihnachten einige Tage zu Hause gewesen. Hat nicht melir 


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Psychopathie u. chron. Encephalitis epidemica m. eigenart. Syniptomatologie. 437 


gewiirgt. Macht Plane fiir die Zukunft, will Kollegs horen. Die Frische, die Neigung, 
sich zu betatigen, hat angehalten. 

Gibt an: Habe noch nicht ganz die Willenskraft wie friiher wieder. Das kuBere 
sich in einer „Unentschlossenheit“ zur Arbeit. „Es ist so ein allgemeines Gefiihl, 
als wenn man nicht wiiBte, wo man hingehorte, ein Gefiihl der Unsicherheit im 
Auftreten.“ Es fehle ihm der „richtige VVille“ zur Arbeit. Er glaube, daB es besser 
werde, wenn er wieder ein richtiges Ziel vor sich habe. Wenn er etwas durch- 
gefiihrt habe, habe er auch eine normale innere Befriedigung davon. Er habe 
immer die Empfindung, er tue nicht genug. Er mochte das Gefiihl eine „innere 
Unruhe“ nennen; es sei, als wenn eine innere Stimme rufe: ,,mehr, mehr!“ (bild- 
lich gedacht). Andererseits sei er froh, wenn er eine Arbeit hinter sich habe. Der 
Antrieb sei da, die EntschluBfahigkeit, den Antrieb in die Tat umzusetzen, fehle. 
Der Antrieb und Impuls sei aber nicht so stark wie friiher, er brauche auch mehr 
Energie wie friiher zur Durchfiihrung einer Handlung. Eigentlich sei die Lust zur 
Arbeit oder vielmehr das Pflichtgefiihl groBer, die Auffassung von der Arbeit eine 
ernstere. Er sei iiberhaupt ernster als friiher geworden. Das Witzemachen sei nur 
auBerlich. Die Stimmung sei hoffnungsfreudig, oder besser bezeichne er sie als 
„getrost“. Dafiir, daB seine Stimmung gut sein konne, sei die Vergangenheit zu 
schwer. Das Interesse an manchem sei noch nicht so wie friiher, z. B. Interesse an 
Politik. Habe eigentlich nur fiir religiose Sachen Interesse; aber auch das Interesse 
fiir die Musik sei wieder wie friiher, nur die Fingerfertigkeit beim Klavierspiel habe 
gelitten. DenGlauben anGott habe er wiedergefunden. Auch die Zuneigung zu den 
Angehorigen sei wieder die alte. Empfinde es schwer, daB die Eltem etwas auf dem 
..absteigenden Ast“ seien. Das Denken gehe gut, konne sich auch konzentrieren, 
aber nicht so schnell wie friiher. Die Langsamkeit liege an der „Willenlosigkeit“. 
Er fiihle sich so ungeschickt und unbeholfen in den Bewegungen der Glieder. 
Miisse bei jeder Handlung einen neuen Schwung dahinter setzen; friiher ging es von 
selber. Miisse immer in bezug auf seine Person an das Sprichwort denken: „Ut 
flesint vires, tamen est laudanda voluntas 14 . Habe eine gewisse Befriedigung 
darin schon, daB er iiberhaupt wieder „wolle“. 

Friiher auf dem Hohepunkt der Krankheit sei er vollig gleichgiiltig gegen alles, 
auch gegen die Angehorigen gewesen, vollig willenlos. Es sei ihm jetzt alles „wie 
ein fremdes Land“, an die Heilanstaltszeit wisse er sich kaum noch zu erinnern. 
Alles liege wie in einern Schleier. Er habe damals gar keinen Antrieb gehabt. Er 
hatte aus Kummer iiber die Liebesgeschichte vollig mit dem Leben abgeschlossen. 
Darauf fiihre er seine damaligeGleichgiiltigkeit zuriick! Jeder Drang, loszukommen 
vom Wiirgen, etwas zu arbeiten usw. fehlte. Er meine, daB er erst durch die An- 
regung der Besuche hier, besonders seines Freundes wieder zu sich gekommen sei. 
DaB er seinen Eltem Kummer bereitete, eigentlich vollig vertierte, karu ihm erst 
allmahlich zum BewuBtsein. Ob er solche Oberlegung anfangs noch gehabt habe, 
wisse er nicht. Desgleichen wisse er nicht, daB er anfangs dauernd querulierte; er- 
innere sich nur, daB er sich in Ilten mit dem Pflegepersonal etwas herumge- 
schlagen habe. Bestreitet nochmals, daB er beim Wiirgen onaniert habe und daB 
die Erregung beim Wiirgen ahnlich einem Orgasmus war. Gelegentlich habe er 
auch einen anderen Kranken gebeten, ihn zu wiirgen; der machte es dann so stark, 
daB er bewmBtlos hinfiel. Das war noch angenehmer als sonst. Die Htiufung der 
Wiirgeversuche konne er sich nicht erklaren, es war ein „innerer Drang"! Das un- 
angenehme Gefiihl, die Unruhe habe er nicht durch das Wiirgen beseitigen wollen. 
Konne sich auch nicht erklaren, warum er bei Hindemissen imd wenn andere zu- 
sahen, stiirker wiirgte. „Ich war iiberhaupt etwas kindisch damals." 

Leberfunktionspriif ungen (in Gemeinschaft mit Dr. Hagemann) ergaben: Von 
11 Urobilinogenuntersuchungen desUrins ergaben 2am 12. und 14. IX. eine schwache, 
aber pathologische, eine am 19. IX eine ausgesprochene Vermehrung von Uro- 


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bilinogen. Von 11 Urobilinuntersuchungen 3 am 11., 12. und 15. IX. schwaehe 
Vermehrung des Urobilins. Bei Belastung mit 100 g Lftvulose am 20. und 29. XI. 
erfolgte keine Zuckerausscheidung, dagegen war die Trommersche Probe bei Be¬ 
lastung mit 30 g Galaktose am 24. XI. nach 2 Stunden positiv, ebenso am 27. XI. 
nach 2 und 3 Stunden (0,11% Zucker), Widalsche Probe am 28. XI.: auf 200 com 
Milch keine Blutdruckftnderung. Leukocytensturz nach 1 Stunde von 11000 aiu 
6900 (nach 20 Minuten geringe Steigerung auf 11800). Aminosaurenwerte bei 
fleischfreier Diat am 4. XII 0,026%, 5. XII. 0,0196%, 8. XII. 0,029%. (In der 
med. Klinik bestimmt.) 

Zusammenjassung: 20jdhriger, weicher, empfindsamer, unbeherrschier , 
etwas willemschivacher, aber gut begabter Psychopath mit etwas jemininctn 
Einschlag ini psychischen und kdrperlichen Habitus, zarter Korper- 
konstitution, starkem Sexualtrieb, aus einer besonders von der mutterlichen 
Seite her deutlich degenerierten Familie stammend, erkrankt kurz nach 
Ablegung des Abiturs mit IS]/ 2 Jahren an einer langdauernden „Grippe‘ t 
mit leicht katarrhalischen Erscheinungen und gewissen nervosen Sym - 
ptomen. 1m Anschlufi daran allmahliche Entwicklung eines nicht sehr 
hochgradigen akinetisch-hypertonischen Syndroms mit Bewegungsarmut 
und Bewegungsverlangsamung , geringer Armrigiditdt, Haltungsanomalien r 
Atemstdrungen in Form tachypnoischer Anfatte, Schlajstorungen und 
psychischen Anomalien, nach Vorausgehen eines durch Willensschwdchr y 
Apathie, Initiativemangel, Schlafverschiebung und aUmdhliche Entwick¬ 
lung der Atemstdrungen gekennzeichnelen Zwischenstadiiwis, wahrend 
gleichzeitig eine ungluckliche Liebesaffare sehr deprimierend auf den 
Kranken einwirkt. Infolge dieser Selbstmordgedanken und nach iy 2 jdhri- 
gem Bestehen des Leulens Versuch, sich zu erumrgen. Bernerkt dabei ein 
Lustgefiihl, darauf sehr haufige triebhafte Wiederholung der Wurgeversuche, 
bei denen eine Art Orgasmus entsteht und bei deren Ausfiihrung able inneren 
und dufieren Hemmungen riicksichtslos durchbrochen werden. Versagen 
aller therapeutischen Mafinahmen. Gleichzeitig teils querulatorisch-nbrglc- 
risches, spater mehr apathisches, willenloses, oft Idppisch-infantiles I'er- 
halten, voriibergehend kurze reaktive Depressionen, vollige Selbstvenwch- 
Ibssigung, aufier der pathologischen Triebhandlung Mangel jedes sonstigen 
Antriebs. Wurgeversuche werden mit wechselnder Intensitat und Haufig- 
keit iiber ein Jahr lang fortgesetzt, alternieren etwas mit den Atemstdrungen. 
Einige Male ausgesprochene tetanische Anfalle. Nach iiber einjdhrigem- 
Bestehen des Wurgetriebs gelingt es, diesen durch mchrfache Hypnosen zu 
beseitigen und die psychischen Stdrungen zu bessern. Leichte Zeichen der 
Amyostase bestehen weiter. 

Der vorliegende Fall zeigt eine Fiille hochst eigenartiger zum Teil 
absonderlicher und seltener Symptome auf somatischem und psychi- 
scheni Gebict, die eine ausfuhrliche Mitteilung und Besprechung be- 
rechtigt erscheinen lassen. Bei der Analyse des Falles werden die ver- 
schiedenen am Aufbau des Krankheitsbildes beteiligten Syndrome fest- 


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Psychopathie u. chron. Encephalitis epidemica m. eigenart. Symptomatologie. 439 

zustellen und herauszuheben sein, um einen klaren Einblick in die 
Genese des Falles, in die Bedeutung dieser Syndrome fur die allgemeine 
Pathologie zu erhalten. 

Zunachst ziehen vier Merkmale unsere Aufmerksamkeit auf sich: 

1. Die pramorbide psychopathische Konstitution und das Sexualleben 
des Kranken, 

2. das encephalitisch-amyostatische Syndrom, 

3. die eigenartigen mit der psychopathischen Konstitution einerseits, 
mit der Encephalitis epidemica andererseits in Zusammenhang 
stehenden, besonders durch die unausgesetzte Wiederholung einer 
scheinbar sinnlosen Triebhandlung ausgezeichneten psychischen 
Storungen, 

4. die echt tetanischen Anfalle. 

Die psychopathische Konstitution des F. pragt sich in dem empfind- 
samen, weichen Gemiit, in dem etwas willensschwachenVerhalten sowie 
madchenhaft-femininen Wesen aus, welch letzeres, wie auch der Bruder 
angab, wahrend der Krankheit noch starker wurde und z. B. unter 
anderem in der auffallenden Neigung zu einem sonst in der Familie nicht 
iiblichen haufigen Kiissen seiner Angehorigen und Bekannten hervor- 
trat. Die psychopathische Konstitution zeigt sich ferner in der Un- 
beherrschtheit der Affekte und Triebe (MaB- und Hemmungslosigkeit 
wahrend der ungliicklichen Liebesaffare, Verfiihrung durch ein Dienst- 
madchen zum sexuellen Verkehr, durch einen Freund zur Onanie, die 
bisher ohne Unterbrechung etwa 6 Jahre fortgesetzt wird), in einer er- 
hebUchen Reizbarkeit, in einer gewissen seelischen Unreife und Infan- 
tilitat, die allerdings besonders nach der Encephalitis zutage trat und 
zum Teil ein Produkt dieser sein diirfte. Eine zarte Korperkonstitution 
sowie exogene Einwirkungen: eine fehlerhafte Erziehung und Ver- 
hatschelung scheinen die psychopathischen Ziige noch gesteigert zu 
haben. Dabei ist die intellektuelle Entwicklung eine durchaus gute ge- 
gewesen, so daB F. glatt die Schulen absolvieren und die Reifepriifung 
rechtzeitig ablegen konnte. Eine leidlich gute Begabung zeigte er auch 
auf musikalischem Gebiet. Die als Merkmal der schizoiden Anlage viel- 
fach angefiihrte Ungeselligkcit fehlte hier; F. betatigte sich sogar als 
Leiter eines Schiilervereins. Allerdings gab er selbst an, trotz viel 
Freundschaften gem eigene Wege gegangen zu sein. Eine autistische 
AbschlieBung von der AuBenwelt kairn daraus aber nicht entnommen 
werden. Eine von F. selbst zugegebene Neigung zum Eigensinn und 
zur Selbstiiberhebung, eine etwas egozentrische Einstellung vervollstan- 
digen das Bild seiner pramorbiden Personlichkeit. Hinzukommt schlieB- 
lich noch die Entwicklung einer gewissen Nervositat in relativ friihem 
Alter wahrend des letzten Schuljahres. Was speziell sein Sexualleben 
betrifft, so wird man selbstverstandlich die friihzeitige Verfiihrung zur 


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Onanieund zum sexuellen Verkehvallein nicht ohne weiteres als Ausdruck 
einer pathologisch zu bewertenden Unbeherrschtheit und Willens- 
schwache ansehen konnen; zusammen aber mit den anderen Charakter- 
eigenarten und auch im Hinblick auf die spater zutage tretenden psy- 
chischen Krankheitserscheinungen ist dieser Unbeherrschtheit des 
Sexualtriebes eine gewisse pathologische und pathogenetische Bedeu- 
tung zweifellos nicht abzusprechen. 

In der Aszendenz F.s finden sich nun einige zweifellos pathologische 
Typen und zwar speziell auf der mutterlichen Seite: Der GroBvater F.s 
und dessen Bruder waren eigenartige, weltfremde, pedantische, z. T. 
angstliche und unentschlossene Naturen, 2 Cousinen miitterlicherseits 
geisteskrank (genauereFeststellung leider nicht moglich 1 )) und dieMutter 
selbst ebenfalls eine absonderliche, pedantische, schiichterne in der 
Stimmung schnell wechselnde Frau. Bei den erwahnten Personen treten 
also deutlich Ziige zutage, die neuerdings als ,,schizoide“ bezeichnet 
werden. Auch die vaierliche Erblinie ist nicht ganz frei von pathologischen 
Ziigen. Der GroBvater war eine abnorm ,,harte“, strenge Natur, der 
Vater, ein offenbar hochintelligenter Mensch, zeigt im Alter eine senile 
(bzw. arteriosklerotische) Demenz, seine Schwester ebenfalls im Alter 
einige Eigenarten, die sie zum Sonderling stempeln. Es tritt hier also 
besonders eine Neigung zu Alterserkrankungen des Nervensystems 
zutage, bzw. eineNeigung, im Alter psychisch zu versagen. Diese patho¬ 
logischen Ziige in der Aszendenz haben sich nun bei den Geschwistem 
F.s in mannigfacher und ziemlich schwerer Weise ausgewirkt: Die 
alteste Schwester litt von Kind auf an ,,nervosem“ Asthma, zeigte nach 
deneigenen Worten des Bruders ,,hysterische“ Ziige und in beinahe noch 
starkerem MaBe als unser Kranker eine auffallende Unbeherrschtheit 
auf erotischem Gebiet, litt im 30. Jahr an einer Art ,,Liebeswahn“, 
machte dem von ihr Geliebten eine Liebeserkliirung in der trotz aller 
gegenteiligen Anzeichen festgehaltenen Meinung, auch von ihm geliebt 
zu sein, so daB eine zeitweilige Unterbringung in eine Heilanstalt not- 
wendig wurde. Diese Schwester hat mit dem Kranken auBer der Un¬ 
beherrschtheit des sexuellen Triebes offenbar auch das Uberschwanglich- 
Empfindsame gemeinsam. Leider konnte sie nicht untersucht werden. 
Nach der freundlichst zur Verfiigung gestellten Krankengeschichte der 
Heilanstalt Ilten kann es sich aber bei ihrer psychotischen Erkrankung 
um etwas der ,,erotischen Wahnbildung sexuell unbefriedigter weiblicher 
Wesen“ Analoges gehandelt haben, wie sie Kehrer jiingst eingehend 
analysiert hat, also um das ,,Ergebnis eines ungliicklichen inneren 
Kampfes, den nach Anlage und Entwicklung von Charakter und Tem- 

*) Anmerkung bei der Korrektur: Nach nachtraglicher Mitteilung soli die eine 
infolge einer .,Genickstarre“ in der Kindheit schwachsinnig sein, die andere sich 
wegen einer vom 20. Jahr ab entwickelnden Schizophrenic in einer An-stalt befinden! 


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Psychopathic u. chron. Encephalitis epidemica m. eigenart. Symptomatologie. 441 


perament abnorme Personlichkeiten mit dem einschneidendsten Lebens- 
konflikt der Sexualitat fiihrten“ (Kehrer). Ein Bruder unseres Kranken 
konnte ebenfalls mit den Anforderungen, die das Leben an ihn stellte, 
nicht fertig werden und brach vor einem Examen ,,nervos“ zusammen, 
obwohl bei seiner spateren todlichen Verwundung und auf seinem 
Sterbelager jener ebenfalls in der Aszendenz zu findende ,,hartere“ und 
standhafte Zug vorgeherrscht haben soil. Ein zweiter Bruder starb an- 
geblich im Felde an ,,Genickstarre‘', iiber die sich nichts Genaueres fest- 
stellen lieB, und ein dritter Bruder zeigt eine eigenartig manierierte 
Sprech- und Ausdrucksweise, ein etwas geschraubtes Gebaren, macht., 
soweit Schliisse aus einigen Unterhaltungen mit ihm iiberhaupt gezogen 
werden konnen, gerade im Hinblick auf diese Manieren einen schizoiden 
Eindruck, obwohl sich eine autistische Komponente nicht feststellen 
lieB und ein offenes, heiteres Temperament bei ihm vorzuliegen scheint. 
Die Korperkonstitution dieses Bruders und auch unseres Kranken ist 
bei kleiner Statur eine auffallend schwachlich-asthenische, die Haut- 
farbe eine madchenhaft blasse und zarte. Bei letzterem fallt auBerdem 
der etwas feminine Habitus, der feminine Typus der Pubes auf. 

In der Aszendenz und indenverwandtschaftlichenSeitenlinien unseres 
Kranken finden sich also sowohl schizoid anmutende Ziige, vereinzelte 
Fiille von nicht naher bestimmterGeisteskrankheit, wie auch bei manchen 
Verwandten eine Neigung zu senilen und prasenilen Erkrankungen des 
Nervensystems, daneben aber auch Typen, die der Schilderung nach den 
Eindruck tatkraftiger Wirklichkeitsmenschen er wee ken. t)ber die 
2 Fiille von Erblindung in der nriitterlichen und viiterlichen Erblinie 
lieB sich Genaueres nicht feststellen, weswegen irgendwelche Schliisse 
aus ihnen nicht zu ziehen sind. — Will man die psychopathische Kon- 
stitution F.s irgendwie klassifizieren, so wird man zugeben konnen, daB 
sie in manchen Ziigen dem schizoiden Typus Bleuler-Kretschmer-Hoff¬ 
manns am niichsten steht, in anderen aber von ihnen abweicht. Speziell 
das Empfindsam-Sentimentale, das t)berempfindliche und Reizbare, 
Eigensinnige diirften die psychische Personlichkeit F.s diesem Typus 
niihem, auch manche Symptome aus dem spateren Krankheitsbilde, 
und schlieBlich die erwahntenTypen aus der Verwandtschaft F.s konnten 
in diesem Sinne verwertet werden, aber anderc Ziige F.s, das Fehlen 
einer ausgesprochenen autistischen Einstellung. die Neigung zu Ge- 
selligkeit, das, so weit feststellbar, offene heitere Temperament passen 
nicht ganz zum Bilde des Schizoiden. Noch weniger finden sich die von 
Kraepelin als praschizophren angegebenen Ziige (Lenksamkeit, Gut- 
miitigkeit, angstliche Gewissenhaftigkeit und FleiB, Muster von Brav- 
heit oder stilles, scheues, zuriickgezogenes Wesen, AbschluB gegen 
andere usw.) bei F. Die Einordnung des Falles in ein bestimmtes 
Schema begegnet also gewissen Schwierigkeiten. die wohl aus dem Zu- 

Archiv {Or Psychiatric. Bd. 68. 29 


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sammentreffen und der Mischung versehiedenster aus der Aszendenz 
auf F. iiberkommener psychischer Eigenarten erklart werden konnen. 
Es wird also kritischer sein, die Einordnung in eins der Schemata zu 
vermeiden und sich mit der Hervorhebung jener Hauptcharakterziige 
und psychopathischen Anomalien zu begniigen. 

Nach einer gewissermaBen vorbereitenden Entwicklung einer Ner- 
vositat ,,infolge geringer t)berarbeitung"‘ erkrankt F. nun mit 18% 
Jahren fieberhaft mit den Erscheinungen einer leicht katarrhalischen 
Grippe, als die die Erkrankung auch nach personlicher Mitteilung des 
Arztes von diesem angesehen worden ist. Auffallend ist nur die lange 
Dauer dieser Erkrankung, die sich iiber ca. 4 Wochen hinzog, sowie das 
Hervortreten ,,nervoser“ Symptome wie Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, 
raotorisclier Unruhe und voriibergehend einer gewissen Erschwerung 
des Urinlassens. Obwohl sich objektiv nach dem Bericht des Arztes 
keine Erscheinungen einer Encephalitis feststellen lieBen, so sprechen 
doch die erwahnten Beschwerden und Symptome und besonders auch 
die nach AbschluB der fieberhaften Krankheit in Erscheinung tretenden 
Symptome fiir die schleichende Entwicklung einer Encephalitis epidemica, 
deren Symptome sich nun iveiterhin in eigenartiger Weise mit jenen der 
urspriinglichen psychopathischen Anlage mischen. Aber es kommt nicht 
nur zu einer Mischung alter psychopathischer und organisch bedingter 
neuer Symptome, sondem auch zur reaktiven Steigerung vorhandener 
und reaktiven Erzeugung neuer psychischer Symptome durch die Ge- 
hirnerkrankung. — Auf psychomotorischem Gebiet -wall der Bruder F.s 
sehr bald nach Abklingen der ,,gripposen“ Erkrankung einen ,,starren“ 
Blick, eine Unbeweglichkeit des Gesichts und dauerndes Offenhalten des 
Mundes bemerkt haben, Symptome, die zweifellos schon auf die sich 
entwickelnde Amyostase hinweisen, deren zeitliche Entstehung aber 
nicht ganz gewiB ist. Sicher haben dagegen im AnschluB an die fieber- 
hafte Erkrankung andere Symptome, eine Schlaflosigkeit mit der bei der 
Encephalitis epidemica so oft beschriebenen Schlafverschiebung, eine 
reizbare Schwache, eine zunehmende Apathie, Interesselosigkeit und 
Willensschwache weiterbestanden, die ein regelrechtes Studium auf der 
Universitat unmoglich machten. Da gleichzeitig die ungliickliche 
Liebesaffare spielte, iiber die F. nicht hinwegkommen konnte, ist es 
zunachst schwer zu sagen, ob es sich bei diesen Symptomen zum Teil 
etwa um rein psychogen-reaktive Erscheinungen und nicht um encepha- 
litisch bedingte Symptome handelt. Die ,,Schlafverschiebung", die 
geradezu typisch geschildert wurde, die baldige Entwicklung sicherer 
amyostatischer Symptome machen letzteres aber zum mindesten fiir 
einen Teil der Symptome ganz unwahrseheinlich. Als erstes dieser 
weiteren ,,organischen“ Symptome tritt nun eine Atemstdrung zutage, 
nach der einen Version schon sehr bald nach der fieberhaften Erkran- 


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Psychopathic u. chron. Encephalitis epidemica m. eigenart. Symptomatology. 443 

kung in Form eines beschleunigten und oberflachlichen Atoms, einer Art 
,,Atemnot“, nach einer anderen Angabe (des Kranken selbst) erst ca. 

1 Jahr nach der ,,Grippe” in Form von ,,Atemkrampfen“ mit anfallweise, 
sich jeweils ziemlich schnell entwickelnder und nach kurzer Zeit wieder 
abklingender Beschleunigung und Vertiefung der Atmung. Es handelt 
sich hierbei keineswegs um rein psychogen, sondern um organisch be- 
dingte Storungen, die bei der Encephalitis epidemica in den letzten 

2 Jahren mehrfach beschrieben sind, und zwar besonders bei den parkin- 
sonartigen Folgezustanden. Ich. sah bei vielen derartigen Fallen ab und 
zu bei sonst oberflachlicher Atmung plotzlich eine tiefe seufzende In¬ 
spiration eintreten, Krambach und Hamel beobachteten dasselbe etwa 
alle Minuten in einem gleichen Fall. Happ und Mason sahen bei 6 der¬ 
artigen Fallen auch im akuten Stadium der Encephalitis Hyper- oder 
Polypnoe, die mit Kohlensaureverminderung des Blutes einherging und 
als Folge einer Storung der zentralen Atemregulation aufgefaBt wurde, 
da sie durch Bicarbonatzufuhr nicht zu bessern war und daher nicht 
acidotischer Natur sein konnte. F. Stern beobachtete die Hyperpnoe 
ebenfalls bei Amyostase als Dauersymptom oder in Form von Anfalien, 
ebenso wie Kehrer, der ,,Atmungskrampfe“ mit 10 bis 20 vertieften und 
beschleunigten Respirationen sah. Weitere Mitteilungen iiber Atern- 
storungen und besonders Polypnoe liegen von Marie, Binet und Levy, 
Vincent und Bernard, Francioni, Higier vor. In all diesen Fallen war die 
Atemstorung zwar genau wie in meinem Fall psychogen beeinfluBbar, 
durch Erregung zu steigern, durch Ablenkung voriibergehend zu mil- 
dem und fehlte vielfach im Schlaf, trotzdem war und ist in Gberein- 
stimmung mit Stern das Symptom nicht als funktionell-nervoses, 
sondern als organisch bedingtes aufzufassen. Das jetzt so oft beschrie- 
bene Vorkommen bei den akuten und chronischen Zustanden der Ence¬ 
phalitis epidemica spricht unbedingt dafiir. In meinem Fall, in dem es 
auch im hypnotischen Schlaf fehlte und durch Hypnose dauernd etwas 
gemildert wurde, ist es auch heute noch nicht ganz geschwunden, 
obwohl andere Symptome, allerdings rein psychischer Natur, durch 
hypnotische Behandlung beseitigt werden koimten. Ob die plau¬ 
sible Erklarung Stern*, daB es sich um eine supranuclare Enthemmung 
des bulbaren Atemmechanismus handelt, zutrifft, sei im Hinblick auf 
den Mangel genauerer Kenntnisse iiber den nervosen Atemmechanismus 
dahingestellt. Die Storung ist jedenfalls trotz der starken psychogenen 
BeeinfluBbarkeit auch in meinem Fall durch die chronisch-encephaliti- 
schen Prozesse erzeugt: darauf deutet schon der Zusammenhang mit den 
iibrigen akinetisch-hypertonischen Symptomen hin. Verbunden war die 
Atemstorung spater mit eigenartigen seitlichen Neigebewegungen des 
Rumpfes, einem Belecken der Lippen, dann mit einer Art Hin- und Her- 
wiegen des Kopfes, das wahrend der polypnoischen Anfalle in Er- 

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scheinung trat. Es ist sehr wahrscheinlich, daB diese Symptome zu- 
sammen rait der Atemstorung einer primitiven Form der dyspnoisch- 
dysmimischen Anfalle Stern s entspricht, die dieser bei der Amyostase 
beobachtete und die er als ,,eine Aufpfropfung psychischer Fixierungen 
auf die rein neurogenen Storungen“ deutet. Bemerkenswert und wohl 
in die Gruppe dieser Stdrungen gehorig ist das bis in die letzte Zeit 
hinein zu beobachtende hdufige Gdhnen des Kranken, das von Sicard 
und Paraf in manchen oculo-lethargischen Fallen der Encephalitis an- 
fallsweise und sogar mit Kieferluxation beobachtet ist, in meinem Fall 
schon bei ganz leichter Ermiidung, z. B. wahrend der Exploration sehr 
bald und auffallend haufig auftrat. Offenbar handelt es sich hier um ein 
mit dem Atemmechanismus in enger Verkniipfung stehendesSymptom, 
dessen gegeniiber der Norm erleichterte Auslosbarkeit auch wieder auf 
eine erhohte Bereitschaft, auf eine Enthemmung hinweist. Das Symptom 
besteht auch jetzt noch, obwohl eine erhohte Schlafneigung und Miidig- 
keit am Tage geschwunden sind. 

Das Bild der Amyostase hat sich nun offenbar schleichend weiter- 
entwickelt. Zu welchen Zeitpunkten die weiteren Storungen im einzel- 
nen aufgetreten sind, la (it sich nicht mehr feststellen. Da das akinetisch- 
hypertonische Syndrom iiberhaupt bis zu einem gewissen Grade abortiv 
blieb, ist es arztlicherseits offenbar nicht beachtet worden. Die deut- 
lichen Anzeichen desselben konnte ich erst nach der Aufnahme in die 
Klinik im Januar 1922, also 1 % Jahr nach der ,,gripposen“ Erkrankung. 
feststellen. Es fand sich damals ein leichtes Hangen der Augenlider, 
ganz geringe Blickschwaehe, die ich librigens zusammen mit Nystagmus 
bei voriibergehenden Verschlechterungen des amyostatischen Zustands- 
bildes in einigen anderen derartigen Fallen feststellen konnte, leichte 
Beugehaltung des Rumpfes und der Arme, Fehlen der automatischen 
Mitbewegungen, besonders in den Armen, allgemeine Starre der Haltung 
und eine gewisse Bewegungsarmut, ein Mangel an Mimik, zeitweilig 
Tremor der Hande bei intendierter Haltung, pseudokataleptische 
Haltung der Extremitaten, auch der nicht rigiden Beine, eine Neigung 
zum Riickwartsschwanken und -gehen beim Stehen, besonders nach 
einem leichten StoB gegen die Brust (Hyptostasie — v. Sarbo). Dagegen 
fehlte, wie ich das auch in anderen Fallen sah, eine starkere Rigiditat. 
Die anfangliche, spater schwindende Contractor im Ellenbogengelenk 
schien mir teils durch die Dauerbeugehaltung der Arme, teils vielleicht 
auch durch die stattgehabte Fesselung bedingt und schwand spater 
restlos. Danach lieli sich nur eine ganz geringe Rigiditat der Arm- 
muskulatur feststellen. Unklar bleibt die Natur der anfanglich nach dem 
Wiirgen auftretenden beiderseitigen Armlahmung bzw. Armparese, die 
sich bei der Aufnahme in die Anstalt K. als Lahmung der Oberarm- 
muskulatur herausstellte und fur funktionell gehalten wurde. Mangels 


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Psychopathie u. ehron. Encephalitis epidemica m. eigenart. Symptomatologie. 445 

einer genaueren Untersuchung liibt sich ihre Natur nachtriiglich nicht 
naher bestimmen, zu denken ware immerhin an eine leichte voriiber- 
gehende Plexusschadigung dureh das heftige Wiirgen. Die in solchen 
Fallen charakteristische Schlafverschiebung war noch im Anfang des 
Klinikaufenthalts, wenn keine Schlafmittel gegeben wurden, deutlich. 
Da der Schlaf ganz typisch statt nachts erst morgens einsetzte und dann 
einige Stunden dauerte, handelte es sich wohl nicht uni ein Wachhalten 
durch den dauernden Wurgedrang. Hervorgehoben sei schlieblich gleich 
hier das Ergebnis der von Herrn Kollegen Hagemann 1 ), zuin Teil von 
mir spater vorgenommenen Leberf unktiompriifung: gelegentliche patho- 
logische Urobilin- und Urobilinogenbefunde, Galaktosurie bei Be- 
lastung mit 30 g Galaktose, Leukozytensturz nach 200 g Mileh. geringe 
Vermehrung der Aminosaurenwerte im Urin. Sie erweckten den Ver- 
dacht auf Funktionsstorung der Leber. Auf eine Diskussion dieser im 
einzelnen nicht gleich bedeutungsvollen Resultate gehe ich hier nicht 
naher ein. Sie sollen an anderer Stelle erortert werden. Wir haben der- 
artige Funktionspriifungsergebnisse auch in anderen Fallen post- 
encephalitischer Amyostase erheben konnen. Leberfunktionsstbrungen 
fanden ferner F. Stern und Meyer-Biach in derartigen Fallen, auch weist 
ein histologisch untersuchter Fall von Westphal-Sioli mit autoptisch 
festgestellter Lebererkrankung, der dem Bild der Pseudosklerose ent- 
sprach, aber auch histologisch encephalitische Veriinderungen zeigte, 
auf enge Beziehungen zwischen Lebererkrankung und chronisch post- 
encephalitischer Amyostase hin. Die Phatogenese der Leberfunktions- 
storungen ist uns ebenso wie bei der YV r ilsonschen Krankheit noch ganz- 
lich unbekaimt. Wir wissen nicht einmal, welche von den 3 Moglich- 
keiten — primare Erkrankung des striaren Systems und sekundare der 
Leber oder umgekehrt oder beide gleichzeitig — vorliegt; jedenfalls 
weisen die, allerdings noch eingehender Nachpriifung bediirftigen, bis- 
herigen Ergebnisse darauf hin, da(3 es sich offenbar bei der Encephalitis 
epidemica bzw. ihren chronischen Formen nicht um eine auf bestimmte 
Hirnregionen beschrankte, sondern um eine allgemeinere Erkrankung 
handelt. Im Falle F. sind ferner auch gelegentlich bis in die letzte Zeit 
hinein beobac-htete leichte Temperatursteigerungen ohne sonstigen ob- 
jektiven Befund sowie ein starkerer Fieberanfall mit ,,Magenbeschwer- 
den“ im November 1922 ebenfalls ohne objektiven Befund sehr be- 
merkenswert und deuten vielleicht darauf hin, dab der encephalitische 
oder Leberprozeb noch nicht zum Stillstand gekommen ist. 

Charakteristisch fiir den encephalitisch-amyostatischen Symptomen- 
komplex waren bei F. schlieBlich auch die in gleicher Weise in zahl- 


*) Herm Dr. Hagemann spreche icli auch an dieser Stelle fiir die freund- 
liche Mitarbeit meinen besten Dank aus. 


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reichen anderen Fallen zu beobachtenden tage- oder stundenweisen 
Schwankungen des Zustandes , die sich durch eine voriibergehende Ver- 
schlechterung oder Besserung, durch eine voriibergehende Zunahme der 
Apathie, Willenlosigkeit und Schlaffheit, des Mangels an Antrieb, durch 
starkeres Hervortreten der Blickschwache und eventuell nystaktischer 
Zuckungen, sowie dann auch durch Zunahme der Wiirgeversuche be- 
merkbar raachte. Nach dem Symptomenbild. der Enturicklung des Leidens 
und dem writeren Verlauf kann trotz der teilweise nur abortiven Form der 
Symptome, der Geringfiigigkeit der Rigiditdt kein Zweifel bestehen, da/3 
sich bei dem psychopathischen F. im Anschlu/3 an eine grippeartige fieber- 
hafte Erkrankung mil einzelnen neurologischen Symptomen in dem an 
epidemischen Encephalitisfdllen so reichen Friihjahr 1920 ein hypokinetisch- 
amyostatisches Zustandsbild entwickelt hat. 

Ich komme zu dem dritten hier besonders eigenartigen Syndrom, 
den psychischen Storungen F.s Da fallt zunachst eine Gruppe solcher 
Stbrungen auf, die wir auch sonst an ausgesprocheneren akinetisch- 
hypertonischen Krankheitsbildern beobachten konnen, die sich als in 
ihrer Starke wechselnde Apathie und Teilnahmslosigkeit bzw. Schwer- 
erweckbarkeit des Affekts (Hauptmann), volliger Mangel an Interesse 
an den Vorgangen der AuBenwelt, als erheblicher Mangel an Antrieb 
und Spontaneitat, der es F. schlieBlich unmoglich machte, allein zu 
essen und die notwendigen Reinigungen vorzunehmen, ferner als Mangel 
an adaquater Einstellung zu der Schwere seines Zustandes bemerkbar 
machten, Symptome, die zeitweilig im Wechsel und im Gemisch mit 
einer querulatorischen Neigung und einem kindlich - naiven Gebaren, 
seltner mit fliichtigen depressiven Symptomen in Erscheinung traten, 
immer aber vorherrschten und meist dem Krankheitsbild allein die 
charakteristische Farbung gaben. Es handelte sich hier nicht um einen 
volligen Ausfall des Antriebs, sondern um ein Fehlen desselben nach den 
meisten Richtungen hin und Beschrankung auf ein bestimmtes Gebiet, 
gewissermaBen eine absolute Vereinseitigung desselben. Die noch vor- 
handenen Antriebsmoglichkeiten richteten sich nur noch auf die jeden 
Widerstand durchbrechende Durchfiihrung der triebhaften Wiirge- 
versuche. Zweifellos wurde der Eindruck des erheblichen Mangels bzw. 
Fehlens des Affekts und jeglichen Interesses zum Teil durch die Haufung 
der triebartigen Wiirgeversuche erheblicli verstarkt, speziell diese haben 
die vollige Gleichgiiltigkeit des Kranken gegen die einfachen Regeln des 
Anstandes und der Reinlichkeit zum Teil offenbar mit veranlaBt; da aber 
der Eindruck einer affektiven Storung schon vor dem Einsetzen der 
Wiirgeversuche bestanden hat, kann jene Gleichgiiltigkeit nicht oder 
nur zum geringern Teil auf diese zuriickgefiihrt werden. 

Hauptmann hat kiirzlich die den Eindruck von Antriebs- und Affekt- 
storungen erweckenden Symptome auf Grund von Selbstbeobachtungen 


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Psychopathic u. chron. Encephalitis epidemica m. eigenart. Symptomatologie. 447 

encephalitisch-amyostatischer Kranker eingehend analysiert und zwei 
Gmppen von Fallen unterschieden. Bei der einen soli sich am Willen, 
an Art und Starke der Antriebe gegen die Norm nichts geandert haben, 
dem Antrieb folgt aber nicht uumittelbar ein motorischer Effekt. Zum 
Zustandekommen desselben ist die Zufuhrung eines groBeren Quantums 
an Affekt, als normalerweise notig ware, ein Plus an Antrieb erforder- 
lieh. Die Stoning sitzt am psychomotorischen Apparat (Striatum- 
Pallidum). Bei der andem Gruppe soil das Affektleben selbst gestort 
sein, es herrscht eine allgemeine Gleichgiiltigkeit vor; ,,das Ausbleiben 
der Affektwelle, ihre Schwererweckbarkeit und ihr rasches Verschwin- 
den“ word von manchen Kranken als Willensstorung empfunden. Es 
liegt also ein echter Mangel an Antrieb vor. Das Substrat der Antriebs- 
storung ist im Thalamus zu suchen. — Der Fall F. wies nach Eintritt der 
Besserung Ende 1922 Storungen auf, die eher der ersten Hauptmann- 
schen Gruppe zuzurechnen waren. Das ergibt sich aus der Angabe des 
Kranken, daB der Antrieb da sei, aber die EntschluBfahigkeit, den An¬ 
trieb in die Tat, Handlung umzusetzen fehle, daB er bei der Handlung 
immer wieder einen neuen ,.Schwung“ dahinter setzen miisse, also ein 
Plus von Affekt offenbar zur Ausfiihrung notig ist. Andererseits betonte 
der Kranke aber auch wieder, daB der Antrieb doch nicht so stark sei 
wie friiher, daB auch das Interesse an manchen Dingen, fur die es friiher 
dagewesen, noch fehle. Ganz rein liegen also die Besonderheiten der 
ersten Hauptmannschen Gruppe nicht vor. Zum Teil mag das an der 
psychopathischen Eigenart der pramorbiden Personlichkeit F.s, an der 
besonderen Reaktion dieser auf die Krankheit liegen, zum Teil auch 
daran, daB F. vorher erheblich schwerere Storungen geboten hat, die 
sich mehr denen der 2. Hauptmannschen Gruppe nahern, namlich eine 
Schwererweckbarkeit des Affekts, einen volligen Mangel an Antrieb bzw. 
eine Beschrankung des Antriebs auf Ausfiihrung der aus dem Rahmen 
der gewohnlichen akinetischen Storungen herausfallenden Triebhand- 
lung. Bei der spateren Schilderung dieses Krankheitsstadiums betonte 
F. in Bestatigung der klinischen Beobachtungen seine vollige Gleich¬ 
giiltigkeit, Widens- und Antriebslosigkeit in jener Zeit, meinte aber, 
daB seine damalige Gleichgiiltigkeit von seinem Liebeskummer herriihre, 
der ihn veranlaBt hatte, vollig mit dem Leben abzuschlieBen. Nach dem 
ganzen Verhalten F.s und der langen Dauer dieses schweren Zustandes 
ist es aber unwahrscheinlich, daB dieser Grund die Hauptursache fiir 
den Antriebs- und Affektmangel waren, aber denkbar, daB reaktiv- 
psychopathische Ziige, wie besonders auch das einseitige Vorherrschen der 
Triebhandlung die vorhandene, auf der amyostatischen Erkrankung be- 
mhende Antriebsstorung verstarkten. Anderseits haben diese psycho- 
pathisch-reaktiven Ziige das Bild der Antriebsstbrungen auch verwischt 
und iiberdeckt, so daB sich dieses nicht so rein darstellt, wie in andern und 


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besonders den Hatiptmannaehen Fallen. — Fur die zweite Gruppe gil.it 
Hauptmann in seiner Analyse auch Denkstbrungen. Storungen der 
Merk- oder Reproduktionsfahigkeit als charakteristisch an. Da ist es 
nun bemerkensvvert, dad F. an die Ereignisse des schwersten Krank- 
heitsstadiums nur eine recht unvollkommene Erinnerung haben will. 
Auch hier wie in den Hauptmannachen Fallen scheint das Fehlen des 
Affekts beim Merkvorgang diesen Mangel an Einpragung bedingt zu 
haben. An eine Bewulitseinstrubung in jener Zeit glaube ich nicht, da 
Anzeichen derselben in diesem Krankheitsstadium und auch sonst nie 
vorhanden waren. Dabei ist naturlich wieder nicht auszuschlielien. dab 
die einseitige Einstellung der Aufmerksamkeit auf die Ausfiihrung der 
Triebhandlung diese Merkdefekte ebenfalls mit verursaclit hat. Sonstige 
Denkstorungen fehlten. 

Eine Zeitlang, besonders im Beginn des Wiirgens, bestanden wie er- 
wahnt im seltsamen Gemisch mit dem Antriebsmangel und der diirftigen 
Affektanregbarkeit weitere psychische Storungen: eine Neigung zum 
Norgeln, zum Querulieren, eine Unvertraglichkeit, die zu Streitereien 
und zu Priigeleien mit andern Kranken fiihrten, gemischt mit einem auf- 
fallend kindlich-naiven Gebaren. einer Neigung zu kindisch-lappischer 
Heiterkeit und zum Witzeln. die gelegentlich auch spater noch fest- 
gestellt werden konnte. Die querulatorischen Ziige w ie die infantilistische 
Farbung sind in dieser Auspriigung nach meinen Erfahrungen haupt- 
sacklich jugendlichen, seelisch noch nicht ausgereiften Kranken im Alter 
von etwa 14 bis 25 Jahren mit dem encephalitisch-akinetisch-hypertoni- 
schen Syndrom eigen. Stern sah allerdings eine gewisse Neigung zum 
Norgeln und eine gewisse Verdrossenheit auch bei alteren Kranken, 
a her doch offenbar nicht so ausgesprochen wie bei J ugendlichen und 
wohl ohne den infantilistischen Zug. Die Storungen erinnern entfernt 
an die bei Kindern nach Encephalitis epidemica mehrfach beobachteten 
schw r eren Charakterveranderungen und stellen offenbar eine leichte 
Form derselben dar. Im Gegensatz zu den Storungen im Kindesalter 
fehlte bei den Jugendlichen die jenen eigene erhebliche motorische Un- 
ruhe, nur ganz im Anfang ist sie bei F. eimual nachts aufgetreten. 
Die Querulierneigung und Streitsucht solcher jugendlicher Kranker 
ging zuwcilen soweit, dab sie voriibergehned auf die unruhige Abteilung 
verlegt werden muBten. Eine Charakterveranderung mit ausgesproche- 
nem Querulieren und Schimpfen ist im iibrigen als typisch fur die 
Pseudosklerose von C. Westphal u. a. beschrieben worden. Im Falle F. 
traten diese Ziige wie gesagt nur voriibergehend und hauptsachlich im 
Anfang des schweren Ivrankheitsstadiums hervor. DaB die Norgelsucht 
und querulatorische Einstellung nicht als eine psychopathische Re- 
aktion, nicht als AusfluB der Verwohnung und Verzartelung des F. im 
Elternhaus aufzufassen ist. wenigstens nicht allein,scheint mir aus ihrem 


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Psychopathie u. chron. Encephalitis epidemica m. eigenart. Syinptomatologie. 449 

fliichtigen Charakter und auch aus der Beobacktung der gleichen 
Symptome in andern solchen Fallen hervorzugehen, auch war ja F. 
wahrend dreier Studiensemester dem Elternhaus fern gewesen, wodurch 
sich wohl derartige Erziehungsfolgen einigermaBen ausgeglichen haben 
diirften. Die Querulierneigung setzt wohl, wie man annehmen kann, 
ein gewisses Unlustgefiihl alsGrundlage voraus, und dieses Unlustgefuhl 
hatte offenbar noch so viel Intensitat, daB F. zu den querulatorischen 
Klagen angetrieben wurde. Spater allerdings fehlte auch der Antrieb 
dazu, die Apathie und der Wurgetrieb verdrangten alles. — Aus der 
mangelhaften Affektanregbarkeit resultiert auch der erwahnte Mangel 
an adaquater Einstellung F.s zu seinem schweren Zustand, der sich 
spater allerdings zeitweilig auch als eine maBige Euphorie bemerkbar 
machte. Im allgemeinen nur voriibergehend und fliichtig trat einige 
Male eine Dysphorie zutage, in der F. dann sein Schicksal beklagte und 
von der Schwere desselben bedriickt schien. Nur bei der ersten Auf- 
nahme in die Anstalt war F. kurze Zeit etwas starker deprimiert und 
dabei auch angstlich und etwas gehemmt, vielleicht teils infolge seines 
Leidens, der Trennung von den Angchorigen und der Eindriicke in der 
Anstalt, teils infolge des Kampfes mit dem pathologischen Trieb. 
Diese depressiven Anwandlungen machten durchaus den Eindruck 
einer noch einigermaBen verstandlichen Reaktion auf die Schwere des 
Leidens und waren nicht etwa auf die encephalitische Erkrankung und 
anatomische Lasion an sich zuriickzufiihren. Bei der ersten Depression, 
ebenso wie bei der spater in der Klinik einmal beobachteten kurzen 
angstlichen, mit allerhand Befiirchtungen einhergehenden Verstimmung 
hat auch deutlich die psychopathische Grundlage das Bild gefarbt. 
Also iiberall eine Vermengung der charakteristischen Eigenarten des 
akinetLschen Krankheitsbildes mit den psychopathisch-reaktiven Sto- 
rungen. Das schlieBlich noch zu erwdhnende infantilistisch-naive und 
unmannliche Gebaren F.s weist darauf hin, daB die Weiterentwicklung 
der psychischen Gesamtpersonlichkeit F.s wie in anderen Fallen durch 
den chronisch-encephalitisch-amyostatischen ProzeB erheblich gestort, 
die Reifung bis zur volligen seelischen Mannbarkeit unterbrochen bzw. 
gehemmt worden ist, vielleicht auch eine gewisse Riickentwicklung 
stattgefunden hat. Man kann vermuten, daB hierbei auch gerade wieder 
die Storungen im Psychomotorium, die, sei es nun sekundaren oder pri- 
miiren Antriebs- und Affektstorungen mitgewirkt, die Vollentwicklung 
der Personlichkeit ungiinstig beeinfluBt haben. Zweifellos sind auch 
gerade dadurch die der pramorbiden Personlichkeit F.s anhaftenden 
Eigenarten, speziell die femininen Ziige scharfer hervorgetreten. 

Ich komme zu einem weiteren, und zwar dem eigenartigstenSymptom 
des ganzen Krankheitsbildes, den Wurgeversuchen. Sie sollen sich nach 
Angabe F.s an einen Selbstmordversuch durch Erwiirgen angeschlossen 


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haben, den er infolge seiner Depression nach Empfang eines groben 
Briefes der Mutter des von ihm geliebten Madchens, nach Angabe in der 
Hypnose infolge Depression iiber seine Onanie unternahm und durch 
den nun ein eigenartiges Lustgefiihl erzeugt wurde, das ihn zur Fort- 
setzung der Wiirgeversuche veranlaBte. AuBer der Sonderbarkeit und 
Eigenart dieses Lustgefiihls ist hierbei die Haufung und fast ununter- 
brochene Wiederholung der Wiirgeversuche, das Triebhafte bei diesen 
Versuchen bemerkenswert, das F. veranlaBte, sie unter Hintansetzung 
jeglichen Schicklichkeitsgefiihles in Gegenwart aller moglichen Per- 
sonen, sogar auf der StraBe, unter Durchbrechung jeglichen Wider- 
standes vorzunehmen. Es ist von groBem Interesse, die psychischen 
Wurzeln dieser Triebhandlung aufzudecken. Dabei ware zu betonen, 
daB sie nicht als echte primare Zwangshandlung aufgefaBt werden kann, 
da eine angstliche Spannung nicht vorhanden war und auch durch die 
Unterlassung dieser Handlung nicht entstand. wie es fur die Zwangs- 
handlungen charakteristisch ist. Auch kann diese Triebhandlung kein 
AnlaB sein, den Fall etwa wegen seiner psychischen Besonderheiten dem 
,,impulsiven Irresein“ Kraepelins zuzurechnen. Am ehesten ware er 
noch mit Riicksicht auf die Triebhandlung und die pramorbide psycho- 
pathische, ebenfalls schon durch Starke des Sexualtriebes ausgezeich- 
nete Konstitution Kraepelins Gruppe der Triebmenschen zuzuzahlen, 
wenn man eine Klassifizierung versuchen will. Die Frage der Schizo¬ 
phrenic wird spater erortert werden. 

Das bei den Wiirgeversuchen entstehende Lustgefiihl schilderte F. 
bei wiederholten Explorationen als ,,ein icollustiges Schunndelgefiihl“ , als 
,,die Empfindung eines Hohenrausches l ‘, ein Gejiihl, das ,,instinktmdfiig 
aus dem Unterbe.wufitsein ‘‘ iiber ihn komme. ,,Das Schwindelgefiihl 
brauche ich, ich muB es haben“, erklarte er. Der schbnste Augenblick 
sei der, kurz bevor er das Wiirgen unterbreche. In diesem Moment zeigte 
F. dann jedesmal eine Art orgiastischer Erregung. Die Atmung sistierte, 
die Augen waren halb geschlossen, der Kopf hinteniiber geneigt. Der 
Carotispuls schwand, um gleich darauf zusammen mit der tiefen schnau- 
fenden Atmung wiederzukehren. Es liegt der Gedanke nahe, daB es 
sich hier um eine echt sexuelle Erregung handelt, einer Art sexuelle 
Ersatzhandlung vorliegt. Es soil auf diese Frage erst weiter unten ein- 
gegangen werden. Zunachst kann nach den Angaben und dem Verhalten 
F.s als erwiesen angesehen werden, daB bei dem Wiirgen ein Lustgefiihl 
entstand. Das ist schon deshalb bemerkenswert, w'eil Stbrungen der 
Lust- und Unlustempfindungen in den akinetisch-hypertonischen Fallen 
in anderer Weise vorkommen; die vollig einseitige Betonung und 
Heraushebung dieses einen Lustgefiihls bei dem fast volligen Mangel an 
sonstigen Lust- und Unlustgefiihlen auf dem Hohepunkt der Erkrankung 
ist eine in solchen Fallen bisher nicht beobachtete Anomalie. Man wird 


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Psychopathic u. chron. Encephalitis epidemica m. eigenart. Symptomatology. 451 


sie deshalb nicht allein auf das Konto der encephalitisch-amyostatischen 
Erlcrankung setzen konnen, wohl aber annehmen miissen, daB diese Er- 
krankung mit ihrer wahrscheinliehen Storung der Lust- und Unlust- 
einpfindungen einen giinstigen Boden fur ihre Entstehung schuf. Auch 
noch andere Eigenarten der postencephalitischen Amyostasen haben 
vielleicht die Entwicklung des Wiirgedranges begiinstigt. Zuweilen tritt 
namlich eine Neigung zum zwangsmafUgen Denken und Handeln bei ihnen 
auf. Es sind aber nicht die der Zwangsneurose entsprechenden Zwangs- 
vorgange, da die erwahnte angstliche Spannung hier fehlt. AuBer 
eigenen Beobachtungen hat Leibbrand eine 44jahrige Frau mit eigen- 
artigen Zwangsantrieben beschrieben. Vereinzelt ist ein zwangsartiger 
Bewegungsdrang beobachtet, in dem ganz bestimmte, ziemhch kompli- 
zierte Handlungen immer wieder ausgefiihrt wurden (Bohme: bei En¬ 
cephalitis epidemica nicht amyostatischer Natur). Sehr schon tritt die 
Neigung zum zwangsma Bigen Denken und Handeln in der Selbstschilde- 
rung des Falles von Meyer-Gro/3 und Steiner hervor (zwangsmaBiger 
Zweifel und Befiirchtungen, zwangsmaBiges Pfeifen usw.). Ferner be- 
steht bei den amyostatischen Kranken zuweilen eine auffallende Neigung 
zu Iteraiionen] mehrere unserer amyostatischen Falle muBten eineZeit- 
lang unausgesetzt gehbrte Satze, Aufforderungen, Fragen usw. leise 
oder wenigstens in Gedanken wiederholen. Ahnliche Falle hat Hermann 
ganz neuerdings beschrieben. Stem sah. daB derartige Kranke infolge 
ihrer Neigung zu Iterationsstereotypien f)bungen, die ihnen vorgemacht 
waxen, stundenlang ganz automatisch fortsetzten. Es ware also mog- 
lich, daB F. infolge einer ihm innewohnenden Neigung zu zwangs¬ 
ma fiigen Iterationen das Wiirgen so unausgesetzt wiederholte bzw. das 
Lustgefiihl so unausgesetzt hervorzurufen suchte. DaB diese Neigung 
aber die eigentliche Ursache dafiir ist, ist nicht wahrscheinlich, viel- 
mehr hochstens denkbar, daB sie die unausgesetzten Wiederholungen 
erleichterte und iiberhaupt die amyostatischen Krankheitseigenarten 
gewissermaBen eine Bereitschaft geschaffen oder eine vorhandene 
Bereitschaft gesteigert haben, infolge deren die Entstehung einer 
solchen Triebhandlung, ihr Ablauf und ihre Wiederholungen begiin- 
stigt wurden. 

Es ware weiter zu eruieren, inwiefern die psychopathische Anlage bei 
Entstehung der Triebhandlung mitwirkte. Wie erwahnt, zeigte F. schon 
vor Ausbruch der organischen Gehirnerkrankung eine Unbeherrschtheit 
seiner Triebe und speziell des erotisch-sexuellen Triebes. Er wurde friih- 
zeitig zur mtxtuellen Onanie verfiihrt und konnte dann von der Selbst- 
onanie nicht wieder loskommen. In seiner Liebesaffare, in der die rein 
sinnliche Komponente offenbar weniger hervortrat, zeigte er eine Un¬ 
beherrschtheit der Affekte, eine gewisse Zugellosigkeit und MaBlosigkeit 
in der Anwendung von Mitteln, um die Erfullung seiner erotischen 


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Wiinsche zu erreichen und den ihnen entgegenstehenden Widerstand 
zu iiberwinden. Also schon in gesunden Zeiten eine Unfahigkeit, seine 
Triebe zu ziigeln, die auch die Unfahigkeit einigermaBen erklart, die 
triebhafte Erzeugung des Lustgefiihls zu unterlassen, nachdem die 
amyostatische Erkrankung gewisse die Triebhandlung begiinstigende 
Eigenarten zur Entwicklung gebraeht hatte. Unerkliirt bleibt aber 
noch die Starke des Wiirgetriebes an sich, die Starke des Widens, mit 
der F. die Erlangung dieses Lustgefiihls durchzusetzen suchte und die 
geradezu in auffallendera Gegensatz zu der sonstigen scheinbaren 
Herabsetzung des Antriebes und der Affektanregbarkeit steht. Mog- 
licherwelse konimt man der Losung dieser Frage niiher, wenn man 
weiter in die Genese dieses eigenartigen Wiirgphanomens einzudringen 
und die Art des Lustgefiihls niiher zu bestimmen sucht. 

Das Benehmen F.s auf der Hiihe dieses Lustgefiihls erinnerte, wie 
ausgefiihrt, durchaus an den sexuellen Orgasmus. DaB durch die Reizung 
der Haut bestimmter extragenitaler Korpergegenden sexuelle Er- 
regungen erzeugt werden konnen, ist bekannt. Derartige erogene Zonen 
sollen sich bei Erwachsenen gelegentlich im Nacken finden (Moll). 
Besonders Steeled geht in der Annahme solcher Zonen sehr weit, meint, 
daB jede Schleimhaut, z. B. in Mund, Nase und auf der Zunge, eine solche 
darstelle, sieht die Pollutionen, das Spielen an den Ohrmuscheln. das 
Nasenbohren usw. als ,,larvierte Onanie“ an. Bei F. handelte es sich 
nicht nur um einen auf die Haut des Halses ausgeiibten Reiz, sondern 
auch um einen solchen auf tiefer gelegene Organe bei gleichzeitiger 
Unterbrechung der Atmung und der Blutzufuhr zum Gehirn, also auch 
um Wirkungen auf das Gehirn. Selbst wenn man nicht so weit wie 
Steckel gehen will, kann die Erzeugung sexueller Erregung durch das 
Wiirgen nicht ohne weiteres abgelehnt werden. Hinzukommt. daB F. 
vor Beginn des Wiirgens heftige Gemiitsbewegungen durchgemacht 
hatte, die mit Enttiiuschungen auf erotischem Gebiet zusantmenhingen, 
daB er jahrelang onaniert hatte. Wenn man sich hier nicht auf Deu- 
tungsversuche einlassen will, wie sie der Freudschen Schule eigen sind, 
so wird es allerdings schwer fallen, einen inneren psychologischen Zu- 
sammenhang zwischen diesen erotischen Erlebnissen und dem Wiirgen 
zu finden. Nur insofern kann hier ein indirekter Zusammenhang fest- 
gestellt werden, als F. deprimiert durch die erwahnten Erlebnisse (nach 
anderer Version: durch die Onanie) auf Selbstmordgedanken kam, mit 
dem Gedanken des Wiirgens spielte und dieses auch versuchte, dabei 
dann das Lustgefiihl bemerkte und deshalb diese Versuche fortsetzte, 
indent diese Wurgesucht durch die erwahnten Eigenarten der encepha- 
litischen Erkrankung und vielleicht auch durch die vollige Gleichgiiltig- 
keit begiinstigt wurden. die die Depression iiber die Liebesgeschichte in 
ihm gegeniiber dem Leben erzeugt hatte. Auch der Radunfall mit Sturz 


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Psychopathic u. chron. Encephalitis epideraica m. eigenart. Symptomatology. 453 

ins Wasser mag ihn mit auf Selbstmordgedanken und auf den Gedanken 
des Erstickens gebracht haben. Vielleicht war dem F. das durch das 
Wiirgen erzeugte Lustgefiihl auch ein gewisser Ersatz fiir seine eroti- 
schen, durch die Liebesaffare nicht erfiillten Bediirfnisse und fiir das 
Onanieren, das damals nachgelassen haben soli. Die von mir zuweilen 
bei Encephalitis mit und ohne Amyostase beobachtete Steigerung der 
Libido, der sexuellen Bediirfnisse, die ebenso wie Sterns, Leahy und 
Sands Beobachtungen des verfriihten Eintritts der Mannbarkeit bei 
Kindern eine gelegentliche indirekte Einwirkung der encephalitischen 
Erkrankung auf die Sexualitat zeigen, scheint bei F. keine Rolle gespielt 
zu haben. Engere Beziehungen zwischen der Sexualitat und den Wiirge- 
versu^hen lassen sich nun, wenn man allein den objektiv feststellbaren 
Verhaltnissen Rechnung tragt, nicht nachweisen. Andere Momente 
sprechen sogar direkt dagegen, daB es sich bei dem durch das Wiirgen 
erzeugten Lustgefiihl urn echten sexuellen Orgasmus handelt. F. selbst 
hat das stets bestritten, die Empfindung sei eine ganz andere wie beim 
masturbatorischen Akte, er blieb auch in der Hypnose dabei, daB das 
Wiirgen kein Ersatz fiir die Onanie sei. Allzuviel wiirden erfahrungs- 
gemaB natiirlich diese Angaben noch nicht besagen. Leider konnte nicht 
festgestellt werden, ob bei dem Wiirgen jedesmal eine Erektion und eine 
Ejaculation eintrat. F. hat das ebenfalls stets bestritten. Nur in der 
letzten Zeit des Wiirgens wurde gelegentlich beobachtet, daB er sich. 
vielleicht unter dem EinfluB der wiederholten Fragen nach einem 
Zusammenhang mit sexuellen Dingen unmittelbar nach dem Wiirgen mit 
den Handen nach der Genitalgegend griff oder mit den Oberschenkeln 
reibende Bewegungen machte, so daB es der Umgebung auffiel. Sonst 
aber und insbesondere auf den Hohepunkten der Erkrankung traten 
solche masturbatorischen Manipulationen nicht hervor. Man kann daher 
nur feststellen. daB der Wiirgeakt vereinzelt in letzter Zeit mit solchen 
Manipulationen verkniipft wurde, mehr nicht. Gegen die vollige Identitat 
des Lustgefiihls mit dem Hohepunkt der sexuellen Erregung scheint vor 
allem der Umstand zu sprechen , daji eine so unausgesetzte und unzdhlige 
Male wiederholte Erzeugung des sexuellen Orgasmus schon aus rein phy- 
sischen Grunden gar nicht moglich ist, wenigstens dann, wenn es jedesmal 
zur Erektion und Ejaculation kame. Eher hat das Lustgefiihl eine 
gewisse Ahnlichkeit mit jenem, das sich ganz kleine Kinder, wie hier 
und da beobachtet wurde, durch triebartiges Masturbieren, Manipula¬ 
tionen an den Genitalien unausgesetzt zu erzeugen suchen, ohne daB es zu 
Ejaculationen kommt, wie ja iiberhaupt der ganzen, eigenartigen Trieb- 
richtung F.s in dieser Zeit etwas Primitives, Infantiles innewohnt und 
vielleicht mit der seelischen Unreife und der Unterentwicklung des Cha- 
rakters in gewisser Beziehung steht. 

Bemerkenswert ist es nun, daB F. stets die Schilddriisengegend zur 


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Erzeugung des Lustgefiihls benutzte, und es fragt sich, ob etwa sonst 
Falle bekannt geworden sind, in denen das gleiche geschah. Merk- 
wiirdigerweise hat nun Haas vor kurzem iiber einen Fall mit der gleichen 
triebhaften Wurgneigung berichtet, in dera ebenfalls die Schilddriisen- 
gegend mit gereizt wurde. 

Der von Haas beobachtete Fall ist folgender: 

12jfihriges uneheliches Mfidchen. Mutter nervos, leichtsinnig, starb, als das 
Kind 11 y 2 Jahr war, an Lungentuberkulose unter Erstickungsanfallen. Das Kind 
selbst bot bis dahin nichts Auffalliges. Bald nacli Tod der Mutter psychisch ver- 
andert. Unaufmerksam. In der Schule wurde von den Mitschiilerinnen bemerkt, 
daB die Pat. am Halse wiirgte, was sie schlieBlich auch wahrend des Unterrichts 
ohne Scheu tat. ErziehungsmaBnahmen, Drohungen, Strenge halfen nichts; im 
Gegenteil wurde das Wiirgen noch haufiger betrieben, schfitzungsweise 15 bis 30mal 
taglich. Verkroch sich unter dasBett, unter die Heizung, versteckte sich im Klosett, 
um ungestort zu sein. Teile des Halses waren abgeschunden, Anlegen eines Gips- 
kragens half auch nichts, zwftngte die Finger darunter, wiirgte weiter. Medika- 
inente versagten. Blieb deshalb mehrere Monate in der Zwangsjacke, sobald die 
Jacke gel cist wurde, begann das Wiirgen von neuem. — Die korperliche Unter- 
suchung ergab nichts Besonderes, das Kind zeigte auch sonst keine psychischen 
Anomalien. Beim Wiirgen fafite es mit beiden Hdnden um den Hals, suchte ihn zu 
umgreifen, dr delete und prefite Weichteile und Kehlkopf nach Moglichkeit zusammen. 
Puls stieg dabei von 76 auf 110, Atmung wurde beschleunigt, das Gesicht rotete 
sich, Pupillen wurden weit, glanzten, dann Cyanose, Atmung wurde rochelnd, 
nicht selten senkten sich die Lider, Beine gestreckt, FiiBe plantarw&rts flektiert. 
Dauer des Aktes 20 bis 40 Sekunden. Dann Erschlaffung, das Kind legte den Kopf 
zur Seite, blieb einige Minuten in dieser Haltung oder schiief auch ein. In der Hyp- 
nose gab das Kind an, daB sie amTodestage der Mutter Pfannkuchen gegessen babe, 
wonach ihr iibel wurde. Um Erbrechen zu konnen, hat sie sich den Hals gedriickt, 
wobei sie das Fehlen von Schmerzen feststellte und fand, daB ein angenehmes Ge- 
fiihl vom Magen nach oben stieg, wobei sie die Besinnung nahezu verloren habe. 
Sie habe das dann ofter wiederholt und immer das angenehme Gefiihl empfunden; 
spater habe sie es zwangsmaBig tun miissen, wenn sie daran dachte. Auf hvpno- 
tische Behandlung trat eine Besserung, wenn auch nicht vollige Heilimg ein. — 
spftter wurden 2mal tetanische Krampfanfalle in den Armen beobachtet. Chvostek 
und Trousseau waren negativ. 

Der Fall ahnelt also trotz des kindlichen Alters der Kranken in 
geradezu iiberraschender Weise dem meinigen. Auch hier Auslosung des 
triebhaften Wiirgens durch die zufallige Entdeckung des ,,angenehmen 
Gefiihls“, auch hier der unwiderstehliche, keine Strafen und Schmerzen 
scheuende Drang, der allerdings in meinem Falle entsprechend dem 
hoheren Alter des Patienten wesentlich brutaler alle Hindernisse und 
Schranken durchbrach, so dafi die Wiirgeversuche noch wesentlich 
haufiger stattfanden als bei dem Falle von Haas', auch hier die mit 
Willensschwache verbundene psychopathische Grundlage und schlieB¬ 
lich auch die spa ter zu erorternden tetanischen Anfalle. Aus der mit- 
geteilten Krankengeschichte ergibt sich aber nicht, daB im Falle von 
.Haas eine amyostatisch-encephalitische Erkrankung vorgelegen hat, 


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Psychopathie u. chron. Encephalitis cpidemica m. eigenart. Symptomatologie. 455 


wie in meinem Fall, die sicher wesentlich zum Zustandekommen des 
eigenartigen Phanomens beitrug. Der Typus des Wiirgeaktes scheint 
auch etwas andersartig wie in meinem Falle gewesen zu sein. Es trat 
beim Wurgen starkere Cyanose auf. Die Atmung wurde auch hier be- 
schleunigt und schlieBlich rochelnd. Nach dem Wurgen war in meinem 
Fall die Ermiidung nur selten so hochgradig wie in jenem. Nur bei zeit- 
weiliger starker Haufung der Wiirgeversuche trat eine erhebliche Er- 
schopfung ein. Auch hier besserte sich wie in meinem Fall das Wurgen 
auf hypnotische Behandlung. 

Haas teilt gleichzeitig einen zweiten einschlagigen Fall mit: 

Ein junger Hauptmann erzielte mittelst eines Handtuches, das er sich um den 
Hals schlang imd in dessen mit Lochern versehene Enden er mit seinen EiiBen 
unter Beugung im Hiift- oder Kniegelenk eintrat, durch Streckung der Beine 
..Strangulation und Orgasmus“. Er wurde eines Tages erdrosselt aufgefunden. 

Es scheint sich also, nachdem nun drei ahnliche Falle bekannt 
geworden sind, bei der Erzeugung eines Lustgefiihls, das immer wieder zu 
neuen derartigen Versuchen zwingt, durch Driicken und Wurgen des 
Halses um etwas Gesetzmdfiiges zu handeln. 

Wie erwahnt, wurde in meinem Fall beim Wurgen die Gegend der 
Schilddriise bevorzugt, im ersten Falle von Haas dagegen der Schilderung 
nach mehr die Kehlkopfgegend. Aber da Haas auf Grund seiner Be- 
obachtung meint, daB der auf die Schilddriise ausgeiibte Reiz von Be- 
deutung sein miisse, und da, wie unten ausgefiihrt, auch die Glandulae 
parathyreoideae geschadigt wurden, ist anzunehmen, daB jedenfalls auch 
die Schilddriisengegend in seinem Falle mit komprimiert wurde. DaB 
nun gewisse Beziehungen der Schilddriise zu den Sexualorganen bestehen, 
ist bekannt; sowohl bei Hyper- wie bei Hypothyreoidismus werden 
Storungen der Sexualfunktion erwahnt (Falta ). Bei der Basedowschen 
Krankheit kommt es gelegentlich zur Abnahme der Libido und zur 
Impotenz, bei Frauen zur Veranderung, zuweilen zum Aufhoren der 
Menstruation, bei langerer Dauer zur Atrophie des Genitaltraktus. Bei 
dem Myxodem wurde das gleiche so wie Atrophie der Ovarien, ferner 
Wiederkehr der Libido nach Riickgang des Myxodems beobachtet. Es 
ist also durchaus denkbar, daB auch ein heftiger mechanischer Reiz auf 
die Schilddriise indirekt (durch Beeinflussung des sympathischen Ner- 
vensystems?) irgendwie auf die Sexualfunktion einwirkt und vielleicht 
einen orgasmusartigen Zustand mit hervorrufen hiift, ohne daB es zur 
ausgesprochenen Erektion und Ejaculation zu kommen braucht. Es ist 
dies aber nur eine Vermutung, irgendwelche sicheren Beweise liegen bis- 
her dafiir nicht vor. Offenbar spielen auBer der mechanischen Reizung 
der Schilddriise, wie schon erwahnt, auch Einwirkungen auf das Gehirn 
(Cyanose, Behinderung der Blutzufuhr) eine Rolle bei Erregung dieses 
extragenitalen Orgasmus. Unwillkiirlich driingen sich hier nun, wie das 


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auch in der Haasschen Mitteilung hervortritt, Vergleiche mit der be- 
kannten Erektion und Ejaculation bei Erhangten auf, obwohl im vor- 
liegenden Falle von Erektion und Ejaculation nichts fcstgestellt wurde. 
Auch bei jenen werden der direkte bzw. indirekte Reiz auf die Schild- 
driise durch Storung des Blutzu- und -abflusses, ferner die Cyanose eine 
gewisse Rolle spielen. Dali es hierbei ira Gegensatz zum Fall F. zu 
Erektionen und Ejaeulationen komrat, mag an der schweren Form des 
Reizes und der Cyanose liegen. Gewisse Analogien zwischen den Wir- 
kungen des Wiirgens in meinem Fall und der Wirkung des Erhangens 
sind auch insofern vorhanden, als F. das Lustgefiihl als besonders ange- 
nehm dann empfand, wenn er das Wiirgen durch eine andere Person 
besonders kraftig vornehmen lieI3, so daB momentane Bewu Btlosigkeit 
eintrat. Haas, der einen echten Orgasmus in seinem Fall annimmt, 
zieht zur Erklarung noch als drittes fiir die Auslosung sexueller Erregung 
wichtiges Moment die Angst hinzu, die, wie einige Fiille von Moll zeigen, 
gelegentlich sexuell erregend vvirken kann. Bei meinem Fall diirfte sie 
sicher keine Rolle gespielt haben. 

Wir konnen uns nach allem das Zustandekommen der hier vor- 
liegenden Triebhandlung aus den Besonderheiten der psychopathischen 
Konstitution, aus exogenen Erlebnissen, aus den begiinstigend wirken- 
den mit der Amyostase in Zusammenhang stehenden psychischen Ver- 
anderungen erklaren, wir konnen auch bis zu einem gewissen Grade der 
Wiederholung dieser Triebhandlung ein psychologisches Verstandnis 
abgewinnen, was aber unklar und unverstandlich bleibt, ist die starke 
Triebhaftigkeit, Riicksichtslosigkeit und unendliche Wiederholung der 
Lustgefiihlserzeugung, die z. B. weit iiber das Mali der gewohnlichen 
Onanie hinausgehen. Immerhin sind auch sonst schon Fiille gerade von 
sexuellen Triebhandlungen bekannt geworden, in denen mit ahnlicher 
Riicksichtslosigkeit unter personlicher Gefahr, unter Hintansetzung 
jeder Riicksicht auf die Familie vorgegangen wird : es sei nur an manche 
Fiille von Exhibitionismus, von Fetischismus (mit Stehlen der ge- 
w'Unschten Gegenstande), Masochismus und Sadismus u. a. mehr er- 
innert. Diese Unbezwingbarkeit des Triebcs hat unser Fall also mit 
anderen Triebhandlungen auf sexuellem Gebiet gemeinsam, wenn auch 
die unausgesetzte Wiederholung dieser Handlung etwas ganz AuBer- 
gewohnliches darstellt. Eine restlos befriedigende Erklarung fiir die 
letztere Erscheinung ist, wie zugegeben werden muB, unmoglich. Es 
wit re auch daran zu denken, ob das Wiirgen etwa auf masochistischen 
Neigungen beruht. Ich glaube das ausschlieBen zu konnen, da sonstige 
masochistische Ziige im V r orleben des Kranken und spiiter nie hervor- 
getreten sind. Das Auftauchen der Triebhandlung steht. im iibrigen wie 
erwiihnt vielleicht mit der mangelhaften und in gewisser Beziehung auf 
infantiler Stufe stehengebliebenen Charakterentwicklung und seelischen 


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Psychopathic u. chron. Encephalitis epidemica m. eigenart. Symptomatology. 457 


Unreife in irgendeiner Beziehung, zumal es sich bei dem Falle Haas um 
ein 12 jahriges Kind handelte. Das Triebhafte. das unbeherrschte Nach- 
geben den auftauchenden Lustgefiihlen gegeniiber, hat etwas durchaus 
Infantiles an sich. Man kann wohl auch das Haufigerwerden und Starker- 
werden des Wiirgens bei auBerem Widerstand als Zug eines infantilisti- 
schen Trotzes und Eigensinns auffassen. DaB hier etwa masochistische 
Tendenzen zugrunde lagen, ist nicht zu erweisen. 

Wenn man die psychischen Krankheitserscheinungen des Falles ins- 
gesamt einer der bekannten Krankheitsgruppen zuzuordnen versucht, 
so kommt hier differentialdiagnostisch in erster Linie wohl die Schizo¬ 
phrenic in Frage, bei der ja die endlose Wiederholung sinnloser Trieb- 
handlungen durchaus bekannt ist und die hier durch die encephalitische 
Erkrankung ausgelost sein konnte. Aus der ganzen bisherigen Erorte- 
rung des Fades F. ist schon zu ersehen, daB ich eine Schizophrenic nicht 
annehme, obwohl zeitweilig die sehr ausgesprochenen Affektstorungen 
und Willensstorungen, die zuweilen scheinbar negativistische Ziige 
trugen (Verstarkung der Wiirgeversuche durch auBeren Widerstand), 
die wahrend der Krankheit zutage tretende scheinbar autistische Ein- 
stellung F.s, die Stereotypie und Absonderlichkeit der Triebhandlung 
an sich dafiir zu sprechen scheinen. War schon von vornherein das Er- 
haltenbleiben der Ordnung des Gedankenganges, das Fehlen von assozia- 
tiven Storungen, der Ambivalenz, von irgendwelchen Sinnestauschungen 
und Wahnvorstellungen auffallend, so spricht mit Sicherheit gegen die 
Schizophrenic die ganze Entwicklung und der Verlauf des Fades, der 
keine Weiterentwicklung mehr zeigte. (Die gelegentlichen Akoasmen 
und Visionen beim Wiirgen kommen hier nicht in Betracht. Sie sind 
nicht ganz leicht zu erklaren. Da sie nur fliichtig auf dem Hohepunkt 
besonders heftiger Wiirgemanipulationen auftraten, ist anzunehmen, 
daB sie mit der in diesem Augenblick einsetzenden BewuBtseinstriibung 
und der Cyanose in Zusammenahng standen.) Auch die wahrscheinlich 
vorhandene Leberfunktionsstorung ware schlieBlich noch gegen die 
Schizophrenic anzufiihren. Durch haufige Beschaftigung mit dem Kran- 
ken, Einfiihlung und schlieBliche Anwendung der Hypnose gelang es 
zudem EinfluB auf den Zustand und Verlauf zu gewinnen, die Wiirge- 
versuche wenigstens zunachst einmal zu beseitigen und mehr Aktivitat 
und Regsamkeit in dem Kranken zu wecken. Eine restlose Beseitigung 
der Antriebsstbrung gelang naturlich durch die psychische Beeinflussung 
nicht. Die zuriickbleibenden Storungen lassen sich aber allein aus dem 
amyostatischen Zustandsbild erklaren, eine Schizophrenic liegt nicht vor. 

Wie ausgefiihrt, nahert sich die pramorbide Charaktereigenart des F. 
den Typen, die von manchen Autoren als schizoide bezeichnet werden. 
Will man den Fall zu den Schizoiden rechnen, so wird man zugeben 
koimen, daB manche hierher gehorigen Ziige durch die Encephalitis noch 

Archiv ftlr Psychiatric. Bd. 68. 30 


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verstarkt und herausgehoben wurden. so das Scheue, Madchenhafte, 
Kindlich-naive, aber auch wieder Reizbare bei F., der erwahnte Autis- 
mus und schlieBlich auch die Neigung zurn Stereotypisieren, daB es sich 
also urn eine Art schizoider Reaktion auf die Gehirnerkrankung handelt. 
Ein Obergang der schizoiden Personlichkeitskomponente in eine echte 
Schizophrenic liegt aber nicht vor. 

DaB die psychischen Storungen F.s hysterischer Natur sind, ist nicht 
anzunehmen. F. bot sonst keinerlei hysterische Erscheinungen. DasTrieb- 
hafte und ZwangsmaBige seiner Wiirgversuche fallt aus dem Rahmen 
solcher Storungen heraus. Irgendwelche zweckneurotischen Momente 
fehlten. Auch von einer ,,Flucht in die Krankheit“ vielleicht infolge seiner 
ungliicklichen Liebe kann nicht die Rede sein, da F. eigentlich nur trieb- 
haft die Erzeugung des geschilderten Lustgefiihls anstrebte, die psycho¬ 
gene Produktion sonstiger Krankheitserscheinungen aber fehlte. Von 
anderer Seite wurde allerdings die anfanglich vorhandene Oberarm- 
liihmung als funktionell angesehen. Eine andere Deutung dafiir wurde 
oben gegeben; eine sichere Feststellung laBt sich aber dariiber nach- 
traglich nicht mehr treffen. Als hysterisch konnten bei oberflachlicher 
Betrachtung hochstens das anspruchsvolle, querulatorische Benehmen 
im Anfang sowie die Intensitatssteigerung der Wurgeversuche in Gegen- 
wart anderer Personen angesehen werden. DaB bei Psychopathen der- 
artige Zuge neben zahlreichen anderen vorkommen, ist allgemein be- 
kannt, und daB auch bei der psychopathischen Konstitution F.s als 
Reaktion auf die amyostatische Erkrankung derartige hysterisch ge- 
farbte Einzelziige in Erscheinung traten, ist nicht weiter verwunderlich. 
Man wird aber nicht das ganze psychische Krankheitsbild, dem auch 
unmittelbar organisch bedingte Storungen beigemischt sind, auf Grand 
dieser Einzelziige der als hysterisch bezeichneten Krankheitsgruppe zu- 
rechnen kcinnen. Im iibrigen ist gerade die querulatorische Einstellung 
oben als charakteristisch fiir viele encephalitisch-amyostatische Kranke 
jugendlichen Alters geschildert worden, ohne daB sonst bei diesen 
andere hysterische Ziige vorhanden gewesen waren. 

Es bleibt nun noch iibrig, kurz auf die wiihrend der Krankheit bei F. 
aufgetretenen tetanischen Anfdlle einzugehen. DaB die am 19. III., am 
24. III., Ende Oktober und am 4. XI. beobachteten tonischen Krampfe 
der Extremitaten und Gesichtsmuskulatur echte tetanische Anfalle 
waren, ergiebt sich aus der typischen Form derselben, dem zeitweilig 
positiven Chvostek und der zeitweiligen ma Bigen galvanischen Ober- 
erregbarkeit bei Reizung des N. medianus; besonders typisch war dabei 
das Cberwiegen der Anodenoffnungszuckung iiber die Anoden- 
schlieBungszuckung. Nach Besserung des Gesamtzustandes und Auf- 
horen des Wiirgens schwand auch die galvanische Gbererregbarkeit. 
Das Trousseausche Phiinomen war nur einmal kurz nach einem Anfall 


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Psychopathie u. chron. Encephalitis epidemica m. eigenart. Symptomatology. 459 

schwach positiv. Soweit ich die Literatur iibersehe, sind sonst echte 
tetanische Anfalle weder bei der amyostatischen Form der epidemischen 
Encephalitis noch bei anderen Formen* besehrieben worden. Dagegen 
sab ich in Obereinstimmung mit F. Stern bei einer Reihe von Fallen der 
amyostatischen und auch der hyperkinetischen Form der Encephalitis 
die galvanische Ubererregharkeit und zuweilen positives Chvosteksches 
Phanomen. Eine gewisse spasraophile Disposition scheint also in 
manchen dieser Falle zu bestehen; ob sie auch in unserem Fall schon 
vor Einsetzen des Wiirgens bestanden hat, ist nicht festgestellt. Die 
Hauptursache fur die tetanischen Anfalle diirfte auch in zwei anderen 
Momenten zu suchen sein, und zwar in einer Schddigung der Para- 
thyreoiddriisen und in den Atemstdrungen. Bei der Art, Haufigkeit und 
Intensitat des Wiirgens ist ohne weiteres anzunehmen, daB die Para- 
thyreoiddriisen dabei ladiert werden konnten und vielleicht Blutungen 
in sie hinein stattfanden, um so mehr, als auch in dera Haasschen Falle 
tetanische Anfalle aufgetreten sind, fur die der Verfasser die gleiche Ur- 
sache annimmt. Da ein amyostatischer Zustand bei diesem Fall nicht 
vorlag, scheint er nicht immer Vorbedingung fiir das Auftreten teta- 
nischer Anfalle in solchen Fallen zu sein. Bemerkenswert ist, daB zwei 
dieser Anfalle in meinem Fall wahrend einer besonders starken Wiirge- 
periode auftraten, wahrend der Schadigungen der Parathyreoiddriisen 
besonders leicht stattfinden konnten. Zweifellos haben dann weiter die 
tachypnoischen Anfalle mit auf die Entstehung der tetanischen Anfalle 
gewirkt. Denn einmal trat ein Anfall im AnschluB an eine Priigelei mit 
einem anderen Kranken auf, bei der sicher die auch sonst schon leicht 
beschleunigte Atmung, wie mehrfach bei psychischer Erregung be- 
obachtet, noch frequenter und erheblich tiefer wurde, und besonders aus- 
gesprochene tachypnoische Anfalle auftraten. Ich konnte einen solchen 
Anfall auch im AnschluB an eine den Kranken tief erregende Exploration, 
bei der die Atmung besonders anhaltend tief und beschleunigt gewesen 
war, selbst beobachten, ferner eine Zunahme des Chvostekschen Pha- 
nomen8 im AnschluB an mehrere willkiirlich vertiefte und beschleunigte 
Atemziige feststellen. Die Tatsache, daB willkiirlich gesteigerte Atmung 
zu Tetaniesymptomen fiihrt, wurde jiingst von Porges und Adlersberg, 
und vor ihnen schon von Vernon, Grant und Goldmann sowie von 
Freudenberg und Frank (siehe Porges und Adlersberg) gefunden. Eine 
,,neurotische Atmungstetanie“ beobachteten erstere bei hvsterischen 
Personcn infolge von ,,t)berventilation“ im AnschluB an ein psycliisches 
oder korperliches Trauma, ferner positives Chvosteksches Phanomen 
bei t) berventilation maBigen Grades bei Hysterikern, die dauernd oder 
anfallsweise iiber den Bedarf hinaus atmeten. SchlieBlich sahen sie 

*Anmerkung bei der Korrektur: Nachtraglich finde icli, daB Adler 
in einen frisehem Encephalitisfall tetanische Anfalle beobachtete. 

30* 


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Runge: 


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2 Falle von Encephalitis epidemica, die ini ,,AnachluB an diese Krank- 
heit“ Oberventilation und Tetaniesymptome zeigten. 

Im Falle F. hat nach den oben erwahnten Beobachtungen die At- 
mungsstorung jedenfalls eine Rolle bei der Entstehung der tetanischen 
Anfalle gespielt, wahrend die Schadigung der Parathyreoiddriisen eine 
Disposition dafiir geschaffen haben diirfte. DaB ohne eine solche oder 
andere Tetaniedisposition allein durch Oberventilation eine Tetanie ent- 
steht, halte ich mit Curschmann fiir unwahrscheinlich; letzterer verweist 
auf einen 1904 mitgeteilten Fall von schwerer Mitralinsuffizienz mit 
funktioneller maBiger Tachypnose und enormen paroxysmalen Steige- 
rungen dieser. wahrend der einmal ein tetanischer Anfall auftrat, den er 
jetzt auf die Tachypnoe zuruckfiihrt. Wegen der Seltenheit solcher Vor- 
kommnisse neigt er zur Annahme der erwahnten Disposition. Nach 
Forges und Adlersberg soli es sich allerdings um haufigere Erscheinungen 
handeln. Es ist hier nicht der Ort, auf die Frage der neurotischen 
Atmungstetanie und ihre Ursache (Ausschopfung der Kohlensaure im 
Blut, Alkalosis und Calciumionenverarmung derselben: Porges und 
Adlersberg) naher einzugehen. Das Auftreten tetanischer Anfalle im 
Falle F. erscheint jedenfalls durch die Schadigung der Glandulae para- 
thyreoideae und auslosende Wirkung der tachypnoischen Anfalle aus- 
reichend erklart. 

SchlieBlich sei hier auf die erfolgreiche psychotherapeuiisch-hypno- 
tische Beeinflussung des Falles verwiesen, durch die nicht nur die patho- 
logische Triebhandlung beseitigt, sondern auch giinstig auf das Gesamt- 
befinden, besonders die Antriebsstorungen eingewirkt wurde. Zweifellos 
hat der giinstige EinfluB der Besuche eines Freundes des F., wahrschein- 
lich auch die kraftige, roborierend wirkende Natrium-Kakodylicumkur 
den Boden fiir die psychotherapeutische Einwirkung vorbereitet, so daB 
es den unausgesetzten Bemiihungen schlieBlich gelang, in naheren Kon- 
nex mit dem anfangs vollig apathischen Kranken zu kommen und der 
hypnotischen Behandlung den notigen Nachdruck zu verleihen. Der 
Erfolg mahnt uns, gerade in den postencephalitisch-amyostatischen 
Fallen die psychotherapeutische Seite der Behandlung nicht zu ver- 
nachlassigen, die eventuell noch vorhandene Anregbarkeit der Affekte 
und des Willens auszunutzen und eine, wenn auch nur symptomatische 
Besserung durch derartige Einwirkungen zu schaffen, eine Forderung, 
die in ahnlicher Weise Hauptmann erhebt. 

Ich komme zum SchluB: 

Die Bedeutung des beschriebenen Falles F. liegt erstens auf psycho- 
pathologischem Gebiet: Er zeigt eine durch das Zusammentreffen einer 
psychopathischen Konstitution. exogener emotioneller Einwirkungen und. 
einer chronischen encephalitisch-amyostatischen Erkrankung erzeugte eigen- 
artige Mischung organisch begriindeter, aher bereits durch kcmstitutionell- 


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Psychopathic u. chron. Encephalitis epideraica m. eigenart. Symptomatology. 461 

reaktive Besonderheiten modifizierter Storungen des Antriebs, der Affekte, 
der Lust- und U nlustempf indung en mit psychopathisch-reaktiven Storungen, 
au8 denen als auffallendste Anomalie eine unausgeseizt wiederhoUe Trieb- 
handlung, das Wiirgen , herauswuchs, die sich nrie ein Teil der iibrigen 
Storungen als psychotherapeutisch beeinflufibar entries. Es ist zweitens 
fur die Pathologie der Sexualfunktionen bedeutungsvoll, daft dieses Wiirgen, 
wie vereinzelt auch in anderen psychopathischen Fallen beobachtet, offenbar 
gesetzmafiig, wahrscheinlich durch Reizurirkung auf die Schilddriise und 
Wirkung der Cyanose auf das Zentralnervensystem eine Lustempfindung 
erzeugt, die offenbar dem sexuellen Orgasmus ahnlich, ihm aber nicht 
identisch ist. Drittens ist der Fall auch insofern neurologisch bemerkens- 
wert, als das Wiirgen, wahrscheinlich durch Schadigung der Parathyreoid- 
driisen, unter Mitwirkung der amyostatischen Atmungsstdrung zu einer 
Teianie fiihrte. 

Meinem hochverehrten Chef, Herrn Geheimrat Prof. Dr. Siemerling 
spreche ich fur die Gberlassung des Falles meinen verbindlichsten 
Dank aus. 


Literatur. 

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1911. — Bltuler: Die Probleme der Schizoidie und der Syntonie. Zeitschr. f. d. ges. 
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Happ und Mason: Epidemic Enc. Bull, of the John Hopkins hosp. 82. 1921. Ref. 
Zentralbl. f. d. ges. Neurol, u. Psych. 26, S. 205. 1921. — Hauptmann: Der Mangel 
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Hermann: ZwangsmftBiges Denken und andere Zwangserscheinungen bei Er- 
krankungen des strifiren Systems. Monatsschr. f. Psychiatr. u. Neurol. 52, H. 5/6, 
S. 324. 1922. — Higier: Beitrag zur Kenntnis der selteneren Symptome der 

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Ixich: Zur Psychopathologie der Folgezustande der Encephalitis epidem. Zeitschr. 
f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 71. — Leahy and Sands: Mental disorders in children 
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Ref. Zentralbl. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 26, S. 46. — Leibbrand: Ein be- 
merkenswerter Fall von striarem Nymptomenkomplex im AnschluB an Encephalitis 
epidemics. Med. Klinik. 1921, S. 848. — Marie, Binet et Levy: Les troubles re- 
spiratoires de l’encephalite epktemique. Bull, et mem. de la soc. med. des hop. de 
Paris. 1922, S. 1075. Ref. Zentralbl. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 31,8.19. 1922. 
— Mayer-Grofi und Steiner: Encephalitis lethargies in der Selbstbeobachtung. 


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462 Runge: Psychopathic u. chron. Encephalitis epidemica usw. 


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raerkungen zu der Mitteilung von H. Curschmann ,,t)ber neurotische Atmungs- 
tetanie“. Klin. Wochenschr. 1922, S. 2931. — Porges und Adlersberg: t)ber neu¬ 
rotische Atmungstetanie und iiber die Behandlung der Tetanie mit Ammonphos- 
phat. Klin. Wochenschr. 1922, Nr. 24. — Sicard et Paraf: Fou rire syncopal, etc. 
Bullet, mem. de la soc. med. des h6p. de Paris. 1921, S. 232. Ref. Zentralbl. f. d. 
ges. Neurol, u. Psychiatr. 25, S. 558. 1921. — Steckel: Uber larvierte Onanie. 
Sexualprobleme. 1913, S. 81.. — Stem, F.: Die epidemische Encephalitis. Berlin: 
Julius Springer 1922 — Stern, F.: Ungewohnliche Krankheitsbilder bei epi- 
dermischer Encephalitis. Zentralbl. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatr. 29, S. 422. 
1922. — Stem, F., und R. Meyer-Bisch: Klin. Wochenschr. 1922. Nr. 31, S. 1559. 
— Vincent et Bernard: Troubles respiratoires dans l’encephalite epidemique. Bull, 
et mem. de la soc. med. des hop. de Paris. 88, 8. 1111. 1922. — Westphal und Sioli: 
Klin. u. anatom. Beitrag zur Lehre von der Westphai-Striimpellschen Pseudo- 
sklerose (Wilsonsche Krankheit), insbesondere iiber Beziehungen derselben zur 
Encephalitis epidemica. Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. 66, H. 5. 1922. 


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(Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik der Uiuveraitat Kiel 
[Direktor Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Siemerling].) 

fiber Amenorrhoe bei Nerven- und Geisteskrankheiten und 
ihre Behandlung mit Menolysin. 

Von 

Dr. A. Hanse, 

Assistent der Klinik. 

(Eingegangen am 5. Januar 1923.) 

Von jeher wurden Menstruationsstorungen und vor allem die 
Amenorrhoe vom Volke als eine der wichtigsten Ursachen der ver- 
schiedensten Erkrankungen angesehen, und gerade als Psychiater er- 
leben wir es sehr oft, daB von den Angehorigen geisteskranker Frauen 
angegeben wird, das Unwohlsein sei ausgeblieben und das Blut habe sich 
,,wohl zu Kopf gesetzt“. 

Tatsachlich sehen wir auch bei alien mdglichen Allgemeinerkran- 
kungen haufig unregelmaBige Menstruation oder volliges Aussetzen der 
Blutung auftreten. Naturlich denken wir nicht daran, letzteres nun 
ohne weiteres als Ursache der jeweilig vorliegenden Erkrankung aufzu- 
fassen, sondern wir miissen, wie Landau betont, in den iiberwiegendsten 
Fallen die Amenorrhoe nur als ein Symptom der vorliegenden Krank- 
heit ansehen. Kiistner fiihrt, abgesehen von den rein lokal bedingten, 
meist uterinen Ursachen, Storungen der Ovarienfunktion an, dann 
nennt er allgemeine Ernahrungsstorungen, wie Morphinismus, ferner 
konsumierende Krankheiten, wie Phthise, Nephritis, Diabetes und vor 
allem Chlorose als Ursachen fur das Auftreten der Amenorrhoe. Nach 
Bunge kommen auBerdem noch in Betracht: schwere Infektionskrank- 
heiten (Scharlach, Typhus, Cholera), Konstitutionsanomalien (Basedow, 
Myxodem), ferner Lues, Malaria, Vergiftungen (Blei, Alkohol), Er- 
kiiltungen mid psychische Erregungen, vor allem Schreck. Ferner 
miissen wir denken an die vielen Falle von Kriegsamenorrhoe, fiir die 
nach Ansicht der meisten Autoren schlechte Ernahrung, schwere un- 
wohnte korperliche Arbeit und seelische Erregungen als Ursache an- 
geschuldigt werden. 

Landau raiBt auch den pathologischen Veranderungen des endo- 
krinen Systems eine groBe ursachliche Bedeutung in bezug auf die 
Amenorrhoe bei und verweist auf das Ausbleiben der Menstruation bei 
Geschwiilsten der Hyjstphyse (Akromegalie), bei Dystrophia adiposo- 


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A. Hanse: Uber Amenorrhoe tei Nerven- und 


genitalis, bei Nebennierenveranderungen, bei Diabetes vielleicht anch 
wegen der endokrinen Genese (Pars intermedia hypophys., Langerhans- 
sche Inseln). Indem er dann weiter auf die Tatsache eingeht, daB haufig 
bei einer Reihe von Geisteskrankheiten die Menstruation aufhort, wie 
z. B. bei Melancholie, Dementia praecox und Hysterie, wirft er die Frage 
auf: ,,Stehen Amenorrhoe und psychische Storungen in Abhangigkeits- 
verhaltnis voneinander, oder sind sie Folge einer dritten (unbekannten) 
Ursache?“ Er beantwortet die Frage, hinlenkend auf die Gedanken von 
Cyon, Erdheim und Aschner so, ,,daB in der Schadigung und Storung 
gewisser zentraler trophischer Zentren und Bahnen auch eine Wurzel 
dieses t)bels (der Amenorrhoe, Verf.) zu suchen ist, und es erscheint 
wahrscheinlich, daB diese Nervenzentren im Zwischenhirn und abwarts 
von diesem im ganzen Hirnstamm bis zum Riickenmark hinunter vor- 
kommen.“ 

Redlich fiihrt an, daB bei Hirntumor bisweilen Cessatio mensium 
beobachtet wird. Auf Grund ausgedehnter Literaturstudien und eigener 
Beobachtungen kommt Hdffner zu dem SchluB, daB vor allein Hypo- 
physenerkrankungen (besonders Akromegalie) haufig mit Amenorrhoe 
einhergehen, entsprechend der innigen innersekretorischen Wechsel- 
beziehungen zwischen Hypophyse und Keimdriisen, und daB bei Hirn- 
turaoren, wo ebenfalls Cessatio mensium vorhanden ist, die Hypophyse 
entweder miterkrankt ist, oder daB der Tumor in deren unmittelbaTer 
Nachbarschaft liegt. Aber auch entfernter liegende Tumoren, 7. B. im 
Kleinhirn, konnen naoh Hdffner deshalb Ausfall der Menstruation be- 
dingen, weil sie Hydrocephalus erzeugen, der dann seinerseits die Hypo¬ 
physis beeinfluBt. Jedoch ist er sich dessen bewuBt, daB er dadurch 
die Amenorrhoe bei manchen anderen organischen Nervenkrankheiten, 
wie multipier Sklerose, Syringomyelie, Neuritis cder auch bei Psychosen 
nicht erklaren kann, es sei denn, daB es sich Dei diesen Fallen urn die 
Affektion eines hypothetischen, nervosen Zentrums fiir die Menstruation 
(Ovulation) handelt. Es eriibrigt sich, auf die zahlreichen Literatur- 
belege dieser Arbeit einzugehen. 

Eduard Muller dachte daran, daB durch die Neubildungen toxische 
Substanzen der Blutbahn zugefiihrt, und hierdurch eine schadigende 
Wirkung auf die Ovarien ausgeiibt werden konnte. Diese Annahme ist 
insofern nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen, als man ja auch 
bei allgemeiner Carcinomatose Amenorrhoe beobachtet hat. 

Die von Axenfeld (Amenorrhoe bei Tumoren in der Gegend der N. N. 
optici) und Bayerthal besehriebenen Falle (Thalamustumor) lassen sich 
/wangles auf Mitbeteiligung der Hypophyse zuriickfiihren, eljenso wie 
auch die von Abelsdorf angefiihrte Amenorrhoe bei Sehnervenatrophie. 

DaB die Akromegalie fast immer mit UnregelmaBigkeit oder gar 
Fehlen der Menstruation einhergeht, ist seit langem bekannt und unter 


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Geisteskrankheiten und ihre Behandlung mit Menolysin. 465 

anderen von Rosenberger und Leri wieder betont. Schuller fiihrt Hypo- 
plasie der Genitalien und Amenorrhoe als haufige Begleiterschcinung der 
Dystrophia adiposo-genitalis an. Wiesel erwahnt haufige Storungen 
der Regel und fruhzeitige Menopause als Symptom des sog. thyreo- 
testicular-hypophysaren (suprarenalen) Syndroms. Aus alledem geht 
hervor, daB man wohl mit ziemlicher Sioherheit der Hypophyse eine 
groBe Bedeutung fiir die Menstruationsvorgange beilegen mu6, und es 
ist deshalb auch erklarlich, daB unter anderen Hofstdtter bei Amenorrhoe 
bisweilen gute Erfolge mit Hypophysenextrakt aufweisen konnte. 

Aber auch bei Erkrankungen anderer endokriner Driisen ist Fehlen 
der Menstruation nicht selten; nach Mobius (1891) findet sich Amenorrhoe 
haufig bei Basedowerkrankungeu, auch Eppinger betont diese Tatsache. 
Wiesel gibt, wenn auch seltener, UnregelmaBigkeiten und Fehlen der 
Menstruation bei Nebennierenerkrankungen zu. Man geht also wohl 
nicht fehl, wenn man alien diesen Driisen eine die Ovarialfunktion be- 
einflussende Tatigkeit zuschreibt. DaB natiirlich auch eine isolierte Er- 
krankung der Ovarien Amenorrhoe bedingen kann, iibergehe icli hier, 
weil selbstverstandlich. 

Fiir alle bisher genannten Krankheiten ist es wohl sicher, daB hier 
nicht die Amenorrhoe als Ursache fiir die jeweilige Erkrankung in Be- 
tracht gezogen werden kann, sondern daB diese vielmehr als ein Sym¬ 
ptom neben anderen betrachtet werden muB. Schwieriger zu iibersehen 
ist aber der Kausalnexus zwischen Erkrankung und Amenorrhoe bei 
einer anderen Gruppe von Erkrankungen, bei den Psychosen. Ich er- 
wiihnte schon, daB gerade fiir diese unter dem Volke das Aussetzen der 
Monatsblutungen immer wieder als Ursache angefiihrt wird. Aber auch 
von fachwissenschaftlicher Seite wurde die Frage nach dem, was hier 
Ursache oder Wirkung ist, immer wieder aufgeworfen und verschieden 
beantwortet. Ks ist hier nicht der Ort, auf diese Frage naher einzugehen, 
vielmehr verweise ich auf diesbeziigliche eingehende Arbeiten von 
Schaefer und Jolly. In aller Kiirze laBt sich so viel sagen, daB Amenorrhoe 
vielfach als Symptom bei den verschiedensten Psychosen vorkommt 
und andererseits, daB zwar, wie bei alien Generationsvorgangen des 
Weibes, so auch bei Amenorrhoe, psychische Storungen auftreten 
konnen, daB aber dieser Vorgang nicht so haufig ist, wie das Volk noch 
jetzt glaubt, und die Wissenschaft es friiher annahm. Ahnlich auBert. 
sich z. B. auch C. Westphal (zitiert nach Jolly). 

Doch bleiben wir hier bei der einen Tatsache, daB Amenorrhoe als 
haufig vorkommendes Symptom bei Psychoscn nachzuweisen ist, und 
versuchen w r ir, ob es nicht moglich ist, Beziehungen festzustellen zwischen 
den oben erwahnten Krankheitsfallen und den nun zu betrachtenden 
Psychosen. Natiirlich ist es von vornherein nicht gut moglich, solche 
Beziehungen herzustellen zwischen der Amenorrhoe bei Vergiftungen 


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466 


A. Hanse: Uber Amenorrhoe bei Nerven- und 


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durch Krankheitserreger, Stoffwechselstorungen oder chemische Gifte 
und der Amenorrhoe bei Psychosen. Dagegen lassen die zahlreichen 
anderen Falle mit Ausbleiben der Menstruation, ich meine die Storung 
der endokrinen Driisenkorrelation ganz allgemein, eine solche Be- 
trachtung wohl zu, ganz abgesehen von den Fallen, wo organische Ver- 
anderungen des Zentralnervensystems vorliegen. 

Seit den Pawlowschen Versuchen wissen wir, dab psychische Vor¬ 
gange Bedeutung gewinnen konnen fiir gewisse dem Bewubtsein zu- 
nitchst nicht zugangliche somatische Vorgange. Andererseits sehen wir 
bei Psychosen sehr oft Storungen im Bereiche der vegetativen Funk- 
tionen; ich erinnere nur aufier den Amenorrhoen an die vasomotorischen 
Veranderungen oder auffallende Gewichtsschwankungen, um nur einige 
zu nennen. Aus alledem miissen wir wohl mit ziemlicher Sicherheit an- 
nehmen, dab zwischen Grobhirnrinde einerseits und den vegetativen 
Mechanismen des Korpers andererseits eine Station eingeschaltet ist, 
die vielleicht im Zwischenhirn zu suchen ist. Dieses hypothetische 
Zwischenzentrum, das nach L. R. Miiller z. B. auch fiir die Libido 
sexualis als Faktor einbezogen wird, konnte auberdem irgendwelche 
Beziehungen haben zu den Menstruationsvorgangen, und zwar viel¬ 
leicht auf dem Umwege iiber verschiedene endokrine Driisen, vor allern 
die Hypophyse. Wie nun L. R. Muller weiterhin ausfiihrt, dab eine 
bewubte Empfindung der Libido dadurch erklart werden kann, dab 
von den Erregungen der diesbeziiglichen vegetativen Zentren im Palii- 
encephalon eine Irradiation auf das Neencephalon eintritt, oder auch 
der Prozeb umgekehrt stattfinden kann, so konnen wir dieses m. E. 
auch sehr gut annelimen in bezug auf den Menstruationsvorgang. Ich 
meine also, dab, abgesehen von einer Erkrankung im Bereiche der 
endokrinen Driisen, vor allem der Ovarien, eine Amenorrhoe sowohl 
dadurch moglich ist, dab primar das hypothetische Zentrum im Zwischen¬ 
hirn geschadigt ist (sei es durch eine organische Storung oder nur 
funktionell), als auch, dab durch Storungen im Bereiche der psychischen 
Vorgange sekundar dieses Zentrum irgendwie beeinflubt werden kann, 
das dann seinerseits wieder die Funktion der endokrinen Driisen, in 
diesem Falle der Ovarien, beeintrachtigt. Wir hatten somit eine 
Erklarung gefunden fiir das Auftreten der Amenorrhoe sowohl bei 
organischen Schadigungen des Gehirns als auch bei Psychosen. 

Was nun die Storung im Bereiche der psychischen Mechanismen an- 
Jangt, so kann es natiirlich soin, dab ein mehr oder minder deutlich be- 
wubter Vorgang — also auch eine bestimmte Vorstellung — in ge- 
eigneten Fallen Storungen der Menstruation hervorrufen kann (Hysterie) 
oder auch, dab seelische Erschiitterungen, besonders wenn sie stark 
affektbesetzt sind, ohne bestimmte Hinlenkung der Aufmerksamkeit 
auf den diesbeziiglichen Vorgang dieselbe Storung bedingen konnen. 


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Geisteskrankheiten und ihre Bchandlung mit Menolysin. 


467 


Zu den zuerst genannten Fallen gehoren vor alien Dingen solche Frauen, 
bei denen Amenorrhoe auftritt als Folge von hoffnungs- oder angstvoll 
angenommener Schwangerschaft. Es ist verstandlich, daB gerade bei 
diesen Fallen durch geeignete Suggestivbehandlung gute Erfolge erreicht 
werden konnen, wie sie u. a. von Delius, Kohnstamm, Hiibner angegeben 
und von Siemerling und Mohr als zu Recht bestehend anerkannt werden. 

Zu der zweiten Gruppe gehoren vor allem die Falle, wo infolge 
starker psyohischer Alteration infolge Schreck, Angst, Hoffnung, Sehn- 
sucht, Schmerz oder anderen Affektlagen Amenorrhoe auftritt. Hierzu 
gehort z. B. auch die von Binswanger angefiihrte Amenorrhoe im An- 
schluB an hysterische Paroxysmen, wobei infolge der starken Affekt- 
spannung vasomotorische Storungen als Grund der Menstruations- 
storung angenommen werden. 

Auch Mayer fiihrt bei solchen Affektverschiebungen auBer anderen 
Menstruationsstorungen die Cessatio mensium als haufig vorkommend 
an. Vielleicht gehort auch wenigstens ein Teil der Kriegsamenorrhoen 
in dieses Gebiet. Als eine dritte groBe Gruppe aber miissen wir die 
Psychosen im eigentlichen Sinne anfiihren. Denn gerade bei diesen 
w'urde Aussetzen der Menstruation immer wieder betont. Als ersten 
Deutschen, der sich eingehend mit dem Verh&ltnis der Amenorrhoe zu 
Psychosen beschaftigt, fiihrt Hdffner Schlager (1858) an, der angibt, daB 
die Menses bei Beginn einer Psychose plotzlich zessieren konnen, oder 
daB die Amenorrhoe wahrend des spateren Verlaufs auftreten kann. 
Dann beschaftigte von den Deutschen Schroter sich eingehend mit der 
Frage (1874); er fand bei 184 Psychosen Amenorrhoe 102 mal, entweder 
voriibergehend oder dauernd. Schaefer (1894) fiihrte die inzwischen 
von Sutherland und Skene angestellten diesbeziiglichen Beobachtungen 
an und ging dann der Frage nach, ob bei bestimmten Psychosen eine 
gewisse GesetzmaBigkeit des Verhaltens der Menstruationsvorgange 
nachzuweisen war. Seine Beobachtungen erstreckten sich auf 268 Falle. 
Er kam zu dem SchluB: 

1. DaB in gewissen Fallen die Menstruation einen EinfluB auf die 
Psychose hat, daB aber auch andererseits die Menstruation in einer ge¬ 
wissen gesetzmaBigen Weise von den einzelnen Psychosen abhangt. 

2. Dab bei den chronischen intellektuellen Psychosen (Paranoia, 
Schwachsinn) und bei den akuten intellektuellen und leichteren affek- 
tiven Storungen die Menstruation regelmaBig verlauft. 

3. DaB bei den hochgradigen exaltativen, depressiven und stupu- 
rosen Formen der akuten intellektuellen Psychosen, ferner bei den 
schweren Formen der Manie, Melancholie und der ,,primaren Stupor- 
erkrankungen“ Amenorrhoe auftritt, und daB mit t)bergang in Besse- 
rung, bei chronisehem Verlauf oder t)bergang in sekundaren Blodsinn 
die Menstruation wneder auftritt. 


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468 


A. Hanse: Cber Amenorrhoe bei Nerven- und 


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4. DaB langeres Ausbleiben der Menstruation vor allem gebunden 
ist an bestimmte psychopathische Zustande, die sich durch besonderes 
Hervortreten pathologischer Affekte auszeichnen. 

Griesinger betont, daB Storungen der Menstruation besonders haufig 
bei akuten Psychosen seien, und daB in vielen Fallen, wo die Menstrua¬ 
tion regelmaBig verlaufe, die Krankheit eine langere Zeit beanspruche: 
raeist kehre die ausgebliebene Blutung mit der sonstigen Gesundung 
wieder. Theilhaber fiihrt Cessatio mensium ungefahr bei 50°/o dor 
funktionellen Psychosen an, wahrend sie bei chronischen Psychosen 
ebenfalls seltener sei. Desgleichen fand Haymann Amenorrhoe bei 
Psychosen sehr haufig, und zwar bei 206 von 450 Kranken. Er faBt seine 
Ergebnisse folgendermaBen zusammen: 

1. Cessatio mensium ist bei Psychosen haufig. 

2. Sie kann bisweilen eher auftreten als die Psychose, am haufigsten 
aber zeigt sie sich 1 bis 2 Monate nach Ausbruch der Geisteskrankheit. 

3. Vorkommen der Amenorrhoe: iiberhaupt nicht bei chronischer 
Paranoia, selten bei Imbecillitat, nicht viel haufiger bei Hysteric, 
Psychopathic und beini degenerativen Irresein, bei den endogenen 
Intoxikationspsychosen haufiger als bei den exogenen, bei Epilepsie 
ungefahr in 50% der Falle, beim manisch-depressiven Irresein in einem 
Drittel der Falle, und zwar bei Manie nicht seltener als bei Melancholie, 
am haufigsten findet sie sich bei Dementia praecox, besonders bei 
Katatonie und bei den organisch bedingten Psychosen, einschlieBlich der 
Paralyse. 

4. Cessatio mensium ist, besonders bei Dementia praecox, haufig mit 
Gewichtsabnahme vergesellschaftet, mitEintritt der Menstruation ninimt 
das Gewicht wieder zu. 

5. Die Haufigkeit der Cessatio mensium ist bis zu einem gewissen 
Grade ein MaBstab fur die Schwere der Erkrankutig. 

6. Als diagnostisches Hilfsmittel ist die Amenorrhoe nur mit Vor- 
sicht zu benutzen. 

7. Prognostisch verdient die Cessatio nahezu dieselbe Bedeutung 
wie die Gewichtsabnahme. 

Passoiv fand Amenorrhoe ebenfalls haufig bei Psychosen, und zwar 
meist im Verlaufe der geistigen Erkrankung auftretend, seltener dieser 
vorausgehend. Er faBt ebenso wie Haymann die Cessatio mensium 
als diagnostisch nicht verwertbare Begleiterscheinung der Psychose auf. 

Pfortner fiihrt. an, daB bei den von ihm beobachteten Fallen von 
Dementia praecox die Menstruation oft unregelmaBig war oder bis zu 
einem Jahr ganz aussetzte, und nach Bleuler ist sie bei derselben Krank- 
heitsgruppe ebenfalls oft gestort und kann in chronischen Fallen ganz 
zessieren. 

Jolly fand Amenorrhoe haufig bei Paralyse, besonders bei Tabo- 


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Geisteskrankheiten und ihre Behandlung mit Menolysin. 


469 


paralyse, sehr oft (in 3 / 4 der Falle) bei Amentia, dann (ungefahr in der 
Halfte der Falle) bei katatonen und hebephrenen Psychosen und bei 
Melancholie, in einem Drittel der Falle bei Manie, sehr selten dagegen 
bei den paranoiden Psychosen, iiberhaupt nicht bei der chronischen 
Paranoia; Imbecillitat, Hysterie und Epilepsie zeigten ebenfalls selten 
offer gar nicht Zessieren der Menstruation. Warum bei alien Psychosen 
die Amenorrhoe nur bei einem gewissen Prozentsatz auftritt, dafiir 
glaubt er keine stichhaltigen Griinde anfiihren zu konnen. DaB diese 
Storung iiberhaupt auftreten kann, fiihrt er auf allgemeine Vergiftungen 
oder auf Storungen der endokrinen Funktion zuriick. 

Stransky berichtet, daB beim zirkularen Irresein vor allem mit der 
depressiven Phase die Menstruation oft aussetzt, wahrend dies bei der 
Manie seltener der Fall ist; desgleichen fiihrt Wilmanns aus, daB bei 
Psychopa then wahrend der depressiven Zustiinde die Monatsblutungen 
oft aussetzen. Auch Kraepelin gibt an, daB sowohl bei Dementia prae- 
cox wie auch bei Depressionszustanden Amenorrhoe oft vorkommt. 

ftehm beschaftigte sich eingehend mit dem Studium der Gewichts- 
schwankungen und der Amenorrhoe bei Psychosen und betonte, daB 
die Frage der Menstruationsverhaltnisse nur im Vergleich und an Hand 
der Korpergewichtskurve zu beurteilen ware. Er fand ebenfalls Amenor¬ 
rhoe bei Paralyse haufig (ungefahr bei 50%), bei Epilepsie und Hysterie 
selten. Die Menstruationsstorungen bei der Dementia praecox und dem 
manisch-depressiven Irresein zeigen nach ihm eine gewisse Verwandt- 
schaft. Die Ursache fur das Zessieren der Monatsblutungen fiihrte er 
ebenfalls auf innersekretorische Storungen zuriick. Prognostische 
Schliisse aus dem Fehlen oder Vorhandensein der Menstruation glaubte 
er nicht annehmen zu diirfen, wenn auch der Wiedereintritt nach vor- 
herigem Ausbleiben als giinstiges Symptom angegeben wurde. 

Im folgenden sei nun eine Zusammenstellung iiber Amenorrhoe bei 
Geistes- und Nervenkranken gemacht, die in der hiesigen Klinik wahrend 
der Jahre 1916 bis 1921 in Behandlung w’aren. Soweit es mir moglich 
war, suchte ich dabei natiirlich alle solche Falle auszuschlieBen, bei 
denen auBer den angefiihrten Diagnosen noch irgendwelche andere 
atiologische Momente (wie z. B. Chlorose usw.) in Betracht hatten 
kommen konnen. Es wurden im allgemeinen nur solche Falle heran- 
gezogen, bei denen vorher wenigstens einmal schon eingetrctene Men¬ 
struation registriert war, und bei denen wahrend einer wenigstens drei- 
raonatigen Beobachtung das Unw’ohlsein dreimal hintereinander aus- 
gesetzt hatte. DaB ich nur Personen anfiihre, die in der Zeit zwischen 
Pubertat und Klimakterium beobachtet wurden, brauche ich wohl kaum 
zu erwahnen. Aber auch Puerperal- und Lactationspsychosen lieB ich 
aus (ganz abgesehen natiirlich von den Graviditatspsychosen), weil ich 
glaubte, dadurch eine einwandsfreiere Cbersicht zu bekommen. Da 


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470 A. Hanse: t)ber Amenorrhoe bei Nerven- und 

bei gewissen angeborenen Minderwertigkeiten (wie z. B. Imbecillitat 
oder Psychopathie) von vornherein die Mbglichkeit bestand, daB es 
hier iiberhaupt nicht zum Auftreten der Menstruation hatte gekommen 
sein konnen, so kam es aber noch darauf an, festzustellen, mit welchem 
Jahr man den Beginn der Pubertat oder des Klimakteriums festsetzen 
sollte. Zu die8em Zwecke hielt ich mich an die Angaben von Schaeffer, 
der das durchschnittliche Alter der 1. Periode auf 15,723 und das 
der Menopause auf 47,26 Jahre verlegt, und nahm als Normaljahr flir die 
Pubertat das 16., und fiir den Beginn des Klimakteriums das 47. Lebens- 
jahr an. 

Nach Beriicksichtigung dieser vorausgeschickten Erwagungen blieben 
mir 430 Falle, bei denen die gefundenen Werte einigermaBen fehlerfrei 
sein konnen. 

Ebenso nun wie die friiheren Autoren, fand auch ich ein haufiges 
Vorkommen der Amenorrhoe, und zwar, um es gleich vorauszuschicken, 
betrug die Zahl der Falle mit: 

Amenorrhoe . 197 = 45,8°/o 

und mit normaler Menstruation . 233 = 54,2°/ 0 . 

Die Beteiligung der verschiedenen in Betracht kommenden Krankheiten 
ist am besten aus folgender t)bersichtstabelle ersichtlich. 


Nr. 

Diagnose 

Amenorrhoe 

1 o/ 

/o 

Normale 

Menstruation 

1 0/ 

1 /o 

zu- 

sammen 

1 

Katatonie. 

75 

62,5 

45 

37,5 

120 

2 

Depression. 

51 

60.7 

33 

39,3 

84 

3 

Manie. 

9 

45.0 

11 

55.0 

20 

4 

Hysterie. 

6 

9,5 

57 

90,5 

63 

5 

Psychopathie .... 

8 

40,0 

12 

60,0 

20 

6 

Imbecillitiit, Idiotie . 

3 

16,7 

15 

83,3 

18 

7 

Hebephrenie .... 

9 

50,0 

9 

50,0 

18 

8 

Epilepsie. 

6 

40.0 

9 

60,0 

15 

9 

Deni, paran. 

6 

50,0 

6 

50,0 

12 

10 

Neurasthenic . . 

— 

— 

12 

100,0 

12 

11 

Lues cerebri .... 

5 

45,5 

6 

54.5 

11 

12 

Encephalitis .... 

5 

50,0 

5 

50,0 

10 

13 

Paralyse. 

7 

100,0 

— 

— 

7 

14 

Paranoia. 

— 

— 

6 

100,0 

6 

15 

Mult. Skier. 

4 

100,0 

— 

— 

4 

16 

Tabes dorsal. 

— 

— 

3 

100,0 

3 

17 

Chor. minor. 

— 

— 

2 

100,0 

2 

18 

Akut. Halluz. 

— 

— 

l 

100,0 

I 

19 

Morphinisms . . . 

— 

— 

1 

100,0 

i 

20 

Dystr. muscul. progr. 

1 

100,0 

— 

— 

i 

21 

Huntington .... 

1 

100,0 

— 

— 

i 

22 

Tabes dors. u. Kata¬ 
tonie . 

1 

100,0 

— 

— 

i 


Summer 

197 


233 


430 


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Geisteskrankheiten und ihre Behandlung mit Menolysin. 


471 


Betrachten wir nun die einzelnen Krankheitsgruppen und beriick- 
sichtigen wir dabei folgende Fragen: 

I. a) War bei den Fallen, bei denen wir Amenorrhoe fanden, diese 
schon vor Ausbruch der Erkrankung oder in deren Verlauf 
aufgetreten ? 

b) Trat bei den Fallen mit Amenorrhoe die Menstruation spater 
wieder auf, und zwar 

1. bei gleichzeitiger Besserung der ganzen Krankheit? 

2. wahrend die Krankheit einen chronischen Verlauf nahm? 

II. Handelte es sich bei den Fallen, wo die Menstruation regelmaBig 

verlief 

a) um Falle mit giinstigerem Ausgang? 

b) um chronisch verlaufende Falle? 

Was zunachst die erste Gruppe anlangt, die Katatonie, so fanden wir 
bei diesen im ganzen 75 Falle mit Amenorrhoe (von 120 Fallen); von 
diesen hatte die Menstruation bei 19 schon vor dem deutlichen Ausbruch 
der Erkrankung ausgesetzt, wahrend sie bei 56 Fallen unmittelbar im 
AnschluB an die Erkrankung aussetzte. Spater trat sie dann bei 48 
Fallen wieder auf, und zwar bei 19 Fallen gleichzeitig mit Besserung der 
Erkrankung und bei 29 Fallen bei chronischem Krankheitsverlauf. Bei 
27 Fallen konnten keine sicheren Feststellungen gemacht werden, weil 
die Kranken zu friih wieder die Klinik verlieBen. Von den 45 Fallen mit 
normal verlaufender Menstruation zeigten 11 wesentliche Besserung, 
wahrend 34 Falle chronisch verliefen. 

Bei Depressionszustanden fand sich Amenorrhoe im ganzen 51 mal 
(von 84 Fallen), davon entfielen 10 auf Falle mit schon vor Ausbruch 
der Erkrankung eintretender Amenorrhoe und 41 auf Falle mit Aus- 
setzen der Menstruation nach Krankheitsbeginn, bei 40 Kranken wurden 
die Blutungen wieder regelmaBig, und zwar bei 31 wahrend gleichzeitiger 
Besserung der Depression und bei 9 wahrend des chronischen Verlaufes. 
In 33 Fallen blieb die Menstruation regelmaBig, und zwar bei 22Kranken, 
die sich bald besserten und bei 11 mit chronischem Verlauf. 

Bei maniakalischen Erkrankungen lagen die Verhaltnisse so, daB 
Amenorrhoe 9mal (von 20 Fallen) gefunden wurde, davon 2mal schon 
vor Ausbruch der Erkrankung und 7 mal im spateren Verlauf, bei 
8 Fallen trat die Menstruation spater wieder auf, und zwar 6 mal mit 
gleichzeitiger Besserung, 2 mal bei chronischem Krankheitsverlauf In 
11 Fallen fand sich normaler Verlauf der Blutungen, und zwar 8mal bei 
sich bessernden und 3mal bei chronischen Erkrankungen. 

Bei derHysterie kam von 63 Fallen Cessatio mensium nur 6 mal vor, 
und zwar 1 mal war sie schon vor Krankheitsbeginn nachweisbar, in 
2 Fallen war die Menstruation immer unregelmaBig, und in 3 Fallen 
trat sie nach Ausbruch der Erkrankung auf, bei einer Kranken wurde die 


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472 


A. Hanse: fiber Amenorrhoe bei Nerven- und 


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Menstruation mit gleichzeitiger Besserung des allgemeinen Zustandes 
wieder regelmaBig, in 3 Fallen trat sie bei gleichmaBigem Krankheits- 
verlauf wieder auf. In 57 Fallen war das Unwohlsein immer regelraaBig, 
und zwar in 23 gebessert entlassenen und in 34 chronischen Fallen. 

Bei 20 Psychopathen fanden wir 8mal Amenorrhoe, bei diesen war 
alter das Unwohlsein schon vorher immer sehr unregelmaBig oder setzte 
ganz aus, in 3 Fallen trat im spateren Verlauf die Menstruation wieder 
auf, ohne daB eine wesentliche Anderung im Krankheitsbild zu erkennen 
ware, in 12 Fallen blieb die Menstruation durchweg regelmaBig. 

Von Imbecillen und Idioten fanden wir 18 Falle, davon 3 mit 
Amenorrhoe, die aber ebenfalls von jeher schon unregelmaBig oder gar 
nicht menstruiert waren, bei einem Fall wurde das Unwohlsein spater 
regelmaBiger, bei 15 Fallen blieb es wahrend der ganzen Beobachtungs- 
dauer regelmaBig. 

Bei den hebephrenen Psychosen fanden sich folgende Verhaltnisse: 
Im ganzen kamen 18 Falle in Betracht, davon zeigten 9 Falle Amenor¬ 
rhoe, 9 normale Menstruation. Bei den 9 Kranken mit Amenorrhoe 
hatte in einem Fall das Unwohlsein schon vor der Erkrankung aus- 
gesetzt, in 8 Fallen zessierte es wahrend der akuten Psychose, bei 4 von 
diesen trat es mit Besserung der Krankheit wieder auf, bei 2 Fallen da- 
gegen wahrend des chronischen Krankheitsverlaufes. Von den 9 Fallen 
mit normaler Menstruation verliefen 5 giinstig, 4 ungiinstiger. 

Von 15 Epileptikern zeigten 6 Amenorrhoe, 9 normale Menstruation, 
bei der 1. Gruppe waren die Blutungen in 2 Fallen von jeher sehr un¬ 
regelmaBig, in 4 Fallen setzten sie nach Eintritt der Erkrankung aus, 
2mal wurden sie im spateren Krankheitsverlauf wieder regelmaBig. 
Von den 9 normal menstruierten Fallen besserten sich 6 unter geeigneter 
Behandlung, wahrend 3 Falle keine Anderung zeigten. 

Dann folgt in unserer Tabelle die Dementia paranoides mit 12 
Fallen, davon waren 6 Falle amenorrhoeisch, und die iibrigen 6 normal 
menstruiert. Bei alien 6 Fallen mit Amenorrhoe trat diese nach Aus- 
bruch der Psychose auf, um in einem Fall mit gleichzeitiger Besserung 
des Leidens und in 3 Fallen wahrend des chronischen Verlaufes einer 
geregelten Menstruation zu weichen. Die 6 normal menstruierten Falle 
verliefen alle chronisch. 

Bei 12 Fallen mit Neurasthenic war Amenorrhoe gar nicht vertreten, 
10 Falle zeigten wesentliche Besserung, bei 2 Fallen war der Krankheits¬ 
verlauf chronisch. 

Lues cerebri: von 11 Kranken waren 5 amenorrhoeisch, 6 normal 
menstruiert. Von der 1. Gruppe war in 1 Fall die Menstruation schon 
vor deutlichem Krankheitsausbruch ausgeblieben, in 4 Fallen wahrend 
der Erkrankung; in keinem von diesen Fallen trat wieder eine regel- 
maBige Blutung auf. Von den 6 normal menstruierten Kranken 


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Geisteskrankheiten und ihre Behandlung mit Meno’.ysin. 473 

besserten sich 4, wahrend die anderen 2 keine wesentliche Anderung 
erkennen lieBen. 

Von encephalitischen und postencephalitischen Erkrankungen fan- 
den wir 10 fiir unsere Betrachtung geeignete Falle, 5 davon zeigten 
Amenorrhoe, und zwar eine vor Krankheitsbeginn, die anderen 4 un- 
mittelbar nach Ausbruch der Erkrankung, von diesen zeigten wahrend 
der Besserung, bzw. Heilung 3 wieder normale Menstruation, 1 kam ad 
exitum, bei einem anderen Fall, der sich ebenfalls besserte, konnten 
keine Erhebungen iiber die spateren Menstruationsverhaltnisse vor- 
genommen werden. Von den 5 normal menstruierten Fallen besserten 
sich 2, 1 Fall verlief chronisch, 2 kamen ad exitum. 

Die 7 Frauen mit Paralyse waxen alle amenorrhoeisch, und zwar 2 
schon vor deutlichem Krankheitsausbruch, 5 nach offenem Krankheits¬ 
beginn. bei 1 Fall trat wahrend der zunehmenden Verblodung die Men¬ 
struation wieder auf, die anderen Falle entzogen sich der weiteren Be- 
obachtung. 

Paranoia chronica: ini ganzen 6 Falle, und zwar alle mit normaler 
Menstruation. 

Multiple Sklerose: im ganzen 4 Falle, alle amenorrhoeisch, davon 
1 Fall schon vor deutlichem Krankheitsbeginn, 3 wahrend des Krank- 
heitsverlaufes, bei 1 Fall trat die Menstruation dann spater wieder auf, 
bei den andern zessierte sie wahrend der ganzen Beobachtungsdauer. 

Tabes dorsalis: im ganzen 3 geeignete Falle, alle normal menstruiert. 

Die 3 folgenden Gruppen: Chorea minor, akute Halluzinose und 
Morphinismus zeigten normale Menstruationsverhaltnisse, die 3 weiteren 
Falle, Dystrophia musculorum progressiva, Chorea Huntington, Tabes 
dorsalis und Katatonie zeigten Amenorrhoe, und zwar war von letzteren 
bei den beiden ersten Fallen die Menstruation von jeher unregelmaBig, 
schwach oder fehlend, bei dem 3. Fall setzte sie spater aus. 

Fassen wir nun unter Beriicksichtigung der Ergebnisse von Schaefer, 
Haymann und Jolly unsere Erfahrungen zusammen, so laBt sich folgen- 
des sagen. Ebenso wie die anderen Autoren fanden wir Amenorrhoe 
sehr haufig bei Psychosen, und zwar in 197 von 430 Fallen. 

Am haufigsten fanden wir Cessatio mensium bei organischen Gehirn- 
krankheiten wie Paralyse und multipler Sklerose. Auch Haymann und 
Jolly fanden bei diesen Krankheiten sehr haufig Amenorrhoe, wenn auch 
nicht so oft wie wir. Jolly weist darauf hin, daB sie besonders bei Tabo- 
paralyse vorkomme. Leider fanden wir fiir diese Erkrankung keinen 
geeigneten Fall, jedoch miissen wir sagen, daB von unseren 3 Fallen mit 
Tabes dorsalis alle normale Menstruationsverhaltnisse zeigten. 

Am nachsthaufigsten fanden wir Amenorrhoe bei Katatonie (62,5%) 
und bei Depressionszustanden (60,7°/ 0 ). Diese Angaben decken sich 
ungefahr mit denen der anderen Autoren. Bei Manie war dieses Symptom 

Archiv fiir Psychlatrie. Bd. 68. 31 



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474 


A. Hanse: Cber Amenorrhoe bei Xerven- und 


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etwas seltener (bei 45%). Auch Jolly fand bei dieser Erkrankung die 
Amenorrhoe seltener als bei der Depression, wahrend Haymann bei 
beiden Phasen die gleichen Verhaltnisse fand. Bei Hebephrenie war 
Amenorrhoe in 50% vertreten, also etwas seltener als bei Katatonie. 
Diese Beobachtung deckt sich auch mit der von Haymann. Ebenfalls 
fanden wir bei der Dementia paranoides Cessatio mensium in 50% der 
Falle, wahrend sie nach Haymann bei dieser Erkrankungsform seltener 
ist als bei der Hebephrenie, desgleichen ist sie bei Jolly als seltene Er- 
scheinung erwahnt. 

Verhaltnism&Big haufig zeigten bei uns die psvchopathischen 
Frauen Aussetzen der Menstruation (in 40% der Falle), wahrend von 
den anderen Autoren fiir diese Falle selten Storungen angegeben wurden. 
In bezug auf Hysteric, Neurasthenic und Schwachsinn deckten sich 
unsere Beobachtungen im wesentlichen mit denen der friiheren Er- 
fahrungen. Desgleichen konnten wir die Tatsache bestatigen, daB bei 
der chronischen Paranoia Amenorrhoe so gut wie gar nicht vorzu- 
kommen scheint. 

Bei Epilepsie fand Jolly selten Cessatio mensium, Haymann da- 
gegen in der Halfte seiner Falle, wir beobachteten sie in 40% der 
Falle. 

Haufig sahen wir ferner Amenorrhoe bei Encephalitis (50%) und 
Lues cerebri (45%). Auf die anderen Krankheitsgruppen naher einzu- 
gehen ist iiberfliissig, da wir nicht geniigend Falle aufweisen konnen, 
um brauchbare Angaben machen zu konnen. 

Was nun das zeitliche Auftreten der Amenorrhoe anlangt, so sahen 
wir, daB diese in den meisten Fallen kurz nach Ausbruch der Erkrankung 
auftrat, und zwar besonders dann, wenn starke affektive Spannungen 
(besonders Angst) vorhanden waren. Diese Beobachtung deekt sich 
vollstandig mit den Angaben der genannten Autoren. Ferner sahen 
wir, daB nach vorheriger Amenorrhoe die Menstruation wieder regel- 
maBig werden konnte: I. sowohl nach Besserung bzw. Remission der 
Erkrankung als II. auch, nachdem die Krankheit aus den ersten stiir- 
mischen Affekten in ein gleichmaBigeres Tempo odcr gar in zunehmende 
Verblodung iibergegangen war. Was unsere Falle mit normalen Men- 
struationsverhaltnissen betrifft, so handelte es sich dabei sowohl um 
Krankheiten, bei denen eine baldige Besserung eintrat, als auch um 
solche, die chronischen Verlauf nahmen. Wenn jedoch ein allerdings 
nicht ganz sicher beweisbares Urteil zulassig ist, so konnen wir sagen, 
daB in diesen Fallen im allgemeinen keine so starken affektiven Er- 
regungen vorhanden waren, wie bei den vorher erwahnten Fallen. 

Was nun unsere zahlreichen, mit AmenoiThoe einhergehenden, 
organischen Gebirnkrankheiten (Paralyse, multiple Sklerose, Encepha- 
litis, Lues cerebri) anlangt, so drangt sich bei diesen mehr und mehr die 


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Geisteskrankheiten und ihre Behandlung mit Menolysin. 


475 


Annahme auf, daB hier durch Befallensein eines zentralen, vegetativen 
Zentrums, wahrscheinlich auf dem Wege iiber andere endokrine Driiscn 
(besonders Hypophyse), eine Funktionsstorung der Keimdriisen mog- 
lich ist. Naturlich bin ich rair bewuBt, daB man ebensogut aber auch 
daran denken kann, daB hier eine allgemeine Intoxikation die Ursache 
der Amenorrhoe sein kann. Immerhin aber scheint es mir auffallig, 
daB wir: I. bei starken, affektiven Hochspannungen und II. bei orga- 
nischen Prozessen im Gehirn am haufigsten ein Aussetzen der Men¬ 
struation beobachteten. Es ist deshalb wohl der Gedanke erlaubt, daB 
diese Erscheinung bedingt sein konnte sowohl durch eine primare Er- 
krankung des hypothetischen vegetativen Zentrums, als auch durch 
eine sekundare Funktionsstorung dieses Zentrums infolge hoherer 
psychischer Storungen, und zwar besonders dann, wenn diese mit starken 
Affekten beladen sind. 

Sichere diagnostische und prognostische Sehliisse lassen sich aber 
meines Erachtens aus dem Ausbleiben der Monatsblutungen nicht 
ziehen. 

Nachdem wir nun auf Grund der friiheren Angaben einerseits und 
von eigenen Beobachtungen andererseits einen etwas genaueren Einbhck 
in das Verhaltnis der Amenorrhoe bei Nerven- und Geisteskrankheiten 
gewonnen haben, mochte ich jetzt auf die Frage eingehen, ob es durch 
geeignete therapeutische MaBnahmen moglich ist, wieder einen nor- 
raalen Menstruationsverlauf hervorzurufen. 

Die Behandlung der Amenorrhoe, die im Gefolge fieberhafter Er- 
krankungen, Stoffwechselstorungen, Konstitutionsanomalien oder In- 
toxikationen auftritt, richtet sich naturlich nach der ihr zugrunde 
liegenden Erkrankung. Fur geeignete, psychogen bedingte Menstrua- 
tionsanomalien kommt, wie oben schon erwahnt, die suggestive Therapie 
in Frage. Auf die Behandlung der rein brtlich bedingten Storungen 
gehe ich hier nicht naher ein. Entsprechend der Anschauung iiber die 
durch endokrine Storung bedingte Amenorrhoe werden von Heimann 
die verschiedensten Praparate als jeweilig geeignet genannt, wie z. B. 
Corpus-luteum-Tabletten, Ovaraden, Ovaraden-triferrin, Hypophysen- 
extrakt, ferner unter Berufung auf Aschner Placenta- oder Milzextrakt 
und schlieBlich noch entsprechend den Angaben von Kohler und Ualban 
Diinndarmextrakt, das Enteroglandol. AuBerdem wurde vielfach iiber 
giinstige Erfolge — entsprechend der Beteiligung des vegetativen 
Systems — bei Atropin- oder Adrenalinverabreichung berichtet. 

Da schon seit einigen Jahren das Johimbin als gecignetes, thera- 
peutisches Mittel zur Behandlung der Amenorrhoe von verschiedenen 
Autoren angefiihrt wurde, versuchten auch wir, damit das Ausbleiben 
der Monatsblutungen bei Nerven- und Geisteskrankheiten zu be- 
seitigen. Das Johimbin, das neuerdings von der Chem. Fabrik Giistrow 

31 


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476 A. Ha line: Uber Amenorrhoe bei Nerven- und 

unter dem Namen Menolysin in den Handel gebracht und bei Dys- 
menorrhoe, Amenorrhoe, Oligomenorrhoe und klimakterischen Be- 
schwerden empfohlen wird, wurde zuerst von Spiegel 1891 aus dem in 
Kamerun wachsenden Baum ,,Johimbea“ (Familie der Apooynaceen) 
rein dargestellt. t)ber dieses Mittel wurde wiederholt berichtet, vor 
allem uber seine aphrodisierende Wirkung. 

Loewy injizierte kastrierten Hunden Johimbin; zwar blieb die Libido 
unbeeinfluBt, doch beobachtete er im ganzen erhohte Lebhaffcigkeit 
und Erektionen, die er durch Wirkung aufs Erektionszentrum im 
Sakralmark zu erklaren versuchte. Posner riihmt es als Mittel zur Be- 
kampfungder Impotenz, Mendel sah ebenfalls gute Erfolge bei Impotenz 
infolge reizbarer Schwache und bei Paralyse, w&hrend es bei Tabes 
dorsalis ohne EinfluB war. Berger benutzte es zur Behandlung der 
Impotenz infolge funktioneller Lahmung des Riickenmarkes, Schalen- 
kamp bei sexueller Neurasthenie. Eingehende Beriicksichtigung fand 
das Johimbin in einem Sammelreferat von Lewitt (1902). Silberstein 
berichtet iiber Erfolge bei Impotenz infolge chronischer Intoxikation 
mit Brom oder Alkohol. Auch Toff halt das Mittel fiir angebracht, 
sowohl bei ,,neurasthenischer und psychischer Impotenz 11 , als auch bei 
,,toxischer lmpotenz“ (Hg-Vergiftung, Lues und Alkohol). Eulen- 
burg applizierte das Johimbin subcutan und hatte giinstigen EinfluB 
auf neurasthenische Impotenz. Desgleichen geben Kuhn und Kronfeld 
bei reizbarer oder nervoser Impotenz gute Erfolge an. Ahnlich be- 
richten Tausig, BoP und Hellmer. Diese vielfach anerkannte, giinstige 
Wirkung suchte Slriibbel durch einen gesteigerten Stoffwechsel und ver- 
rnehrte Durchstromung der Nerven zu erklaren. Keine Erfolge wurden 
angegeben von Krawkoff und Hess. 

Zur Behandlung der infantilistischen Sterilitat empfahl Bab das 
Johimbin in Kombination mit Oophorin und Lecithin. 

Die Angaben von Loewy und Muller, daB Johimbin bei Applikation 
auf motorische Nerven die Erregbarkeit herabset-zt und bei sensiblen 
Nerven Anasthesie bedingb, erwahne ich hier nur kurz. 

Von einigen Autoren wurde auf die schadigende Wirkung des 
Johimbins hingewiesen, so vor allem von Krawkoff, der bei 6 Versuchs- 
personen (Arzten) nicht unbedeutende Vergiftungserscheinungen sah. 
Nach Oberivarth wirkt das Mittel auf die Atmungs- und Herztatigkeit, 
erniedrigt Pulszahl und Blutdruck, erzeugt Lahmung des Nerven- 
systems und kann bei Hunden zu heftigen Erregungszustanden und 
Krampfen fiihren. Demgegeniiber stehen aber die Angaben von 
Strubell, nach dem nach Injektion von medizinalen, die Herzaktion 
nicht alterierenden Dosen langanhaltende Steigerung des Gehirndrucks 
und Erweiterung der GefaBe des Zentralnervensystems eintritt. Berger 
sah als unangenehme Nebenwirkung bisweilen Koliken, Leberanschop- 


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Geisteskrankheiten und ihre Behandlung mit Menolysin. 


477 


pung und Magenschmerzen, Erscheinungen, die aber prompt naeh 
Aussetzen des Mittels verschwanden. Daels macht auf Grund seiner 
Versuche bei Tieren darauf aufmerksam, daB bisweilen starke Hyperamie 
des Abdomens, blutige Faeces infolge Hamorrhagien der Darmwand, 
progressive Schwache und sogar Exitus eintreten konnen, doch lassen 
sich nach ihm durch Aussetzen des Mittels alle Erscheinungen prompt 
beseitigen. Ferner bestatigt er die Ansichten von Kronfeld, Euler-Rolle 
und Toff, nach denen der festgestdllte EinfluB auf die Libido nicht un- 
gefahrliche Nebenwirkungen auf die Psyche der Frau ausiiben kann. 
Hiibner endlich empfiehlt bei Johimbinverabreichung standige Kontrolle 
des Urins, da er bei Kaninchen nach langer Verfiitterung des Mittels 
EiweiBausscheidung fand, die er auf Nierenreizung infolge Erhohung 
des Blutdrucks und Erweiterung der NierengefaBe zuriickfiihrt. Ana- 
tomisch fand er ausgedehnte Verfettung der Nierenepithelien. 

Giinstiger EinfluB des Johimbin bzw. Menolysin auf Amenorrhoe 
oder Dysmenorrhoe wurde wiederholt angegeben. 

Toff empfiehlt es bei alien menstruellen UnregelmaBigkeiten und 
Beschwerden, die auf einer unzureichenden Blutzufuhr zu der Gebar- 
mutter beruhen, und wo eine eigentliche, organische Erkrankung nicht 
nachzuweisen ist. Ebenso fiihrt es Lewitt als empfehlenswertes Mittel 
an wegen der hyperamisierenden Wirkung auf die Becken und Genital- 
organe. Ahnlich auBern sich Simons und Loewy. Heimann nennt das 
Johimbin fur die Behandlung der Amenorrhoe neben den oben ge- 
nannten Organpraparaten. Greinert sah giinstige Erfolge besonders 
bei Dysmenorrhoe, die Schmerzen UeBen nach, die Blutungen wurden 
starker, dauerten aber nicht so lange wie vorher. Das Allgemein- 
befinden besserte sich, die Frauen wurden frischer, einmal wurde auch 
menstruelles Erbrechen beseitigt. Auch Abel auBert sich zufrieden liber 
die Wirkung des Menolysins bei Amenorrhoe, besonders der Kriegs- 
amenorrhoe und fiihrt die pharmakologische Wirkung ebenfalls auf 
GefaBerweiterung und bessere Durchblutung der Genitalorgane zuriick. 
Ungefahr denselben Standpunkt nimmt auch Kohler ein. Ahnlich wie 
Bab durch Kombination von Oophorin-Johimbin-Lecithin die infantile 
Sterilitat behandelte, so wird von Brassel und Lohnberg das Theligan- 
Henning, eine Kombination von Johimbin mit Keimdriisen- und Schild- 
driisensubstanz, als geeignetes Mittel zur Behandlung der Amenorrhoe 
angegeben. 

. Wir sehen, daB eine bereits umfangreiche Literatur iiber die Wirkung 
des Johimbins bzw. Menolysins besteht. Wie verhalt es sich nun mit der 
Behandlung der Amenorrhoe bei Nerven- und Geisteskranken? Um 
dieser Frage naher zu gehen, gaben wir bei unseren geeigneten Fallen 
das Menolysin (GiLstrow), und zwar in Starke von 3mal taglich 0,005 g 
Johimbin hydrochlor. Im ganzen gaben wir es zunachst bei 21 Patien- 


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Geisteskrankheiten und ikre Behandlung mit Menolysin. 479 

eintritt der Menstruation ohnc EinfluB auf die Psychose. Erst allmahlich lang- 
same Besserung. 

V. Erl. O., Irmgard, 17 J. alt. 

Diagnose: Hebephrenie. 

Vom 15. IV. bis 1. VII. 1922 hier in Behandlung, dann gebessert entlassen. 
Hauptsymptome: Stiinmungslabilitat, meist jedoch lappisch, albem, unruhig. 
starker, zerfahrener Rededrang. Menstruiert seit dem 15. Lebensjahr regelmfiBig, 
dabei Kopf- und Riickenschmerzen, dann vor Ausbruch der Erkrankung aus- 
gesetzt, „sei ihr wohl zu Kopf gestiegen“. 

Vom 19. bis 23. IV. 1922 tgl. 3 Tabl. Menolysin. Vom 23. bis 26. IV 7 . 1922 men¬ 
struiert. Menstruation okne EinfluB auf die Erkrankung, spater regel mil Big. 

VI. Erl. F., Anna, 22 J. alt. 

Diagnose: Hebephrenie. 

Aufenthalt in der Klinik: vom 24.111. bis 2. VI. 1922. Hauptsymptome: 
psychomotorische Unruhe, Rededrang, Euphorie, VVahnideen. 

Menstruation friiher regelmaBig, mit Ausbruch der Erkrankung ausgesetzt. 
Vom 27. IV. bis 29. V. 1922 tgl. 3 Tabl. Menolysin. Vom 30. V. bis 2. VI. 1922 
menstruiert. Seit Mitte Mai allinfihliche Besserung, am 2. VI. 1922 entlassen. 

VII. Erl. W., Elfriede, 20 J. alt. 

Diagnose: Psychopathic mit Affektschwankungen und hysterischen Anf&llen. 

Aufenthalt in der Klinik vom 24. III. bis 16. IX. 1922. 

Hauptsymptome: Starke Affektlabilitat, Dberempfindlichkeit, Tobsuchts- 
anfalle mit suicidalen Xeigungen. 

Letztes Unwohlsein Ende Mfirz 1922. Vom 28. IV 7 . bis 2. V 7 . Menolysin 3mal 
tgl. 1 Tabl. Vom 2. bis 7. V 7 .1922 menstruiert. YVahrend des Menstruationsvorganges 
i. g. gereizter und empfindlicher. Spateres Unwohlsein immer etwas unregelmaBig. 
Am 16. IX. 1922 auf Wunsch der Mutter entlassen. 

VIII. Erl. W., Marta, 29 J. alt. 

Diagnose: Katatonie. 

Aufenthalt in der Klinik vom 9. VI. bis 4. XI. 1922. 

Hauptsymptome: Halluzinationen, Angst, Stupor, eigenartige Manieren. 

Letztes Unwohlsein vor Krankheitsbeginn nicht genau bekannt, soil friiher 
regelmaBig gewesen sein. Vom 2. VII bis 7. IX. 1922 Menolysin, 3mal tgl. 1 Tabl. 
Vom 7. bis 9. IX. 1922 menstruiert. Unwohlsein seitdem regelmaBig, ohne EinfluB 
auf den Krankheitsverlauf. Ungeheilt in eine Anstalt iiberfiihrt. 

IX. Frau R., Maragarete, 32 J. alt. 

Diagnose: Encephalitis epidemica (Polineuritis? Poliomyelitis anterior?). 

Vom 13. VIII. 1921 bis 17. IV. 1922 hier in der Klinik. 

Hauptsymptome: Schlaffe Lalimung beider Beine. 

Letztes Unwohlsein Ende Juli 1921, vor Krankheitsbeginn. Vom 29. XI. bis 
6. XII. 1921 3mal tgl. 1 Tabl. Menolysin. Vom 7. bis 9. XII. menstruiert, dann regel- 
maBige Monatsblutungen. Allmahliche Besserung der Erkrankung, jedoch ohne 
Zusammenhang mit Auftritt der Menstruation. Wesentlich gebessert entlassen. 

X. Frau C., Marie, 32 J. alt. 

Diagnose: Manisch-depressives Irresein. 

Unwohlsein friiher regelmaBig, ohne Beschwerden. 

Aufenthalt in der Klinik im ganzen 3mal. 

I. Aufenthalt: vom 18. IV. 1921 bis 10. VI. 1921. Depressive Phase (ttelbstvor- 
wiirfe, Angst, Versiindigungsideen). Gebessert entlassen. Menstruiert eingeliefert. 
dann nicht mehr unwohl gewesen. 

II. Aufnahme am 13. X. 1921, depressiv, menstruiert, spater ausgesprochen 
manisch. Am 27. XII. 1921 gebessert entlassen. Menstruation wiihrend dieser Zeit 
regelmaBig. 


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A. Harise: tlber Amenorrhoe bei Nerven- unci 


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III. Aufnahme: 25. I. 1922, manische Phase; Unwohlsein unregelmaBig, oft 
aussetzend. Zuletzt 3 Monate Amenorrhoe. Verabreichung von Menolysin, nach 
8 Tagen Auftreten der Monatsblutung; diese ohne EinfluB auf die Erkrankung. 

Wenden wir nns nun zu den Fallen, bei denen trotz Verabreichung von Meno¬ 
lysin die Amenorrhoe bestehen blieb. 

XI. Frl. J., Margarete, 30 J. alt. 

Diagnose: Katatonie. 

Krank seit 1910, beginnend mit angstlicher Verworrenheit, Unruhe, Halluzi- 
nationen. Wiederholt in Anstaltsbehandlung. Aufenthalt hier in der Klinik: vom 
23. VIII. 1921 bis 14. III. 1922. Vorwiegend negativistisch, mutazistisch. Zeit- 
weilig unmhig, AuBerung verworrener Ideen. 

Menstruation seit dem 16. Lebensjahr, zuerst regelmaBig, dann unregelmaBiger, 
spiiter aussetzend, wahrscheinlich schon 1910. Trotz monatelanger Verabreichung 
von Menolysin kein EinfluB auf die Amenorrhoe. Auch Ovarienpraparate blieben 
erfolglos. Ungeheilt in eine andere Anstalt iiberfiihrt. 

XII. Frau H., Marie, 30 J. alt. 

Diagnose: Katatonie. 

Krank seit Anfang September 1921, beginnend mit Angst (Conamen suicid.), 
Unruhe. 

Am 1922. IX. 21 hier zur Aufnahme. Vorwiegend angstlich, gespannt hallu- 
zinierend. 

Unwohlsein seit dem 15. Jahr regelmaBig bis zum Ausbruch der Erkrankung, 
dann standige Amenorrhoe. Vom 25.1. bis 13.III. 1922 3mal tgl. 1 Tabl. Menolysin. 
Ohne Erfolg. Am 14. III. 1922 ungeheilt einer andern Anstalt iiberfiihrt. 

XIII. Frl. Sch., Meta, 20 J. alt. 

Diagnose: Katatonie. 

Akut erkrankt mit Angst, Unruhe, Verwirrtheit, Halluzinationen. Am 
30. XII. 21 hier Aufnahme. 

Menstruation friiher regelmaBig, letztes Unwohlsein vom 30. XII. 1921 bis 
1. I. 1922. Vom 24. II. 1922 ab 3mal tgl. 1 Tabl. Menolysin. Ohne Erfolg. Am 
8. IV. 1922 als gebessert entlassen. 

XIV. Frl. K., Marie. 19 J. alt. 

Diagnose: Katatonie. 

Akut erkrankt mit Angst, Verfolgungsideen, Halluzinationen. Am 21. I. 1922 
hier zur Aufnahme. 

Unwohlsein friiher regelmaBig, zuletzt Anfang Januar 1922. Vom 26. II. bis 
27. IV. 1922 3mal tgl. 1 Tabl. Menolysin. Ohne Erfolg. Am 27. IV. 1922 in eine 
andere Anstalt iiberfiihrt. 

XV. Frl. F., Else. 21 J. alt. 

Diagnose: Katatonie. 

Am 28. II. 1922 zur Aufnahme. Akut erkrankt. Vorwiegende Symptome: Angst, 
Ratlosigkeit, Zerfahrenheit, abwecliselnd mit Stupor. Letztes Unwohlsein nicht 
genau bekannt. Hier nicht menstruiert, obgleich sie vom 26. III. bis 27. IV. 
Menolysin erhielt. Am 17. V. 1922 ungeheilt in eine andere Anstalt iiberfiihrt. 

XVI. Frau D., Auguste, 30 J. alt. 

Diagnose: Katatonie. 

Vom 22. II. 1922 akut erkrankt mit Angst, Unruhe, Verwirrtheit. Am 28. II. 
1922 hier zur Aufnahme. Immer sehr unruhig und zerfahren, lebhalt, halluzinierend. 

Unwohlsein friiher regelmaBig, zuletzt hier am 27. III. bis 2. IV. 1922. Vom 
30. V. bis 29. IX. 1922 3mal tgl. 1 Tabl. Menolysin. Ohne Erfolg. Ungeheilt in 
eine andere Anstalt iiberfiihrt. 

XVII. Frl. H„ Anna, 31 J. alt. 


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Geisteskrankheiten und ihre Behandlung mit Menolysin. 


481 


Diagnose: Katatonie. 

Vorwiegend mutaziatisch, negativistisch, zeitweilig aber sehr angstlich, ge- 
spannt, lebhaft halluzinierend. Am 15. III. 1922 hier zur Aufnahme. Menstruation 
immer unregelm&Big, letzte nicht bekannt. Hier nicht menstruiert. Vom 2. bis 
23. VIII. 1922 3mal tgl. 1 Tabl. Menolysin, okne Erfolg. Am 23. VIII. 1922 ge- 
bessert entlassen. 

XVIII. Frl. L., Emmi, 24 J. alt. 

Diagnose: Katatonie. 

Am 1. VII. 1922 hier zur Aufnahme. Vorwiegend gespannt, voller paranoider 
Ideen. 

Unwohlsein friiher regelm&Big, zuletzt Ende Juni 1922. Hier nicht menstruiert. 
Vom 2. bis 19. VIII. 1922 3mal tgl. 1 Tabl. Menolysin, ohne Erfolg. Am 19. VIII. 
1922 ungeheilt in eine andere Anstalt iiberfiihrt. 

XIX. Frl. K., Marianne, 23 J. aft. 

Diagnose: Dementia epileptica mit Verwirrtheitszustanden. Am 21. VI. 1922 
zur Aufnahme. 

Unwohlsein immer sehr unregelmaBig, hier nicht menstruiert. Vom 5. VII. 1922 
ab 3mal tgl. 1 Tabl. Menolysin, ohne Erfolg. Am 15. X.1922 als etwas gebessert ent¬ 
lassen. 

XX. Frl. B., Alma, 16 J. alt. 

Diagnose: Hebephrenie. 

Am 20. XII. 1921 hier zur Aufnahme. Unruhig, zerfahren, lappisch, albem. Auf- 
fallend infantiler Habitus. Sexualmerkmale kaum entwickelt. Bislang nicht men¬ 
struiert. Vom 9. I. bis 10.II. 1922 3mal tgl. 1 Tabl. Menolysin, ohne Erfolg; des- 
gleichen Ovaradentriferrin erfolglos. Am 11. II. 1922 ungeheilt in eine andere An¬ 
stalt iiberwiesen. 

XXI. Frl. M., Hedwig, 15 J. alt. 

Diagnose: Hebephrenie. 

Am 31. III. 1922 hier zur Aufnahme. Zustand wechselnd, zeitweilig freier, dann 
wieder angstlich, ratios, gehemmt. Infantiler Habitus, bislang noch nicht men¬ 
struiert. Menolysin, monatelang verabreicht, erfolgols. Zurzeit noch in Be- 
handlung. 

Wie bereits oben erwahnt, sahen wir also bei 10 von 21 Fallen nach 
Verabreichung von Menolysin die vorher vorhandene Amenorrhoe einer 
normalen Menstruation weichen. Da bei handelte es sich um die ver- 
schiedensten Krankheitsbilder, die sich teils besserten, teils chronisch 
verliefen. Bei den Fallen, wo die Menstruation nicht wieder auftrat, 
handelte es sioh vorwiegend um Katatonien. 

Ob nun tatsachlich das Menolysin den Wiedereintritt der Monats- 
blutungen giinstig beeinfluBt hat, liUlt sich insofern schwer sagen, 
als wir ja auf Grund unserer friiheren Beobachtungen wissen, daB die 
Amenorrhoe bei Psychosen auch ohne Behandlung haufig normalen 
Menstruationsverhaltnissen weichen kann. Immerhin aber ist es bei 
einigen Fallen doch auffallend, daB eine oft monatelang bestehende 
Cessatio mensium nach kurzer Menolysinbehandlung gebessert wurde. 

Nehmen wir nun einen tatsachlich giinstigen EinfluB des Menolysins 
auf die Amenorrhoe bei Psychosen an, so erhebt sich die Frage, weshalb 
dieser Erfolg nur bei gewissen Fallen zu verzeichnen ist und bei anderen 


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482 


A. Hanse: Ober Amenorrhoe bei Nerven- und 


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nicht. Wir sahen, daB die unbeeinfluBbaren Araenorrhoen besonders 
bei der Gruppe der Katatonie vorlagen, davon waxen 2 Falle dadurch 
ausgezeichnet, daB die Krankheit schon sehr lange bestand. Bei dem 
einen Fall mit Epilepsie war die Menstruation immer sehr unregelmaBig. 
Die 2 Falle Hebephrenie waxen iiberhaupt noch nicht menstruiert und 
durch einen infantilen Habitus charakterisiert. 

Was gerade die beiden letzten Fade anlangt, so war es ja auch von 
vornherein unwahrscheinlich, daB das Menolysin hier Erfolg haben 
konnte. Daels, der bei Hunden mittels Johimbins die Erscheinungen 
der Brunst beschleunigen oder hervorrufen konnte, fiihrt an, daB dieser 
Erfolg niemals eintritt bei Tieren, die zu jung sind oder erst vor 1 Monat 
geworfen haben, und er koramt zu dem SchluB, daB die Wirkung des 
Johimbins niemals eine spezifische ist, sondern nur dort eintreten kann, 
wo der Mangel einer geniigenden Hyperamie der Genitaden die Ursache 
der fehlenden Brunst ist. Entsprechend dieser Erfahrung konnen wir in 
bezug auf die Menstruation auch bei den beiden letztgenannten Fallen 
annehmen, daB hier die Wirkung des Menolysins ebenfalls ausblieb, 
weil in den nicht geniigend entwickelten Keimdriisen iiberhaupt nicht 
die Moglichkeit bestand, Generationsvorgange, wie die Menstruation, 
zu bewirken. 

Wenn wir nun aber auch bei den anderen, erfolglos gebliebenen 
Fallen eine ahnliche Erklarung suchen wollten, so diirfte diese doch 
etwas gewagt erscheinen. Nur so viel konnen wir sagen: Wenn nach 
Ansichted der meisten Autoren die Wirkung des Johimbins oder Meno¬ 
lysins auf die Amenorrhoe erklart wird durch Hyperamisierung der 
Genitalorgane, eventuell infolge Reflexsteigerung im Sakralmark 
(vgl. auch Meyer-Gottlieb), so miissen Avir annehmen, daB bei unseren 
erfolglos behandelten Fallen entAveder diese Hyperamisierung nicht ein- 
trat, oder aber, daB diese Behandlung deshalb keinen Erfolg hatte, weil 
die Ovarienfunktion an sich soweit geschadigt AA r ar, daB sie dadurch 
nicht mehr beeinfluBt Averden konnte. Urn aber zu dieser Frage eine 
endgiiltige Stellung nehmen zu konnen, Avare es notig, Erfahrungen an 
einem groBeren Material zu sammeln und gleichzeitig genauere Funk- 
tionspriifungen der Keimdriisen vorzunehmen. Hier konnen Avir nur 
noch erw&hnen, daB bei einigen Fallen, wo durch Menolysin die Amenor¬ 
rhoe nicht behoben Averden konnte, diese auch durch Ovarienpraparate 
unbeeinfluBt blieb. 

Es erhcbt sich dann noch eine andere Frage, namlich die, ob eine 
nach Verabreichung A r on Menolysin Avieder aufgetretene Menstruation 
ihrerseits einen EinfluB —- giinstiger oder ungiinstiger Art —auf die 
Psychose ausiibt. Diese Frage miissen Avir jedoeh an Hand unserer Falle 
restlos A 7 erneinen. 

IrgendAvelche schadigende NebenAvirkungen sahen Avir, trotz oft 


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Geisteskrankheiten und ihre Behandlung mit Menolysin. 


483 


monatelanger Verabfolgung des Mittels nicht. Desgleichen fanden war 
keincrlei Beeinflussung der Zirkulationsorgane. Bei einigen dazu ge- 
eigneten Fallen wurde raonatelang taglich Puls und Blutdruck kon- 
trolliert, ohne daB dabei eine Veranderung festgestellt werden konnte. 
Nur fanden tvir 2mal ein Sinken des Blutdrucks vor Mcnstruations- 
beginn, doch 1st. ja diese Erscheinung als ein deni normalen Menstrua- 
tionsprozeB entsprechendes physiologisehes Phanomen aufzufassen. So 
sahen wir auch bei 2 normal menstruierten Frauen ein Sinken des 
Blutdrucks in der pramenstruellen Phase. 


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484 A. Hanse: Ober Amenorrhoe bei Nerven- und Geisteskrankheiten usw. 


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dowskys Handbuch. 4. — Wiesel: Symptomatologie der thyreo-testiculkr-hypo- 
physkren (suprarenalen) Syndroms. Lewandowskys Handbuch. 4, — Wilmanns: 
Die Psychopathien (Cyclothymien). Lewandowskys Handbuch. 5. — Ziehen: 
Psychiatrie. 1911. 


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(Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universit&t Kiel 
[Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Siemerling ].) 

Zur Frage der sogenannten akuten multiplen Sklerose 

(Encephalomyelitis disseminata non pnrnlenta scleroticans 

[sub] acuta). 

Zugleich Mitteilung einer besonderen Entstehungsart von Riesenzellen. 

Von 

H. G. Creutzfeldt. 

Mit 9 Textabbildungen. 

( Eingegangen am 20. Februar 1923.) 

Seitdem wir die multiple Sklerose als klinisch und anatomisch gut 
abgegrenztes Rrankheitsbild genauer kennen, haben Meinungsverschie- 
denheiten geherrscht hinsichtlich solcher Falle, von denen die einen 
das jugendliche Alter bevorzugen, die anderen einen besonders raschen 
und schweren Verlauf nehmen. DaB die zu zweit erwahnten Falle 
gerade fiir die Beurteilung der Striimpell-E. M tiller schen Auffassung 
der multiplen Sklerose als einer ,,primaren Gliose“ von groBter Bedeu- 
tung waren, zeigen uns E. Mtillers Versuche, sie von diesem Prozesse 
scharf abzutrennen, indem er ihre entziindliche Natur besonders hervor- 
hebt. Borst und Marburg gebiihrt das Verdienst, hier in erster Linie 
eine gewisse Klarheit geschaffen zu haben, indem sie auf die grundsatz- 
liche Gleichartigkeit beider Vorgange hinwiesen. Marburg sagte 1906, 
,,die sogenannte akute multiple Sklerose stellt nur eine Form der echten 
multiplen Sklerose dar, die durch eine raschere Progression des Prozesses 
ausgezeichnet ist“, und bezeichnet sie als eine Encephalomyelitis peri¬ 
axialis scleroticans. die vielleicht durch fermentativ lecitholytisch wirkende 
Toxine hervorgerufen ist. Mit diesem Namen belegt er auch 1911 das 
histopathologische Geschehen bei der multiplen Sklerose. Neben anderen 
Beobachtungen der letzten Jahre, die mehr oder weniger rein kasuisti- 
schen Wert haben, war es dann die Arbeit von Anton und Wohlwill, 
die zu dem hier liegenden Problem Stellung nahm. Die Verfasser wiesen 
an der Hand ihrer Untersuchungen auf die nahen Beziehungen zwischen 
der akuten und chronischen Herdsklerose hin, glaubten aber doch 
beide Formen auseinanderhalten zu miissen. Nach ihrer Ansicht bietet 
die ,,multiple nichteitrige Encephalomyelitis “ das klinische und anato- 


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H. G. Creutzfeldt: 


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mische Bild eines stiirmisckeren Verlaufes, die Gliazellreaktion ist dabei 
eine weit lebhaftere als bei der multiplen Sklerose, ebenso der Abbau 
bzw. die Abraumung der Markscheiden, die sich oft noch als Trummer 
in Gliazellen finden. In — wenigstens fur die Histopathologie — naher 
Beziehung zu dieser Frage steht die nach der kindlichen multiplen 
Sklerose, die verschiedentlich aufgeworfen, bejaht, verneint und dock 
nicht entschieden wurde. Erst neuerdings hat Neuburger, der sich 
mit den bisherigen einschlagigen Veroffentlichungen auseinander- 
setzt, einen Fall von 1% Jahre dauernder multipler Sklerose bei einem 
vierjahrigen Kinde beschrieben. Dieser scheint mir neben denen von 
Schlesinger (1907) und Schroder (1918) der einzige zu sein, der so genau 
untersucht ist, daB er die Diagnose nach jeder Richtung sicherstellt. 
Allerdings nur in klinischer und histopathologischer Hinsicht. Die 
Atiologie ist auch hier nicht geklart. Wie weit unsere Kenntnis von 
den Ursachen der multiplen Sklerose uns in Zukunft zur Anderung 
unserer bisherigen Anschauungen zwingen wird, ist noch nicht zu iiber- 
sehen. Kuhn und Steiner s Versuche sind vielversprechende Anfange 
auf dem Wege ihrer Erforschung. Immerhin erscheint es ratsam, 
solangewir hier nicht klarsehen, die jugendlichen meist akuten und die 
ubrigen akuten Formen vorderhand als disseminiertc sklero&ierende 
Encephalomyelitiden (Marburg) gesondert zu betrachten. 

Der nachfolgend beschriebene Fall scheint mir diese Mahnung zur 
Zuriickhaltung besonders zu begrlinden, weil er sowohl zu den jugend¬ 
lichen als auch zu den akuten ,,multiplen Sklerosen“ gerechnet werden 
kann und doch wieder Eigentiimlickkeiten aufweist, die der Zuord- 
nung zu einer der beiden Gruppen Schwierigkeiten bereitet, wie er sich 
auch an der klassischen multiplen Sklerose in mancher Hinsicht (Riesen- 
zellen) unterscheidet. 


Krankengcschichte: 

A. Seh., sechzehnjahrige $ Sliitze. Aufnahme am 6. IV. 1921. 

In der Familie sind nervose Erkrankungen nicht vorgekommen. Der Vater 
starb kurz vor der Geburt der Kranken an einer Magenkrankheit. Die Mutter 
und fiinf Geschwister leben und sind gesund. Pat. war ein kraftiges gesundes 
Kind. An Kinderkrankheiten niachte sie nur Masern und Windpocken durch; 
in der Schule leistete sie MittelmfiBiges. Mit 14'Jahren trat zuerst das Unwohl- 
sein auf, das regelmiiBig alle vier Wochen wiederkeiirte und beschwerdelos verlief. 
Im Januar/Februar 1920 kam sie wegen eines Augenleidens in die Kieler Augen- 
klinilc. Sie sah damals schlechter. Dort wurde sie vier Wochen lang stationiir und 
dann ambulant behandelt wegen einer Neuritis retrubulbaris, die mit ringformigem 
Skotom heilte, und im Julil920 derNervenpoliklinik zugesandt. Es bestand ein uage- 
rechter, links starker ausgepragter Nystagmus. AuBerdem war die Sprache artikulalo - 
risch schiver gestort,die oberen Bauchdeckenreflexe waren schwach.die unteren fehl- 
ten. Die Kniesehnenreflexe waren lebhaft. Sonst wurde nichts Krankhaftes gefun- 
den. Eine Lumbalpunktion im Januar 1920ergab regelrechten Befund. DieWasser- 
mannsche Reaktion war negativ. Im Dezember 1920 war Pat. wiederum in der 


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Zur Frage der sogenannten akuten multiplen Sklerose. 


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Augenklinik. Die Sehscharfe war links 7/18, reehts 7/12. Die Temperatur stieg 
anfanglich bis 37,9°, war spa ter regelrecht. Das Ringskotom bestand weiter. 

Vor einigen Monaten ( Anfang 1921 ) bekam sie Sckmerzen in der Kniegegend 
beiderseits, das Gehen und Stehen fiel ihr zunelimend achwer, dabei bestand Taub- 
heitsempf indung in den Beinen. Am 23. III. warden die Beine ganz steif, so daB 
sie gar nicht mehr gehen und stehen konnte. Der behandelnde Arzt, Dr. B. zu 
Liitjenburg, wies sie in die Klinik. 

Aufnahmebefund: 6. III. 1921. Pat. machte einen leicht benommenen Ein- 
drue.k, war sehr schwerfallig in ihrem Wesen, faBte nur langsam und oft unvoll- 
standig oder falsch auf. t)ber Ort, Zeit und Person war sie hinreichend orientiert. 
Ihr Schulwissen war gering, einfache Rechenaufgaben loste sie richtig. Doch ver- 
sagte sie rasch infolge einer deutlich erhohten Ermiidbarkeit. Sie zeigte gute Er- 
innerung an die Ereignisse der letzten Stunden, eine genaue Merkfiihigkeits- 
priifung lieferte indes bei der bestehenden BewuBtseinstrubung kein sicheres Er- 
gebnis. Die Stimmung war etwas gehoben, gleichmftBig. Es bestand kein schwereres 
Krankheitsgefiihl. t)ber Wahnbildung und Sinnest&uschungen war nichts zu er- 
fahren. Der Sprachschatz war gering. Die Hauptklagen waren: Steifigkeit der 
Beine und Unfdhigkeit zu gehen und zu stehen, Harnverhaltung, Leibschmerzen. 

A. Sch. war eine 152 cm lange, 53,5 kg schwere gut geniihrte, kriiftige, dem 
Alter gemaB aussehende weibliche Kranke. Die Korperwiirme war regelrecht 
(37,2°). Es bestand Ichthyosis an Brust, Leib und Oberschenkel. Das Gehen und 
Stehen war ohne kraftige Unterstiitzung unmoglich, doch konnte die Kranke auf- 
recht sitzen. Der Schfidel war nicht klopfempfindlich, er maB 55 cm im Umfange, 
17,5 cm im Langs- und 15 cm im Querdurchmesser. Der Kopf bewegte sich frei. 

Die Pupillen waren leicht entrundet, die linke weiter als die rechte, die mittel- 
weit war. Die Licht-, Konvergenz- und konsensuelle Reaktion war beiderseits 
gleich ausgiebig und rasch. Die Conjunctivalreflexe waren nicht auszulosen, die 
Comealrejlexe vorhanden, aber der rechte etuns schu'ach. Die Untersuchung der 
Augenbewegungen ergab beim Blick nach links deutlichen wagerechten Ruck- 
nystagmus, beim Blick nach rechts einige langsame Einstellungszuckungen, beim 
Konvergieren Zuriickbleiben des rechten Bulbils, beim Blick nach oben Vertikal- 
nystagmus. Die Endstellungen erreichte der Augapfel in alien Blickrichtungen. 
Die Lidspalten waren gleich weit, der LidschluB feat. Die Papillen bo ten nachProf. 
Oloffs Befund keine krankhaften Veraiulernngen. Der Nervus trigeminus war in 
Ordnung, die Innervationen durch den Nervus facialis erschienen verlangsamt. 
Der Gesichtsausdruck war im ganzen wenig belebt und mehr maskenhaft unbeu'egt. 
Das Gaumensegel hob sich gleichm&Big. Der Wiirgreflex war deutlich vor¬ 
handen. Die reine, feuchte, gerade hervorgebrachte, frei bewegliche Zunge zeigte 
fibrillares Zucken und wogende Unruhe. Die Sprache war deutlich gestbrt, bei dem 
Xachsprechen von Beispielen trat Zaudern und Abgehacktheit der Silben auf, die 
Dental- und Gutturallaute waren deutlich verwaschen, die Lippenlaute unbehin- 
dert. Die Vokale der zweiten Silben miBlangen sehr hiiufig, so daB bis auf die 
erste und letzte Silbe das Wort ganz verstiimmelt herauskam. Wiederholung 
von Silben wurde nicht gefunden. Die Schilddriise war weich und gut abzutasten, 
doch nicht erkennbar vergroBert. Die inechanische Muskelerregbarkeit war regel¬ 
recht, die vasomotorische Erregbarkeit der Haut etwas erhoht. Die Armsehnen- 
bzw. Periostreflexe waren beiderseits gleich, nur schienen Biceps- und Periost- 
reflexe etwas lebhafter als die Tricepsreflexe zu sein. Die grobe Kraft der Hiinde 
maB beiderseits 50 mit dem Dynamometer. Die Schultermuskulatur zeigte keine 
Storungen. Die Hiinde warden etwas ungeschickt bewegt. Bei Zielbewegungen 
bestand deutlicher Intentionstremor. Beim Baranyschen Zeigeversuch traten 
keine Abweichungen hcrvor. Die Bauchdeckenreflexe fehlten beiderseits. Die Ante- 


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H. G. Creutzfeldt: 


sehnenreflexe waren gleichmaBig gesteigert, rechts gleich links, es bestand Knie- 
scheibenklonus. Nicht so stark waren die Achillessehnenreflexe gesteigert, ein 
Fufildonus war nicht ganz einwandfrei zu erzeugen. Beini Bestreichen der Fufi- 
sohle machten alle Zehen eine leichte Dorsalbewegung, dann setzte die GroDzehe 
mit raschem dorealen Ausschlage ein, dieses Symptom war rechts deutlich, links 
verhielt sich die GroCzehe wie die anderen. Oppenheim war links angedeutet, rechts 
nicht vorhanden. Der Spann u ngszustand der Beinmu skein war er hoht, derb-elastisch. 
Es bestand dabei deutliche Herabsetzung der groben Kraft der Beine, am wenigsten 
wohl in den Mm. peronei. Atrophien lieBen sich an keiner Muskelgruppe feststellen. 
Die Hautempfindung zeigte eine fur alle Reizarten gleichmaBige geringe Herab¬ 
setzung vom achten Dorsalsegment abwarts, wobei vom achten bis zwolften spitz 
und stumpf und Warmeunsterschiede deutlich schlechter unterschieden wurden, 
bei geringerer Storung der Empfindung von Pinselstrichen. Die Lageempfin- 
dung war in den Zehengelenken ungenau. Die Nervenst&mme waren nicht druck- 
schmerzhaft. Beim Rombergschen Versuch fiel Pat. nach hinten, links mehr als 
rechts. Sie ging steifbeinig mit kleinen Schritten und nach innen rotierten Schen- 
keln, die Fufie hafteten dabei mit der ganzen Sohle am Boden. Die Untersuchung 
von Herz und Lungen ergab keine krankhaften Veranderungen. Nur war der Puls 
etwas klein und beschleunigt, er erreichte bei der Priifung 120 Schl&ge in der 
Minute, was aber vielleicht auf die Angst der Kranken wahrend der Untersuchung 
zuruckzufuhren war. Die Lymphdriisen waren nicht geschwollen. Die Bauch- 
organe waren ohne Besonderheiten. Es bestand Harnverhaltung. Im Urin war 
weder EiweiB noch Zucker. Im iibelriechenden ScheidenausfluB fanden sich keine 
Gonokokken. Die Wassermann-Reaktion fiel im Blutserum negativ aus. 

Am 8.1V. traten Leibschmerzen und Erbrechen auf, das Colon ascendens, trans- 
versum und descendens waren zu griffelartig harten Strangen zusammengekrampft 
und der Leib sehr druckempfindlich. Die Nahrungsaufnahme lag damieder. 
Die Darmspasmen traten anfaUsweise auf, losten sich von selbst wieder. In der 
schmerzfreien Zeit war die Stimmung heiter. zufrieden. Das BewuBtsein war stets 
leicht getriibt. 

Am 15. IV. zeigte sich zwangsaffektartiges Lachen und Weinen. Besonders 
auffallend war das Ubergleiten aus dem Sprechen in Zwangslachen. Dabei erstarrte 
das Gesicht in einem krampfhalten Lachen, das erst ganz langsain sich 15ste. 

Am 15. IV. klagte Pat. iiber Kopfschmerzen. V, 1 war beiderseits druck¬ 
empfindlich. Der Zustand blieb in den nachsten Tagen unver&ndert. Die Stim¬ 
mung war durchgehends stumpf und euphorisch-, die Benommenheit maBig. 

Am 23. IV. trat ein schwerer, links besonders deutlicher halbstiindiger Darm- 
krampf auf. Im Stuhle fand sich ein Spulwurm, die Kranke lieB Stuhl und Urin 
unter sich. Die Beine wurden ganz spastisch-paralytisch. Die Benommenheit 
nahm zu, das Zwangslachen trat spontan auf. Die Blutuntersuchung ergab: 
74% Hamoglobin (Sahli), 5,88 Millionen rote, 9200 weiBe Blutkorperchen, da von 
77% Leukocyten, 15% Lymphocyten, 7% Ubergangsformen, 2% eosinophile 
Leukocyten. Der Puls verschlechterte sich sehr, wurde weicher und beschleunigter 
(iiber 100), aber blieb regelmaBig. Die Benommenheit nahm zu, die Kranke war 
kaum zu erwecken. 

Am 25. IV. wurde die Lumbalpunktion in Seitenlage ausgefiikrt. Es entleerten 
sich 12 ccm eines klaren wasserhellen Liquors unter 210—220 mm Wasserdruck. 
Nonne-Apeli und Pandy waren positiv, 47/3 Lymphocyten wurden im Kubikmilli- 
meter geziihlt. Nach der Punktion kollabierte die Kranke, erholte sich aber rasch. 
Mit dem Liquor wurde ein Kaninchen intracerebral geimpft. 

Am 29. 1 V. traten Schmerzen im Nacken und den Armen auf. Die Arms konn- 
ten nicht gehoben werden, waren schlaff. Die Armreflexe zeigten keine Steigerung, 


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Zur Frage der sogenannten akuten imiltiplen Sklerose. 


48! > 


der Handdruck war sehr schwach. Der Allgemeinzustand verschlecliterte sieli 
zusehends. Die Uenommenheit verticfte Kick, so daC es unmoglieli war, noeh mit der 
Kranken in Beziehung zu treten. Die Darmspasmen schwanden nach Atropin- 
zapfclien. 

Am /. I', trat naclunittags eine AtemUihmung ein. der Puls wnrde sehr klein. 
Es bestand Cyanose, die Bulbi waren nach an Ben verdreht. die Pupillen waren 
ericeitert. link# melts als rerhlx. Digalen und Strychnin besserten den Zustand nur 
wenig. Ini Munde sainmelte sieli viel Schleini, Schlucken schien unmoglieli zu 
sein. 

Am 2, 1’. war die At lining gleichmaBiger, aber unrh rerltl oberfldchlich und 
besc.hleunigt. Die Cyanose nahm zu. lm Hluthild zeigte sieli eine Zunahme der 
Leukocyten auf 14S00, der Erytrocyten auf 6,05 Millionen, die prozentuale Betei- 
ligung der verschiedenen weiBen Blutzellen war: 75",', neutrophile Leukocyten. 
14% Lyniphocyten. 7% Pbergangszellen. 3°„ eosinophile und 1 °„ Mastzellen. 
lm Katheterharn wurde eine Spur Eitreift, Urobilin und Urobilinogen . sowie Indican 
nachgewiesen. Der Leib war tympanitisch aufgetrieben. Die Kranke war tief 
benonimen. 

Am ■'}. P. 1 Uhr 25 Min. a. m. erfolgte der Tod im Kotna. 

Z u sa m men fa xx ung: 

Eiii lot ijahriges Miidchen, das in der Kindheit an Maseru und Wind- 
poeken gelitten liatte. erkrankte an eincr linksseitigen Neuritis optica 
retrobulbaris mit nstierendem Ringskotom und Nystagmus, bleibt 
dann 3/ , Jahr lang im wesentlichen gesund. nur der Ngstagmux. eine 
skandierende Sprache mit Silbenstolpern und eine Schmidt? der Bauch- 
deckenreflexe weisen auf einen organischen FrozeB bin. Ein Jahr nach 
den ersten Erscheinungen tritt cine langsam zunehmevde spastische 
Parcse beidcr Brine auf, dann (nach einem vveiteren Vierteljahre) sen¬ 
sible lieiz- und Ausfallsrrscheinunge.ii, Darmspasmen. Harnretention. Die 
Bauchdeckenreflexe fehlen , die spastische Ldhmung der Brine wird komplett, 
neue Herderseheinnngen kommen dazu. Das BewuBtsein erfahrt eine 
zunehmende Trubung, der Liquor zeigt geringe Pleocytose und ver- 
mehrten EiweiBgehalt, die Wassermannsche Reaktion war negativ. 
Da nach werden plotzlich (inch die Anne geld hint, die A timing versagl 
und nach eincr Gesamtdauer des Leidens von 1% Jahren, mit kaurn 
fiinfwoehigem abschliefienden Krankenlager tritt der Tod ein. Die klini- 
sche Diagnose lautete auf: ,,Akute multiple Ski erase" (Marburg). 

Die 10 Uhr post mortem vorgenommene Autopsie ergab folgendes: 
Das Schiideldach war im ganzen diinn. seine Schiehtung wohl erhalten. 
Die Dura mater war sehr zart. an ilirer lnnenfltiche. besonders deutlich 
aber am Tentorium cerebeili und dem Duralbezug der Felsenbeine 
fanden sieli zahlreiche kleine Blutungen. Die Pia mater war durch- 
sichtig. ihre GefiiBe blutreich. Die freie Fliissigkeit im Subduralraum 
war nicht auffallig vermehrt. Die a u Bore Form des Gehirns und das 
Verhaltnis von Furchen und Windungen war regelrecht. Das Hirn- 
gewicht bet rug 1200 g. Auf Querschnitten sunken die nicht erweiterten 
Ventrikel zusammen. die Hirnmasse war weich, besonders sehrumpfte 

Arclilv fiir Psychiatric. Bd. (is. ;}2 


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H. G. Crcutzfeldt! 


das Mark rasch ein. Die Rinde sah blaBgrau.briiunlich aus. Im Mark 
der rechten zweiten Stirnwindung war ein kaum erbsengroBer rotlich- 
grauer Fleck zu erkennen. Sonst wurden keine Horde gefunden. Des 
ofteren traten einzelne MarkgefaBe deutlicher hervor. Blutungen fehlten. 
Nur das Grau um den Calamus scriptorius erschien • blaulich verfarbt 
und etwas harter als das iibrige Hohlengrau. Das ganze Riickenmark 
war auBerordentlich blaB und weich. Totenstarre bestand nicht. Auf 
die Kbrpersektion muBte aus auBeren Grlinden verzichtet werdcn. 
ebendeshalb unterblieb die Herausnahme der Augen. 

Die makroskopisch-anatomische Wahrseheinlichkeitsdiagnose lau- 
tete auf Encephalomyelitis. 

Die mikroskopische Untersuchung wurde nach der Nissl-Alzheimer- 
schen Methodik durchgefiihrt, auBerdem wurde die Cajalsche Gold- 
sublimatimpragnierung zur Darstellung der Glia und die Jahnel sche 
Spirochatenfarbung angewandt. Erwahnt sei, daB die Spielmeyersche 
Markscheidenfarbung im Gefrierschnitt sich bei der Darstellung des 
Markzerfalls der PFei^erCEisenlackfarbung und ihren Modifikationen 
iiberlegen zeigte. 

Man sieht nun im Xisd- Bilde zunachst iiberall, vorzugsweise im MarkweiB 
des Gehirns und Riickenniarks, rundliche, ovale und langgeslreckle Herde, in denen 
eine Auflockerung des Gewebes mit Einlagerung zahlreicher Zellen. insbesondere 
Gitterzellen besteht. Ein oder mehrere grtiBere GefiiBc zeigen dicke Manscliet- 
ten von Lymph- und Plasmazellen , wahrend kleinere GefiiBc von meist einreihig 
angeordneten Plasmazellen umgeben sind. Die Endothelzellen sind z. T. stark ge- 
schwellt,ihr Plasma erscheint im Nisslbilde metachromatisch, feinsehaumig, hie und 
da vakuolisiert. Das Fettpraparat zeigt vereinzelte Fetttropfchen darin. J>ie Kerne 
sind in solchen Elementen stark vergroBert und z. T. hell und blaB, z. T. aber 
chromatinreich. Auch treten in den fixen AdventUialzellen progressive Veriinde- 
rungen auf. GefaBsproBbildung und -vermehrung habe ich nicht beobachtet. In 
manehen Herden, vorwiegend in denen der Briicke und des verlangerten Markes da- 
gegen findet man schwere regressive Veriinderungen der GefaBwand, die in Pyknose 
und Karyorexis bestehen. Die pro- und regressiven Veriinderungen treten in man¬ 
ehen GefiiBen nebeneinander auf. Indes habe ich nicht gesehen, daB diese GefaB- 
wandveranderungen zu Blutaustritten oder auch nur zu starkerer Fliissigkeits- 
exsudation fiihrten. Die Infiltrationszellen finden sich stets in den mesodermalen 
.Strukturen der GefiiBwande, den adventitielJen Lvmphspalten, und iiberschreiten 
nicht die gliose Grenzmembran. AuBerdem enthalten manche GefaBe Kornchen- 
zellen. die ebenfalls in der Adventitia liegen. Zahlreicher noch als in den Endothel¬ 
zellen sind Fetttropfchen in den fixen Adventitialzellen zu finden. Die weichen 
Hirnhiiute zeigen keine entziindlichen Veriinderungen. Vielleicht besteht eine 
leichte Zelleinlagerung (Makrofagen) und eine durch Fibroblastemvucherung 
bedingte Dickenzunahme ini ganzen. Die GefiiBc sind auBerordentlich blutreich, 
hie und da kommt es zu Blutaustritten. In den weichen Hiiuten des Riicken- 
marks aber sieht man — anscheinend entsprechend den Herden im Nerven- 
gewebe —- stiirkere Lymph- und Plasmazellinfiltration der GefiiBwiinde und der 
Gewebsspalten. Die Zellmiintel um die GefaBe lassen sich oft ununterbrochen bis 
in einen Markherd verfolgen 


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Zur Frage der sogenannten akuten multiplen Nklerose. 49 1 

Ini Hirngewebe sind kleine Blutungen in der Xiihe der Ventrikel und aucli 
in wenigen Herden zu sehen, doch haben sie keine Sonderbeziehungen zu den 
Herden. Uberhaupt fehlt jegliche nachweisbare Gewebsreaktion von seiten der 
Umgebung solcher Extravasate, so dab man den Eindruek hat, als handle es 
sich urn subletale Blutaustritte, wie sie fiir den Erstickungstod fast pathognoino- 
nisch sind. Ein Anstreten von mesodermalen Infiltratzellen ins ektodermale 
Gewebe liiBt sich nicht nachweisen. Auch das Eindringen von mesenchymalen 
Silberfibrillen ins Hirngewebe babe ich nirgends gesehen, nicht eininal in der 
GefiiBwand selbst sind sie nennenswert verbreitert oder vermehrt. Die Herde 
setzen sich zieinlich scharf gegen das gesunde Gewelie ab, wenn auch genaueres 
Xachsehen ein nicht ganz Hncermitlelle# Vbergehen in das gesunde Gewebe erkennen 
liiBt. Sie sind stets um diese stark infiltrierten GefaBe geordnet und nicht eigent- 
lich abhiingig von der ektodermalen Gewebsstruktur, sondern von dem GefiiB- 
verlauf. Besonders tritt dieses Verhalten in den oft keilfbrmigen Herden der 
Briicke, des verliingerten Marks und im Riickenmnrk zutage. Dem im Nissl- 
Bilde erhobenen Befunde entsprechen die Weigert- und Spiehneyer priiparate. 
Man sieht in ihnen gleichgroBe und gleichgestaltete fleckformige Aufhellungen oder 
vollstandige Entmarkungsherde (Abb. 7■—9). In den Aufhellungen findet sich ein 
aufgelockertes Gewelie mit gequollenen, geschlangelten, einige Myelinklumpchen 
fiihrenden, an Zahl stark verminderten Markscheiden. Der Cbergang ins gesunde 
Gewebe ist ein verhaltnismaBig plotzlicher, wenn auch am Rande noch veriinderte, 
zugrunde gehende Markscheiden zwischen gesunden liegen. Die GroBe der Herde 
wechselt. Im GroBhirn, wo sie — ganz wie die klassischen Herde der .Sclerosis 
multiplex — das Subcorticale bevorzugen, h&ufig auch bis in die funfte Rinden- 
schicht hineinragen, sind sie kaum je iiber bohnengroB, in der Briicke und 
Medulla oblongata konnen sie entsprechend dem GefaBbereiche groBere Keile 
bilden, wahrend sie im Riickenmark hie und da nur die Randfaserzuge iimehaben. 
Im Kleinhirn liegen sie oft langgestreckt direkt unter tier Kornerschicht. 

Auf Herxheimer- 1‘riiparaten sind sie als stark rot gefiirbte Flecke in den oben 
beschriebenen Formen erkennbar. 

• Am meisten also fftllt die herdformige Verteilung der krankhaften Veriinde- 
rungen und die vortriegende Schddigung der Markscheiden bzw. die Gliavermehrung 
auf. Die Eisenlaekinethoden ( Weigert , Spielmeyer) zeigen die Markfa.sern in den 
Herden bis zum fast volligen Schwunde. Bandartige Verbreiterungen des Myelin- 
mantels, rosenkranzartige Auftreibungen oft mftchtigster Art, fadenartige Yer- 
schmalerungen, Zerfall zu Klumpen, Brocken und Kornchen und Ausstreuung 
solcher Brocken ins ektodermale Zwischengewebe oder Aufnahme solcher Mark- 
triimmer in Gliazellen (Kornchen- und liier und da auch \issls gemiistete Zellen). 
Schlangelung und schlieBlich vollige Entmarkung kommen vor. Der Untergang 
des Myelins ist am starksten in der Umgebung der groBen, meist die Herdmitte 
einnehmenden, infiltrierten GefaBe. Xach dem Herdrande zu nehmen die noch 
sichtbaren Markfasern allmahlich zu, aber dann treten verhaltnismaBig iibergangs- 
los gesunde Fasem auf, zwischen denen noch mehr oder weniger groBe ektodermale 
interstitielle Elemente liegen. Oft sieht man intakte Markscheiden vereinzelt 
oder in Biindeln am Herdrande stumpfartig enden. Diese Randzone ist allerdings 
sehr schmal und bald ist das Bild normal. Ofter beobachtete ich liesonders im 
Kleinhirn eine brtliche Haufung von Herden, nicht selten auch eine starke An- 
naherung der Grenzen oder ein ZusammenflieBen, aber stets war die urspriingliche 
Zwei- oder Vielheit auch bei konfluierten Herden noch festzustellen. Fiir das 
Alter der Herde spricht die Starke des Markscheidenausfalls, so daB man von 
Mnrkschattenherden (Schlesinger) bis zu volligen Entmarkungsbezirken gelangt. 
Fan Weiterschreiten der Myelindegeneration entsprechend den ektodermalen 

32* 


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492 


Strukturen fund ich nicht, vielmehr gewann ich den Eindruck eines bald mehr 
bald minder ausgedehnten, mehr konzentrisch — nicht ganz wortlich zu verstehen 
— um ein GeffiB angeordneten, lokalisierten Prozesses. Neben cliesen echten 
Herden kommen nun kleine. mit bloBem Auge kaum wahmehmbare Lichtungs- 
bezirke vor, die in tier weiteren Umgebung groBerer Herde um kleine, anschemend 
nicht ocler kaum infiltrierte GefftBe angeordnet sind. In diesen Lichtungsbezirken 
zeigen cinige Markscheiden deutliche ballonartige Auftreibungen. Markbrockchen 
und Abnahme bzw. Verlust des Myelins. In den Borsluchon Lichtungsbezirken 
glaube ich mit Wohlwill nicht einwandfrei pathologische bzw. fiir den Froze B 
typische Erscheinungen zu sehen. In ihnen sieht man lediglich eine Lockerung 
des Faserfilzes ohne eigentliche Markscheiden veranderungen. 

Im Bielsrhmcski- Priiparat sind die Achsenzylinder innerhalb tier Herde besonders 
schon dargestellt, sie sind durch die stark vermehrten Elemente des Zwischen- 
gewcbes weit auseinandergedrangt, vielfach geschlangelt und an Zahl — wenigstens 
in den von mir untersuchten frischen Herden — niclit siclier feststellbar ver- 
ringert. Viele von ilmen, besonders die in den kornchcnzcllrciehcn Gebieten liegen- 
den. erscheincn bandartig, kugelig oder spindelig verbreitert, hie und da werden 
ihre auBeren Fibrillen auseinandergedrangt, so tlaB sie eine Art Ose oder Ring 
bilden, andere wieder bilden kleine, perlschnurartige, kontinuierliche Reihen 
stark versilberter Kliimpchen, einige machen in ihrer kurzwelligen Schlfingelung 
den Eindruck, als seien sie geschrumpft. Manche Axone, besonders die breiteren, 
neb men die Impregnation nur schwach an, wahrend ganz zarte Fasern meist 
tiefschwarz erscheinen. Sichere Anzeichen fiir Neubildung von Fibrillen habe 
ich nicht gefunden. 

Alle Ganglienzellen , ob sie nun im Bereiche der Herde liegen oder niclit — 
ausgenommen sind lediglich die grblitenteils wenig veranderten groBen Elemente 
des Riiekenmarkes und einiger Stammkerne — sind ubereinstimmend erkrankt. 
Zuniichst sieht man einen pudrigen Zerfall der .Vissf-Substanz und Sicht bar werden 
der Zellfortsatze. Das Kernchromatin wird deutlicher, die Kernmcmbran gut 
sicht bar. Die Kerne und der Zelleib sind vergroBert. Weiterhin blassen tlie Zell - 
kerne ab. ihre Wand verliert anscheinend ihre Farbbarkeit vollig, das Chromatin- 
netz ist etwas unscharf, metachromatisch. In den Kernkorperchen findet man 
Vakuolisierung. Die Kerne liegen zentral, sind anfangs gebliiht, scheinen aber 
spater zu schrumpfen. wobei es zu Kernschattenbildungen kornint, oder aber — 
dieses ist besonders in den auf das Gran sich ausdehnenden Herden der Medulla 
oblongata der Fall - - dunkle basisch stark gefiirbte Klumpen liegen in einem diffus 
dunkleren Karyoplasma. Die Zelleiber sind anscheinend aufgetriebcn, ihr Plasma 
ist feinpuderig metachromatisch bestaubt. Die Nissl- Schollen sind nicht mehr 
vorhanden. Die Fortsatze sind — das ffillt vor allem bei den Purkinje sehen Zellen 
auf — weiter als gewohnlich sichtbar. Im allgemeinen sind die AuBenfibrillen vor¬ 
handen. dagegen die Innenfibrillen nicht so gut dargestellt. Eine sichere Verdrfin- 
gung der Fibrillen an den Rand habe ich nicht beobachtet. Die Trabantzellen sind 
vermehrt, zeigen jedenfalls deutlieh progressive Veranderungen. 

Der schon bei fliichtiger Betrachtung deutliche Kernreirhtvm tier Herde ist 
ein Zeiehen fiir die starke Beteiligung der gliosen Elemente an dem ProzeB, denn 
der (ilia gehoren diesc Kerne und Zellen an. Zuniichst ist das Reticulum besser 
sichtbar, seine Balken sind breiter und mit Toluidinblau rotlich angefarbt. die 
Maschen sind erweitert. Besonders schon tritt dies an Rindenherden hervor. 
In ihm liegen die gewohnlichen . sogenannten freien Gliakerne in auBerordentlicher 
Menge und Vielgestnltigkeit. Meist ist um sie herum eine schmale, meist runde 
Plasmazone sichtbar, die im ATiaaf-Prftparat nus feinsten mctachromatischen Korn- 
chen gebildet zu sein scheint und feinschaumige Struktur erkennen liiBt. Die Kerne 


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Zur Frage der sogenannten akutcn multiplen Sklerose. 


493 


sind groBenteils sehr chromatisch, ihr Plasma dunkler als gewohnlich, ihre Membran 
deutlich, ihr Chromatin stark gefiirbt, ziemlich grobkbrnig. Es kommen aber auch 
blasse Kerne mit einem metachromatischen Kiigelchen vor. SchlieBlich sind 
pyknotische, tiefblaue Kerne nicht selten. Vor allcm aber sieht man karyorektisclie 
Veriimlerungen, die schlieBlich dazu fiihren, daB blaue Chromatinkugeln von ver- 
sehiedener GroBe in das Plasma ausgesprengt zu sein scheinen, withrend der Kern 
selbst nur noch als ein schattenhaftes, leeres Bliischen inmitten diescr Kugeln 
liegt oder ganz geschwunden ist. Oft sieht man diese Kerne in rasenartigen Hauf- 
ehen symplasmatisch geordnet, haufig auch trabantzellenartig an gemasteten 
Gliazellen ( Nissl) oder an Monstrezellen liegen. In zellarmeren Bezirken — in der 
Xahe mancher groBeren Gefalie bzw. in der Mitte mancher Herde sind sie fast die 
einzigen zelligen Elemente. 

Der Formenreichtum dieser Zellen ist mit den bescliriebenen Elementen nicht 
erschopft. Man findet worst- und stabchenformige Kerne, deren langgezogener 
Zelleib von Fetttrdpfchen erfiillt ist. Auch echte gliogene Stiibchenzellen 
(A. Westphal) treten da, wo Axone zugrunde gehen, auf. 

Im Reticulum finden sicli auBerdem die mit zahlreichen Fortsatzen versehenen 
von Nissl so genannten „gtmastelen Gliazellen ", die man als Faserbildner anspricht, 
und die auf Gliafaserpraparaten (Ranrke, Weigert, Heidenhain ) deutliche Faser- 
bildung zeigen. Sie sind in den Rindenanteilen der Herde selten, spielen aber eine 
besondere Rolle in der Umgebung von MarkgefiiBen und am Rande der oben er- 
wiilmten zellarmen Zone um groBere stark infiltrierte GefaBe. Ihr gelappter. 
bald blasig-leerer, bald chromatinreicher Kern, der ein, zwei und mehr nicht immer 
gleichgroBe nucleolenahnliche, mit Toluidinblau meist nicht rein blau gefarbte 
Korperchen enthiilt, ist fast nie zentral gelagert, vielmehr mit Vorliebe rand- 
stiindig. 

Doch finden sich in manchen, im A 7 ts«Z-Bilde im ganzen starker gefftrbten 
Monslrezellen, deren Fortsatze kiirzer und an ihren Enden abgerundet sind, so 
daB die Zelle die Npinnenform verloren und eine mehr amoboide Gestalt angenom- 
men hat, sehr groBe in der Mitte liegende Kerne. Diese besitzen ein diffus meta- 
chromatisch imbibiertes Plasma und eine oft dicke Membran, zeigen keine Lap- 
pung. Ihr Kernkorperchen ist haufig tiefblau und liegt dann in der Mitte oder ist 
blaB, verhnltnismaBig klein und an den Rand gedrangt, withrend das Kerninnere 
erfiillt ist von mittelfeinen Chromatinkorperchen, die voneinander gesondert 
oder durch ein gut sichtbares Chromatinnetz miteinander verbunden sind. AuBer¬ 
dem sieht man machtige, diese Zellform an GroBe fast erreichende Gliakerne 
mit einem verhaltnismiiBig schmalen abgerundeten Zelleib. die bald von feinem 
rotlichen Chromatin erfiillt sind, bald mehrere groBere mehr blauliche Chromatin¬ 
kugeln enthalten. Ihre Membran ist je nach dem Reichtum des Karyoplasmas an 
farbbarer Substanz dicker oder diinner dargestellt. Ein Zelleib ist um sie nicht 
zu erkennen. 

AuBer diesen einkernigen Gebilden finden sich bis zu vier- und mehrkernige 
grofie Gliaelemente, deren Kerne ebensolche Bilder liefern, wie die groBen Lappen- 
kerne der „gemasteten Zellen“. Mitosen sind in den letztgenannten Gebilden bier 
und da anzutreffen, indes vor allem scheinen Abschnurungen und Sprossungen 
bei der Bildung von Tochterkernen eine groBe Rolle zu spielen. Aber auch karyo- 
rektische Erscheinungen kommen vor. 

In die Maschen eingebettet sind die Gitterzellen (Abb. okz), die in durch Alkohol 
usw. entfetteten Priiparaten bald feinere. bald grobere Vakuolisierung zeigen. 
Einige von ihnen sind zu einer einzigen groBen Blase geworden, der an einer Seite 
der pyknotische, oft unregelmaBig geschrumpfte, dunkle Kern aufsitzt. Vielfach 
aber sind die Kerne verhaltnismiiBig gut erhalten und liegen nicht so randstftndig. 


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H. G. Creutzfeldt: 


494 

wie man es von der klassischen Gitterzelle gewohnt ist. In Fettprft para ten findet 
man die Vakuolen mit Fetttropfchen oder -kugeln angefiillt. Xicht wenige — eben 
die just erwfihnten Zellblasen — enthalten eine groBe einheitliche Fettkugel. 
In manchen Herden aber, die ich spiiter besprechen werde, haben die Kdrner der 
Kbrnchenzellen sich nach der Markscheidenfiirbung gefarbt. ebenso enthalten 
einige von ihnen im Alzheimer -^fawM-Prftparat rotliche Kiigelchen und Brocken, 
die wohl als Markscheidentriimmer anzuspreehen sind. Die Verteilung der Korn- 
chenzellen ist nicht in alien Herden gleiehartig. Wahrend sie manche Herde ganz 
erfiillen. scheint es in anderen, als seien sie in der Herdmitte am spiirlichsten, am 



Abb. 1. Riesenzellen, Spirem. 

ZeiBproj. Ok. 2, horn. Immers. 3. Balgauszug 35 cm. 
z abgerundeter Zelleib; 

k Kern voller Chromatinfaden. die z. T. im Zusammenhange, z. T. vereinzelt 
sind. — Heidenhain-Farbung. 

Ramie am zahlreichsten. Besonders fallt ihr fast vdlliges Fehlen in der oben schon 
beschriebenen zellarmen Zone um die groBen stark adventitiell infiltrierten Ge- 
faBe auf. 

Zu den hier aufgeziihlten zelligen Gebilden der Herde gesellen sich nun noch 
riexige rinule Elemeute. die erheblich selbst die grolien Faserbildner an Masse iiber- 
treffen. ihr Zelleib ist fast homogen zu nennen. An Ntelle dse Kerns, dessen Form 
xibrigens durch zentrale Aufhellung des Zelleilx's noch zu ahnen, ja manch- 
mal durch eine ganz zarte lichtbrechende Linie — Rest der Kern\vand(?) — zu 
erkennen ist, liegt ein Haufen von Chromatinfaden, Schlingen, Klumpchen 
(Abb. 1). In anderen derartigen Gebilden liegen solche Chromatinkiigelchen diplo- 
kokkenartig zusammengelagert oder (Abb. 2 u. 3re) sind biskuitahnlich gestaltet. 
Ein Zentralkorperchen ist sehr haufig im Zelleib zu finden; auch zwei, die wie 


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495 


bei der Karyokine.se gelagert sind, liabe icli heobachtet. Diese wie Riesenmitoaen 
(Strobe) ausselienden, mit Karyorexis nicht zu verwechselnden Kernveranderun- 
gen habe ich nun nicht in der gewohnlichen VVeise aich weiter entwickeln sehen, 
dagegen fand ich den beschriebenen an Gestalt gleiche Elemente, in denen die 
Chromatinkliimpchen nicht immer die ganze Kugel ausfiillen, sondern etwas 
auseinranderriicken, so dab eine Hohlkugel besteht (siehe Abb. 3rz,). Des weiteren 
sah ich, dab die gleichen riesigen Zellen an derselben Stelle, wo bei anderen diese 
mitosenahnlichen Bikler zu finden sind, vier bis zehn kleine Blaschen enthalten 



Abb. 2. Riesenzelle, Mitose, der Sc hat ten in der Zellinitte riihrt von einein 

Trabantzellenkern her. 

Proj. Ok. 2, homog. limners. 3, Balgauszug 35 cm. — 
Heidenhain-Farbung. 

(Abb. 3rz.,). Diese Blaschen sind meist rundlich und gut gefarbt. chromatinreich 
und haben eine gut sichtbare, oft recht derbe Membran. Hire Form ist nicht ganz 
gleichmabig rund. Zwischen diesen Blaschen liegen manchmal einige (bis zu vier) 
baso- und auch acidophile Kliimpchen, die grober sind als die oben beschriebenen 
Chromatinteile (Abb. 4rz 3 ). Die Zellen, die diese kernartigen Gebilde enthalten, 
scheinen nun etwas zu schrumpfen. Der bisher runde, pralle Zelleib wird eckiger. 
die Blaschen liegen nicht mehr perizentral, sondern verteilen sich im Zelleib, in 
deni sie sich vorzugsweise randwftrts kranzartig anordnen, und schlieblich erblickt 
man zellige Elemente. die den gemasteten Gliazellen an Grobe gleichen, aber die 
Zeichen regressiver Veranderung bieten: vieleckige, kleine Fortsatze bildende 
blasse, feinkornige. anscheinend hie und da vakuolisierte Elemente mit sechs 
und mehr kleinen in der Mehrzahl randstandigen Kernbliischen. wie die Abb. 4 rz± 
zeigen. Man sieht sie vorzugsweise in subcorticalen Herden der Grobhimhemispha- 


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H. (!. Creutzfeldt: 


4% 

ren. weniger zahlreich in denen dcr Basis, des Kleinhims und des Hirnstammes. 
Besonders deutlich troten sie in Priiparaten mit Kemfarbungen hervor. Die 
Npharenbildung und die iibrigen Erscheinungen der echten Mitose waren nicht 
siclier erkennbar (vgl. unten). Doch fiirbten sich die chromatischen Massen stets 
wie das Kernchromatin bzw. wie Chromosomen. und die Kemblaschen und blassen 
Kerne glichen ganz den in anderen Elementen durch Sprossung entstehenden 
Tochterkernen. In Alzheimer-Man n - Priiparaten. in denen das Chromatin der 
iibrigen Kerne rot gefiirbt war. lie lien groliere freie Chromatinkiigelchen sich hier 



Abb. 3. Mitose und Kernbildung in Riesenzelle, Herd ini Windungsmark. 

Zeili-Proj. Ok. 2, bom. limners., Balgauszug 35 cm. 
r 2 , Riesenzelle mit Chromosomen, d. z. T. diplokokkenartig sind; 
rz, Riesenzelle mit kleinen Tochterkernen; 

k a Capillarwandendothel. 

Unna-Pappenheim-Farbung. 

und da als hello rote Gebilde darstellen. Die vielkernigen Zellen entsprechen fast 
genau den von Anton und Wohlwill (Tafel III. Abb. 5a und 6e) dargestellten 
Gliaelementen, withrend die unter 6 a und b gegebencn Bilder mehr den karvorek- 
tischen Bildern entsprechen. Fasern bilden sie nicht. 

Felt oiler andere Abbau&tojje habe ich in die.seit .,Rienenzellennicht nachiceisen 
ki'mnen. Im Scharlachrotpriiparat nach Her.rheimer nehmen sie lcdiglich die 
A’ArZirA-Hamatoxylin-Nachfarbung an, wodurch sie iibrigens sehr schon dargestellt 
werden. Auch spiiterhin verfetten sie anscheinend nicht. 

Sie liegcn uberall im llerde, scheinen wiihrend des Teilungsvorganges aus 
dem Reticulum gelost zu sein. doch spaterhin durch ihre Fortsiitze wieder mehr 
oder weniger deutlich mit ihm zusammenzuhangen. 



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497 


1 in Ca yo/schen Goldsubliniatpr&parat (Abb. 5) gebeu sie nicht die Reaktion 
der schwarz impragnierten plasmatisehen Glia, sondern fftrben sich melir oder 
weniger rot und gleichen im Ton den faserreichen Elementen. die in ihrer Um- 
gebung liegen. Auch sind sie wie diese feinschwarzpudrig bestiiubt. lndes ist ihre 
Mitte von einem dichten Kornehenhaufen erfiillt, der deutlich, aber nicht erheb- 
lieh die randstandigen 4 bis 8 Tochterkerne an Grolle ikbertrifft. Von ihm aus 
zieht dureh einen fast zwei Drittel des Zelldurchmessers einnehinenden helleren 
Bezirk eine konzentrische spharenartige Strahlung an den Kranz der iibrigens 
nach dieser Methode nicht besonders gut dargestellten Kerne. In Elementen, die 



Abb. 4. 


rz 3 ~= 

a = 

rz i 

rjlz 

kz 

y 


Riesenzellen. aus einem Herd im Windungsmark, links jiingere, 
rechts iiltere Riesenzellen. 

ZeiB-Proj. Ok. 2. horn. Immers. 3, Balgauszug 35 cm. 

Riesenzelle mit Tochterkernen und Schrumpfung des Zelleibes; 
acidophiles Korperchen; 
regressive(?) Riesenzellen; 
gemastete Gliazelle; 

Kornehenzelle; 

GefftB. 

U nna - Pa ppen hei m - Far bung. 


schon wieder die Rundform verloren haben, Plamafortsatze in das umgebende 
Gewebo entsenden, und in denen die Kerne nicht nur randstandig sind. habe 
ich diese zentrale Impragnierung nicht gefunden, wohl aber eine diffuse, wenn 
auch nicht so ausgesprochene Aufhellung des Endoplasmas. Mitosen sind mir in 
Go/fl/-Gliapraparaten nicht vor Augen gekommen. 

Diese Riesengebilde liegen, wie auch an den anderen Praparaten festzustellen 


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498 


H. G. Creutzfeldt: 


ist, in denjenigen Herdteilen, wo faserbildende groBe Gliaelemente das Bild be- 
herrschen, halten also anscheinend zu diesen genetische Beziehungen. 

Betrachtet man sie im Zusammenhang. so drangt sich die Ver- 
mutung auf, daB die verschiedenen von ihnen gebotenen Bilder ver- 
schiedenen Zustanden der gleichen Zellform entsprechen. Zunachst 
fragt es sich, welchen Gewebsarten sie entstammen, ob sie mesoder- 



Abb. 5. Riesenzellen aus einem Herd im Windungsmark. Cajal-Farbung. 

Proj. Ok. 2, horn. Immers. 3, Balgauszug 35 cm. 

rz, Riesenzelle mit groBeren Kernen und zentralem Kornerhaufchen, um 
das eine hellere Sphare liegt; 

rz 4 Riesenzelle mit zahlreichen stark chrysophilen Kernen, die bereits 

wieder dnrcli Fortsiitze mit dem Reticulum in Verbindung tritt; 
glz Faserbildner; 

kz Kornchenzellen. — 

maler oder ektodermaler Herkunft sind, und welcher Zellart sie angeho- 
ren. Sie liegen haufig — besonders die anscheinend kernlosen, nur 
zentral ein Chromatinhaufchen besitzenden — in der Niilie von Ge- 
iaBen, aber niemals im Verbande der GefaBwandzellen, bzw. in adven- 
titiellen Raumen, vielmehr stets durch die gliose Greitzmembran von 
ihnen getrennt. Des weiteren lassen sie sich mit einer nach den bis- 
herigen Erfahrungen jedenfalls spezifischen Gliafarbung, der Cajal- 

schen Goldsublimatimpragnierung an Bromformolschnitten, ebenso 
farben, wie die groBen faserbildenden Spinnenzellen. Und schlieBlich 


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Zur Frage der sogenannten akuten multiple!! Sklerose. 


499 


sehen wir in den letzterwahnten Zellen hie und da Kernbilder, die 
einen gewissen ttbergang zu vermitteln scheinen. Der Kern ist dabei 
vergroBert und hell, spater chromatinreich (vgl. S. 493). Er liegt grund- 
satzlich zentral. im Gegensatz zu dera der gemasteten oder monstrbsen 
Gliazellen. Die Kernwand kann dabei ebenfalls dunkel gefarbt sein. 



Abb. 6. Riesige plasnnitische Gliazellen aus dem Rindenteil eines Herdes. 
V. Brodmannsche Schicht. Cajal-Farbung 
ZeiBproj. Ok. 2. horn. Immers., Balgauszug 35 cm. 

(jlz - Gliazellen; s = Nchrumpfungserscheinungen an 

(jaz = Ganglienzellen; Gliafortsatzen. — 

g ■--- Gefiili; 

Gliazellfortsatze schwarz; 

Das nachste Stadium ist dann die Bildung von Chromatinfaden und 
Sehlingen (Spirema, Abb. 1). Die Chromatinkorner sehen wir weiter 
zu groBeren Kliimpchen zusammengelagert. die tcils niiiBig feine Fad- 
chen bilden, teils inehr oder weniger abgerundet sind. Derartige niiich- 
tige Kerne nun liegen anscheinend in den grdBten dieser Gliazellen. 
die zwar noch nicht die GroBe der in Frage stehenden Elemente er- 
reiehen, aber doeh ihnen vor alien anderen nahe kommen. Besonders 
scheint die V’erkiirzung und Abrundung ihrer Fortsiitze fiir die Losung 
aus dem Reticulum zu sprechen. 


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H. (!. Creutzfeldt: 


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500 


Hier nun glaube ich das zweite der oben beschriebenen mitoseuhn- 
lichen Bilder anschlieBen zu diirfon. Das Kernchromatin sammelt 
sich zu einer Anzahl nicht ganz gleichnhiBiger, bald mehr fadenartiger, 
moist aber rundlicher Klumpehen, von denen ich 12 bis 28 ziihlen konnte. 
Diese liegon in einem helleren. raanchmal feinlinig begrenzten Toil des 
homogonen kugeligen oder ovalen fortsatzlosen Zelleibs (Abb. 2u.3). Die 
Zelle hat sich, wie wir das wohl moist bci mitotisch sich toilenden Glia- 
zcllen sohen, vollstiindig aus dem svncytialon Vorbande gelost. Dazu 
kommt, daB ich hie und da zwei Zentralkorporchen mit allordings nur 
kleinen Spharen nachweisen konnte. Ich trage Bedenken, hier von 
oiner echten Mitose zu sprechen und mochte ehor don beschriebenen 
Vorgang als pathologischc, Mitose auffasscn. Daboi ist zu bedenken, daB 
gewisse Ziige an chromatokinetische Vorgango. die als Vorstufcn der 
Karyorexis golton, erinnern. Allerdings fohlon die bei dieser Art des 
Kernzerfalls stots friiher oder spater auftretendon AusstoBungen von 
Chromatinkugeln. Vielmohr sohen wir die typischen Knauel von 
Chromatinfaden. Bei dem hier zu beschreibenden Vorgang folgt jetzt 
eine Phase, in der die Chromatinteilchen sich zusammenordnen, und es 
entstehen erst kleine diplokokkenartige, dann etwas groBere rundliche 
Gebilde, die wie pyknotische Kerne aussehen (Abb. 3 u. 4rz, 2 u. 3). 
lit diesen nun tritt gar bald eine Aufhellung auf, eine mehr oder weniger 
ehromatinreiche Mem bran begrenzt das etwas vergrolierte Blaschen, 
in dessen Inneren einige Chromatinkornchen liegen und sogar ein zartes 
Geriistwerk hervortritt. Einige dieser Blaschen enthalten ein nucleolen- 
ahnliches groBeres Chromatinkliimpchen, das mehr oder weniger zcntral 
gelegen ist. Diese Blaschen liegen nun zu 0 bis 12 in der Zellmittc. dor 
Stelle, wo bei den vorhin beschriebenen Riesenkugeln das Chromatin- 
haufchen lag (Abb. 3 u. 4rz 0 u. y ). Das Zellplasma, in dem sie ruhen, 
ist noch ausgesprochen blasser als die auBere Zone des Zelleibs. All- 
mahlich, nicht ganz gleichzeitig, aber doch verhaltnismaBig rasch, 
scheinen die Blaschen an den Zellrand zu wandern und hier sich kranz- 
artig anzuordnen (Abb. 4 u. 5rz 4 ). Sie nehmen in dieser Lagerung noch 
etwas an GroBe zu. aber erreichen nicht ganz die GroBe der gewohnlichen 
kleinen Gliakerne. Mit dieser Kernbildung geht nun eine langsame 
Schrumpfung des Zelleibes vor sich. so daB, wenn die Kernchen zum 
grbBeren Teil randstandig sind, die Zelle die Form einer groBen. aller¬ 
dings nicht sehr fortsatzreichen Spinnenzelle angenommen hat. »Sie 
ist noch sehr groB, eine Riesengliazellc, und entspricht durchaus ntanchen 
Riesenzellen, die wir bei anderen Prozessen kennen. Ja, sie ahnelt in 
gewisser Beziehung den Langhan-ssehen Zellcn im Tuberkel. nur daB 
sie als Gliazelle gewisse Eigentiimlichkeiten ihrer Art beibehalt. Die 
Frage nach der Lebensdauer dieser gliogenen .Riesenzellen laBt sich 
nach meinen Beobachtungen dahin beantworten. daB sie bald zugrunde 


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501 


gehen. Zunachst scheint mir dafiir zu sprechen ihre rasche Verklei- 
nerung, sodann das leicht festzustellende Eindringen von Gliakernen 
in ihr Plasma und die Art ihrer Kerne, die ja bemerkenswert chromatin- 
arm sind und weder an GroBe nocli an Ausbildung als vollwertig impo- 
nieren. Dazu kommt, daB sie tatsachlich rasch schattenhaft werden 
und schwinden. SchlieBIich verdanken sie ja aueh — vorausgesetzt. 
daB meine Auffassung von ihrer Entstehung riehtig ist — ihre Entste- 
hung einer pathologischen fast abortiven Kernteilnng. Diesen Teilungs- 
vorgang einzureihen in das Schema der bisher bcschriebenen Haupt- 
arten. will nicht ganz gelingen. Mir scheint, daB die Amoldsche Sonde- 
rung in Segmentierung und Fragmentierung da nicht ganz ausreicht. 
Ebenso schwer diirfte es fallen, ihn der reinen Mitose oder Amitose 
zuzurechnen. Er weist Ziigc der Mitose auf. entspricht ihr wohl im 
Y'orbereitungsstndium des Mutterkernes, aber nicht in der Bildung der 
Tochterkerne. Es ist. wenn man mit Riicksieht auf das Fehlen oder die 
Wirkungslosigkeit der Centriolen bzw. Spharen so sagen will, eine 
Mitose ohne Orientierung, eine ungeordncte Mitose. Dieses Fehlen der 
Ausrichtung, die unverkennbar deutlich in der Spindelbildung bei der 
regelrechten Karvokinese hervortritt, scheint der wesentliche Zug des 
hier bcschriebenen Prozesses zu sein. Datiir spricht auch das histo- 
pathologische Bild. Zwar sieht man Controsomen, aber die Sphare 
bleibt entweder rudiinentar oder ist nicht sichtbar. Die Anordnung 
des Chromatins im Spirem ist deutlich. die Teilung in Chromosomen 
ist nur andeutwngsweise vorhanden, vielmehr weist das Vorbcreitungs- 
stadium leichle Ankldnge an die Karyorexis auf. Sodann macht die 
Bildung neuer Kerne einen zufdlligen Eindruck. Zwei und mehr Chroma- 
tivkliimpchen (Chromosome?), rielleicht diejenigen, die diplokokken- 
artig zusammenliegen , bilden moglicherweise eine neue Einheit. einen 
Miniaturkern. Das Zell plasma macht diesen Teilungsvorgang nicht mit, 
es bleibt einheitlich und birgt riesenzcllenartig die Kernbldschen bzw. 
-schatten, das Produkt einer ungeordneten, iibersturzten, ihrem Wesen 
nach degenetativen Kernteilnng, die eigentlich nur morphologische Ahn- 
lichkeit mit der Pro- und Metaphase dcr echten Karvokinese hat. 
Die hier vcrsuchte Deutung meiner Beobachtungen inochte ich mit 
aller notigen Zuriickhaltung aussprechen. Derm ich bin mir nur zu 
wohl hewuBt, daB sie nicht auf ganz liickenlosen Untersuchungsreihen 
beruht. Der wunde Punkt der oben vertretenen Auffassung scheint 
mir da zu liegen. wo die ein- und gleichzcitige unmittelbare Bildung 
der Tochterkerne einer Riesenzelle a us Chromatinkliimpchen angenommen 
wird. Zwar finden sich zwischen den ncugebildeten Kernchen nocli 
diplokokkenahnliehe oder biskuitfbrmige basophile, manchmal auch 
acidophile Kugeln. aber ein strikter Beweis fur den engen Zusammen- 
hang der beiden Stadien ist mit dieser Feststellung noch nicht geliefert. 


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502 


H. G. C'reutzfeldt: 


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Dazu kommt, daB eine solche Art der Kernteilung ohne Aquatorial 
platte, ohne Diaster usw., kurzum ohne die richtende Wirkung der 
Centrosomen und ihrer Spharen den geltenden Anschauungen iiber 
die Karyokinese widerspricht. Andererseits glaube ich den Einwurf, 
daB rz, aus rz i entstehen kbnne, daB also rz, das Bild einer regressiven 
Verandernng von rz 2 sei, als ganz unwahrscheinlich zuriickweisen zu 
diirfen. 

In den bisherigen Veroffentlichungen iiber die Entstehung von 
Riesenzellen sind zwar viele fertige Riesenzellen mit ihren noch zentral 
liegenden oder schon randstandigen Kernhaufen oder -kriinzen dar- 
gestellt. Auch die Entstehung dieser Kerne durch pluripolare und asym- 
raetrische Mitosen, durch Fragmentierung, durch Knospung. Abschnii- 
rung usw. findet ausftihrliche Beschreibung (Stroebe. Galeotti, Tram - 
busti, Marwedel, Wakabajaschi). Aber ein Bild, wie es die Riesen- 
mitose im vorliegenden Falle bot, fand ich nur bei Marwedel (1. c.). 
der auf Tafel XIX, Abb. 3 eine der oben beschriebenen sehr genau 
entsprechende ,.Riesenzellniitose aus kurzen, dicken, plumpen Chroma- 
tinteilen bestehend“, in einer Knochenmarksriesenzelle abbildet. 
An Wakabajaschis , Stroebes, Herxheimer und Roth s sowie anderer 
Untersucher Abbildungen erinnert meine Abb. 5, vom GVry'rr/praparat, 
die ich. ubrigens ganz ahnlich mit Alzheimer s Fuchsin-Lichtgrunmethode 
darstellen konnte, wobei das Centrosoma ein- oder zweiteilig und scharf 
konturiert erschien, die Sphare allerdings weniger deutlich ihre Strahlen- 
form erkennen lieB. wenn auch ein groBer hellerer, anscheinend radiar 
fein gestreifter Hof um das Zentralkorperehen zu sehen war. 

Das Vorkommen von Riesenzellen bei der multiplen Sklerose ist 
bekannt. Chwostek und Probsl ha ben sie anscheinend sehr friih gesehen. 
Indes sind die Angaben so verschiedenartig, daB sich nicht sicher 
sagen laBt. was fiir Gebilde die Beobachter meinten. Besonders die 
Anton-Wohlwillfichcn Untersuchungen bei der akuten disseminierten 
nichteitrigen Encephalomyelitis haben auf diese Gebilde die Aufmerk- 
samkeit gelenkt. Bei den von ihnen beschriebenen und abgebildeten 
Zellen (Tafel III, Abb. 5a und 6c und wohl auch e) ist die gliose Natur 
wohl nicht zu bezweifeln. 

Demgegeniiber hat Neubiirger jiingst in einem Falle von kindlicher 
multipler Sklerose die Aufmerksamkeit auf machtige Riesenzellbildun- 
gen gelenkt, die den von mir beschriebenen in mancher Beziehung — 
GroBe (soweit nach seinen Angaben feststellbar), Anordnung der Kerne. 
Fehlen phagocytarer Eigenschaften — ahnlich sind. Neubiirger leitet sie 
aber von mesodermalen Elementen ab. Es ist nun in seiner Darstelhmg 
nicht deutlich gemacht. daB eine Auswanderung der adventitiell an- 
gelegten sj^mplasmatischen Gebilde ins ektodermale Gewebe erfolgt. 
und wie diese vor sich geht. Vielmehr weist er darauf hin. daB ein sol- 


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Zur Frage tier sogenannten akuten multiplen Sklerose. 


503 


ches Gbertrcten von ihm nicht beobachtet ist. Aber die Abbildun- 
gen machen es sehr wahrscheinhch, dab seine Auffassung riehtig ist. 

Klarfdd fand vor Neubiirger bei der experimentellen Blastomvkose 
des Gehirns Riesenzellen, die in diesem Zusammenhange besprochen 
werden miissen. Er zeigt sie auf Abb. 6, 7, 14 und Tafel II 41 u. 6f. g 
seiner Veroffentlichung. Auf Abb. 6 ist an ihrer mesoderrualen Herkunft 
nicht zu zweifeln, nach Klarfelds Beschreibung sind sie wohl den Fremd- 
korperriesenzellen (Hefeneinschliisse!) zuzurechnen, ebenso wohl die 
Pseudoriesenzellen auf Abb. 7, wahrend in den vora Kaninchen stammen- 
den Herde der Abb. 14 die Abstammung der Riesenzellen nicht ganz 
klar ist. Zwar ahneln sie in der Zusammenlagerung den von Neubiirger 
in Zeichnung 11 abgebildetcn, aber damit scheint mir fiir ihre Herkunft 
noch nichts gesagt zu sein. Mit den von mir gefundenen Riesenzellen 
haben sie eine gewisse Ahnliehkeit. Leider erfahren wir von Klarfeld 
nichts Sicheres iiber die Entstehung dieser Gebilde, vielmehr schliclit 
er sich in der Auffassung ihrer Genese den lahdlaufigcn Ansichten an. 
Fiir die von mir beschriebenen Riesenzellen scheint nach ihrer Lage und 
Einfiigung ins ektodermale Gewebe trotz moglicher Bedenken gegen 
die Richtigkeit der geauBerten Auffassung des Kernteilungsvorgangs 
die gliose Herkunft wahrscheinlicher zu sein. Wichtig ist nun noch die 
Frage nach ihrer Bedeutung. Hie glaube ich dahin beantworten zu 
diirfen, dad es sich bei dieser Riesenzellbildung um eine Kernprolifera- 
tion auf degenerativer Grundlage handelt. Ob man da die schwere 
Zellschadigung durch das Toxon oder eine infolge des Zellbedarfs uber- 
stiirzte und deshalb einige Stadien iiberspringende Kernteilung anneh- 
men will, ist Geschmacksache, und es erscheint miiBig, daruber zu strei- 
ten, ehe nicht im Experiment ahnliche Vorgange festgestellt sind. 
Arnolds, Galeottis und anderer Versuche haben da nichts fiir unseren 
Fall Verwertbares aufgezeigt. Vielleicht aber stellen die pluripolaren 
Mitosen einen Gbergang von der bipolaren, normalen Mitose zu der 
auf diesen Seiten mitgeteilten pathologischen Mitose dar. Immerhin 
machten diese Beobachtungen es wahrscheinlich, da/3 Riesenzellen 
1. durch ZusammenfliefSen verschiedener Zellen, 2. durch sukzessive Kern- 
ohne begleitende ZeUteilung, 3. durch einzeilige pluripolare Kernteilung 
im ungeteilten Zelleib entstehen konnen. Die vierte Mdglichkcit ist die 
obcn beschriebene, die ich mit allem Vorbehalt als eine wahrscheinlich gliose 
Riesenzellbildung bezeichnen mcichte, bei der durch eine atypisclie, lin¬ 
ger ichtete Mitose einzeiiig die Tochterkerne entstehen , und da/3 der vor- 
liegende Kernteilungsvorgang ohne ZeUeibteilung als der Ausdruck eines 
uivollkommenen Versuches der Proliferation aufzufassen ist. 

Hie diffusen Veranderungen im Nervengewebe sind, wenn man von 
der Ganglienzellerkrankung und der damit in Verbindung stohenden 
Gliareaktion absieht, nicht wesentlich. Insbesondere sind Gliarasen- 


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504 


H. G. Creutzfeldt: 


blidungen oder eine nennenswerte diffuse Gliavermehrung auBerhalb 
der Herde nicht einwandfrei festzustellen. Vielleicht tritt das ekto- 
dermale Stiitzgewebe um raanche GefaBe inehr hervor. als bei der 
Jugend der Patientin zu erwarten ist. Bildungsabweichungen, Gan- 
glienzellenverlagerungen (Rancke, Neubiirger u. a.) oder mehrkernige 
Ganglienzellen habe ich nicht gesehen. 


Rinde 


U-Fatem 


Durchbruch 
dee Herdee 
in die Rinde 



Abb. 7. Nubeorticaler Herd im GroBhirn mit Ubergreifen auf U-Fasern und 
Rinde. Am Herdrande und im Gebiet der U-Fasern Markschatten. 

Spielmeyer-Farbung. 

ZeiB-Planar 20 mm. Balgauszug 22 cm. 

Sekundare Strangdegeneration findet sich nur in geringem Malie in 
den Pyramidenstrangen und ist in den Pyramidenvorderstrangen ent- 
schieden starker als in den Seitenstrangen. 

Das histopathologische Gesamtbild des geschilderten krankhaften 
Prozesses zeigt eine entziindlichc nicht eitrige herdfbrmige Zerstorung, 
vorwiegend der Marksubstanz des Zentralnervensystems. Die Herde 
sind in ausgesprochener Abhangigkeit vom GefaBverlauf. Nach der 
Art der Zerfallserscheinungen laBt sich folgende Einteilung der Herde 
vornehmen: 1. Solche, bei denen Markscheiden vielfach als Mark- 
schatien (Schlesinger) besonders am Rande noch zu finden sind. wenn 
sie auch an Zahl stark vermindert und fast alle schwerst geschadigt 
sind (Abb. 7). In den Gliazellen finden sich Myelinoide und Fett- 


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Zur Frage tier sogenannten akuten multiplen Sklerose. 


505 


kornchen, oder cs sind mehr die plasmareichen Elemente, z. T. sicher 
Faserbildner, die in ihrem Ektoplasma fettig infiltriert sind. Um ein- 
zelne GefaBe (Kapillaren) liegen ektodermale Kornchenzellen. Die 
AchsenzyJinder sind auseinandergedrangt, aber kaum sicher erkennbar 
erkrankt. Die Gliareaktion driickt sich anfangs mehr in Wucherung der 
plasmatisehen Glia aus, so daB es zu fast balkenartigen Verdicknngen 



Abb. 8. .Subcorticaler Herd im Kleinhirnmark. Spielmeyer-Farbung. 
Planar 20 mm, Balgauszug 22 cm. 
g mit Plasma- und Lymphzellen infiltrierte GefaBe. 


des Reticulums mit Erweiterung der Maschen (aureolierte Herde von 
Redlich) kommt. Auf diese Weise kann in Rindenherden das Bild 
des Status spongiosus entstehen. Doch zeigt sich in Markherden schon 
friih die Neigung zur Faserbildung, die von den Glialagern um die 
GefaBe ihren Ausgang nimmt. Der Cbergang vom Kranken ins Gesunde 
ist zwar nicht ganz unvermittelt, aber doch ein recht plotzlicher. 

2. Herde, die im /Spre/meyer-Praparat von Myelinkornchen iibersat 
zu sein scheinen und bei starkerer VergroBerung erkennen lassen, daB 
die Gliazellen, und zwar besonders die von ihnen gebildeten Kornchen- 
zellen mit diesen eisenlackgefiirbten Kriimeln und Kiigelchen dicht 
erfiillt sind. Markscheidei findet man kaum mehr. Die Achsenzylinder 
sind weit auseinandergedrangt. geschlangelt und z. T. sehr dunn, z. T. 

Archiv fUr Psyctaiatrie. Bd. 6S. 33 


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H. G. Creutzfeldt: 


506 

verbreitcrt oder kugelig aufgetrieben. Im Fuchsinlichtgriinpraparat 
sind sie mit roten Kornchen besetzt. Obwohl auch von den im Sptel- 
meyerbilde geschwarzten Kornchenzellen das Scharlachrot (Herxhetmer) 
angenommen wird, sind die typischen Fettkornehenzellen des Fett- 
praparates doch im Mittelpunkt des Herdes. bzw. um die Hauptgefabe 
angeordnet zu finden (Abb. 8), so dab im Markscheidenpraparat die 



. d. 


Abb. 9. Herd im Kleinhirnmark. Spielineyer-Farbung. 

Planar 20 mm, Balgauszug 22 cm. 

<j — infiltriertes GefaB; 

l Liicken ausgefallener Gefiilie; 

N.d. Nucleus dentatus. 

Herdmitte ganz blab, im Fettpraparat leuehtend rot erscheint. Die 
Gliafaserbildung ist lebhaft und geht von der Umgebung der Ge- 
fabe aus. 

3. Henle, die fast leer erscheinen (Abb. 9). Markscheiden sind nur 
mehr am Rande als streckenwei.se gebliihte. knotig aufgetriebene, zu- 
meist aber blasse, schmale Bander sichtbar, bier und da findet man 
mit Eisenlack gefarbte SchoUen oder Brocken im Hcrdgewebe, die nicht 
die Fettfarbung annehmen, z. T. frei im Gewebe, z.T. aber auch wohl 
in einkammerigen Kornchenzellen liegen. Aber sie sind sparlich. Am 
Herdrande sieht man einige Kornchenzellen mit feinerem Inhalt. Die 
Axone sind aufs schwerste erkrankt und in manchen Herden zum 


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Zur Frage der sogenannten akuten multiplen Sklerose. 


507 


groBten Teil untergegangen. Die Faserglia ist dicht. Sie erfiillt, vou den 
GefaBen ausgehend, nach dem Gesunden hin abnehmend das Gebiet 
des Herdes. 

Diese drei Phasen der Herdbildung habe ich dem Alter nach geordnet, 
so daB Gruppe 3 die altesten Herde des vorliegenden Falles darstellt. 
Vielleicht darf man das erste Stadivm als das des Zerfalls mit beginnendem 
Abbau durch z.T. wohl fixe Elemente (Alzheimer), das zweite als das des 
Abbaus durch Kornchenzellen (Alzheimer), das dritte als das der Vernar- 
bung bezeichnen. Neuburgers Annahme einer gegen die Herdperipherie 
gerichteten Abraumung der Zerfallsprodukte kann ich nach meinen 
Befunden nicht zustimmen. Vielmehr gewinne ich aus meinen Pra- 
paraten den Eindruck, daB am Herdrande die Veranderungen stets 
jiingeren Datums sind als in der Herdmitte und infolgedessen dort 
noch Abbau und Abraumung statthaben, wahrend im Zentrum schon 
Narbengewebe entwickelt ist. Vor allem scheint mir das Vorhandensein 
von mesodermalen Kornchenzellen in der Wandung der im Zentrum 
liegenden GefaBe, das auch in alteren Herden festzustellen ist, gegen 
Neubiirgers Auffassung zu sprechen. 

Ganzliche Verodungen wie bei der klassischen multiplen Skh^rose 
wurden nicht gefunden, was wohl durch den raschen Verlauf der Er- 
krankung in unserem Falle zu erklaren ist. Den fiir diese Feststellung 
wichtigen Opticusherd habe ich nicht untersuchen konnen. 

Die Lage und Anordnung der Herde zeigt auBer der Bevorzugung 
des MarkweiB wenig Beachtliches. Besonders haufig finden sie sich 
im Windungsmark, ein auffalliges Verschontbleiben der U-Fasern, wie 
es bei der multiplen und diffusen Sklerose und neuerlich auch wieder 
von Neubiirger bei der kindlichen Sklerose beschrieben wurde, konnte 
nicht festgestellt werden (Abb. 8). 

Hirnrindenherde oder solche Markherde, die auf den Cortex iiber- 
greifen, sind armer an Kornchenzellen. Die Markscheiden gehen grund- 
satzlich in gleicher Weise wie in den reinen Markherden zugrunde. 
Die Ganglienzellen zeigen die oben beschriebenen Veranderungen, die 
in vielen Fallen zum Untergang der Zellen fiihren. Die gliose Reaktion 
ist vorwiegend plasmatisch. Die Balken des Reticulums sind verbreitert 
und farben sich im Nisslpraparat schon metachromatisch. Es kommt 
zur Bildung machtiger plasmatischer Gliazellen (Abb. 6). Aber auch 
regressive Veranderungen treten auf, die in Schrumpfungserscheinun- 
gen an Zellkernen, -leib und -fortsatzen (Abb. 65) ihren Ausdruck finden. 
Das Ausbleiben bzw. die Geringfiigigkeit der Faserbildung ist auch hier 
ein Hauptmerkmal des Rindenherdes (Spielmeyer). Weniger ausgespro- 
chen ist diese ausschlieBlich plasmatische Gliawucherung in den Kernen 
des Hirnstammes mit Ausnahme des Striatums. Hier findet man zahl- 
reiche Faserbildner und perivascular beginnende gliose Faserbildung. 

33* 


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H. G. Creutzfeldt: 


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Das Suchen nach Krankheitserregern, Spirochaten, Chlamydozoen, 
Tuberkelbacillen usw. hatte keinen Erfolg. Das mit dem Liquor der 
Kranken geimpfte Kaninchen verstarb vier Wochen spater ohne be- 
sondere nervose Erscheinungen an Stallseuche. Am Nervensystem liefien 
sich weder makro- noch mikroskopisch charakteristische krankhafte 
Veranderungen feststellen. 

Ehe wir den Versuch rnachen, den voriiegenden Fall einer bestimm- 
ten Krankheitsgruppe zuzuziihlen, ist es notwendig, kurz zu der Frage 
der multiplen Sklerose und insbesondere der akuten multiplen Sklerose 
Stellung zu nehmen. Von drei Seiten her ist dieses Problem anzufassen, 
von der der Klinik, der Histopathologie und der Atiologie aus. Histo- 
pathologisch ist die multiple Sklerose eine herdformige nichteitrige 
Entziindung des Zentralnervensystems: mit Alter alio seines Pare nchyms, 
besonders der markhaltigen Nervenfasern, mit Infiltratio der GefaO- 
wande durch Plasma- und Lymphzellen, mit Proliferatio des ektoder- 
malen (gliosen) Zwischengewebes, das den Abbau und die Abraumung 
der Zerfallsstoffe, den Ersatz zerstorten Nervengewebes und die Narben- 
bildung — wenigstens vorwiegend — besorgt. Diese Veranderungen 
sind gekennzeichnet durcb ihre strikte Abhangigkeit vom Gefabverlauf 
und damit durch ihre raumliche Begrenztheit. 

Marburg hat auf die diskontinuierliche Natur des Vorganges hin- 
gewiesen, womit er nicht nur auf die umschriebene Herdbildung, son- 
dern auch auf das Zuriicktreten sekundarer Degenerationen aufmerk- 
sam machen wollte. Auch unser Befund bestatigt diese Feststellung. 
Derartige Veranderungen sehen wir auch bei anderen Prozessen, wie 
Henneberg naher ausfiihrt. Vor alien Dingen kommt hier die viel be- 
redete Encephalomyelitis disseminata in ihrer akuten, subakuten und 
c-hronischen Form in Betracht. Der histopathologische Befund bei der 
multiplen Sklerose — nur mit diesem haben wir es vorderhand zu tun — 
ist der einer Encephalomyelitis non purulenta sclerolicans disseminata , 
ob wir nun ihre Anfangserscheinungen, ihren Hohepunkt oder ihren 
narbigen Endzustand vor Augen haben. Die Frage ist aber weiter, ob 
sich Unterschiede zwischen den verschiedenen disseminierten bzw. 
herdformigen Encephalomyelitiden finden lassen. Zunachst ist da von 
Bedeutung der Verlauf und die Dauer des Prozesses in seiner Gesarnt- 
heit und in seiner Einzelmanifestation, dem Herde. 

Bisher scheint nun eine ganz scharfe Trennung nicht vorgenommen 
zu sein. Die Benennungen ,,akut, subakut, chronisch“ beziehen sich wohl 
hauptsachlich auf den klinischcn Verlauf. Hochstens wurde noch die 
Zahl der narbigen Herde, eben der sklerotischen Plaques, wesentlich 
fur die Einordnung des betreffenden Falles in eine der genaimten 
drei Gruppen, und zwar in der Form, dab das Voriciegen narbiger Herde, 
im Verein naturlich mit dem klinisch lange dauernden Verlauf, die Zu- 


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Zur Frage der sogenannten akuten multiplen Sklerose. 


509 


rechnung zu der chronischen Form (der klassischen multiplen Sklerose) 
bestimmte. Aber der einzelne Herd kann hochstens als frisch entziind- 
licher oder narbiger bezeichnet werden, ohne dab man stets imstande 
ware, aus ihm auf die Schwere oder das Verlaufstempo des Prozesses 
einen sicheren SchluB zu ziehen. Auch der Schlesingereche ,,Mark- 
schattenherd“ scheint in dieser Richtung nicht biindig fiir die Starke 
der Giftwirkung zu sprechen. Er kann auch ein Friihzustand des sich 
entwickelnden Herdes sein, und ist es tatsachlich gar nicht selten. 
Ubergangsbilder, die diese Auffassung rechtfertigen, sind verschiedent- 
lich beobachtet (s. auch Abb. 7). Immerhin diirfte in dem Verhaltnis 
der Menge frischer und vernarbter Herde ein einigermaBen sicherer 
Hinweis fiir die Entscheidung, ob akuter oder chronischer ProzeB, zu 
sehen sein. 

Schwieriger ist schon die Abgrenzung der akut und subakut ver- 
laufenden Fiille untereinander. jDa wird die Kenntnis des klinischen 
Verlaufs zuverlassiger leiten, als die anatomische Untersuchung, wenn 
es auch vielleicht moglich ist, durch Auffinden einer oder einiger organi- 
sierter Narben ein schon langeres Bestehen des Prozesses wahrscheinlich 
zu machen. Von Bedeutung aber konnen in dieser Hinsicht Befunde 
werden, wie Anton und Wohlwill, Neubiirger und Verf. sie erhoben 
haben, und die auf besonders lebhafte, z. T. rasch regressiv werdende 
Gliareaktionen hinweisen. Ich meine das Vorkommen von Riesenzellen. 
Da ist zunachst der Neuburgersche Fall fiir sich zu betrachten, weil er 
ein Kind von 4 Jahren betrifft und damit an die Frage der kindlichen 
multiplen Sklerosen oder disseminierten Encephalomyelitiden riihrt. 
Aber auch vom histopathologischen Standpunkte aus verdient er durch 
das Vorhandensein zahlreicher mesodermaler Riesenzellen eine Sonder- 
stellung. Allerdings haben auch Anton und Wohlwill und im vorlie- 
genden Falle Verf. gezeigt, daB riesenzellenartige Gliaelemente in den 
akuten Herden eine Rolle spielen. Aber unsere Falle haben im Anfange 
klinisch sich in nichts von anderen multiplen Sklerosen unterschieden. 
Die terminate Erkrankung indes bot in Schwere und Verlaufstempo 
ein besonderes Bild. Und es scheint, als ob gerade der Name ,,multiple 
Sklerose 1 ' in Verbindung mit klinischen Riicksichten Anton und Wohl¬ 
will bewogen haben, eine Trennung zwischen Encephalomyelitis disse¬ 
minata (sub)acuta non purulenta und der Herdsklerose zu versuchen. 
Marburgs histopathologische Auffassung der multiplen Sklerose erscheint 
da straffer und einheitlicher und trifft anatomisch den Kern der Sache. 
wenn er 1906 sagt: ,.Die sogenannte akute multiple Sklerose stellt nur eine 
Form der echten multiplen Sklerose dar oder 1911, man raiisse ..die 

multiple Sklerose als parenchymatose Entziindung ansprechen, . bei 

der das degenerative Moment besonders hervortritt und sie deshalb be- 
zeichnen als Encephalomyelitis periaxialis scleroticans' 1 . 


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H. G. Creutzfeldt: 


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Indes ich glaube, da(3 dieser Satz nicht umkehrbar ist. Hochst- 
wahrscheinlich wird eine groBe Mehrzahl der disseminierten Encephalo- 
myelitiden sich wohl als das histopathologische Substrat der echten 
multiplen Sklerose herausstellen, wenn wir erst einmal fiber die Ur- 
sachen dieser Erkrankung etwas Bestimmtes wissen. Aber fur alle Falle 
trifft das nicht zu. Es macht vielmehr den Eindruck, daB der Ent- 
markungsherd mit Glianarbenbildung, den wir als den augenfalligsten 
histopathologischen Befund bei dieser Erkrankung finden, auch bei 
anderen Prozessen vorkommt. Spielmeyer und Siemerling zeigten 
das bei der Paralyse, A. Westphal bei der Arteriosklerose. Auch der 
anamischen Spinalerkrankungen ist dabei zu denken. Das will sagen, 
daB durch von den GefaBen ausgehende Schadlichkeiten Herde von 
der auBeren Form und Verteilung wie bei der disseminierten sklero- 
sierenden Encephalomyelitis zustande kommen. Henneberg weist mit 
scharfer Kritik auf die hier liegenden Schwierigkeiten und auf die Not- 
wendigkeit ihrer atiologischen Klarung hin. Auch A. Jakob nahin 
1913 zu den hier schwebenden Fragen Stellung. 

Wie aber steht es damit? Der Histopathologic ist es bisher nicht 
vergonnt gewesen, irgendwelche sicheren Anhaltspunkte zu finden. 
Nachdem im Gegensatz zu der vorwiegend von Striimpell und Eduard 
Miiller vertretenen Meinung von der primaren Gliose die Forschung 
erwiesen hat, daB bei der multiplen Sklerose ein entziindlicher ProzeB 
das nervose und insbesondere das Markgewebe zerstort, und daB die 
Gliawucherung und -fasernarbe nur die Vernarbung des Herdes besorgt, 
also stets sekundar ist (Borst, Oppenheim, Pierre Marie, Marburg , 
Anton u. Wohlwill, Siemerling u. Raecke und andere), erhob sich die 
Frage nach der primaren Schadlichkeit und ihrem Weg ins Gewebe. 
Da war von Bedeutung die Anordnung der Herde um infiltrierte GefaBe 
und die auffallend schwerc und anscheinend im Anfange isolierte Er¬ 
krankung der Markscheiden. Man nahm nun einen toxischen bzw. infek- 
tiostoxischen ProzeB an, der durch eine auf dem GefaBwege hervor- 
gebrachte Noxe hervorgerufen wiirde. Besonders haben Oppenheim 
und die Franzosen unter Pierre Maries Fiihrung nach auBeren Ursachen 
gesucht und sie in friiheren Infektionskrankheiten wie Typhus, Influen¬ 
za, Maseru usw. vermutet. Am scharfsten sprachen aber w r ohl Siemer¬ 
ling u. Raecke ihre Ansicht iiber die Ursache der multiplen Sklerose 
aus, indem sie am Ende ihrer Arbeit (1914) sagten: ,,Histopathologisches 
Bild und klinischer Verlauf machen bei der multiplen Sklerose trotz 
allem eine infektidse Grundlage wahrscheinlich.“ Im Verfolg systema- 
tischer Untersuchungen gelang Kuhn und Steiner 1917 nach Einimpfung 
von Blut und Liquor frisch erkrankter Patienten bei Meerschweinchen 
und Kaninchen die Erzeugung von Lahmungen und todlicher Erkran- 
kung und Weiterimpfung durch zwei bzw. vier Passagen. AuBerdem 


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Zur Frage der sogenannten akuten multiplen Sklerose. 


511 


fanden sie Spirochaten vom Typ der Erreger der JTetfechen Krankheit 
herdweise im Lumen von BlutgefaBen, besonders der Leber. Spater 
fand Steiner bei einem geimpften Affen das Bild der Encephalomyelitis 
disseminata. Schon 1914 hatte Bullock erfolgreich die gleichen Versuche 
ohne Weiterimpfung ausgefiihrt, ebenso Rothmann. Siemerling fand 
1918 „in einem Fall von multipler Sklerose im Dunkelfeld lebende 
Spirochaten" und spater in einem zweiten Falle, der von Bilscher 
veroffentlicht wurde. Beide Male wurde Abstrich von frischen Hirn- 
herden im Dunkelfeld untersucht. Die Schnittfarbung nach Jahnel 
usw. zeigte in keinem dieser Falle, auch nicht bei den Steinerscheix Ver- 
suchen, Spirochaten im Herdgewebe. Auch Jahnel , der berufenste 
Kenner der Spirochaten im Nervensystem, hat mit seiner Methodik 
keine positiven Befunde erheben konnen. 

Die neuere Forschung macht es aber doch wahrscheiidich, daB die 
multiple Sklerose durch ein lebendes Virus hervorgerufcn wird, daB sie 
also eine Infektionskrankheit ist. Wie weit Steiners Annahme, daB 
Zecken die Zwischenwirte und Gbertrager sind, sich bewahrheiten 
wird, entzieht sich vorlaufig sicherer Beurteilung. Mogen auf dem hier 
beschrittenen Wege auch noch viele ungeloste Fragen liegen, manche 
Unklarheit herrschen, eines sehen wir schon jetzt, und das ist die Mog- 
lichkeit einer atiologischen Abgrenzung der multiplen Sklerose. Erst 
wenn ihre auBere Ursache, oder scharfer ausgedruckt, ihr Erreger 
gefunden ist, darf man daran denken, sie aus der groBen Gruppe 
der disseminierten nichteitrigen Encephalomyelitiden herauszuheben. 
Dann erst wird die Frage entschieden werden konnen, ob es akute 
und chronische Formen der Herdsklerose gibt. Insbesondere auch wird 
die Entscheidung iiber die kindliche multiple Sklerose fallen. Bisher 
liefert uns weder die Familien- noch die Vorgeschichte der Kranken 
irgendeine eindeutige Antwort auf diese Fragen. 

Vom Standpunkt der Histopathologen aber scheint mir als Grund- 
lage fur diese atiologischen Forschungen eine Hauptforderung zu sein, 
daB die Morphologic des zur Behandlung stehenden Prozesses moglichst 
klar umschrieben wird. Besonders denke ich dabei an die Abgrenzung 
der diffusen (Schilder) von der multiplen oder disseminierten Ence¬ 
phalomyelitis. Trotz mancher Ahnlichkeiten, die diese beiden Prozesse 
bieten, sind sie doch meines Erachtens voneinander zu trennen. Bei der 
Encephalomyelitis scleroticans diffusa besteht ein Weiterschreiten 
in den ektodermalen Strukturen, bei der Encephalomyelitis sclero¬ 
ticans disseminata eine umschriebene Herdbildung, die der Ausdruck 
einer von einer bestimmten Stelle ausgehenden, aber je nach der Inten- 
sitat des Virus enger oder weiter begrenzten Giftwirkung ist. Gerade 
der von Siemerling und Verf. jiingst beschriebene Fall von diffuser 
Sklerose scheint in dieser Hinsicht lehrreich zu sein und Marburgs 


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H. G. Creutzfeldt: 


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Gegeniiberstellung diskontinuierlicher und kontinuierlicber Vorgangc 
unterstreicht den grundsatzlichen Gegensatz. 

Ob anlagemdfiige Momente fur die Entstehung der multiplen Sklerose 
in Betracht koramen, ist nicht zu sagen. Die Pulayachcn Hinweise 
auf eine heterosexuelle Konstitution seiner Kranken kann ich nach 
Durchsicht des Materials der Kieler Klinik und nach eigenen Beobach- 
tungen nicht bestatigen. Aber auf eine in Kiel gemachte Erfahrung 
mochte ich die Aufmerksamkeit lenken, auf das bemerkenswert haufig 
bei unseren Sklerotikern auftrctende Salvarsanexanthem mit mehr oder 
weniger schweren anaphylaktischen Allgemeinerscheinungen, das oft 
nach wenigen Einspritzungen auftritt. Das kann auf eine Konstitutions- 
anomalie bei diesen Kranken hinweisen. Allerdings la fit sich nicht aus- 
schlieBen, daB das Nervenleiden erst eine Neigung zu derartiger anaphy- 
laktischer Reaktion hervorgerufen hat. Kalkpriiparate, die unmittel- 
bar vor dem Salvarsan intravenos gegeben werden, haben das Aus- 
brechen des Exanthems verhindert, auch in einem Falle, der friiher 
ein schweres Exanthem durchgemacht hatte. Aber das Calcium wirkte 
nicht auf das ausgebrochene Exanthem. Vielleicht auch ist die Ichthyosis 
im Falle Sch. als Ausdruck einer Konstitutionsanomalie im Bereiche 
des Ektoderms anzusehen. Doch hier bewegen wir uns auf schwanken- 
dem Boden und haben keine sicheren Anhaltspunkte. 

Hinsichtlich der Klinik geniigen einige Hinweise auf langst bekannte 
Dinge. Die Kardinalsymptome der klassischen multiplen Sklerose, 
temporale Abblassung der Papille, Nystagmus, skandierende Sprache, 
Intent ionstremor, Fehlen der Bauchdeckenreflexe, spastische Parese, 
sind bei den akut verlaufenden Fallen wenigstens anfanglich wohl 
in demselben Verhaltnis nachzuweisen wie in den chronischen (Oppen- 
heim). Das Bild ist eben gekennzeichnet durch die mannigfachen Sto- 
rungen, die auf viele Herde schlieBen lassen. Brouwer hat in sehr feiner 
Weise gezeigt, daB gerade die phylogenetisch jiingeren Bahnen und 
Zentren vorzugsweise geschadigt werden, und hat damit eine wean 
auch nicht erschopfende Systernatisierung ermoglicht. Vor allem scheint 
fiir die Klinik der multiplen Sklerose die Pyramidenbahnschadigung 
und die daraus sich ergebende spastische Parese ein Hauptmerkmal 
bei der Abgrenzung gegeniiber anderen Erkrankungen zu sein. Das 
seltenere friihzeitige Vorkommen sensibler Storungen darf vielleicht 
auch durch Brouwers Hypothese verstandlich gemacht werden. Indes 
darf man nicht vergessen, daB die neencephalen Bahnen, besondersdie 
Pyramidenbahnen streckenweise, vor allem im verlangerten Mark, 
besonders ungeschutzt liegen und daB die GefaBversorgung — kurze 
Aste aus den ventralen GefaBen — gerade ihnen eine im Blut kreisende 
Schadlichkeit in erster Linie vermitteln kann. Besonders spricht im 
vorliegenden Falle der groBe, fast das ganze Gebiet der Pyramiden- 


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Zur Frage der sogenannten akuten multiplen Sklerose. 


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kreuzung einnehmende Kornchenzellherd fur diese Annahrae. Auch 
in Fallen von amyotrophischer Lateralsklerose sind gerade in der Bulbus- 
strecke der Pyramidenbahn die hauptsachlichsten entziindlichen Yer- 
iinderungen beschrieben. Vielleicht ist deshalb Brouwers Theorie dahiti 
zu modifizieren, daf3 bei der multiplen Sklerose zwar manche canogene- 
tische Faserungen zuerst und vorwiegend erkranken, da {I sie aber nichf 
infolge ciner in ihnen liegcnden geringeren Widerstandsfdhigkeit dcm 
Virus zuerst erliegen, sondern wegen ihrer Letge und daniit zusammcn- 
hangenden bcsonderen Gefafiversorgung dem Eindringen einer auf den 
Blutwegen hereingebrachten Schadlichkeit besonders ausgesetzt sind. Im 
spateren Verlaufe tritt der Pradilektionstyp: Erkrankung der ge- 
kreuzten Opticusfaserung und der Pyraruidenbahnen mehr und mehr 
zuriick, und wir sehen iiberall ob in neencephalen. ob in palaencephalen 
Anteilen des Zentralnervensystems die Horde verteilt sind. Bei den 
akuten Fallen finden wir ein fruhes Verblassen des Pradilektionstyps 
infolge einer raschen und allgemeinen Aussaat der Herde, die wahllos 
iiber das ganze markfasernfiihrende Gewebe erfolgt, und eben darum 
einen schnellen und schweren Yerlauf der Krankheit. Das Ende wird 
nicht selten durch schwere bulbare Storungen herbeigefiihrt. Weit 
ausgesprochener als bei der chronischen Form sind die Schiibe apoplekti- 
former Art. Es mull aber unter Hinweis auf Oppenheim betont werden, 
da 13 gerade bei der multiplen Sklerose eine einseitige sehematische 
Betrachtungswei.se nicht dem Formenreichtum dieses Leidens gerecht 
werden kann. 

Die sogenannte kindliche multiple Sklerose ist in einwandfreien. 
<1. h. auch anatomisch ausreichend untersuchten Fallen sehr viel seltener 
beschrieben, Neubiirger berichtet iiber zwei derartige Mitteilungen 
(Schupfer und Schlesinger). Unter Vorbehalt erwahnt er noch den von 
Wolf, der zur Zeit der Veroffentlichung der Originalmitteilung noch am 
Leben war, und die anatomisch nicht ganz geklarten von Nobel und 
Trdmncr (2% bzw. 9jahriger Knabe). Ich mochte den genau unter¬ 
suchten Fall IV Schroders und den anatomisch nicht ganz klaren, 
klinisch aber typischen Fall I von Ziehen hinzufiigen. Bei Schroder 
handelt es sich um einen zehnjahrigen Knaben mit 9monatiger Krank- 
heitsdauer, bei Ziehen um ein 9jahriges Kind, das 2H Jahre krank 
war. 

Alle diese Erkrankungen verliefen ziemlich rasch, so da 13 man sie 
den subakuten Formen zurechnen mu(3. Ob fiir die kindliche multiple 
Sklerose dieses die typische Verlaufsart ist. Iiil3t sich aus der geringen 
Zahl der Beobachtungen natiirlich nicht erschlielien. Lcjonne und 
L’Hermittes 20jahriger Kranker der 5 Jahre krank war, sowie Bourne- 
viUes 28jahriger Kranker, bei dem das Leiden im dritten Lebensjahr 
auftrat, sprechen gegen eine solche Amiahme. 


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H. G. Creutzfcldt: 


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DaB andererseits bei der kindlichen multiplen Sklerose die Differen- 
tialdiagnose gegeniiber der diffusen Sklerose Schwierigkeiten machen 
kann, muB bei Beurteilung dieser Verhaltnisse beriicksichtigt werden. 

Der Fall Sch. nun bietet klinisch Erscheinungen, die wir als Kardinal- 
symptome der multiplen Sklerose anzusehen gewohnt sind: Opticus- 
schddigung (Neuritis retrobulbaris), Nystagmus, skandierende Sprache, 
Schwache der Bauchdeckenreflexe und spastische Parese der Beine, all- 
mdhliche Zunahme der motorischen Storung, schubartige Verschlim- 
merung , sensible Reiz- und Ausfallscrscheinungen, Darmspasmen, spasti- 
schen Blasenverschluft, Ldhmung der Arme, BewufUseinstriibung. Atem- 
Idhmung, Koma. Im Liquor bestand geringe Zell- und deutliche Globulin- 
vermehrung bei negativer Wassermannscher Reaktion. Die Gcringfiigig- 
keit der Anfangssymptome und der auBerst rasche und schwere Verlauf 
der Endersche inungen stehen in einem schroffen Gegensatz. Der Verlauf 
des Leidens ist im letzten Vierteljahre also ein akuter, wobei allerdings 
zu erwahnen ist, daB nicht nur die rasche Aussaat der neuen Herde, 
sondern auch ihr Sitz fur das friihe Erliegen der Kranken von Bedeutung 
ist. Es handelt sich also klinisch um eine akute disseminierte Encephalo¬ 
myelitis. Diese Annahme wurde durch die anatomische Untersuchung 
bestatigt, deren Ergebnis die Feststellung einer Encephalomyelitis 
disseminata no^n purulenta scleroticans mit vorwiege.nd frischcn Ilerden 
war. Mit diesen Her den ist das Zentralnervensystem uberall besat. Immer 
sind sie abhdngig vom Gefdfiverlaufe. Altere und jiingere Herde finden sich 
allerorten, aber vonviegend im Markweifl. Besonders schwere akute 
Zerstorung des Gewebes siehl man im verldngerten Mark, etwas altere 
Herde in der Briicke. Sekundare Degeneration wurde nur in geringem 
Umfange in den Pyramidenseitenstrangen, etwas starker in den Pyrami- 
denvorderstrangen festgestellt. In den GroBhirnherden traten eigen- 
artige, wahrscheinlich gliogene Riesenzellen auf, deren Kernreichtum 
auf eine atypische Mitose, die die Tochterkerne ein- und gleichzeitig 
entstehen lieB, zuriickgefiihrt wurde. Es ist aber nicht zu sagen, ob 
diese Riesenzellen dazu berechtigen, nun eine besondere Form der 
Encephalomyelitis, etwa eine Riesenzellenencephalomyelitis anzuneh- 
men. Wahrscheinlich sind sie nur ein Ausdruck der Schwere und des 
akuten Ablaufes des krankhaften Vorganges. 

Die diffuse, ihrem Wesen nach anscheinend akute Ganglienzell- 
erkrankung diirfte das anatomische Korrelat zu der allgemeinen Be- 
wuBtseinstrubung, die schlieBlich ins Koma iiberging, sein. 

Die herdformigen Veranderungen abei - sind das Substrat der korper- 
hchen Funktionsausfalle. 

Die Frage, ob dieser Fall noch der kindlichen Encephalomyelitis 
zuzurechnen ist, ist unwesentlich. Das Alter der Kranken erlaubt die 
Zurechnung zu dieser Gruppe. 


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Zur Frage der sogenannten akuten multiplen Sklerose. 


515 


Atiologisch ist er nicht geklart. Aber Verlauf und histopathologisches 
Bild sprechen durchaus fur eine enlzundliche Erlcranlcung, die wahr- 
scheinlich durch tin lebendes Virus bedingt ist, das durch die Gefdfie 
in das Nervensystem gelangt. Die Frage, ob derartige Falle a Is akute 
multiple Sklerose bezeichnet werden sollen, ist erst durch die Auf- 
findung des Erregers zu beantworten. Vorderhand ist es zweckmaBig, 
sie nur als Encephalomyelitis disseminata non purulenta scleroticans acuta 
zu benennen. 

Wenn auch dieses Krankheitsbild sich nicht ganz scharf von der 
klassischen multiplen Sklerose abgrenzen laBt, so weist doch seine 
klinische Erscheinungsform gewisse kennzeichnende Besonderheiteu 
auf. Diese sind: 1. das friihe Verlassen des Prddilektionstyps, und da- 
mit 2. die Mannigfaltigke.it und Schwere der Storungen, 3. der rasch 
fortschreitende Verlauf. AtuUomisch aber haben wir bestimmte Ver- 
haltnisse vor uns, die einen SchluB auf die Schwere und das Tempo 
des krankhaften Vorganges erlauben: 1. das Vorkommen massenhafter 
myelinoider Abbaustoffe in den Kornchenzellen, 2. das Vorkommen 
atypischer Mitosen mit Riesenzellbildung, 3. karyorektische Erschei- 
nungen an Gefdfi- und Gliazellen. 


Literaturverzeichiiis. 

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der multiplen Sklerose. Neurol. Zentralbl. 37, S. 401, 1918. — Westphal, A.: 
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Bedingungen. Virchows Arch. f. pathol. Anat. u. Physiol. 77, S. 181, 1879. — Ernst: 
Pathologie der Zelle, aus Krehl und Marchand, Handb. d. allg. Pathol. 8, 1. 292. 
Leipzig 1915. (Umfassende Literaturangabe.) — Flemming: Uber das Verhalten des 
Kerns bei der Zellteilung und iiber die Bedeutung mchrkerniger Zellen. Virchows 
Arch. f. pathol. Anat. u. Physiol. 77, S. 1,1879. — Galeotti: Uber experimentelle Er- 
zeugung von UnregelmaBigkeiten des karyokinetischen Prozesses. Zieglers Beitr. 
14, S. 288, 1893. — Glockner: Uber das Vorkonnnen von ein- und mehrkernigen 


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Zur Frage der sogenannten akuten multiplen Sklerose. 


517 


Riesenzellen und Riesenzellen mit Riesenkemen in endotelialen Geschwiilsten, 
zugleich ein Beit rag zur Lehre von den Uternametastasen und der Bedeutung des 
retograden Transposes fur deren Zustandekommen. Zieglers Beitr. 26, S. 73, 
1899. — Hertwig, 0.: Die Zelle und die Gewebe 1, S. 192, 1893. — Hertwig, 0. : 
Der jetzige Stand der Lehre von den Chromosomen. Dtsch. med. Wochenschr. 
48, S. 9, 1922. — Herxheimer u. Roth: Zur feineren Struktur und Genese der Epi- 
theloidzellen und Riesenzellen des Tuberkels. Zugleich ein Beitrag zur Frage der 
strahligen Einschlusse in Riesenzellen. Zieglers Beitr. 61, S. 1, 1916. — Klarfeld: 
Zur Histopathologie der experiinentellen Blastomykose des Gehirns. Zeitschr. 
f. d. ges. Neurol, u. Psycliiatr. 68, S. 176, 1920. — Lustig u. Galeotti: Zytologische 
Studien fiber pathologische menschliche Gewebe. Zieglers Beitr. 14, S. 225, 1893. 
— Marwedel: Die morphologischen Veranderungen der Knoehenmarkszellen bei 
der eitrigen Entziindung. Zieglers Beitr. 22, S. 507, 1897. — Maximow: Die histo- 
logischen Vorgiinge bei der Heilung von Hodenverletzungen und die Regenerations- 
fahigkeit des Hodengewebes. Zieglers Beitr. 26, S. 230, 1899. — Nedjelsky: t v ber 
die amitotische Teilung in pathologischen Neubildungen, hauptsachlich Sar- 
komen und Carcinoraen. Zieglers Beitr. 27, S. 431, 1900. — Neubiirger: siehe 
unter multipler Sklerose. — Rona: fiber das Verhalten der elastischen Fasern in 
Riesenzellen. Zieglers Beitr. 27. S. 349, 1900. — Stroebe: fiber Kernteilung und 
Riesenzellenbildung in Geschwiilsten und im Knochenmark. Zieglers Beitr. 7, 
S. 341, 1890. — Stroebe: Zur Kenntnis verschiedener zellularer Vorgiinge und Er- 
scheinungen in Geschwiilsten. Zieglers Beitr. 11, S. 1, 1892. — Stroebe: Cber Vor- 
kommen und Bedeutung der asymmetrischen Karvokinese. Zieglers Beitr. 14, 
S. 154, 1893. — Stroebe: fiber Entstehung und Bau der Gehirngliome. Zieglers 
Beitr. 18, 405, 1895. — Trambusti: t v ber den Bau und die Teilung der Sarkom- 
zellen. Zieglers Beitr. 22, S. 88, 1897. — Wakabaja.<tchi: fiber feinere Strukturen 
der tuberkulosen Riesenzellen. Virchows Arch. f. pathol. Anat. u. Physiol. 204, 
S. 421, 1911. — Wakabajasclii: Einige Beobachtungen liber die feinere Struktur 
der Riesenzellen in Gumma und Sarkom. Virchows Arch. f. pathol. Anat. u. 
Physiol. 204, S. 54, 1911. 


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Cber Psychiatrie mid .Jugendfursorge. 

Von 

San.-Rat Dr. Luckcrath, 

Direktor der Prov.-Fiirsorgeerziehungsanstalt Euskirchen. 

(Eingegangen am 2. Januar 1923.) 

In der Novembersitzung 1921 des Psj'chiatrischen Vereins der Rhein- 
provinz babe ich liber die am 1.1. 1921 eroffnete Prov.-Fiirsorge- 
erziehungsanstalt Euskirchen, die mit einem Beobachtungs- und einem 
Psychopathenhause fiir abnorme schwer erziehbare Zoglinge verbunden 
ist, gesprochen. Ich konnte iiber 380 Zoglinge berichten, von denen 
63,1% geistig abnorm waren (41,1 °/ 0 Psychopathen, 18,9% schwach- 
sinnige, 1,05% geisteskranke). Bis zum l.X. 1922 habe ich weitere 
205 Falle genau untersucht. Davoti waren nur 19% als normal zu be- 
zeichnen, 81% waren geistig abnorm. Von der Gesamtzahl waren 34,6°/ 0 
schwachsinnig (31,2% debit, 3,4% imbecill) und 45,8% psychopathisch, 
einer war geisteskrank. 

Die Zahl der abnormen Zoglinge ist also in der Anstalt Euskirchen 
sehr hoch. Das liegt daran, dab ein Beobachtungs- und ein Psycho- 
pathenhaus in ihr ist und weiterhin daran, daB infolge der psychiatri- 
schen Leitung der Anstalt die abnormen schwierigen rhein. Fiirsorge- 
zoglinge immer mehr nach Euskirchen geschickt werden. 

Ein RiickschluB auf die Prozentzahl der abnormen Fiirsorgezoglinge 
iiberhaupt laBt sich demnach aus diesen Zahlen nicht ziehen. In dieser 
Hinsicht muB ich auf die friiheren Untersuchungen anderer Psychiater 
(Gregor , Kluge, Knecht, Monkemoller, Jtizor, Siefert, Tlvjma usw.) ver- 
weisen. Es scheint freilich, als wenn die Zahl der abnormen Zoglinge 
allgemein zugenommen habe. Die heutigen Zeiten sind der Entwick- 
lung psychopathischer Veranlagung sehr giinstig. Die Fiirsorge- 
erziehung ist in ihrem wichtigsten Teil cine Erziehung der Psycho¬ 
pathen (Monkemoller). 

Bei samtlichen von mir beobachteten Fallen waren korperliche Ab- 
weichungen festzustellen. Degenerationszeichen am Schadel, Gesicht, 
Storungen der Sensibilitat, alte Kinderlahmung, Littlesche Krankheit, 
Zeichen alter Rachitis usw. fanden sich sehr haufig. Das ist etwas so 
Gelaufiges, daB es eigcntlich keiner Erwahnung bedarf. AuBerordentlich 
groB war -— und das ist erwahnenswert — die Zahl von Zoglingen, 
die im Langenwachstum und in der Genitalentwicklung zuriick- 
geblieben waren. 24 Falle haben eine KorpergroBe, die zwischen 126 cm 


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Liickerath: fiber Psychiatric und Jugendfiirsorge. 


519 


und 144 cm schwankt. Bei alien diesen Jugendlichen war die Genital- 
entwicklung auf kindlicher Stufe stehengeblieben, die Hoden bohnen- 
groB, keine Schamhaare. Die 24 Falle verteilen sich auf folgende 
Altersstufen: 13 Jahre alt war 1; 14 Jahre 5; 15 Jahre 9; 16 Jahre 5: 
17 Jahre 2; 18 Jahre 2. Bei mehreren Fallen bestand ein- oder doppel- 
seitiger Kryptorchismus. 

Bei einem dieser infantilen Zdglinge war in der Kindheib eine Kropf- 
operation gemacht worden; bei einem andern besteht ein an Kretinis- 
mus erinnernder Zustand. AuBerlich nachweisbare Schilddriisenver- 
anderung bestand sonst in keinem Falle. Ein Zogling leidet an Dys¬ 
trophia adiposogenitalis. 

AuBer diesen 24 sind 4 Zoglinge zwar nicht in der KorpergroBe 
zuriickgeblieben, aber in der Genitalentwicklung auf kindlicher Stufe 
stehengeblieben. Von diesen insgesamt 28 in der geschlechtlichen Ent- 
wicklung zuriiekgebliebenen Jugendlichen sind 3 schwachsinnig, 19 
debil, 6 sind intellektuell nicht zuriickgeblieben, aber als Psychopathen 
zu bezeichnen. 

Wie ich durch Besuche in anderen Erziehungsanstalten festgestellt 
habe, befinden sich dort entsprechende Falle, wenn auch nicht in solcher 
Menge wie in Euskirchen. 

Es handelt sich offenbar bei diesen jungen Menschen um Stdrungen 
der inneren Sekretion. Es wird weiteren Untersuchungen vorbehalten 
sein, eine genaue Diagnose beziiglich dieser Stoning der inneren Se¬ 
kretion festzustellen und daraufhin eine entsprechende Therapie zu ver- 
suchen. 

Nach der psychisehen Seite bieten viele der Psychopathen ein groBes 
Intercsse. Es besteht eine innere Verwandtschaft zwischen den Psycho- 
pathien und den Geisteskrankheiten. Die psychopathisehen Zustande 
des Kindesalters sind fur das Verstandnis der Geisteskrankheiten der 
Erwachsenen von groBer Bedeutung. Man kann wohl behaupten, daB 
die Kenntnis von der psychologischen Entwicklung des normalen und 
des abnormen Kindes uns das Verstandnis fiir Psychosen wie manisch- 
depressives Irresein und Dementia praecox erheblich niiher bringt und 
vertieft. Wir finden beim normalen Kinde zahlreiche Ankliinge an die 
Motilitatssymptome der Katatonie. Der Negativismus (Befangenheit der 
Kinder bei neuen Eindriicken, Eigensinn, stereotypes Verhalten, Echo- 
lalie, Grimassieren, Perseveration, VViederholungen bestimmter Be- 
wegungsantriebe sind geradezu charakteristisch fiir bestimmte Phasen 
derKindheit; oft finden wir bei Kindern und Jugendlichen eine geradezu 
negativistische Sperning gegen jede ethische Beeinflussung (Anton) usw. 

Das genaue Stadium der Psychologic des normalen und des abnor¬ 
men Kindes, speziell auch die Psychologic der Pubertat, in der eigent- 
lich jeder Mensch ein Psychopath ist, kann den Psychiatern nicht 


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Ltickerath: 


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dringend genug ans Her/, gelegt werden. Bis jetzt ist die Zahl der 
Psychiater, die sich mit diesen Zustanden beschaftigt, noch recht klein. 
Es hat sich zwar eine ganze Anzahl mit Untersuchungen von Jugend- 
lichen und Fiirsorgezoglingen beschaftigt und ihre Resultate in der 
Literatur niedergelegt (Hermann usw.). Diese sind sehr wertvoll und 
haben den Er/iehungsanstalten wichtige Dienste geleistet. Sie haben 
die ganze Erziehung befruchtet, so dab heute wohl kaum eine Erziehungs- 
anstalt vorhanden ist, deren Leiter nicht mit diesen Zustanden vertraut 
ware. Aber die Psychiatric hat sich in ihrer Gesamtheit noch viel zu 
wenig mit diesen Aufgaben beschaftigt, so dab sie in der Psychopathen- 
fiirsorge nicht die Rolle spielt, die ihr von Rechts wegen zukommt. 
In der geschlossenen Psychopathenfiirsorge der Fiirsorgeerziehungs- 
anstalten — das geht aus dem Gesagten hervor ■— sind zwar Psychiater 
an mabgebender und einflubreicher Stelle tatig, so Kluge in Brandenburg, 
Monkemoller und Rcdepennig in Hannover, Gregor in Baden, Schnitzler 
in Pommern, Verfasser in der Rheinprovinz usw., aber in der so wich- 
tigen offenen Psychopathenfiirsorge bleibt noch viel zu wiinschen iibrig. 
Der Deutsche Verein fiir Psychopathenfiirsorge liegt ganz in den Handen 
von Nicht-Arzten. Er hat allerdings auf seinen beiden Tagungen in 
Berlin 1918 und in Kdln 1921 die Psychiatric hinzugezogen und ge- 
niigend zu Worte kommen lassen. Kramer -Berlin hat auf der Tagung in 
Koln einen Vortrag iiber die wechselseitige Zusammenarbeit zwischen 
Psychiater und Jugendwohlfahrtspflege in Ermittlung und Heilerziehung 
gehalten und ausfiihrlich begriindet, dab die Mitwirkung des Psychiaters 
dabei unbedingt erforderlich sei. Ich weib nicht, ob dieser Appel 1 in den 
Kreisen der Psychiater den geniigenden Widerhall gefunden hat. Ich 
will ausdriicklich betonen, dab es sich um Mitwirkung handelt; der 
Padagoge, die soziale Fiirsorge mub natiirlich auch mitwirken, und zwar 
an hervorragender Stelle. Die Behandlung der psychopathischen Zu- 
stande ist zum groben Teil eine erziehliche und liegt demnach in den 
Handen der Padagogen, aber sie ist gebunden an die arztliche Erken- 
nung dieser Erscheinungen und sie mub von psychiatrischen Gesichts- 
punkten geleitet, sie mub eine heilpadagogische sein. Der Vorsitzende 
des Allgemeinen Fiirsorgeerziehungstages hat in Koln erklart, er be- 
kenne sich zu dem Grundsatz, dab die padagogische Methode, die dem 
Psychopathen zu helfen imstande sei, in der Fiirsorgeerziehung die 
Durchsehnittsmethode werden musse. 

Durch das Reichsgesetz fiir Jugendwolilfahrt, das am 1. IV. 1924 in 
Kraft tritt, ist die Pflege und Fiirsorge der Kindheit und Jugend, be- 
sonders der gefahrdeten, zum Gesetz erhoben. Die offentliche Jugend- 
hilfe, deren Organe die Jugendwohlfahrtsbehorden sind (Jugendamter, 
Landesjugendamter, Reichsjugendamt), haben zur Aufgabe den Schutz 
der Pflegekinder, die Mitwirkung in Vormundschaftssachen, die Fiir- 


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tlber Psychiatrie und Jugendftirsorge. 


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sorge fiir hilfsbediirftige Minderjahrige, die Mitwirkung bei der Schutz- 
aufsicht und Fiirsorgeerziehung, die Mitwirkung bei der Beaufsichtigung 
der Arbeit von Kindern und jugendiichen Arbeitern, die Mitwirkung bei 
der Fiirsorge fiir Kriegerw'aisen und Kinder von Kriegsbeschadigten, 
die Mitwirkung bei der Jugendhilfe bei den Polizeibehorden, insbesondere 
bei der Unterbringung zur vorbeugenden Verwahrung gernali naherer 
landesrechtlicher Vorschrift. 

Es ist Aufgabe des Jugendamtes, Einrichtungen und Veranstaltungen 
anzuregen, zu fordern und gegebenenfalls zu schaffen fiir Beratung in 
Angelegenheiten der Jugendiichen, Mutterschutz vor und nach der 
Geburt, Wohlfahrt der Siiuglinge, Wohlfahrt der Kleinkinder, Wohlfahrt 
der im schulpflichtigen Alter stehenden Jugend auBcrhalb des Unter- 
richtes, Wohlfahrt der schulentlassenen Jugend. 

Als stimmberechtigte Mitglieder der Jugendamter sind neben den 
leitenden Beamten in der Jugendwohlfahrt erfahrene Manner und 
Frauen aller Bevolkerungskreise zu berufen. Es sollen in das Jugendamt 
hauptamtlich in der Regel nur Personen berufen werden, die eine fur 
die Betatigung in der Jugendwohlfahrt hinreichende Ausbildung be- 
sitzen. Besteht irgendwo ein Wohlfahrtsamt oder eine entsprechende 
Einrichtung, so konnen diesem die Aufgaben des Jugendamtes tiber- 
tragen werden. Besteht irgendwo ein Gesundheitsamt, so konnen 
diesem die gesundheitlichen Aufgaben iibertragen werden. 

Das Jugendamt kaim die Erledigung einzelner Geschafte oder 
Gruppen von Geschaften besonderen Ausschiissen, in die auch andere 
Personen als seine Mitglieder berufen werden, sowie Vereinigungen 
fiir Jugendhilfe oder fiir Jugendbewegung oder einzelnen in der Jugend¬ 
wohlfahrt erfahrenen und bewahrten Mannern oder Frauen iibertragen. 

Nach diesen allgemeinen Bestimmungen konnen auch Psychiater be¬ 
rufen werden. Das Gesetz enthalt aber auch einige Bestimmungen, 
die den Psychiater direkt angehen. So heiBt es in Abschnitt V § 49 
bei der offentlichen Unterstiitzung hilfsbediirftiger Minderjahriger, da II 
diesen im Falle der Hilfsbediirftigkeit der notwendige Lebensbedarf 
einschlieBlich der Erziehung und der Erwerbsbefahigung und die er- 
forderliche Pflegc in Krankheitsfallen zu gewahren sei. Bei Beurteilung 
der Notwendigkeit der Leistungen ist das Bediirfnis nach rechtzeitiger 
dauernder und griindlicher Abhilfe gegen Storungen der korperlichen, 
geistigen und sittlichen Entwicklung der Minderjabrigen zu beriick- 
sichtigen. Fiir die Fiirsorgeerziehung bringt das Gesetz die neue Be- 
stimmung (§65), daB das Vormundschaftsgericht die arztliche Unter- 
suchung des Minderjahrigen anordnen und ihn auf die Dauer von 
hochstens 6 Wochen in einer zur Aufnahme von jugendiichen Psycho- 
pathen geeigneten Anstalt oder in einer offentlichen Heil- und Pflege- 
anstalt unterbringen lassen kann. Ferner soli die Unterbringung des 

Archiv fUr Psychiatrie. Bd. 68. 34 


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Liickerath: 


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Fiirsorgezoglings unter arztlicher Mitwirkung geschehen; Minderjahrige, 
die an geistigen Regelwidrigkeiten leiden (Psychopathic, Epilepsie, 
schwere Erziehbarkeit usw.) oder an schweren Erkrankungen (Tuber- 
kulose, Geschlechtskrankheiten usw.) sind, soweit es aus hygienischen 
oder padagogischen Griinden geboten erscheint, in Sonderanstalten oder 
Abteilungen unterzubringen (§70); das geschieht iibrigens jetzt schon. 
SchlieBlich ist (§ 73) die vorzeitige Entlassung eines Minderjahrigen 
wegen Unausfiihrbarkeit der Fiirsorgeerziehung aus Griinden, die in 
der Person des Minderjahrigen liegen, zulassig, unter der Voraussetzung, 
daB eine anderweitige gesetzlich geregelte Bewahrung des Minder¬ 
jahrigen sichergestellt ist. 

Ein Reichsgesetz ist in Vorbereitung. 

Die Psychiater werden demnach nach Inkrafttreten des Gesetzes 
auch in der Fiirsorgeerziehung mehr tatig sein raiissen. 

Uber die Zusammeneetzung der das Gesetz ausfiihrenden Organe 
(Jugendamter usw.) bestehen nur die oben erwahnten allgemeinen Be- 
stimmungen. Es ist ohne weiteres klar, daB auBer den Verwaltungs- 
behorden, Vormundschaftsgerichten, Padagogen, in der Jugendwohl- 
fahrt und Jugendbewegung tatigen und ausgebildeten Personen und 
Vereinigungen auch die arztliche Hilfe nicht entbehrt werden kanti. 
Tatsachlich gibt es schon Jugendwohlfahrtsamter in manchen Stadten, 
die sich arztliche Hilfe gesichert haben. Als solche kommt fiir viele 
Falle in erster Linie kraft seiner Ausbildung und Tatigkeit der Kreis- 
oder Stadtarzt, der Gerichts- und Polizeiarzt und Schularzt in Frage. 
Ich bin der Ansieht, daB auch der Psychiater, obwohl seine Tatigkeit 
nur in der Fiirsorgeerziehung vorgesehen ist, zur Mitwirkung an deni 
Gesetz in ausgedehntem MaBe berufen ist. 

Das Gesetz umfaBt in weitgehender Weise die Fiirsorge fiir die Kinder 
und Jugendlichen von der Geburt — ja, schon vor der Geburt — bis zur 
GroBjahrigkeit. Jedes deutsche Kind hat, wie § 1 des Gesetzes besagt, 
ein Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen 
Tiichtigkeit. Bei der schonen Aufgabe, die dieser Paragraph steUt, 
kann die Hilfe des Psychiaters nicht entbehrt werden. Sie zu erfiillen, 
bedarf es der korperlichen, geistigen und sittlichen Pflege und Fiirsorge. 
Zunachst ist dies Sache der Familie. Wo diese versagt, tritt die offent- 
liche Jugendhilfe ein. Bisher haben zahlreiche karitative Vereinigungen 
auf diesem Gebiete GroBes undGutes geleistet. Es wird auch im einen oder 
anderen Falle der arztliche Rat eingeholt, aber das geschieht nur, wenn 
die betreffenden Personen es fiir notig halten. Von einer systematischen 
Tatigkeit der Psychiater auf diesem Gebiet der Jugendpflege kann man 
doch nicht reden. Sie ist aber notwendig. Bei den gesunden Kindern 
zur Verhutung von Schadlichkeiten. Es handelt sich aber bei sehr vielen 
Kindern und Jugendlichen, die vom Gesetz betroffen werden, um erb- 


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t)ber Psychiatrie und Jugendfiirsorge. 


523 


lich belastete, geistig nicht normale Menschen. Keines der Gebiete, auf 
denen die Arbeit der Jugendamter liegt, ist hier auszunehmen. Pflege- 
kinder, Vormundschaft, hilfsbediirftige Minderjahrige, Schutzaufsicht, 
Fiirsorgeerziehung, Jugendgerichtshilfe, Jugendhilfe bei Polizeibehorden: 
so viel Stichworte, so viele Gebiete fur psychiatrische Tatigkeifc. Be- 
sonders mochte ich auf die Kleinkinderfursorge aufmerksam macben. 
Pflegekinder sind oft unehelich, erblich belastet. Kreiskommunalarzt 
Fefo-Lennep und Prof. WeAer-Chemnitz haben iiber Kleinkinderfursorge 
und die arztlichen Aufgaben bei Erkennung und Behandlung der psycho- 
pathischen Konstitution im schulpflichtigen Alter auf der Tagung fur 
Psychopathenfiirsorge in Koln eingehende Vortrage gehalten, die zwar 
fiir das hauptsachlich aus Laien bestehende Publikum bestimmt waren, 
aber auch den Arzten manche beherzigenswerte Winke gaben. Leider 
muB ja zugegeben werden, daB viele Arzte auf diesera Gebiete Laien 
sind, und daB auch viele Psychiater auf diesera Gebiet nicht hinreichend 
bewandert sind. Je friiber aber die psychopathischen Konstitutionen 
erkannt werden, desto eher konnen heilpadagogische Bestrebungen ein- 
setzen. Auf diese miissen sich die Psychiater unbedingt den erforder- 
lichen EinfluB verschaffen und sichern. 

Dazu ist es notwendig, daB die Psychiatrie sich diesen Gebieten mehr 
zuwendet als bisher. Besonders mochte ich auf die Hilfsschulkinder 
hinweisen. Wer sich mit diesen beschaftigt, weiB, welch reichhaltiges 
interessantes, wissensch aft lich durchaus noch nicht geniigend er- 
forschtes Material in den Hilfsschulen enthalten ist. 

Die Schutzaufsicht betrifft die Jugend, deren Verwabrlosung zu be- 
fiirchten und demnach zu verhuten ist. Sie wird in vielen Fallen nur die 
Vorlauferin der Fiirsorgeerziehung sein. In beiden Gebieten ist die Mehr- 
zahl der betreffenden Jugend geistig abnorm. Soweit sie in Fiirsorge- 
erziehungsanstalten ist, wird sie erfaBt, und es ist auch fiir sie gesorgt, 
wie ich eingangs ausfiihrlich geschildert habe. Es gibt aber zahlreiche 
Fiirsorgezbglinge, die nicht in Anstalten, sondern in Stellungen und 
Familien untergebracht sind; diese werden nicht erfaBt. AuBerhalb der 
Anstalten laBt die Fiirsorge zu wiinschen iibrig. In einigen Stiidten gibt 
es Beratungsstellen, an denen Psychiater tatig sind. Ira ganzen, be¬ 
sonders in kleineren Stadten und auf dem Lande ist noch viel zu tun. 
Auch in der Jugendgerichtshilfe hat die psychiatrische Mitwirkung bis¬ 
her nicht die ihrer Bedeutung entsprechcnde, ihr zukomraende Stellung. 
Bei der Beaufsichtigung der Arbeit Jugendlicher wird eventuell die Be- 
rufsberatung in Frage kommen Hier kann der Arzt in der Hauptsache 
artgeben, welche Berufe gegebenenfalls ungeeignet sind. 

Das Reichsgesetz fiir Jugendwohlfahrt umfaBt Kindheit und Jugend, 
besonders die abnorme. Je friiber eine Diagnose gcstellt wird, desto 
besser. Wer die psychologische Entwicklung des normalen Kindes 

34* 


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524 


Liickerath: tlber Psychiatrie und Jugendfiirsorge. 


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kennt, wird die Abweichungen vom normalen Verhalten zu beurteilen 
wissen. Die Verzogerungen in der korperlichen Entwicklung, das Ver¬ 
halten gegen die Umgebung, im Spiel, die Beobachtung des Schlafes, 
die Uberempfindlichkeit mancher Kinder (langanhaltendes, haufiges 
Weinen), das zuriiekhaltende Wesen scheuer Kinder, friihe geschlecht- 
licke Regungen usw. geben Anhaltspunkte fiir die Beurteilung der Klein- 
kinder, die an sich gar nicht einfach ist und dem psychiatrisch geschulten 
Kinderarzt am besten liegen wiirde. 

In vielen Fallen tritt die Psychopathic erst in der Pubertat deuthch 
in Erscheinung. Genaue Erforschung der Vorgeschichte findet freilich 
meist schon Warnungssignale in der Kindheit. Der Verlauf der normalen 
Pubertat, ihre Ausschlage ins Pathologische, die oft /uriickgehen, er- 
fordern kritischc Beurteilung bei genauer Kenntnis der normalen Psyche 
dieses schwierigen Alters. Eine richtige Behandlung kannaber erst dann 
stattfinden. 

Auch in der Fiirsorgeerziehung wird noch weitergehende Mitarbeit 
des Psychiaters notig. Wenn erst saint liche zur Fiirsorgeerziehung iiber- 
wiesene Minderjahrige vorher psychiatrisch untersucht werden, ist ihre 
Mitwirkung in groBerem Umfang als bisher notig. Zurzeit liegt die 
psychiatrische Tatigkeit in zu wenig Hiinden. Wo es sich um 60 und 
mehr Prozent abnorme Zoglinge handelt, ist der Ruf nach intensiverer 
Mitarbeit nicht ungerechtfertigt. 

Kreis- und Stadt-, Schul- und Polizeiiirzte sind in erster Linie zur 
Tatigkeit in den Jugendamtern berufen. Sie kbnnen ihre Aufgabe nur 
erfiillen, wenn sie psychiatrisch durchgebildet sind. Die Psychiatrie 
mufi sich mit diesen Grenzgebieten mehr als bisher beschiiftigen. Ihr 
Wirkungskreis darf nicht an den Mauern der Irrenanstalt haltmacheu. 
Sie sind berufen, an der Gesundung unseres Volkes mitzuarbeiten. Be- 
ratungsstellen in den Stadten und auf dem Lande, Tagesheime fiir 
Psychopathen, Belehrung der in der Jugendfiirsorge tatigen Personen 
dureh Vortrfige und Kurse, psychiatrische Schularzttatigkeit, Mithilfe 
bei den Jugendgerichten, das sind psychiatrische Aufgaben, fiir die aller- 
dings Vorbedingung ist das Vertrautsein mit der Psyche des Kindes und 
mit den Grenzgebieten psychiatrischer Wissenschaft. 

Diese ganze Fiirsorge soli in den Jugendamtern konzentriert werden. 
Es ist hochste Zeit, da 13 wir uns den notwendigen Einfluli darauf ver¬ 
se haf fen. Es ware wohl angebraclit, wenn der Deutsche Verein fiir 
Psychiatrie bei dem Minister vorstellig wiirde und ihn iiber die Be- 
deutung unserer Mitwirkung orientiertc. Dieser hiitte dafiir zu sorgen, 
da 13 das Reichsjugendamt, die Landes- und die Jugendamter Psychiater 
berufen wiirden, damit derZweck des Gesetzes, die Erziehung des deut- 
schen Kindes zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tiichtig- 
keit auch wirklich voll und ganz erreicht wiirde. 


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(Aus der Universit&tsklinik fiir Psychisch- und Xervenkranke, Bonn [Direktor: 

Geheinier Medizinalrat Professor Dr. A. Westphal].) 

( her (las A. Westphalschc Piipillenphanoinen bei Encephalitis 

epidemica. 

Von 

A. Meyer, 

Assistenzarzt der Klinik. 

In tier Zeitschrift fur die gesamte Neurologic und Psychiatric (Bd.(i8, 
1—3) 1921 hat A. Westphal Pupillenphanomene bei Encephalitis epi¬ 
demica beschrieben, die er schon vorher in Sitzungen des Psycliiatri- 
schen Vereins der Rheinprovinz demonstriert hatte. Es handelte sich 
im wesentlichen um die wechselnde absolute Starre der Pupillen, die 
Westphal frtiher schon bei katatonen Zustanden, bei myoklonischen 
Symptomenkomplexen (multiple Sklerose, Myoklonusepilepsie) gefun- 
den hatte. Sowohl bei hyperkinetischen wie auch akinetisch-hypertoni- 
schen Formen der Encephalitis epidemica gelang es ihm, ,,bald einseitig, 
bald doppelseitig, einen ganz regellosen Wechsel von prompter, auf- 
gehobener oder erheblich herabgesetzter Lichtreaktion aufzuweisen", 
Ver&nderungen, die sich in einem Falle auch zahlenmallig deutlich mit 
dem Differentialpupilloskop von Hefi nachweisen lieflen. Die licht- 
starren Pupillen zeigten nicht selten ovale Verziehungen. In der Regel 
gelang es ihm, prompte Lichtreaktion durch Druck auf die Iliakal- 
gegend nach dem Verfahren von E. Meyer oder durch das Ausfiihron- 
lassen eines kraftigcn Handedrucks nach Redlichs Beschreibung in 
Lichtstarre umzuvvandeln. Auffallig erschien ferner die Abhangigkeit 
der Lichtreaktion von dem Gefiihlszustande des Patienten. Im psycho- 
logischen Laboratorium konnte von Lowenstein naChgewiesen werdcn, 
dali Mischzustande von Erregung und Unlust die Lichtreaktion schwach 
hemmten. Eine starke und langdauerjide Hemmung vurde immer dann 
erzielt, wenn Furcht suggestiv erzeugt wurde. Bei einem anderen Falle 
wurde die gleiche Abhangigkeit der Lichtreaktion von der Furcht- 
suggestion und dem korperliehen Schmerze wahrend einer Venen- und 
Lumbalpunktion nachgewiesen. In einem dritten Falle gentigte schon 
die schwache Furchtsuggestion der Augenuntersuchung, um Licht¬ 
starre hervorzurufen. 

Westphal halt daher im Gegensatz zu eigenen fruheren Anschauun- 


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526 


A. Meyer: 


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gen und zu Redlich das psychische suggestive Moment, wie es durch 
die experimentellen Untersuchungen Lowensteina in den Vordergrund 
geriickt sei, fur einen wesentlichen Faktor bei dem Zustandekommen 
seines Pupillenphanomens. 

Das Vorkommen der wechselnden Pupillenstarre bei den verschie- 
densten im wesentlichen extra-pyramidalen Symptomenkomplexen 
veranlaBt nun Westphal, in seinem Pupillenphanomen ein allgemeines 
Symptom striarer Erkrankungen zu sehen. Er ist sich bewuBt, daB 
jeder Versuch einer Erklarung desselben zunachst noch hypothetisch 
sein muB. Bei eingehender Wiirdigung der vorliegenden Erfahnmgen 
auf pathologisch-anatomischem, klinischem und tierexperimentellem Ge- 
biete scheint ihm jedoch die Vorstellung nicht zu gewagt, daB ,,Ver- 
anderungen des Striatums, mogen sie funktioneller Natur oder durch 
organische Prozesse bedingt sein, unter bestimmten Bedingungen, 
unter denen psychischen Momenten die wesentlichste Bedeutung zuzu- 
kommen scheint, zu Tonusveranderungen einerseits der Korper-, an- 
dererseits der glatten Irismuskulatur fiihren, die imstande sind, die 
durch wechselvollc Spannungszustande der Iris bedingten Innervations- 
storungen und Formveranderungen der Pupillen sowie die ihnen koordi- 
nierten Muskelspannungen zu erklaren 1 '. 

In einer spateren Veroffentlichung teilt Westphal l ) seine weiteren 
Erfahrungen tiber die ,,wechselnde absolute Pupillenstarre 1 ' mit. Die 
Zahl der Falle, in denen er das Symptom deutlich nachweisen konnte, 
hat sich vermehrt, und es zeigte sich, daB es als Restsymptom bei leich- 
teren Fallen von Encephalitis epidemica noch lange bis in die Rekon- 
valeszenz hinein nachweisbar war. Wo das Pupillenphanomen nicht 
spontan in die Erscheinung trat, war es durch die E. Meyerschen und 
Redlichschen Handgriffe in der Regel auslosbar. DaB das in typischen 
Fallen sehr auffallende Phanomen noch nicht zu allgemeinerer Wahr- 
nehmung gekommen ist, ftihrt er darauf zuriick, daB zur Feststellung 
desselben wiederholte, methodisch durchgefuhrte Untersuchungen er- 
forderlich sind. Ahnliche Befunde an den Pupillen seien auch von an- 
deren Beobachtern festgestellt worden. So habe Mingazzini eine Be- 
obachtung von Encephalitis lethargica beschrieben, bei der er an einem 
Tage vollstandige Pupillenstarre bemerkte, wahrend am nachsten Tage 
die Konvergenz- und Akkomodationsreaktion vollstandig zuriickgekehrt 
war. 0. Heji habe bei mehreren Fallen wechselnde Anisokorie mit wech- 
selnder Ausgiebigkeit der Lichtreaktion und L. Dimitz und P. Schilder 
bei verschiedenen ihrer Falle einen mit Formveranderungen der Pu¬ 
pillen einhergehenden Wechsel in der Licht- und Konvergenzreaktion 
der Pupillen gefunden. 


*) Dieses Archiv. 65, H. 1 /3. 


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t)ber das A. Westphalsche Pupillenphanomen bei Encephalitis epidemica. 527 

AuBer diesen von Westphal selbst angegebenen Beobachtungen 
anderer Untersucher ist die literarische Auslese nur gering. Woods 1 ) 
hebt hervor, daB ,,die bestandigste Eigenschaft der Augensymptome 
bei der epidemischen Encephalitis ihre Unbestandigkeit ist'*. Dazzi 
Angelo-) fand die Lichtreaktion der Pupillen bei Encephalitis leicht 
erschopfbar. Das sind zweifellos Beobachtungen, die wenigstens teil- 
weise den A. Westphalschcn Befunden entsprechen. Dagegen konnte 
Bunge an 12 Fallen weder durch Iliakaldruck noch bei kraftiger Muskel- 
aktion die Westphahche Pupillenstarre hervorrufen; die Reaktion wurde 
hochstens unausgiebiger. Pette hat die Pupillenphanomene in der 
Vollkommenheit, wie sie Westphal beschreibt, nie beobachtet. Nur 
einige Male sah er bei den entsprechenden Manipulationen eine Beein- 
tr&chtigung im Sinne einer Verlangsamung der Pupillenreaktion. 

Diese immerhin geringe Kenntnis von dem Westphahchen Phanomen 
in weiteren Kreisen veranlaBte uns zu einer systematischen Sammlung 
aller Falle von Encephalitis epidemica, an denen wir die charakteristi- 
schen Veranderungen an den Pupillen konstatieren konnten. Im fol- 
genden teilen wir unsere eigenen Beobachtungen zunachst mit. Aus 
Griinden, die wir spater besprechen, haben wir das gesamte Material 
in zwei Gruppen eingeteilt. 

Gruppe I. 

Fall I: Der friiher stets gesunde Oberschaffner Peter E., 40 Jahre alt, er- 
krankte 4 Wochen vor der Aufnahme in die Klinik (er kam Mitte Januar 1922 
zu uns) unter Schiittelfrosten an einem fieberhaften Schnupfen. Er ging dann 
wieder zum Dienst; den Arbeitskollegen fiel er aber durch ein andauerndes Schlaf- 
bediirfnis auf. Wo er ging und stand, soli er eingeschlafen sein. Er wurde sehr 
vergeBlich, ging zum Dienst, wann er wollte, lebte in dem Gedanken, es sei Sonn- 
tag. Klagte liber Kopfschmerzen, naBte in der Nacht ein. Seit einigen Tagen 
ist er ganz verwirrt, deshalb erfolgte die Aufnahme in die Klinik. Alkoholabusus 
wurde negiert. 

Bei der Aufnahme bot er korperlicli nicht viel Besonderes. Es fiel nur ein 
leichtes Hasitieren beim Sprechen auf. Haut- und Sehnenreflexe und Sensibilitat 
waren intakt. Keine spastischen Erscheinungen. 

Bei der psychischen Priifung zeigte er sich unorientiert, die Merkfahigkeit 
war hochgradig gestort. Er faBto schwer auf, war schlecht zu fixieren, durch 
kleine AuBerlichkeiten leicht ablenkbar. Auffallend war eine groBe Indolenz 
und eine lappisch-euphorische Stimmung. Zeitweilig traten leichte Muskelspan- 
nungen und Xegativisinen in den Vordergrund. 

Dio Wassermannsche Reaktion im Blut und Liquor war negativ. Nonne- 
Apelt, Weichbrod, Pandy negativ. Lymphocytenzahl normal. 

Unsere Diagnose, die sich vor allem auf das unmittelbare Einsetzen nach 
der Grippe, die typische Schlafsucht und den negativen Ausfall der 4 Reaktionen 
stiitzte, lautete: fincephalitis epidemica mit vorwiegend psychischen Svmptomen. 

Ganz auffallend war der Pupillenbefund. Die Lichtreaktion war so wech- 


x ) Neurol. Zentralbl., Referatenteil. 29. H. 8. 

*) Aus einem demnachst erscheinenden Referat im Neurol. Zentralbl. 


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528 


A. Meyer: 


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selnd, daB bei der Aufnahnie zwei naeheinander untersuchende Arzte zu einem 
entgegengesetzten Resultat kamen. Der eine hielt sie fiir prompt, der andere fiir 
starr. Besonders die linke Pupille wechselt von Minute zu Minute in ihrer Reak- 
tion auf Lichteinfall. Sie ist in der Regel mittelweit, zeigt abgerundete, seitliche 
Verziehungen. Durch lliakaldruck ist stets Lichtstarre zu erzielen bei starker 
Erweiterung. Die Konvergenzreaktion ist aufgehoben. Die rechte Pupille zeigt 
in der Regel eine sehr we nig ausgiebige Reaktion. 

WAhrend des klinischen Aufenthaltes sind die wechselvollsten Erschemungen 
an den Pupillen zu konstatieren. Wir teilen einige besonders auffallende Be- 
funde mit. 

27. I. Die linke Pupille zeigt auf Lichteinfall bei der ersten Belichtung 
prompte Reaktion, die rechte Pupille reagiert ebenfalls ausgiebig und prompt. 
Xach einer halben Stunde ist die linke Pupille ausgesprochen trage, bei spaterer 
Belichtung vollig starr. 

30.1. Xach dem Aufwecken aus dem Schlafe ganz prompte Lichtreaktion. 
Die Konvergenzreaktion ist wegen Indolenz nicht zu priifen. Bei der zweiten 
unmittelbar danach stattfindenden Prufung beiderseits vollige Lichtstarre. 

Die Untersuchung in der Univ.-Augenklinik durch Herrn Geh. Rat Bonier 
bestatigt rollkommen vnsere Pnpillenbefunde. Es konnte von Bonier ferner fest- 
gestellt werden, daB auch mit LupenvergroBerung keine Lichtreaktion wahmehm- 
bar ist, wfthrend kurz darauf, bei der Untersuchung mit dem Hep schen Pu- 
pilloskop, prompte Reaktion vorhanden war. 

6. 11. Die Zunahme der psychischen Storungen macht eine Verlegung 
in die Prov.-Heil- und Pflegeanstalt notwendig. Bei der Aufnahnie findet sich 
dort — von einem anderen Untersucher ( Sioli ) beobachtet — folgender Pupillen- 
befimd: Pupillen gleich, leiclit verzogen. Die linke Pupille reagiert auf Licht 
garnicht, die rechte prompt und ausgiebig. Gleich darauf reagiert auch die linke 
prompt und ausgiebig, ebenso beide gut auf Akkomodation und Konvergenz. 

Psychisch liildet sich mehr und mehr ein typischer Korsakowscher Syrnpto- 
menkomplex aus, mit schwerem Merkfiihigkeitsdefekt, liippischer Euphoric und 
Konfabulationen. Die Pupillenerscheinungen sind in der Folgezeit regelmaBig 
mit groBter Deutlichkeit zu verfolgen. 

12. II. Bei tiiglich zweimaliger Untersuchung fast stets einseitige .Starre, 
die entweder schon bei erster Belichtung oder bei der zweiten auftritt. Bei meh- 
reren Belichtungen werden gewohnlich die Pupillen beiderseits starr. Manchmal 
bleibt die Lichtreaktion aber auch nach mehreren Behchtungen auf beiden Seiten 
erhalten oder die Lichtreaktion tritt plotzlich wieder auf. 

Im weiteren Verlaufe der Erkrankung tritt eine allgemeine Furunculose 
und schweres septisches Fieber auf. Rasch progredienter Decubitus. Schneller 
Verfall. Exitus am 8. IV”. 1922. Uber den anatomisch-histologischen Gehim- 
liefund berichten wir an anderer Stclle. 

Fall II: Peter Sch., friiher stets gesund, geboren 1894, erkrankte 1920 mit 
Fieber. Kopfschmerzen, Gliederschmerzen und Halsbeschwerden. In der Folge¬ 
zeit hatte er 3 Monate intensives Schlafbediirfnis. In der linken Seite stellte sich 
Zittern ein, allgemeines Gefiihl von Steifigkeit. Er klagte iiber Doppelsehen, 
Kopfschmerzen. Sehwindelgefiihl. Aufnahnie in die hiesige Klinik erfolgte im 
Miirz 1922. 

Patient bietet das typische Bild eines Paralysis agitans-Kranken: Seltener 
Lidschlag, Hypomimie. ExtrapjTamidale Rigiditiit in Haltung und Bewegungen, 
Bewegungsarmut. Die Arme werden in leichter Beugestellung im Ellenbogen an 
den Korper adduziert gehalten. Andeutung von Pfotchenstellung der Hande. 
Wechselnd starker Tremor. Psychisch ist er vollig intakt. 


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tlber das A. Westphalsche Pupillenphanomen bci Encephalitis epidemics. 529 

Die genaue Beobachtung des Pupihenspiels ergibt ein ungemein wechselndes 
Bild. Bei der Aufnahme sind beide Pupillen gleich und mittelweit. Sie reagieren 
beiderseits sehr triige anf Lichteinfall, die rechte dabei eine Spur besser als die 
linke. Die Konvergenzreaktion ist bdsts. sehr gering. Aus unseren Aufzeich- 
nungen heben wir heraus: 

10. III. Rechts vollige Starre, links trage Reaktion, die nach mehrfacher 
Belichtung besser wird. 

28. III. In Rube sehr prompte, wenn auch nicht vollig ausgiebige Reaktion 
beider Augen. Bei Iliakaldruck {E. Meyer) keine Veranderung. Bei gekreuztem 
Handedruck ( Redlich ) ist die Reaktion auf beiden Augen eine Spur trager als 
vorher. 

31. III. Auch bei mehrfacher Belichtung vollige Starre beider Augen auf 
Lichteinfall und Konvergenz. 

3. IV. Links deutliehe Lichtreaktion, rechts fast vollig aufgeboben. 

3. V. Bei Belichtung, die alle 5 Sekunden vorgenominen wird, ergibt sich: 

1. rechts Starre, links Starre, 

2. rechts sehr trage, links ausgiebige Reaktion, 

3. rechts minimal, links trage. 

Bei Redlichschem Handedruck werden beide Pupillen erweitert und vollig 

starr. 

Fall III: Peter Br., 27 Jalire alt, im April 1920 an Grippe erkrankt, bietet 
jetzt das Bild der Paralysis agitans cum agitatione; psychisch ist er affektlabil, 
keine Hemmung. 

Beide Pupillen sind bei der Aufnahme ziemlich weit, zeigen kerne Ver- 
ziehungen. Rechts ist die Lichtreakt ion wechselnd zwischen prompter, ausgiebiger 
bis zu trager Reaktion, links ist sie ungestort. Die Konvergenzreaktion ist auf 
beiden Augen sehr wenig ausgiebig. Durch Furchtsuggestion (indem dein affekt- 
labilen Patienten eine sehr schmerzhafte Manipulation angekiindigt wird) gelingt 
es, die rechte Pupille vollig starr zu machen. Bei Iliakaldruck ist die rechte Pu- 
pille zuerst starr, bei zweiter Belichtung erfolgt eine trage Reaktion, bei folgen- 
den Belichtungen tritt wieder Starre ein. Bei Anwendung des Redlichschen Ver- 
fahrens vollige Starre dor rechten Pupille. Die linke Pupille bleibt unbeeinflullt 
durch diese Untersuchungsmethoden. 

Einige Tage spa ter ist die Lichtreaktion der rechten Pupille sclion bei der 
ersten Belichtung vollig aufgehoben, bei der 5 Sekunden spiiter folgenden zweiten 
ausgiebig, bei alien folgenden minimal oder starr. Links ist die Lichtreaktion 
auch viel trager als bei der Aufnahme. 

Eine Woche spater reagieren beide Pupillen gut und ausgiebig auf Licht¬ 
einfall und Konvergenz. 

Fall IV: Frau Maria K. Vor 2 Jaliren Grippe. Seit dieser Zeit klagt sie 
fiber Steifigkeit. Wahrend einer Graviditat im Jahre 1921 steigerten sich die 
Erscheinungen. Jetzt ist sie wieder seit 3 Monaten gravide. 

Bei der Aufnahme bietet die Pat, das typische Bild der hypertonischen 
Encephalitis: Haltung vomiibergebeugt. Gang spastisch, allgemeine Rigiditat, 
Tremor. 

Die Pupillen boten bei der Aufnahme zunachst nichts Abnormes, sie sind 
weit, rechts = links, haben prompte Licht- und Konvergenzreaktion. 

Im Laufe monatelanger Beobachtung gelingt es, einen steten Wechsel in 
der Ausgiebigkeit der Lichtreaktion beider Pupillen festzustellen, von prompter 
bis zu fast aufgehobener Reaktion. RegelmiiBig gelingt es, durch Furchtsuggestion 
prompte Lichtreaktion in trage bzw. minimale Reaktion uberzufiihren. 

Fall V: Patient /A, 14jfthriger Knabe. Erkrankte 1920 mit Kopfschmerzen, 


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530 


A. Meyer: 


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Erbrechen und choreiformen Zuckungen. Allmahlich bildete sich ein Zustund 
von starker Steifigkeit aus, psychisch besteht Affektlabilitat. 

Der kleine Kranke bietet das ausgesprochene Bild eines Paralysis agitans- 
Kranken mit auBerst starker Rigiditat, SpeichelfluB und auffallenden Pulsions- 
erscheinungen. 

Bei der Aufnahme ist die Licht- und Konvergenzreaktion der Pupillen 
prompt. Durch Iliakaldruck gelingt es, bdsts. Licktstarre hervorzurufen. 

3. XII. Bei Iliakaldruck ld.Bt sich leicht Starre der Pupillen hervorrufen. 
Das RecUichs che Verfahren wegen der Rigiditat und des Tremois nicht angewandt. 

13. XII. Pupillenreaktion auf Lichteinfall ist leicht herabgesetzt. 

5. I. Schon seit einigen Tagen trage Reaktion der Pupillen. 

14.1. Bei erster Untersuchung (Pat. zittert stark, scheint angsthch zu sein) 
vollige Lichtstarre bdsts. Nach verbaler Ablenkung wird das Zittern geringer, 
es laBt sich nach Beruhigung deuthche Lichtreaktion erzielen. 

14. II. In Ruhe trage Lichtreaktion. Bei Redlfchschem Handedruck und 
bei Aufregung Starre. 

14. III. In Ruhe deuthche und ausgiebige Lichtreaktion. Bei Druck der 
gekreuzten Hande zuerst Reaktion, dannStarre, dann Reaktion, dann wiederStarre. 

Gruppe II. 

Fall VI: Fritz N., geboren 1902, erkrankte im Juh 1920 an Grippe mit allge- 
meinem Unwohlsein, Kopfsclimerz, Miidigkeitsgefiihl. Allmahlich stellte sich bei 
ihm ein uniiberwindliches, sehr groBes Schlafbediirfnis ein. Ihn uberfiel formlich 
der Schlaf. Der Arzt stellte Gehirngrippe fest. In letzter Zeit hatte er nach der 
Beschreibung psychogene Anfalle. 

Der korperliche und psychische Habitus bietet nichts Abnormes. Die Pu¬ 
pillen reagieren prompt auf L. und K. Die Lichtreaktion wurde auch in einem 
Anfall prompt gefunden. 

Mit der Sicherheit eines Experimentes laBt sich bei diesem Patienten durch 
starken Handedruck nach dem Redlichschen Verfahren auf der rechten Pupille 
regelmaBig Lichtstarre hervorrufen. 

Fall VII: Witty R., geboren 1898, Januar 1921 an Grippe erkrankt, lag 
3 Wochen mit Fieber bis zu 39°. Nach dem akuten Stadium stellte sich Steifig¬ 
keit im Nacken und linken Arm ein, die bald den ganzen Korper befiel. Klagte 
liber Doppelsehen. 

Objektiv: Seltener Lidschlag, maskenarlige Starre. Allgemeine Rigiditat 
der Muskulatur. Arme werden im Ellenbogen gebeugt an den Korper gehalten, 
dabei Tremor. Typisches Bild von Parkinsonismus. Psychisch ist er etwas wei- 
ncrlich und stimmungslabil. Die Sprache ist monoton, sonst o. B. 

Die Pupillen reagieren stets auf Lichteinfall und Konvergenz trage. Regel¬ 
maBig ist durch Iliakaldruck Starre beider Pupillen zu erzielen. 

Fall VIII: Paul //., geb. 1897, erkrankte Januar 1920 an Grippe. Danach 
hatte er intensives Schlafbediirfnis, beim Essen ist ihm hfiufig der Loffel aus der 
Hand gefallen, veil er schlafrig wurde. Es trat Steifigkeit in der Muskulatur 
des Korpers ein, das Sprechen fiel ihm immer schwerer, SpeichelfluB, Schwindel- 
gefiihl. 

Objektiv zeigt sich reclitsseitige Facialisparese und ein Symptomenbild, 
das dem akinetisch-hypertonischen Syndrom (Stert-z) zugehorig ist. Psychisch 
ist er intakt. Die Pupillenreaktionen sind in der Regel auf Licht und Konvergenz 
prompt. 

Fast konstant laBt sich durch Iliakal- und Handedruck Lichtstarre beider 
Pupillen erzielen. Einige Male blieben die Pupillenreaktionen unbeeinfluBt von 
diesen Manipulationen. 


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Uber das A. Westphalsche Pupillenphanomen bei Encephalitis epidemica. 531 

Fall IX: Sebastian Sch., geb. 1894 hatte Januar 1921 die Grippe. Es stellte 
sicli danacli allmahlich Steifigkeit, Zittem, SpeichelfluB ein. 

Die korperliche TJntersuchung zeigt: seltenen Lidschlag, starren Gesichts- 
ausdruck, Salbengesicht, vorniibergebeugte Haltung, an den Korper adduzierte 
obere Extremitaten. Tremor der Hande. Psychisch o. B. Bei der Aufnahme 
ist die rechte Pupille etwas enger als die linke. Sie reagiert weniger prompt auf 
Lichteinfall als die linke. Konvergenzreaktion bdsts. prompt. 

In der Folgezeit laBt sich trotz sorgffiltiger Priifung nichts Aufftilliges mehr 
feststellen: die Anisokorie ist nicht mehr festzustellen. Licht- und Konvergenz¬ 
reaktion prompt und ausgiebig bdsts. 

FallX: Friedrich K., geb. 1899, hatte im Dezember 1919 Grippe, starkes 
Fieber, Doppelsehen, Schwindel. In der Folgezeit stellte sich Zittern in alien 
Gliedern, Steifigkeit und SpeichelfluB ein. 

Bietet das Bild der Paralysis agitans cum agitatione. Psychisch etwas 
langsam, sonst o. B. 

Bei der ersten Untersuchung sind beide Pupillen in ihrer Reaktion auf 
Lichteinfall und Konvergenz sehr trage und wenig ausgiebig. In alien sp&teren 
Untersuchungen blieb die Tragheit links bestehen, rechts ist die Reaktion auf 
L. und K. jetzt immer deutlich, prompt und ausgiebig. 

Fall XI: Julius F. Bietet das Bild des Parkinsonismus. 

Die erste Pupillenuntersuchung ergab eine vollige Starre auf L. und K. 
beider Augen. Einen Tag spater ist die Reaktion auf L. und K. prompt, aber 
bdsts. nicht sehr ausgiebig. 2 Tage darauf prompte und ausgiebige Reaktion. 
Iliakaldruck und Redlirhsches Verfahren haben keinerlei EinfluB auf die Reak- 
tionen. Dagegen gelang es einmal, durch Furchtsuggestion die Liclitreaktion der 
rechten Pupille sehr viel weniger ausgiebig zu machen. 

Fall XII: L. Norbert, 12 Jahre alt. Vor 2 Jahren an Grippe erkrankt. Seit 
dieser Zeit steif, zittert stark, auffallende Charakterversclilechterung. 

Bei der Aufnahme Parkinsonscher Symptomenkomplex. Pupillen bieten 
nichts Abnormes. 

Durch Redlichschen Hiindedruck gelingt es mehrmals, die Liclitreaktion 
der Pupillen fast aufzuheben. Iliakaldruck stets ohne Wirkung. 

Fall XIII: S. Paul, 30 Jahre alt. Machte im Friihjahr 1919 Grippe durch. 
Allmahlich bildete sich das Krankheitsbild einer Paralysis agitans cum agitatione. 

Die Pupillen sind ziemlich eng, reagieren prompt auf L. und K. Wahrencl 
des ganzen sechsmonatigen Aufenthaltes in der hiesigen Klinik gelang es zwei- 
mal, durch Iliakaldruck Lichtstarre hervorzurufen. In letzter Zeit war die Augen- 
untersuchung unmoglich, da eine Hyoscinbehandlung eingeleitet wurde, die — 
wie nebenbei bemerkt sei — in ganz auffallender Weise den Zustand schwerer 
Rigiditat besserte. Schon nach ganz kleinen Gaben horte der SpeichelfluB auf, 
und der Patient, der vorher mit Fliissigkeit erniihrt wenlen muBte, konnte wieder 
feste Speisen schlucken. 

Die Glietlerung unseres Materials in zwei Gruppen haben wir unter 
folgenden Gesichtspunkten vorgenommen: Die erste Gruppe umfalJt 
solche Falle, die in ganz eklatanter, den Beschreibungen A. Westphala 
adaquater Weise die wechselnde absolute Starre zeigen. Bei cliesen 
Kranken fanden wir sowohl spontan, wie auch durch die Methoclen von 
E. Meyer und Redlich und verbale Furchtsuggestion bewirkt einen 
Wechsel in der Ausgiebigkeit der Reaktion, der oft von Augenblick zu 
Augenblick festzustellen war und eine Extensionsbreite zwischen ganz 


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532 


A. Meyer: 


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prompter Reaktion bis zu volliger Starre aufwies. Die praktische Be- 
deutung dieses Pupillenphanomens ist offensichtlich. Der erste von uns 
mitgeteilte Fall, der schwcre psychische Veranderungen, vor allem 
Merkfahigkeitsdefekt utid lappisch-euphorisches Wesen zeigte, Avurde 
auf Gnind des Pupillenbefundes (Starre) von dem ersten Untersucher 
in ganz verstandlicher Weise fiir eine ■progressive- Paralyse gehalten, bis 
der auffallende Wechsel der Lichtreaktion in Verbindung mit der 
Anamnese und dem negativen Ausfall der 4 Reaktionen in Blut und 
Liquor das Krankheitsbild klarte. 

Die zweite Gruppe umfaBt einmal solche Falle von Encephalitis 
epidemica, die in der Regel eine konstante (normale oder A'eranderte) 
Pupillenreaktion zeigten, die dann mehr oder weniger regelmaBig, oft 
mit Sieherheit eines Experimentes, durch die Redlichs chen oder E. 
M eyersehen Verfahren oder durch verbale Suggestivmethoden in Starre 
umgeAvandelt Averden konnte. Sodann vereinigten Avir in dieser Gruppe 
solche Falle, bei dencn der Wechsel der Pupillenreaktionen soAvohl 
spontan, Avie durch die angegebenen Methoden nur gelegentlich, nicht 
regelmaBig festzustellen Avar. Sie zeigen in mehr abortteer Weise das 
A. )Veslphahehe Phanomen. 

Wir hielten diese Gliederung fiir notAvendig, um die A'erschiedene 
Wertigkeit dieser beiden Gruppen kritischer Betrachtung gegeniiber 
hervorzuheben. Methodologische oder sonstige Bedenken irgendAveleher 
Art kbnnen gegen unsere Beobachtungen in Gruppe I Avohl kaum A T or- 
gebracht. Averden. Die SchAvankungen der Pupillenreaktionen sind 
augenfallig und von verschiedenen Untersuchern unabhangig vonein- 
ander festgestellt, so daB an ihrer Realitat nicht zu zAveifeln ist. 

Derartigen Bedenken darf jedoch da eine geAvisse Berechtigung 
nicht abgesprochen Averden, avo sich nur gelegentlich das Symptom er- 
kennen laBt. Weilcr hat darauf hingeAviesen, daB die Ausgiebigkeit der 
Irisbewegung bei der Lichtreaktion wesentlich von dem Adaptations- 
zustand ber Netzhaut abhangt. Auch avo die Adaptationsverhaltnisse 
gleiehmaBig Avaren, fiel ihm auf, daB ,,die Reaktionsbreite bei derselben 
Person unter den gleichen Verhaltnissen in maBigen Grenzen schAvankte, 
so daB auf denselben Reiz einmal ein geringerer, ein anderes Mai ein 
groBerer Irisausschlag erfolgte“. Weiler erklart diese SchAvankungen 
mit der Avechselnden Irritabilitat des NerA'ensystems. Ich selbst konnte 
bei einer gesunden Person rneines Bekanntenkreises einmal eine auBer- 
ordentlich trage und unausgiebige Lichtreaktion sicher feststellen und 
demonstrieren, Avahrend A r orher und nachher die Reaktionen immer 
prompt und ausgiebig ausfielen. Alkoholabusus lag in diesem Falle 
nicht A r or. 

Eine vollig aufgehobene Lichtreaktion haben Avir bei gesunden 
Mensehen nicht gefunden. 


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Gber das A. Westphalsche Pupillenph&nomen bei Encephalitis epidemica. 533 

Die Priifung der E. M et/erschen und Redlichs chen Phanomene an 
Gesunden ergab, daB bei Iliakaldruck von uns einmal Starre beobachtet 
werden konnte, im Gegensatz zu den Ergebnissen von Frida Reich- 
mann, die niemals bei Gesunden eine deutliche Beeinflussung der Reak- 
tionen finden konnte. Das Redlichsche Phanomen fanden wir iiber- 
raschenderweise unter 50 Gesunden sechsmal in ausgesprochener Weise 
positiv. Es handelte sich dabei um Personen, die weder hysterische 
Symptome, noch sonst psychische Labilitat zeigten. Das Phanomen 
trat nur dann in voller Deutlichkeit auf, wenn wir die Versuchspersonen 
sehr kraftig drucken lieBen. 

Derartige Beobachtungen mahnen zu einer gewissen Vorsicht in der 
pathognomotiischen Beurteilung solcher Falle, bei denen das B’es/- 
phalsche Pupillenphanomen nur durch Druckmanipulationen otler nur 
(jelegentiich auszulosen ist. Es sind dies die Falle, die wir in der Gruppe II 
unserer eigenen Beobachtungen vereinigt haben. Wenn auch unzweifel- 
haft gelegentliche Pupillenstarre im Sinne der *4. Westphalachen Be- 
sehreibung bei Encephalitis epidemica auffallend haufig festzustellen 
ist, so verleiht dennoch das Vorkommen von Schwankungen der Pu- 
pillenreaktionen, vor allein der positive Ausfall der E. Meyerschen und 
Redlichschen Versuche bei einer Anzahl gesunder Personen im Einzel- 
falle eine gewisse Unsicherheit in der pathognomonischen Beurteilung 
des Symptoms. Wir mochten deshalb vom klinischen Standpunkte aus 
zunachst den Fallen groBere Bedeutung beilegen, bei denen auch un- 
abhiingig vom E. Meyerschen und Redlichschen Versuch ein steter 
spontaner oder durch verbale Suggestion bewirkter, in deutlichen Aus- 
sclilagen erfolgender Wechsel der Pupillenreaktionen im A’ordergrunde 
steht. Derartigen Befunden, unter die die von Westphal veroffent- 
lichten und unsere in Gruppe I vereinigten zu rechnen sind, darf heute 
schon eine klinische, vor alleru differentialdiagnostische Bedeutung in 
erster Liuie gegeniiber der reflektorischen und dauernden absoluten 
Starre zuerkannt weiden. AUe iibrigen Falle sind, bevor ihre patho- 
logische Bedeutung beurteilt wird, systematisch weiter zu sammeln. 
vor allem muB das prozentuale Verhaltnis ihres Vorkommens bei Ge¬ 
sunden und bei Encephalitis epidemica festgestellt werden. 

Versuche, fur die so auffallenden Unterschiede in <ier Pupillen- 
reaktion Gesunder und Encephalitis-Kranker bei Vornahme des Redlich¬ 
schen Verfahrens und des Iliakaldrucks eine Erklarung zu finden, 
fiihrtcn uns dazu, auch das Verhalten der sogenannten Psychoreflexe 
der Pupillen bei diesen Personen zu priifen. Denn wenn Raehlmanns 
und Witkoivalcis Hypothese, die die Yerengerung der Pupille im Schlafe 
trotz Fehlens eines jeden Lichtreizes zuriickfuhrt auf die Herabsetzung 
der psychischen Vorgiinge, richtig ist, dann diirfte auch die Umkehrung, 
daB in besonderen Fallen einmal die Lichtreaktion unterbleibt wegen 


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534 


A. Meyer: 


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einer zu stiirmischen Ausgiebigkeit* der Psychoreflexe, keine Verwunde- 
rung erregen. Gegen eine solche Auffassung sprache allerdings von 
vornherein das Vorkommen der JFe«/p/iaZschen Pupillenbefunde bei der 
Katatonie, wo ja bekanntlich nach Bumke die Psychoreflexe in der 
Regel fehlen. Dennoch schien uns die Feststellung wiinschenswert, ob 
bei den Personen (Gesunden wie Encephalitiskranken), bei denen das 
Bedlichsche Phanonten positiv ausfiel, ein augenfalliger Unterschied 
bestand im Ablauf der Psychoreflexe gegeniiber solchen, wo keine 
Beeinflussung der Pupillenreaktion festzustellen war. 

Auch von anderen Gesichtspunkten aus erschien eine Priifung der 
Psychoreflexe wiinschenswert. Westphal hat versucht, eine Erklarung 
fur die von ihm gefundenen wechselnden Pupillenbefunde zu geben, 
indent er sie als allgemeines Symptom striarer Storung hinstellt. Diese 
Erklarung fuBt z. T. auf heute noch hypothetischen Voraussetzungen, 
und fiir Westphal selbst ist der Wert seiner Theorie zunachst nur ein 
heuristischer. Sie darf uns nicht hindern, andere Wege der Erklarung 
zu priifen; zudem wiirde sie, indent sie eine ganz zentrale Storung ini 
Striatum zugrunde legt, nicht in Widerspruch geraten mit Erklarungs- 
moglichkeiten, die sich aus dem Verhalten der Psychoreflexe moglicher- 
weise ergeben konnten. 

Und schlieBlich lag es — bei der Ahnlichkeit des sontatischen Zu- 
standsbildes vieler Encephalitiker mit katatonen Zustanden — nahe, 
zu priifen, ob das von Bumke in 60°/ 0 der Dementia praecox festgestellte 
Fehlen der Psychoreflexe auch fiir die Encephalitis epidentica zutrifft. 

Methodologisch schlossen wir uns eng an die Vorschriften von 
Bumke, Hubner, Sioli und Bunge an. Wir untersuchten im Dunkel- 
zimmcr nach einer Adaptation von 20 Minuten bei einer Beleuchtung 
von 7—9 Meterkerzen. Verwertet haben wir nur die Falle, bei denen 
wir die Pupillen einwandfrei beobachten konnten; zwei Falle von 
Encephalitis epidentica niuBten wir ausschlieBen, bei denen ein starker 
Tremor des Kopfes die feinen Pupillenbewegungen verdeckte. 

Unsere Resultate sind folgende: Bei den Gesunden, die bei Aus- 
fuhrung eines starken Handedrucks ( Bedlich ) Pupillenstarre zeigten, 
konnten wir keine gesetzmaBige und sinnfallige Verstarkung der Psycho¬ 
reflexe wahrnehmen: Vielmehr bewegte sich deren Ausschlagsbreite im 
Rahmen der schon von friiheren Untersuchern her bekannten indi- 
viduellen Schwankungen. 

Bei 12 Fallen von Encephalitis epidemica fehlten in keinem Falle 
Pupillenunruhe, sensible Reaktion und Reaktion auf Schreck, Furcht- 
suggestion und psychische Anstrengungen (Rechnen usw.). DaB die 
Reaktion auf bloBen Anruf hier und da schwach war oder ganz aus- 
blieb, ist auch bei Normalen beobachtet worden. Besonders sorgfiiltig 
wurden die Falle untersucht, die vorzugsweise immer auf einem Auge 


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t)ber das A. Westphalsche Pupil lenphanomen bei Encephalitis epidemica. 535 

Pupillenstarre zeigten. Bei zwei dieser Kranken glaubten wir tatsach- 
lich an der abnormen Pnpille empfindlichere Psychoreflexe wahrzu- 
nehmen als an der anderen. Doch schien uns dieser Befund zu gering- 
fiigig, als daB man irgendwelche Schliisse hatte daraus ziehen kbnnen, 
und konnte zudem an der Mehrzahl der Falle mit einseitigen Pupillen- 
storungen nicht erhoben werden. 

Diese Befunde bestatigen experimentell die Ansicht, daC das 
Bumke sche Phanomen nicht durch die katatonen Spannungserscheinun- 
gen der Muskulatur, sondern durch die mangelnde ,,affektive Modu- 
lationsfahigkeit“ ( Bleuler) der Schizophrenen verursacht ist. Ferner 
weisen sie deutlich auf die groBen Unterschiede im psychischen Ver- 
halten des Encephalitikers und des Katatonikers bin: hinter ausge- 
sprochener encephalitischer Akinese steckt ein umchizophrenes Seelen- 
leben, worauf in jiingster Zeit besonders Schilder hingewiesen hat. 

Ein neuer Weg zur Erklarung der wechselnden Pupillenstarre 
ergab sich aus den Untersuchungen der Psychoreflexe nicht. Die 
theoretischen Yorstellungen A. Weslphals erscheinen uns deshalb auch 
weiterhin geeignet, als Leitprinzip fur die weitere Erforschung des 
Phanomens verwandt zu werden. Gestiitzt werden die Anschauungen 
IF estphals durch auffallende anatomische Gehirnbefunde bei Patienten, 
die intra vitam das Pupillenphanomen wahrend langer Krankheits- 
phasen in deutlichster Weise gczeigt haben. Im ganzen liegen bisher 
vier, z. T. schon veroffentliehe Falle vor. 

Bei dem ersten Fall 1 ) handelt es sich klinisch uni eine multiple Sklerose mit 
Babinski, fehlenden Bauchdeckenreflexen, Blasenschwache, doppelseitiger tem- 
poraler Papillenabblassung. An ungewohnlichen Symptomen zeigte die Patientin 
in Beugem und Streckern des linken Beins andauernd klonische Zuckungen, 
durch die es „zu kurzcn, ruckartigen Beugungen und Streckungen des 1. Ober- 
und Unterschenkels, sowie zu abwechselnden Dorsal- und Plantarflexionen des 
FuBes kommt“. Mitunter auch entsprechende Zuckungen der 1. oberen Extre- 
mit-ftt. 

„Ein sehr auffallendes Verhalten bieten die wahrend des ganzen Kranken- 
hausaufenthaltes fast taglich untersuchten Pupillen. Prompte Lichtreaktion 
wechselt mit aufgehobener, mitunter auch trager Reaktion, bald doppelseitig, 
bald einseitig, in vollig unregelmaBiger Weise ab... Fast andauernd, mit kurzen 
freien Intervallen sind die myoclonischen Zuckungen im linken Bein, bald starker, 
bald schwacher vorhanden. Bei jeder psychischen Erregung nehmen diese 
Zuckungen in sehr erheblicher Weise zu, so daB sie ... . dann liaufig einen 
lebhaften Schutteltremor des linken Beins verursachen.“ 

Die klinische Diagnose multiple Sklerose wurde durch den Sektionsbefund, 
vor allem die mikroskopischen Untersuchungen bestatigt. „Besonders hervor- 
zuheben sind die zahlreichen Herde im Nucleus lentijormis, Thalamus, Klein- 
himrinde und Nucleus dentatus. 

Bei einem zweiten Fall*) handelt es sich um eine myoklonische Epilepsie. 

1 ) A. Westphal, Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 68/69, 1291. 

2 ) A. Westphal u. F. Sioli, Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. 68, H. 1. 


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536 


A. Meyer: 


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Auch hier wieder ist das Pupillenphanomen in exquisiter Weise wahrend des 
ganzen Kraukheitsverlaufes zu beobaehten. Auffallend ist der EinfluB eiiier 
krankhaft gesteigerten Affekterregbarkeit auf die raotorische Sphere. Durch die 
leichtesten sensibeln und psychischen Reize wurde eine ganz aufierordenlliche Ver- 
starkung der Muskelzuckungen hervorgerufen. Westphal bezeichnet dies als 
myoklonische Reaktion nnd fordert dazu auf, bei myoklonischen Symptomen- 
komplexen, die dieses Symptom zeigen. dem Verhalten der Pupillen besondere 
Aufmerksamkeit zu schenken. Histologisch fand sich eine fast, ubiquitare Ein- 
lagerung von CorjKtra amylacea in den Ganglienzellen des Zentralorgans, auch ini 
Striatum in erheblicher Menge. 

III. Fall: Der klinische Status ist schon in dieser Arbeit mitgeteilt worden 
(Fall Peter E., Gruppe I, Fall I). An dieser Stelle ist nur der histologische Be- 
fund nachzuholen. In alien untersuchten Himteilen (Frontalhirn, Zentralwin- 
dungen, Temporalgegend, Striatum, Substantia nigra, Kleinhirnkern) fanden sicli 
die fur die Encephalitis charakteristischen Veriinderungen. 

IV. Fall von Westphal-Strii mpeffecher Pseudosklerose 1 ), bei der atiologisch 
Grippe eine Rolle spielt. Das Pupillenphanomen war deutlich vorhanden; bei 
der histologisehen Untersuchung fanden sich im Striatum erhebliche Veriinderungen. 

Bei diesen 4 klinisch nicht einheitlichen Fallen war das Pupillen¬ 
phanomen positiv und alle 4 Falle zeigten anatomisch deutliche und 
erhebliche Veriinderungen des Striatums: Das bedeutet eine ivesentliche 
objektive Fundierung der A. Wcstphalschen Anschauungen von den Be- 
ziehungen zwischen Striatum und dem eigenartigen von ihm beschrie- 
benen Pupillenphanomen. Allerdings diirfen die hier vorliegenden grob 
anatomischen Veriinderungen im Striatum nicht zu der Anschauung 
verleiten, als ob als Grundlage des Pupillenphiinomens stets pathologisch- 
anatomische Befunde erwartet werden diirfen. Westphal selbst hat 
ausdrticklich darauf hingewiesen, da II die Veriinderungen der Pupillen- 
reaktion nicht nur durch organische Prozesse bedingt, sondern auch 
funktioneller Natur sein konnen, besonders in den Fiillen, in denen sie 
nur fliichtig und voriibergehender Natur sind (Pupillenstarre im hysteri- 
schen Anfall usw.). 

Auch die Anschauungen Lowensteins fiber die besondere Rolle, die 
psychischen Vorgiingen ffir das Zustandekommen des Pupillenphano- 
mens zugesclirieben werden mu 13, Anschauungen, denen sich Westphal 
angeschlossen hat, werden durch die beiden ersten hier mitgeteilten 
Falle bestatigt. Beide Patienten zeigen ,,die myoklonische Reaktion“ 
Westphals (Lundborgs psycho- und sensoklonisehe Reaktion), eine auf- 
fallende, von psychischen Erregungen abhiingige, krankhaft gesteigerte 
Ansprechbarkeit der psychomotorischen Sphiirc. Wir haben neuerdings 
einen Fall von multipler Sklerose beobaehten konnen, der wieder die 
gleichen Verhaltnisse aufweist. 

Der 37jiihrige Briickenwitrter Hermann Sell., der fruher stets gesund war. 


l ) Veroffentlicht in einer demnachst erscheinenden Arbeit von A. Weslphal 
u. F. Sioli. 


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Uber das A. Westphalsche PupillenphS nomen bei Encephalitis epidemica. 537 

erkrankte 1917 mit Zittem in Armen und Beinen. Seit 1919 kann er nicht mehr 
arbeiten. Grippe ist in der Anamnese nicht nachzuweisen. 

Objektiv findet sich: Nystagmus, linksseitige Facialisparese, Intentions- 
tremor, spastisch-paretischer Gang, Ataxie cerebellaren Charakters, Babinskisches 
Zeichen beiderseits positiv, Bauchdeckenreflexe fehlen. 

Walirend der Untersuchung setzt ein grober Schiitteltremor ein, verbunden 
mit eigenartigen, rhythmischen, wiegenden Bewegungen des Rumpfes. Psychisch 
macht er einen dementen Eindruck. 

Die Lichtreaktion der Pupillen wechselt von Untersuchung zu Untersuchung 
von prompter Reaktion bis zur volligen Starre. Die Konvergenzreaktion ist 
dauernd intakt. 

Es handelt sich also um einen klinisch als multiple Sklerose zu 
deutenden Fall mit W estphalschem Pupillenphanomen. Ein von der 
Westphal&ohen Beschreibung abweichender Befund ist die Unversehrt- 
heit der Konvergenzreaktion. Westphal hat diese Falle von anscheinend 
,,reflektorischer Starre“ erklart durch das Uberwiegen des Konvergenz- 
impulses in gewissen Stadien der Riickbildung einer absoluten Starre. 
Aucb hier ist fur unsere Betrachtung bedeutungsvoll die Koinzidenz 
von myoklonischer Reaktion in Gestalt eines von der erregenden Situation 
der Untersuchung abhangigen groben Schiitteltremors und anderen mo- 
torischen Erscheinungen, die der multiplen Sklerose fremd sind, mit 
dem Pupillenphanomen. 

Die Bedeutung der myoklonischen Reaktion besteht darin, dad 
mit Hilfe dieser psychischen Komponente irn organischen Krankheits- 
bilde sich zwanglose Beziehungen herstellen lassen, einerseits zur ,,hy- 
sterischen Reaktion", bei der die gleichen Pupillenveranderungen in und 
auderhalb des Anfalls seit den Beobachtungen von Karplus, A. West- 
phal u. a. schon seit langem bekannt sind. Andererseits zur Encephalitis 
epidemica, wo eine auffallende Abhangigkeit der Starke der hyperkine- 
tischen Erscheinungen vom Affektzustande, uberhaupt eine starke 
Suggestibilitat fast konstant beobachtet werden kann. Das Pupillen¬ 
phanomen scheint demnach Symptom der verschiedensten neuro- und 
psychopathologischen Zustande zu sein, die alle das Gemeinsame einer 
krankhaft gesteigerten Affekterregbarkeit in Verbindung mit erhohter 
Suggestibilitat zeigen. Dad auch bei der Katatonie Veranderungen des 
Affektablaufs eine Rolle bei dem Zustandekommen des Phanomens 
spielen, haben die Lowensteinschen experimentellen Untersuchungen 
nahegelegt. Uns selbst gelang es — wie oben mitgeteilt -— auch bei 
einer Anzahl gesunder Personen unter besonderen Bedingungen (Red- 
lich scher Versuch) analoge Pupillenveranderungen zu erzielen. Diese 
Beziehungen zum Normalen sind noch dunkel; vielleicht liegt hier eine 
der Wurzeln aller dieser eigenartigen Pupillenerscheinungen. Im Gange 
befindliche psycho-physische Experimente Lowensteins mit Hilfe kine- 
matographischer Registrierungen der Psycho- und Lichtreflexe der 
Pupillen sind vielleicht berufen, hier einige Klarheit zu schaffen. 

Archiv fllr Psychiatrie. Bd. 08. 35 


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538 A. Meyer: tlber das A. Westphalsche Pupillenph&nomen usw. 


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Westphal hat sein bei Katatonie, Encephalitis, Myoklonie und 
Hysterie gefundenes Pupillenphanomen auch bei jungen Tieren 1 ) und 
Kindem indenersten Lebensjahren 2 ) nachweisen konnen. Diese eigen- 
tumliche Verkniipfung schizophrener und hysterischer Zustande mit 
solchen infantilen und phylogenetisch friiheren Charakters durch ge- 
meinsame Pupillenerscheinungen legt es nahe, eine Parallele zu ziehen 
zu den Bestrebungen moderner Psychopathologen (Freud, Storch, Reifi, 
Schilder), im Seelenleben der Hysterischen und Schizophrenen infan¬ 
tile und archaische Ziige nachzuweisen. Kretschmer 3 ) setzt den 
katatonen, hysterischen, kindlichen und tierischen Negativismus 
zueinander in Beziehung. So werden wir auch von derartigen An- 
schauungen aus wieder auf das Striatum gewieseu, von dem wir ja 
annehmen, daC es als Zentralorgan primitiverer autonomer Funktionen 
auf phylogenetisch friiheren Entwicklungsstufen eine wichtige Rolle 
gespielt hat. 

i) Neurol. Zentralbl. 1920, Nr. 5. 

*) Arch. f. Psychiatr. u. Nerverkrankh. 63, H. 1. 

3 ) Nach einem Zitat von A. Westphal in Arch. f. Psychiatr. u. Nerven- 
krankk. 63, 1. 


Gougle 


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t’ber psychomotorische Aphasie mid Apraxie. 

Beziehungen psychomotorischer, apliasischor, apraktischer 
und extrapyramidaler Storungen, dargestellt an einem Fall von 

Encephalitis epidemica 1 ). 

Von 

G. Stertz. 

[Aus dcr Psychiatrischen und Nervenklinik zu Marburg a. L.] 
Eingegangen am 17. Miirz 1923. 

Die Bewegungsstorungen der Geisteskranken — von Wernicke 
psychomotorische Symptome genannt — gehoren zu den dunkelsten 
Problemen der Psychiatrie. Kahlbaum, Wernicke und seiner Schule 
waren sie Objekt hirnphysiologischer Betrachtungsweise, Kraepelin 
dagegen suchte sie auf psychologischem Wege als Storungen im Ablauf 
der Willensvorgange (Sperrungen, Durchkreuzungen der Willensbil- 
dung) zu erklaren. Auf Grund seiner eingehenden Untersuchungen 
auf diesem Gebiete hat sich Kleist-) den ersteren angeschlossen. Sein 
Weg fiihrte ihn aber erheblich weiter. Er suchte einerseits die Wesens- 
verwandtschaft der psychomotorischen Symptome mit den tonisch- 
kataleptischen sowie choreatisch-athetotischen Symptomen nachzu- 
weisen, wobei er dasGemeinsame und Trennende der beiden Erscheinungs- 
reihen aus ihrer Lokalisation in verschiedenen Regionen des gleichen 
Funktionsmechanismus, des Kleinhirn-Stirnhimsystems erklarte. An- 
dererseits brachte er einen Teil der p. m. Sprach- und Bewegungs¬ 
storungen in nahe Beziehung zu den bis dahin bekannten aphasischen 
und apraktischen Symptomen und stellte sie als ,,psychomotorische 
Aphasie 14 und ,,-Apraxie 44 den Herdsymptomen organisch Hirnkranker 
zur Seite. Isserlin 3 ) wiederum unterzog die Ergebnisse Kleisls einer 
ablehnenden Kritik und stellte sich selbst vorbehaltlos auf den Boden 

') Erweiterung eines im Jahre 1921 auf einer wissenschaftlichen Sitzung 
der Ileutschen Forschungsanstalt fiir Psychiatrie in Miinchen gehaltenen Vortrags. 

2 ) Kleist: Untersuchungen zur Kenntnis der psychomotorischen Bewegungs- 
storungen bei Geisteskranken. Leipzig 1908. 

Derselbe: Weitere Untersuchungen an Geisteskranken mit psychomotorischen 
Storungen. Leipzig 1909. 

Derselbe: Der Gang und der gegenwfirtige Stand der Apraxieforschung. Vogt 
und Bing: Ergebnisse. 1911. 

3 ) Isserlin: Uberdie Beurteilung von Bewegungsstorungen bei Geisteskranken. 
Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psychiatrie. 3. 

35* 


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G. Stertz: 


der Kraepelinscheu Lehre, die auch in die meisten Behandlungen des 
Gegenstandes weiterhin Eingang gefunden hat. Wer unvoreingenommen 
die Dinge betrachtet, steht keineswegs hier vor einem Entweder-Oder, 
kann vielmehr in den hypothetischen Betrachtungen beider einen be- 
rechtigten Kern und zu weit gezogene Grenzen finden. Auch Jaspers'), 
der Kleists Erklarungsversuch im Grunde fur miBgliickt halt, lehnt 
doch die neurologische Auslegung eines Teiles der ratselhaften Mo- 
tilitatssymptome der Geisteskranken nicht grundsatzlich ab. Er halt 
es fiir wahrscheinlich, dab zwischen dem Mechanismus der Praxie und 
dem bewuBten Willensimpuls noch eine Reihe auBerbewuBter Funk- 
tionen ubereinander gelagert seien, die mit den hier in Frage kommen- 
den Erscheinungen Beziehung haben konnten. Ein etappenweises 
Vorgehen in der Richtung auf die Bewegungsstorungen der Geistes- 
kranken scheint auch mir unter Umstanden Erfolg zu versprechen. 
Wir miissen nach Krankheitsfallen fahnden, deren hirnpathologische 
Grundlage nach Entstehung und Symptomatologie sichergestellt 
erscheint, und die es zugleich gestatten, in jenseits der motorischen 
Aphasie bzw. Apraxie gelegene, noch unbekannte Reiche des Motoriums 
vorzudringen. Allein schon die theoretische Erwartung laBt solche 
Falle als einen schwer erfiillbaren Wunsch erscheinen. Gehen wir von 
-den herdformigen Erkrankungen aus, so liegt die Wahrscheinlichkeit 
sehr nahe, daB der KrankheitsprozeB durch sein Gbergreifen auf die 
benachbarten tieferen Regionen des motorischen Apparates die Voraus- 
setzung zur Untersuchung der hoheren unterbindet, halten wir uns an 
die Motilitatspsychosen, besonders der Schizophrenen, so durchkreuzt 
die Miterkrankung hochster, zweifellos seelischer Leistungen mit ihrem 
unberechenbaren EinfluB auf die tieferen unsere Absicht. Die unter 
solchen Bedingungen auftretenden Bewegungen tragen allzu leicht 
■den Charakter des Vieldeutigen an sich. Fast mochte man sagen: nur 
ein gliicklicher Zufall, der in ,,systematischer“ Weise die in Frage stehen- 
den hoheren motorischen Regionen erkranken laBt, kann eine Anna- 
herung an unseren Forschungszweck bedingen. Die im folgenden 
naher dargestellte Erlcrankung scheint mir dieser Bedingung einiger- 
maBen zu geniigen. Ich wiiBte ihr aus eigener Erfahrung und aus der 
Literatur mit Ausnahme vielleicht einer Beobachtung Kleists' 1 ) keine 
ebenso charakteristische an die Seite zu stellen. Zunachst sei die Rran- 
kengeschichte mit der fiir diesen Zweck notigen Ausfiihrlichkeit mit- 
geteilt. 

1 ) Jaspers : Allgemeine Psychopathologie. II. Aufl. Berlin 1920. 

2 ) VVeitere Untersuchungen usw. S. 225. Kleist teilt den Fall nur kureorisch 
mit, indem er auf eine ausfiihrliche Veroffentlichung Antons verweist, die indessen 
leider nicht erfolgt ist. Er fa lit ihn als eine eigenartige niotoriscke Aphasie auf, 
die eine Briicke zu den p. m. Sprachstorungen der Geisteskranken bildet. 


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(j'ber psychomotorische Aphasie und Apraxie. 541 

Frau Moder, 25 J., aufgen.: 28. IV. 1920 in die Psychiatr. Klinik in Miinchen. 

Vorgeschichte. 

Schon einige Tage vor einer am 9. IV. erfolgten Entbindimg aufgeregt, angst- 
lich. 3 Tage danach groBe Unruhe, stieB das Kind weg, schrie laut, sprach unver- 
stAndlich, lief umher. Friiher etwas nervos, erregbar, sonst gesund. 

Bejund. 

Korperlich: rissige, trockene Lippen, spater auch Herpes. Temperatur 37. 
Puls etwas beschleunigt. Nervensystem o. B. Liquor: 54 Lymphocyten. Urin frei. 

Pat. befindet sich in einer lebhaften Unruhe, die sich offenkundig aus verschie- 
denen Bestandteilen zusammensetzt. Man beobachtet kurze, ungeordnete, schleu- 
demde Bewegungen der Extremitaten, besonders der Arme, auch Zuckungen 
einzelner Muskeln, verbunden mit Hypotonie, Xeigung zu Mitbewegungen, Zu- 
nahme der Bewegungsunruhe bei der Beschaftigung mit der Pat. Ein anderer 
Bestandteil der Unruhe gibt sich in Umherlaufen, Gestikulieren, in durch Sinnes- 
eindriicke bestimmten „hypermetamorphotischen“ Greifbewegungen, fortwiir- 
rendem lauten Spree hen, gelegentlichem Singen zu erkennen. Von manchen Be¬ 
wegungen, lebhaftem Grimassieren, UmherwAlzen der Zunge, muB es zunAchst 
dahingestellt bleiben, ob sie der einen oder anderen Art zugehoren. Die sprach- 
lichen AuBerungen bestehen in zusammenhanglosen Satzen und Worten, unter 
ihnen unverstilndliche Neubildungen, manchmal werden lediglich sinnlose Silben 
in langsamer, pathetischer Form, jeweils unterbrochen durch tiefe Inspirationen, 
aneinandergereiht [l] 1 ). 

Pat. ist nur ganz voriibergehend fixierbar, durch Sinnesreize ablenkbar, manch¬ 
mal wie geistesabwesend. Die Orientierung fehlt zuweilen, stellt sich aber dann 
wieder her, visionare Tauschungen kommen scheinbar vor, zuweilen wird ein dunk- 
lesKrankheitsgefiihl zumAusdruckgebracht. Einfacheren Fragen, Aufforderungen, 
Benennungen von Gegenstanden geniigt sie unter giinstigen Bedingungen [2]. 
Ab und zu iiberrascht sie einmal durch eine treffende Bemerkung. 

Verlauf. 

Anfang Mai: Die eigenartige gemischte motorische Unruhe ist auch weiterhin 
vorhanden: einerseits mehr oder minder primitive Zuckungen in den Schultem, 
den Extremitaten, Uberkreuzen der Beine, Zuruckwerfen des Kopfes, allerlei 
Drehbewegungen der Extremitaten und des Rumpfes, die zumeist in ihrem schleu- 
dernden, unkoordinierten raschen Ablauf den choreatischen Ursprung deutlich 
erkennen lassen, andererseits pseudospontane Bewegungen wie oben erwAhnt, 
eigenartige symmetrische, iibertriebene Gestikulationen und dergl. Die Elemente 
mischen sich so innig, daB eine Unterscheidung der Komponenten nicht mehr mog- 
lich ist. es entstehen dabei sonderbare Verbeugungen, tanzelnde Schritte u. a. m. 
[3]. Wechselnde, durchschnittlich AuBerst geringe Aufmerksamkeitsspannung, 
rasches Absinken der letzteren bei jeder Art von Inanspruchnahme. Richtig ange- 
fangene Antworten entgleisen in InkohArenz, letztere beherrscht meist ganz das 
Bild, selten kommen ideenfliichtige Elemente vor. Es bildet sich nun immer mehr 
eine sehr eigenartige Sprechweise heraus, die Sprache wird langsam und pathetisch, 
die Silben werden abgesetzt, so daB ein gewisser Rhvthmus entsteht [4], unmoti- 
vierte Steigerungen und Senkimgen der Stimmstarke, ein fremd anmutender Klang 
gesellen sich hinzu. Zeitweise werden in dieser Form unverstandliche Silben an- 
einander gereiht [5], einigemale auch Reime gebildet. Unverkennbar ist ein mit 
der allgemeinen Unruhe ubereinstimmender Sprechdrang, voriibergehend wechselt 
damit mutacistisches Verhalten ab. 


x ) Die in [ ] befindlichen Zahlen sollen die in den spAteren Ausfuhrungen erfor- 
derlichen Hinweise auf Beispiele der Krankengeschichte erleichtem. 


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G. Stertz: 


D3n gedanklichen und sprachlichen Entgleisungen stehen sichtlich Bemii- 
hungen der Pat. gegeniiber, den an sie gerichteten Anforderungen gerecht zn 
werden [6]. Sie bringt aber oft das Einfachste nicht zustande, nicht einraal eine 
zweckentspreckende passive oder aktive Abwehraktion auf Schmerzreize [7]. 
Zwischendurch komrnen auf einmal verstkndliche AuBerungen [8] vor, eine hofliche 
Entschuldigung bei zufalligem AnstoBen und dergl. Die Stimmung wechselt 
rasch, euphorische und depressiv-weinerliche Affekte verschiedener Starke treten 
auf neben oft farbloser Stimmungslage. An Vorgftnge der Umgebung wird leicht 
rait Eigenbeziehung angekniipft und Personenverkennungen laufen unter. Sie 
zeigt eine erhohte Ablenkbarkeit und Andeutungen von Echolalie. In etwas atten- 
t?ren Zsiten (die rait Versunkenheit abwechseln) und unter giinstigen sprachlichen 
Bcdingungen —sie spricht manchmal ganz normal [9] — laBt sich eine weitgehende 
Reproduktionsschwache fiir das gesamte Gedaehtnisraaterial feststellen, fiir die 
nun einjiihrige Ehe und die Entbindung besteht Aranesie. Die Orientierung ist 
unvollkommcn, alle Angaben sind leicht beeinfluBbar, widerspruchsvoll. Kom- 
binatorische Lcistungen sind ausgesclilossen. Rechenaufgaben konnen hochstens 
ira Rahmen des kleinen Einmaleins gelost werden. Selbst relativ einfache Bewe- 
gungsentwiirfe raiBlingen manchmal, so der Hiindedruck: anstatt zu driicken. 
streckt sie die Finger aus, spannt zwecklos die Oberarinmuskeln an [10]. SchlieB- 
lich gelingt es einigermaBen. die Hand des Untersuchers bleibt aber dann wieder 
liinger als beabsichtigt uraklamrnert. Nicht selten verharrt sie auch langere Zeit 
in passiv hervorgerufenen oder auch spontan entstandenen Stellungen. Krank- 
heitsgefiihl verrat sich durch die bei der Untersuchung oft auftretenden AuBerungen 
der Ratlosigkeit. Sie begleiten sowohl gedankliche wie sprachliche Entgleisungen, 
die sichtlich oft mit einem Gefulil der Qual verbunden sind [11]. Aber auch unab- 
hangig davon erscheint sie oft ausgesprochen angstlich. Choreatische Symptome 
werden am 4. V. kaum mehr bemerkt. 

Einige Sachbenennungen richtig [12], dein Wort Schliissel wird einmal unwill- 
kiirlich die Silbe bissel angehangt. Am 5. V. ist sie zeitweise mutacistisch, grimassiert 
stereotyp, einige Male wird im Affekt hochster Ratlosigkeit die Stummheit durch- 
brochen: Ich... bin_ ge... storben. 

8. V r . wird ein eigentiimliches motorisches Verhalten beobachtet. Sie setzt sich 
im Untersuchungszimmer unter vielen grotesken Bewegungen nieder, sie will 
sprechen, aber es kommt zu w ildem Umherwalzen der Zunge und zum AusstoBen 
unverstiindlicher Laute. Bei Fragen wiederholcn sich die vergeblichen Anstren- 
gungen, die Zunge kommt nach hinten gekriimmt heraus [13]. Unter Zeichen fingst- 
licher ratloser Erregung stoBt sie schlieBlich die Worte „heiliger Josef“ heraus. 
Im Gssicht treten allerlei Grimassen auf. Als der Sprechakt im Gang ist, kommt es 
tails zu inkoharenten, an sich verstandlichen AuBerungen, teils sinnlosen Silben- 
reihen [14]. Sie nennt ihren (Madchen-)Namen Kruger und hangt daran Kriigeler. 
Kriigeleler. Einzelne einfache Worte spricht sie nach, schwierige nicht, Auch 
Bewegungen werden nachgemacht, aber z. T. anscheinend unwillkiirlich (pseudo- 
spontan) abgewandelt [15]. Sie laBt die Arme erhoben und antwortet auf die 
Frage nach dem Grunde: „Ich kann nicht“. Auf entsprechende Aufforderung 
nimmt sie sie herunter, laBt aber mm die Hand mit gespreizten Fingern auf dem 
Tisch liegen [16], Mehrmals wiederholen sich die gewaltsam aussehenden Ansatze 
zum Sprechen, ein wildes Grimassieren, Zungenwiilzen und Kopfwackeln [17]. 
Eine Verzerrung des Gesichts wird viber 1 Minute festgehalten. Die gedankliche 
Inkohiirenz ist sehr weitgehend. Die Bezugnahme auf zufitllige Sinneseindrucke 
spielt eine groBe Rolle. Die Frage, ob sie so denken kann, wie sie wolle, verneint 
sie. Im ganzen macht sie einen deprimierten, angstliclien, ratlosen Eindruck. 

Am 10. V. 1920 hat Pat. eine sehr gute Remission. Sie ist ruhig und klar, zeigt 
geordnetes Bcnehmen, ungestortes Motorium und SprachverstAndnis und gibt 


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Uber psychomotorische Aphasie und Apraxie. 

gut Auskunft [18]. Fur die Krankheit und die Entbindung besteht Amnesie, sie 
weiB nur, daB sie von groBer Unruhe gequalt war, und sich nicht so bewegen und 
sprechen konnte, wie sie wollte. Ibre kombinatorischen Fahigkeiten sind aber 
auch jetzt auf einfache Aufgaben beschriinkt. Wahrend dieser Zeit sind nur ganz 
vereinzelte choreiforme Zuckungen im Gesicht und den GliedmaBen zu sehen. 
Sie verfallt dann in einen tiefen Schlaf. 

Am nachsten Tage stellt sich unter Fieber, Xystagmus der friihere Zustand 
wieder her. 

11. V. Schwere motorisehe Erregung: Pat. grimassiert lebhaft, aber monoton, 
wobei das Gebiet des Mundfacialis inch Plathysma besonders beteiligt ist. Der 
Kopf wird krampfhaft geschiittelt. unverst&ndliche Silben und Laute in verschie- 
dener Starke bis zum lautesten Schreien hervorgestoBen. Die oberen Extremitaten 
begleiten diese Produkte mit lebhaft gestikulierenden, geschraubt, fremdartig 
aussehenden Bewegungen, unter ihnen allerlei Spreizungen der Finger [19]. Die 
Atmung ist forciert, das Gesicht kongestioniert. Zuweilen verharrt der eine oder 
der andere Arm in einer eigenartigen Haltung. — Pat. macht einen gequalten, 
durch diese Unruhe stark in Anspruch genommenen Eindruck [20]. Sie befolgt 
einige einfache Aufforderungen (Hand geben, Zunge zeigen, Augen schlieBen [21]). 
Die Innervation ist aber oft verzogert. Die Absicht wird zuweilen durch die Ent- 
gleisung in die Spontanbewegungen ersclwert oder vereitelt [22]. Bei Sprechver- 
suchen wird die Zunge zunachst wild herumgewalzt [23]. Plotzlich bringt sie 
miihsam, abgesetzt, wie gegen einen Widerstand unter starkem Grimassieren die 
Worte heraus: „Helfen — Sie — mir — doch“ [24]. Aufgefordert, von 20—30 
zu zahlen, bringt sie die Zahlen unter leiehtem Skandieren und in einer fauchenden, 
prustenden Manier heraus [25]. Beim Handedruck verhalt sie sich wieder wie 
oben beschrieben oder sie streckt dabei 2 Finger aus, wahrend sie die iibrigen 
krampfhaft einschlagt [26]. Zwischendurch nimmt sie plotzlich von ihrer ebenfalls 
unruhigen Umgebung Xotiz mid ruft einer Mitpatientin zu: „Scha—men — Sie — 
sich“ [27]. 

In einem ahnlichen,nur in derlntensitat schwankenden Zustand bleibt die Pat. 
bis zum 22. V. In letzter Zeit zeigten sich besonders haufig jene eigentiimlich 
verschnorkelten Fingerbewegungen. Mehrfach halt Pat. die Finger an beiden 
Handen fiir langere Zeit gespreizt [28]. StoBt oft schrille Schreie aus. Wahrend 
eines mehrtagigen, mit einer Phlegmone zusammenhangenden Fiebers wurde Pat. 
ruhiger, meist stuporos gehemmt und mutacistisch, einmal sagte sie aber verstand- 
lich: „Machen — Sie — mich — auch — gesund'h Dann aber emeute und stei- 
gerte sich die Erregung zu bisher nicht beobachtetem Grade, sodaB Pat. nirgends 
gehalten werden konnte. Sie wirbelt mit den Beinen in der Luft, halt sie dann wieder 
steif, verschlingt die Arrne, die Finger und grimassiert wieder sehr lebhaft. Sprach- 
lich werden dabei rhythmisch wie skandierend oft stundenlang neben sinnlosen 
Silbenneubildungen verstandliche, aber meist vollig inkoharente AuBerungen, 
die ihrerseits aber wieder rein sprachlich entgleisen konnen, aneinandergereiht [29]. 
Auf Fragen geht sie dabei, soweit erkennbar, nicht ein, wahrend sie einfache Auf¬ 
forderungen befolgt [30]. 

6. VI. Angesprochen bricht sie in krampfhaftes Weinen aus, und es werden dabei 
rhythmisch mit einer Art Skandieren die sinnlosen Silbenreihen hervorgestoBen. 
Von vorgehaltenen Gegenstanden werden gelegentlich einzelne Silben richtig 
hervorgebracht, aber unter dauemden Entgleisungen der iiblichen Art [31]. Sie 
zahlt 1, 2 und entgleist, sagt die ersten 3 Buchstaben des Alphabets und entgleist 
wieder [32]. 

7. VI. Protokoll einer Unterhaltung: (Wie geht es?) „noeh doch ke alles —- 
fliegt weg“. (Was denn?): „mir nik leis gewunkelt“. (Krank): „seits denn soils 
seits sinks mir all sich“, (krank?): „zwischel, gil nichts, ver—zeih—en — Sie und 


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G. Stertz: 


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da nix sich are ich noch gleis, kan kil will". (Wie heifien Sie?): das ist gil gil“. 
(Vorname?): „Lis (Lily?) ril kill, will". (Vomame?): „tung —“ Backen aufblasen, 
krampfhaftes AugenschlieOen — und vollstftndiges Verstummen. 

Zum Schreiben und Lesen ist sie nicht zu bringen: „will jetzt maehen, jahr- 
lings, stillings [33]“. (Lesen!): Schiittelt den Kopf — ich wills doch nicht so leichs 
glei gut daB das ausgelungeln... weils endlich ausgebiigel ills wills arm am nix 
six mir leichter... ser its sils will reich kills not luft is quill"... [34] liest plotz- 
lich wie unabsichtlich aus dem noch aufgeschlagenen Buch: „ich fiihlte in zarter 
Feinfiihligkeit" und „hob den Gesundheitszustand 11 , aber auf Verlangen bzw. bei 
darauf gerichteter Absicht gelingt ihr das Lesen nicht [35]. (Zeigen Sie Ihre Nase!): 
„ich hab bereits den Milchgesundheitszustand“ (kontaminiert aus Bestandteilen 
der Leseprobe). Die Aufforderungen aufzustehen, setzen, einen Schluck aus dem 
daneben stehenden Glas zu trinken, werden befolgt [36], dabei sagt sie: „so flog 
als meis“. (Noch ein Schluck!) — wenn zwei will wick! ich nix — ollne daB sie 
sich gedemiitigt fiihlte (wieder wie zuffillig aus dem Buch gelesen) [37]... ja nickt 
will nigends all es so will stilling stills dereelbe will kill nills (Soli ihren auf Papier 
geschriebenen Namen (Moder) lesen „Moder reck kil links 11 . 

Ein Vereuch des Benennens vorgehaltener Gegenstande laBt keine groBe Er- 
leichterung des sprachlichen Ausdrucks erkennen; sie kniipft aber zuweilen daran 
an. Sie sieht z. B. eine Klingel und in ihrer Silbenreihe erecheint nun u. a. Klings... 
kling. Sie faBt an die Nase und sagt Nesil. Bei dieser Gelegenheit weist sie einen 
ihr wie zum Geschenk angebotenen Geldschein mit einer gewissen Entriistung 
zuriick, wahrend sie Nadelstichen, die auf ihre Hand appliziert werden, weder 
auszuweichen noch sie abzuwehrcn vermag [38]. 

W&hrend sie anfangs die Silbenreihen sichtlich unter dem EinfluB eines Sprech- 
dranges auch spontan durch langere Zeit und kaum unterbrechbar vorbrachte, 
traten jetzt die sprachlichen Produkte vorwiegend als Reaktionen auf Fragen 
und sonstige Anregungen auf [39]. Nachdem gewissermaBen ein Satz gebildet 
ist, der ihrer sprachlichen Absicht zu entsprechen scheint, hort die Produktion 
immer wieder von selbst auf. Ein lfingeres Fortspinnen komrnt evtl. noch unter 
dem EinfluB psychischer Erregungen, die allerdings vielleicht noch ein erhohtes 
Mitteilungsbediirfnis mit sich bringt, zustande. Eine Einteilung der Sfttze ist auch 
dann unverkennbar [40]. Die Silben werden rhythmisch, nicht vollstftndig monoton, 
sondern mit wechselnder Stimmstarke und Betonung vorgebracht. Der Ton wird 
energisch ablehnend bei der Frage, ob Pat. verheiratet sei, weinerlich, als sie sagen 
soil, ob die Mutter noch lebt u. dgl. Hierdurch verrat sie auch erhaltenes Sprach- 
verstftndnis und eine gedankliche Verarbeitung [41]. Das gleiche ergibt sich aus 
folgenden Reaktionen: (Wollen Sie ins Bad?): Wiederholt „Bad“, dann kommen 
die Worte,, ganz ruhig“, versteckt sich unter die Decke und stellt sich wie schla- 
fend — offenbar in dem Bestreben, das ihr unangenehme Dauerbad zu vermeiden 
[42]. (Wollen Sie Besuch haben?): „ein einzig malis —“ fahrt dann fort „alig 
seilig link kings gilts jetzt ist aber eisig kalt“. Ein einmal aufgetretener Laut- 
bestandteil zeigt die Neigung, sich in ahnlicher Weise zu wiederholen. „Himmlische 
Geliiute (es lautet gerade), o litt dill still wa gill hill dill wa gil. Gill lik will lieser 
hier neug sell gepeul lock er rung. Wohlauf hier will Kameradil kill dil zu Pferd 
(vorgesagt: wohlauf Kameraden...) in die Feigl keit (Freiheit) geril till sill will 
week, kill dann will, leuchtes gil lik“. — „Heul nal Gute Nachtill (es war ihr gute 
Nacht geboten) gill dill lick still till, neug ill will leuf, will ick nill, tag, o will ick 
solch... euk. Knill leug nill weig bloB leum lig ging froh leucht neul. Heuls ldeul 
lill teil leuch [43]. Bei der Aufforderung, das „Vater unser“ aufzusagen, maeht 
sie sogleich eine betende Gebflrde, bricht dann in Weinen aus: ich — wills — unver- 
stiindliche Silbenreihen. „Vater unser der Du bist“... entgleist vollstfindig. 


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tlber psychomotorische Aphasie und Apraxie. 


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bringt ganz verzweifelt heraus „so elendiglich“. (GegriiBet seist Du usw.). Pat. 
rauft sich verzweifelt die Haare... [44] Vater unser der Du bist... Himmelreich... 
die einzelnen Silben kommen oft in einem bestimmten Rhythmus und etwas lang- 
gezogen heraus. Von dem Volkslied „ach wie wfirs moglich dann“, spricht sie 
unter mehr oder minder starken Entgleisungen die beiden ersten Zeilen nach. 
Die eigenartigen verschnorkelten Handbewegungen begleiten meist die sprach- 
liche Produktion, sind aber auch unabhangig davon zu beobachten und verur- 
sachen das Gesamtbild einer stereotypen, dabei etwas krampfhaften Unruhe, 
die Finger beider Hande werden auch ineinander verschrankt, beide H&nde fiihren 
abwechselnd im Gesicht, an der Nase, hastige, in ihrem Zweck nicht erkennbare 
Bewegungen aus, sie verzerrt mit den Fingem ihren Mund, dann werden die Arme 
hinter den Kopf verschrankt, dann weit aus dem Bett gestreckt, auf die Brust 
gepreBt, die eine Hand fiihrt schraubendeBewegungen an den Fingern der andem 
aus [45]. Die Atmimg ist dabei etwas schnaufend. Gegen passive Bewegungen 
machen sich infolge des Fortbestehens der Spontanbewegungen wechselnde Wider- 
stande geltend, ein eigentlicher Negativismus besteht ebensowenig wie echte Spas- 
men. Im Gesicht wird bald die eine, bald die andere Stirnhfilfte gerunzelt, in Be- 
gleitung der Silbenreihen erscheinen Grimassen. Handlungcn: Sie macht auf Auf¬ 
forderung gelegentlich einfache Bewegungen und Handlungen, z. B. Drohen, nach, 
doch ist das unberechenbar. Bei alien komplizierteren versagt sie. Sie zieht ikre 
Jacke teilweise aus, driickt diesen Teil zusammen und legt sich darauf. (Ziehen 
Sie die Jacke an!) Zieht sie ganz aus, wirft sie energisch fort, versucht dann der 
Aufforderung nachzukommen, ergreift die Jacke, dreht einen Armel um, wird dann 
durch eine defekte Stelle abgelenkt, mit der sie sich eine Weile beschftftigt [46]. 
Auf Wiederholung der Aufforderung macht sie sich zuerst. mit der Bettdecke 
zu schaffen, versucht dann ganz unzweckmaBig den Armel anzuziehen, wobei ihr 
plotzlich die Worte: „Butterbrot bitte inniglich“ [47] entfahren, sodann .,barmen 
Sie sichdoch still will —“ bricht bier inTranen aus und macht eine bittende Gebarde 
[48]. Sie wird dann gereizt, als iiber ihre drollige Entgleisung in der Umgebung 
gelacht wird [49]. Eigenartige, in ihrem Zweck nicht erkennbare Bewegungen wer¬ 
den noch l&ngere Zeit beobachtet, so werden gelegentlich von beiden Handen 2 Fin¬ 
ger abgespreizt, wahrend sich die andem in der bei ihr iiblichen Weise bewegen. 
Beim Spielen mit der Bettdecke komrnt es plotzlich zu krampfhaftem Umklammern 
derselben. Beim Essen fallen manchmal alle Hemmungen fort, sie stopft Brot bis 
zur Unmoglichkeit in den Mund. Die urspriingliche Absicht, aufs Klosett zu 
gehen, wird ab und zu mitten auf dem Weg unterbrochen und es kommt zur Ent- 
leerung ins Zimmer [49]. 

BewuBtsein und Aufmerksamkeit unterliegen auch weiterhin haufigen Schwan- 
kungen, bisweilen kommt es zu einem vollkommen absenten Verhalten. Bemerkens- 
wert ist besonders beim Zurucktreten der Eigenproduktion die Suggestibilitat. 
Es kommt dann gelegentlich zu echolalischem und echopraktischem Verhalten. 
Wahrend spontane Gemiitsbediirfnisse (der Anlehnung, des Hilfesuchens) nur aus 
der mehr oder minder klaren Erkenntnis ihres hilflosen Zustandes sich ergeben, 
beginnt sie sogleich einen kleinen Patienten, den sie vorher nicht beachtet hat, 
wenn er ihr ins Bett gelegt wird, zu liebkosen [50]. 

5. VII. Sie l&Bt sich nun zum Schreiben veranlassen. W 7 as sie schreibt, ent- 
spricht den sprachlichen AuBerungen mit ihren Entgleisungen und Neubildungen. 
Die Buchstaben werden nicht entsteUt [51]. Im Laufe des Juli kommt es, wenn- 
gleich der sprachliche Ausdruck sich im ganzen gebessert hat, noch h&ufig zu Ent- 
gleisimgen in der friiheren Manier. besonders unter dem EinfluB von Affekten 
oder nachlassender Aufmerksamkeitsspannung. Die Uberg&nge sind manchmal 
ganz unvermittelt, z. B.: „Schnell, was ist jetzt passiert, sagt mirs doch, ich bin 


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ja tot... kelir, trehr kr, nirl dirl dil krel gil... sagt mirs doch, klertt trirtl kl kr tr —. 
SchlieBlich bricht sie mit einigen krachzenden Lauten wie erschopft ab [52], 

Ein sonderbares Gemisch von an sich richtig gebildeten, aber zusammenhang- 
losen Worten und sinnlosen Silben zeigt das folgende Beispiel: „Hiittest du mir 
demen Segen eher gegeben, ach, gibts doch gar nie und wenn dies nnr aussteht. 
(War der Vater zu Besuch?) „tot“. (Haben Sie ein Kind?) Nei 1 1 1 also von e'er 
mein von der Tiefe in die Hohe hier aufgespozelt im kirchlichen Segen. (Als in der 
Umgebimg gelacht wird.) Glaubt mirs halt, ja so stimmts, ich weiB von gestem 
noch alle Heiden, die toricht auf die ganze Kinderwfische (Perseveration von einem 
friiheren Gedankengang) beim n&c listen Spelitzung fast ills quills [53]. 

Nachsprechen ohne Stoning, Lesen besser, aber meist ohne erkennbarem Sinn- 
verstandnis (Monate)... Mai, Juni, Juli, August, Septembember. 

5. VII. Pat. steigt jetzt viel aus dein Bett, geht in eigentiimlich starrer und 
gebimdener Haltung auf den Zehenspitzen im Saal herum [54], eignet sich im Vor- 
beigehen EBbares an und schlagt gelegentlich zu, wenn sie daran gehindert wird [55], 
14. VII. Meist ohne jede Mimik, allgemeine Bewegungsarmut, nur erscheint 
ab und zu ein weinender oder lachelnder Ausdruck. 

22. VII. Sprachlich ofter gehemmt, verlaBt sie noch immer haufig in der 
beschriebenen Haltung das Bett, indem sie in eigenartiger Weise ihr Hemd geschiirzt 
tragt [56]. Der Gesichtsausdruck ist maskenhaft traurig. Die Sprachstorung be- 
herrscht wieder zeitweise den Ausdruck. Sie antwortet auf einen GruB: ,,nil wil 
sils hils... Rolt ein log, sonst sag dri Wil lei hens hens." (Weshalb waren Sie heute 
nicht im Garten?): „weils die so macht“, deutet auf die Pflegerin... „sil la lila 
rilken gei harkelt gockelt...“ [57]. 

27. VII. Wird stuporos, starrt vor sich hin, geht auf Anregung kaum ein, 
doch ist dieser Zustand immerhin raschem Weclisel unterworfen, teils indem er 
spontan von AffektauBerungen, besonders depressiver Art, durchbrochen wird, 
teils indem sich Pat. reaktiv auf einmal zuganglicher erweist. — 

Die Bewegungsarmut und Gebimdenheit der Haltung ist unverandert. Der 
Gesichtsausdruck ist in angstlicher Ratlosigkeit erstarrt. Die gleiche Haltung wird 
endlos beibehalten. Die Bewegungen sind langsam, abortiv, und doch sind bei 
passiver Bewegung keine deutlichen Widerstande vorhanden [58], keine Andeutung 
von Negativismus. Mitunter ist Pat. echolalisch und echopraktisch. Auch dabei 
tritt die Langsamkeit und Armut der Bewegungen zutage. 

Sie verharrt oft in unbequemen Haltungen, folgt mit den Augen den Vorgangen 
in ihrer Umgebung, olme den Kopf zu bewegen. Mitten im Saal erstarrt sie plotz- 
lich in irgendeiner gebundenen Haltung, bis man sie wieder ins Bett bnngt. Be- 
kommt sie einen StoB, so setzt sich dessen Wirkuug voriibergehend in eine auto- 
matenhafte schnellereFortbewegung urn [59]. Vorwiegend ist ein allgemein gehemm- 
tes, stuporoses Verbal ten zu beobachten. Im Gesiclit vermehrte SchweiB- und 
Talgdriisensekretion. Abwechselnd mit den Silbenreihen erscheinen verstandliche 
Redewendungen, meist Ausdriicke depressiven Affektes. Sie spricht von armer 
Seele, letztem Andenken. Auf das Gefiihl allgemeiner Bewegungshemnnmg 
beziehen sich wolil AuBerungen wie: „was hab ich denn verbrochen, ich moclite 
Erlosung haben, nicht zur ewigen Verdammnis hineingegraben werden.“ 

1. VIII. Liest geliiufig aber monoton, verstandnislos. Eine Anzahl auch 
schwieriger Worte, werden unmittelbar richtig nachgesprochen, bei einer etwas 
spiiteren Wiederholung aber entatellt [60]. 

Ab und zu streuen sich vollig beziehungslose Gedanken bzw. Redewendungen 
zwischen eben noch richtigen Reaktionen ein, und diese zeigen eine gewisse Nei- 
gung zur Wiederkchr in gleicher Form. Auch kommen ab und zu, besonders in 
affektvollen Augenblicken, bei Verlegenheit und Ermiidung noch die Entgleisun- 


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Uber psychomotorisehe Aphasie und Apraxic. 


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gen in die friiheren, unverstandlichen Silbenreihen vor, doch gelingt es der Pat., 
jetzt anseheinend durch eine gewisse Anstrengung dariiber hinwegzukommen [61]. 
Plotzlich bemerkt sie ohne jeden Zusammenhang: „Ich miiBte ja echt lutlierisch 
sein, wenn ich solch ein Vorhaben ki del dil duni. (Was fur ein Vorkaben?) „nach- 
dem das Wort geplatzt ist“ — [62], 

25. VIII. Die stuporosen und akinetischen Ersclieinungen, die auch durch 
Katalepsie und echte Flexibilitas cerea vervollstandigt werden, sind unverandert. 
Das Silbenreihen drangt sich jetzt seltener vor. Haufig erscheinen AuBerungen, 
die we der mit vorangegangenen nocli darauf folgenden Gedanken irgendeine 
Beziehung aufweisen. Echolalie macht manchinal jede Verstiindigung unmoglich, 
dann kommt es aber auch wieder zu verniinftigen Bemerkungen. Sie meint von 
einer anderen Kranken: ,,was die nur immer fiir sich zu reden hat!“, urn unmittel- 
bar eine Bilderbogenszene (Esel am Windmiihlenflugel) mit folgender Bemerkung 
zu versehen: „Nachdem er hier totgeschossen, war ich gleich in deni Himmel.“ 
Keine apraktischen Symptome. 

Die wachserne Biegsamkeit nimmt zu. Die Kranke liegt mit abgehobenem 
Kopf und frei schwebenden Beinen langere Zeit da. Hyoscin in kleinen Dosen 
scheint voriibergehend ein leichtes Nachlassen dieser Spannungen zu bedingen [63]. 

10. IX. Es ist nun bei passiven Bewegungen eine deutliche Rigiditat der 
Muskulatur festzustellen, aber kein Negativismus. Die Haltung wird stark gebiickt 
und es machen sich ausgesprochene Pulsionserscheinungen bemerkbar [64], Psy- 
chisch unverandert. Unberechenbar in ihren Leistungen, nachdem sie einige 
Gegenstande richtig benannt hat, nennt sie ein Taschentuch „VergiBmeinnicht, 
das ist das groBte Lebenszeichen“ [65]. Vorwiegend stuporos. Die gewohnten 
Silbenreihen erscheinen nur noch unter besonderenUmstanden:Affekten,z. B. auch 
Verlegenheit, Ermiidung, schwierigen Anforderungen: statt UrgroBvater spricht 
sie nach: „UrgroB — kel — kirn — kirl“, statt Dampfschiffschleppschiffahrt: 
,,Dampfschiffschleppschiff — firl“ [66]. Kombinatorische Leistungen und Merk- 
fahigkeit werden stets stark vermindert gefunden. Auch die Amnesien bestehen 
fort. Sie auBert einmal: bitte, ich kann mich an nichts erinnern. Wahrend sie 
affektiv zuweilen ganz ansprechbar ist, bleibt sie ein andermal bei Vorwiirfen 
gleickgiiltig. 

Am 24. IX. wird beim Besuch der Verwandten ein erstaunlich verniinftiges, 
heiteres und ganz ungezwungenes Verhalten beobachtet, aber abends wurde sie 
ermiidet, traurig-iingstlich und gespannt gefunden. Solche Tagesschwankungen 
sind spaterhin nicht selten. 

Oktober. Allmahlich lost sich unter Schwankungen die psychische Gebunden- 
heit der Pat., sie fangt an, sich etwas freier und imgebundener zu unterhalten und 
zu benehmen, soweit es die noch vorhandene Rigiditat zul&Bt. Die Sprache ist 
jetzt ganz gelaufig und frei von pathologischen Bestandteilen. Der Umfang dcr 
Leistungen vergroBert sich ganz allmahlich. Neben den depressiven kommen jetzt 
auch heitere Stimmungen vor. Die Aufmerksainkeit ist noch schwankend, die 
Gedfichtnisleistung schlecht, aber die Inkoharenz ist nicht mehr vorhanden. Sie 
kann jetzt ganz geordnete Unterhaltungen fiihren. Affektiv ist sie durchaus 
ansprechbar, immer willig, von freundlichen Umgangsformen [67]. Sie klagt iiber 
Schwindelzustande und die Steifigkeit in alien Gliedem. Die objektive Unter- 
suchung ergibt allgemeine Hypertonie, Bewegungsarmut, Schwerfalligkeit und 
Verlangsamung alter komplizierter Bewegungen. Es kommen noch kurze Riick- 
falle in das friihere stuporose Verhalten vor, sie zeigt dann Xeigimg, in zufalligen 
Stellungen zu verharren, sie richtet sich im Bett auf, urn dsis Klosett aufzusuchen, 
bringt auch die Beine heraus, erstarrt dann aber in dieser Haltung, bis einige Zeit 
spater die Urinentleerung ins Bett erfolgt, auch bleibt sie mitten im Zimmer in 


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G. Stertz: 


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irgendeiner Haltung regungslos stehen. Sie spricht dann auch nicht von selbst, 
benutzt bei Fragen zu den einsilbigen Antworten die Worte der Frage, erscheint 
in jeder Beziehung hochgradig suggestibel und wie versunken [68]. 

1. XI. Bei der Entlassung ist sie ortlich zutreffend, zeitlich unvollkommen 
orientiert. Der Untersuchung ist sie zug&nglich, stets hoflich, freundlich. Sie hat 
Erinnerungsinseln und teilweise Einsicht fiir die schwere Krankheit, das Denken 
sei zeitweise ganz fort gewesen. Nach der Sprachstorung gefragt, gibt sie an, 
daB sie nicht sagen konnte, was sie wollte, gegen ihren Willen die sinnlosen Silben 
herausbrachte, von denen sie jetzt freiwillig einige noch reproduzieren kann. 

Jetzt spricht sie ohne Fehler, vermag auch schwierige Paradigma nachzu- 
sprechen. Sie liest flieBend 1 / 2 Druckseite mit Ausdruck und Interpunktion. 
Die Aufmerksamkeit sinkt rascher und intensiver ab als unter normalen Verhalt- 
nissen. Sie wird dann nicht gerade zerstreut, aber zunehmend schwerfallig im 
selbstandigen Denken, wfihrend ihre Suggestibilit&t im gleichen Grade zunimmt, 
so daB sie sich iiber die gleichen Dinge je nach der Fragestellung im gegensatzlichen 
Sinn auBem kann. Den Inhalt der oben erwahnten halben Druckseite hat sie, 
wie sich herausstellt, nur unvollkommen erfaBt. Bei angespannter Aufmerksam¬ 
keit ist die Merkfilhigkeit ganz gut. 

Im ganzen ist die spontane Regsamkeit und Initiative noch immer herab- 
gesetzt. 

Sie klagt iiber Steifigkeit in alien Gliedem, die ihrem Willen nicht gehorchen, 
sie kennt ihre Haltungsanomalie, konne sie aber nicht tiberwinden [70]. 

Gesicht, Haltung des Rumpfes und der Extremitaten sowie der Gang erinnern 
sehr an Paralysis agitans sine agitatione. Bei passiven Bewegungen starke Hyper- 
tonie in den Nackenmuskeln, femer besonders im Schulter- und Hiiftgiirtel, distal 
wesentlich abnehmend. Sie vermag alle Einzelbewegungen auszufiihren, in den 
distalen Extremitatenabschnitten sogar ohne Verlangsamung. Bewegungsfolgen 
stoBen auf Behinderung. Alle komplizierten Bewegungen sind steif, holzem durch 
ihre Armut an natiirlichen Mitbewegungen. Es besteht fast keine Mimik, Gestiku- 
lationen fehlen ganz. 

Die Sprache ist flieBend, ohne jede Stbrung. 

Nach spiiteren Mitteilungen hat sich das psychische Befinden weiterhin gebes- 
sert, wiihrend die hypertonischen Symptoms sich bisher als hartniickig erwiesen 
haben. 


Zusammen jassung: 

Es handelt sich uni eine organische Hirnlcrankheit in Verbindung 
mit einer symptomatischen Psychose, in der Inkoharenz und psyeho- 
motorische Storungen das Bild beherrschen. Fiir den exogenen Cha- 
rakter der Geistesstorung sprechen, schon wenn man sie an und fiir 
sich betrachtet, die umfangreiche Amnesie und eine deutliche, zeitweise 
bis zur Versunkenheit oder Benommenheit sich steigernde BewuBt- 
seinsstorung, vor allem aber ihre Verbindung mit. organisch-neuro- 
logischen Symptomen: die anfangliche Chorea und das spatere Parkin- 
sonsyndrom, das die Psychose selbst iiberdauert. Das Auftreten des 
Krankheitsfallcs wiihrend der Miinchner Encephalitisepidemie 1920, 
sowie die noch vorhandene Lymphocytose der Spinalfliissigkeit lassen 
keinen Zweifel daran, dab wir eine Erscheinungsform der Encephalitis 
epidemica vor uns haben. Die fiir diese Krankheit ungewbhnlich lange 


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Uber psychomotori8che Aphasie und Apraxie. 


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Dauer der Psychose und das Vorherrschen katatonischer Symptome 
konnte bei oberflachlicher Betrachtung daran denken lassen, daB hier 
eine schizophrene Geisteskrankheit durch den organischen ProzeB 
ausgelost sei. Bei naherem Zusehen fehlt aber ganz die schizophren- 
autistische Personlichkeitsgrundlage, wir vermissen negativistische 
Ziige, irgendwelche erkennbaren Komplexwirkungen, kennzeichnende 
Wahnbildungen und Sinnestauschungen, schlieBlich den Ausgang in 
geistige Schwache. Selbst in den schwersten Stadien der Krankheit 
8chimmert eine erhaltene Personlichkeit [38, 41, 67] hindurch, die 
gewissermaBen gegen die in tieferen Regionen sich abspielenden Rrank- 
heitsvorgange ankiimpft, ohne daB auch nur der Gedanke ihrer Pro- 
jektion nach auBen oder irgendwelchen Erklarungswahns aufkommt. 
Selbst von den gedanklichen Entgleisungen hat man oft den Eindruck 
des Geschehens wider Willen und dadurch bedingter peinlicher Erap- 
findungen. Das alles verrat einen Aufbau, der einer hirnphysiolo- 
gischen Betrachtungsweise viel groBere Aussichten eroffnet als einer 
psychologischen und der diese Geistesstorung von der groBen Mehrzahl 
der schizophrenen unterscheidet. 

Ich mochte zunachst das auffalligste Symptom, die Sprachstorung. 
einer genauen Besprechung unterwerfen, an deren Spitze das folgende 
Beispiel, das die Patientin auf der Hohe der Erkrankung darbot [43], 
gestellt sei: 

Himmlisches Gelaute (es lautet gerade) o litt dill still wa gil hill 
dill wa gill. Gill lig will lieser hier neu sell gepeul lock er rung. — Wohl 
auf hier will Kameradil kill dill zu Pferd (vorgesagt war: wohlauf 
Kameraden.. .) in die feigl Keit geril lill sill will wick, Kill dann will, 
leuchtes gill lick. Heul mal, gute Nachtill (Antwort auf Gutenacht) 
gill, dill lik still till, neug ill will leuf, will ick nill Tag, o will ick solch 
euk. Knill leug nill weig bloB leum lig ging froh leucht neul. Heuls 
kleul lill teil leuch. — 

Es handelt sich um an sich gut artikulierte, in rhythmisch skandieren- 
der Art, manchmal etw r as gedehnt, wie gegen einen Widerstand vorge- 
brachte sprachliche Gebilde. Sie treten jetzt nur auf Anregungen, nicht 
mehr, wie es im Anfang der Fall war, auch als Ausdruck eines spon- 
tanen Dranges auf. Indessen hat man nicht selten den Eindruck, daB 
der einmal eingeleitete Sprechakt nicht so leicht wieder zum Stillstand 
kommt, das ist besonders in Affekten der Fall, sei es, daB sie primar 
zum Ausdruck drangten, sei es, daB sie sekundar in Form einer Rat- 
losigkeit die Selbstwahrnehmung der sprachlichen Entgleisung be- 
gleiteten. Im allgemeinen werden Satze gebildet mit deutlicher Inter- 
punktion. Sie sind je nach der vorhandenen Stimmungslage in einen 
ruhigen, erregten, weinerlichen, verzweiflungsvollen Tonfall gekleidet., 
Ihr groBter Teil ist einsilbig, hat einen fremdartigen Klang und fallt, 


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da er mit verstandlichen Worten keine erkennbare Beziehung hat, 
unter den Begriff der sinnlosen Neologismen. Ab und zu aber kommt 
zwischendurch ein verstandliches Wort fehlerlos, oder nur durch An- 
hangung oder Einschiebung von Silbenneubildungen entstellt, zum 
Vorschein. Das Aufgreifen vorgesprochener Worte — unter Umstan- 
den in echolalischer Form — scheint gegeniiber der Spontansprache 
etwas erleichtert, bald aber brechen sich die Neubildungen wieder 
Bahn, so daB eine sprachliche Verstandigung im ganzen ausgeschlos- 
sen ist. Die Neubildungen zeichnon sich, wenn auch unter sich ver- 
schieden, durch ihren Gleichklang aus; reihenlang herrscht das i, das 
dann voriibergehend durch den Diphthong eu abgelost wird. Im Laufe 
der Zeit komrnen wohl auch identische Wiederholungen vor, im all- 
gemeinen aber handelt es sich um die Abwandlung eines oder auch die 
Durchflechtung zweier Themen, z. B. knill-leug-nill-weig. Neben den 
gleichklingenden schieben sich ab und zu auch ganz abweichende 
Gebilde ein, die sich aber dann nicht behaupten. Die das Sprechen 
begleitenden Ausdrucksbewegungen haben vielfach diesem verwandte 
Ziige. Grimassen wie Gestikulationen sind von einem langsamen, 
dem Rhythmus des Sprechens annahernd angepaBten Ablauf, wodureh 
von vornherein der Gedanke an ihre gemeinsame Entstehungsweise 
nahegelegt wird. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daB sich die 
Patientin ihrer Unfahigkeit zu verstandlichem Ausdruck bzw. ihrer 
Entgleisungen bewuBt wird. Das ergibt sich aus der begleitenden, oft 
in Verzweiflung ausartenden Ratlosigkeit [11, 24, 44], aus gelegentlich 
in hochstem Affekt sich bahnbrechenden AuBerungen, wie ,,Helfen Sie 
mir doch“, endlich aus der nachtriiglichen eigenen Beschreibung, die 
die Patientin beim Nachlassen [18, 69] der Stoning gibt. Die Entwick- 
lung dieser sonderbaren Sprachstorung geht anscheinend bis in den 
Beginn der Krankheit zuruck, sie stellt eine Steigerung der sich schon 
zur Zeit der Aufnahme unter die zusammenhanglosen AuBerungen 
mischenden unverstandlichen Neubildungen dar. Und es ist bemerkens- 
wert, daB schon im Anfang die langsame Sprechmanier, der pathetische, 
von gewaltsamen Atembewegungen unterbrochene Tonfall hervortrat 
[1, 4], aus der sich spater das rhythmische Skandieren und ein fremd- 
artiger Klang entwickelte. In jener Zeit hatte diese Produktion noch 
nicht zwingenden Charakter, zwischendurch sprach die Patientin nor¬ 
mal [8], so daB immerhin eine Anzahl von Fragen richtig beantwortet 
wurden und eine leidliche Verstandigung mbglich war — soweit die 
allgemeine Zusammenhanglosigkeit des Denkens es zulieB. Dagegen 
stand damals die sprachliche wie iiberhaupt die motorische Produktion 
viel mehr als es zur Zeit des obigen Beispiels der Fall war, unter dem 
Zeichen einer spontanen Erregung, die sich unter anderem auch in 
unmotiviertem Heben und Senken der Stimmstarke, in sonderbarem 


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tlber psychomotorische Aphasie und Apraxie. 


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Tonfall und dergleichen zu erkennen gab, sowie in dem unvermittelten 
Wechsel zwischen Rededrang und Mutismus. DaB auch schon damals 
die sprachlichen Entgleisungen als solche bewuBt wurden, davon zeugte 
von vornherein der gequalte Eindruck der Patientin, die sichtlich be- 
strebt war, sich verstandlich zu machen [6]. Durch paroxysmale Stei- 
gerungen unzweckmaBiger Mitbewegungen im Bereich der am Sprechakt 
beteiligten Muskeln wird dann voriibergehend das Sprechen vollkommen 
vereitelt [13, 14.] Auf diese Zustande wird noch in anderem Zusammen- 
hang naher einzugehen sein. Unter gewaltigen Anstrengungen brechen 
sich dabei schlieBlich die sprachlichen Impulse Bahn, wobei neben ver- 
standlichen, aber oft zusammenhanglosen Worten [14] auch die Silben- 
reihen wieder erscheinen. Ein eintiigiges Nachlassen der Storungen 
[18] fiihrt zu ganz normalen Leistungen, bald aber ist der alte Zustand 
wieder hergestellt. Allmahlich wird die sinnlose Silbenproduktion 
immer zwingender, teils in Form stundenlang fortgesetzter Reihen, 
teils auch als Anhangsel oder Entstellung richtig angefangener Worte, 
z. B. Benennungen [31]. Die Abwandlungsbreite der Neubildungen 
ist anfangs und gegen das Ende hin groBer als auf der Hohe der Storung, 
neben einsilbigen erscheinen auch zwei- und mehrsilbige [33, 57]. Sehr 
eigenartig ist das Verhalten beim Lesen, wobei unter Versagen bei 
fixierter Aufmerksamkeit gleichsam unabsichtlich auch schwierigere 
Wortverbindungen zwischen den Silbenreihen zutage treten [35, 37]. 
Das Sprachverstandnis ist nicht iiber die vorhandene Inkoharenz 
hinaus gestort. Wortamnesie besteht, wie eine Anzahl richtiger Ansiitze 
zu Gegenstandsbenennungen erkennen laBt, nicht, doch komrat es meist 
zu den ublichen Entgleisungen [31], z. B. Klingel: klings-kling, Nase: 
nesil. Allmahlich treten die Silbenreihen, grammatikalisch geordnet, 
nur noch reaktiv auf [39]. Die Betonung laBt eine bestimmte Absicht 
erkennen, wahrend die Zahl der verstandlichen Wortbildungen 
immer geringer wird. Nach etwa 2 Monaten tritt unter Schwankungen 
eine gewisse Besserung zutage. Entgleisungen treten aber ganz unver- 
mittelt wieder auf [52]. Und es lassen sich gewisse Konstellationen 
erkennen, die sie herbeifiihren: Affekte, Ermiidung, besonders schwie- 
rige Anforderungen, z. B. schwierige Testworte [66]. Bei Zuriicktreten 
der Silbenneubildungen treten sonderbare AuBerungen auf, von denen 
sich nicht entscheiden laBt, inwieweit sie gedanklicher Inkoharenz 
oder sprachlichen Entgleisungen ihre Entstehung verdanken [62, 65]. 
Zwischen im allgemeinen richtigen Worten streuen sich auch kompli- 
zierte Neubildungen wie aufgespozelt, Spelitzung ein. Jetzt geht auch 
das Nachsprechen ohne Storung vonstatten, abgesehen von besonders 
schwierigen Worten [66]. Das Lesen geht formal besser, aber zu einem 
vollen Verstandnis des Sinnes kommt es, wohl infolge der Absorption der 
Aufmerksamkeit durch die motorische Leistung, nicht. Allmahlich 


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gewinnt man den Eindruck, als ob die Patientin durch eine gewisse 
eigene Anstrengung den Zwang zum Entgleisen iiberwinden konne [61]. 
Im Oktober ist trotz Fortbestehens der allgemeinen Muskelstarre die 
Spraehe gelaufig und frei von pathologischen Bestandteilen. Zugleich 
ist nun auch die Inkoharenz beseitigt, so daB der Eindruck hervorgerufen 
wird, als ob diese vorwiegend sprachlich bedingt gewesen sei. 

Wie ist diese eigentiimliche Sprachstorung zu deuten? 

1. Sprachstorungen kommen bei der Encephalitis epidemica nicht 
selten vor, sie stehen im Zusammenhang mit der extrapyramidalen 
Lokalisation des Krankheitsprozesses und entsprechen im allgemeinen 
denen, die man bei Chorea und Athetose als Folgen des Interferierens 
unwillkiirlicher Impulse mit den corticalen gelegentlich begegnet. 
Dergleichen findet sich hier ebensowenig wie etwa Spontanlaute fau- 
chender, glucksender, schnalzender Art. Es kann hochstens die Frage 
sein, ob man etwa den skandierenden Rhythmus, der in Begleitung 
der athetoiden Handbewegungen und tonischen Grimassen zu beobach- 
ten ist, auf den extrapyramidalen Anted beziehen kann. Jedoch stehen 
dieser Deutung gewichtige Griinde entgegen. Auch die Begleitbewe- 
gungen sind in Wirklichkeit, wie wir spater sehen werden, nicht als 
athetotisch aufzufassen, vor allem aber zeigt sich, daB zur Zeit, als die 
Sprachstorung ihre Hohe erreichte, sichere dystonische Syndrome nicht 
vorhanden waren, wahrend gerade ihre Riickbildung sich gleichzeitig 
mit der fortschreitenden Ausbildung striarer Erscheinungen vollzog. 
Es widerspricht auch der Erfahrung bei extrapyramidalen Storungen, 
daB sie einem so unvermittelten Wechsel ausgesetzt sind, wie es hier 
der Fall ist und besonders auffalhg in den Lesebeispielen zum Ausdruck 
kommt. Gberhaupt ist das rhythmische Skandieren vorwiegend an 
die eigenartige Silbenerzeugung gebunden und erweist sich auch da- 
durch als ein psychomotorischer Rest, ebenso wie durch seine Entstehung 
aus der pathetischen, durch tiefe Atemziige die Worte und Silben 
trennenden Sprechmanier, die anfanglich den psychomotorischen 
ErregungsziLstand begleitete. 

2. GroBere Schwierigkeiten ergeben sich, wenn wir jetzt dazu iiber- 
gehen, die Sprachstorung unter dem Gesichtspunkt einer aphasischen 
zu betrachten. Einer solchen wiirde unser Fall insofern entsprechen, 
als bei Fehlen von Lahmungserscheinungen im Gebiet der Sprach- 
muskeln und bei vorhandener Absicht sprachlicher Verstandigung 
die letztere doch versagt. In erster Linie ist dabei an eine in das Gebiet 
der motorischen Aphasie fallende Storung zu denken. Dafiir konnten 
auch gewisse Begleiterscheinungen, das Grimassieren und iibertriebene 
Gestikuheren, der Eindruck muhsamen, wie gegen einen Widerstand 
erfolgenden Sprechens, die erhaltene Einsicht mit der ihr entsprechen- 
den Affektbegleitung, die gelegentliche Durchbrechung der Entglei- 


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t)ber psychomotorische Aphasie und Apraxie. 553 

sungen durch Ausrufe der Verlegenheit oder Verzweiflung sprechen. 
Ein Teil dieser Begleiterscheinungea kann allerdings verschieden 
bewertet werden, wichtiger aber sind die Unterschiede der parapha- 
sischen Erzeugnisse. Zwar beobachtet man, wie hier, auch bei der moto- 
rischen Aphasie amorphe Gebilde, aber es sind Triimmer zerstorter 
Wortengramme, die entweder als allein noch vorhandene Reste immer 
wieder in gleicher Form auftreten oder auch an einzelne riclitig gebil- 
dete Worte sich anhangen oder sich in sie einschieben; hier aber handelt 
es sich um Neubildungen, die zwar wie jene ein Element des Haftens 
enthalten, aber doch einem fortlaufenden Wechsel unterworfen sind, 
wie etwa die Abwandlung eines musikalischen Themas. Das spricht 
schon fur eine ziemlich gute Leistungsfahigkeit des expressiven Appa- 
rates, die aber noch mehr durch das gelegentliche Auftreten selbst 
schwierigerer Wortverbindungen bewiesen w r ird. Ja selbst auf der 
Hohe der Storung kami man bei Heranziehung aller gelegentlicher 
Leistungen wohl sagen, daI3 potentia eigentlich jedes Wort fehlerlos aus- 
gesprochen werden kann, wenn sich nicht die eben auf einem anderen 
Gebiet liegenden Storungen geltend machen. Das sind Verhaltnisse, 
die mit keinem Stadium einer motorischen Aphasie vereinbar sind, 
auch wenn man sich nicht auf den friiher ofter vertretenen Standpunkt 
stellt, daB die letztere im allgemeinen eine mit kleinen Einschrankungen 
totale Storung sei. Dazu kommt noch ein sehr beachtenswerter Unter- 
schied in der Sprechneigung, die bekanntlich bei der Brokaschen Form 
sehr gering ist, hier dagegen gesteigert, im Anfang als spontaner Rede- 
drang spater mindestens als ein „Nichtaufhorenkbnnen“ ( Heibronner ). 
SchlieBlich ist auch das plotzliche Nachlassen der Storung bis zur voll- 
kommenen Beherrschuung der Sprache und die Form der Riickbil- 
dung, die ein standiges Abwechseln zwischen fehlerlosem Sprechen und 
Riickfall in die friihere Manier darstellt, mit keiner Riickbildungsart 
motorischer Aphasie zu vergleichen, wenn auch zugegeben ist, daB 
bei der letzteren ein plotzliches Zuriicktreten aller Erscheinungen 
in seltenen Fallen beobachtet wird. Wollten wir aber neben der herd- 
formigen auch die einer diffusen Hirnschadigung entsprechenden 
motorisch-aphasischen Storungen zum Vergleich heranziehen, so ist 
die Cbereinstimmung noch geringer. Bei der Alzheimerschen Krank- 
heit, die bekanntlich zu einem fast vblligen Abbau der Sprache fiihren 
kann, werden zwar auch unverstandliche Gebilde von Silbenform 
aneinander gereiht (Logoklonie), aber es handelt sich dabei um rasch 
und wie stammelnd vorgebrachte fliichtige Gebilde undeutlicher Arti- 
kulation und einfachster Zusammensetzung, die in keiner Beziehung 
mit den Neubildungen unserer Patientin iibereinstimmen. 

Halten wir uns an die Form der letzteren, so drangt sich in ungleich 
starkerer Weise die Beziehung zur sensorischen Aphasie auf. Aus einer 

Archiv fUr Psychlatrie. Bil. 08. 36 


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Arbeit Qtiensels 1 ) stelle ich das folgende Beispiel paraphasischen Rede- 
schwalles eines Worttauben neben unser oben angefiihrtes Paradigma: 
For sie bei end er wurd und und es kind wurd und der ist nach acht 

alt und allent.ich doch ol denn ich wurd und werd ich muB wort 

ich wills nicht wehl ward nicht wehr... nach nicht ein miissen matzig 
katzig dreussig ab heut milch nicht olet wolet entschnulet, mut, wenn 
ich mal farhen haben hieret erret isset bisset ich nur bessa nicht. 

Neben der haftenden Wiederholung einzelner Bestandteile fallt 
hier in Ubereinstimmung mit unserem Fall das Abwandeln einzelner 
Themen auf; ein Unterschied vielleicht nicht einmal grundsatzlicher 
Art besteht nur in der bedeutend groBeren Maiuiigfaltigkeit der Gesamt- 
erzeugnisse, die bei jeder Untersuchung sich wueder ganz verandert 
zeigten, wahrend eine Ubereinstimmung wdeder in dem Rededrang 
gesehen werden kann, sowie darin, daB neben den sinnlosen Silben- 
folgen gelegentlich eine Anzahl verstandlicher Worte auftauchen und 
das MaB der Storung — in unserem Falle besonders in der Riickbil- 
dung — einem raschen Wechsel unterworfen ist. Vielleicht ist diese 
Ahnlichkeit nicht zufallig, sondern auf einigen gemeinsamen Ziigen be- 
griindet, aber schon wenn wir bei der Form bleiben, nimmt sich die 
Produktion in beiden Fallen insofern verschieden aus, als sie bei den 
sensorisch Aphasischen glatt und ohne Selbstwahmehmung der Ent- 
gleisungen erfolgt, wahrend unsere Patientin gegen die letzteren unter 
alien Zeichen der Qual zu ringen scheint. Der grundlegende Unter¬ 
schied ist aber darin zu sehen, daB die Paraphasie im Quensela chen 
Falle Begleiterscheinung einer Worttaubheit ist, w'ahrend in unserem 
sich keine Beeintrachtigung des Sprachverstandnisses nachweisen 
laBt, die nicht durch die vorhandene Inkoharenz ausreichend erklart 
ware. Einfachere Auf f order ungen woirden im allgemeinen befolgt, 
Fragen zutreffend beantwortet und Gegenstande benannt, soweit es 
die Ausdrucksstorang zulieB. Selbst auf der Hohe der letzteren verriet der 
wechselnde Tonfall das Eingehen auf den Sinn vorausgegangener Fragen. 
Immer wieder findet man das Ankniipfen an irgendeine sprachliche 
Anregung, sei es einen GruB, sei es an eine angefangene Gedichtzeile 
oder eine gelaufige Reihe [2, 21, 30, 41], niemals eine Herabsetzung 
der akustischen Ansprechbarkeit; femer kann auch gegen die An- 
nahme der Wernickeschen Aphasie ebenso wie gegen die Brokasche 
die restlose und plotzliche mit dem Gesamtzustand gleichlaufende 
Remission [18] geltend gemacht werden, wobei die Patientin zwar 
von der Erschwerung des Ausdrucks, nicht aber von einer solchen des 
Verstandnisses berichtet, sowde schlieBlich die Art der endgiiltigen 
Ruckbildung mit dem eigenartigen Schwanken zwischen fehlerfreier, 

*) Quensel: Erscheinungen und Grundlagen der Worttaubheit. Dtsch 
Zeitschr. f. Nervenheilk. 35. 


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Cber psychomotorische Aphasie und Apraxie. 


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die Concreta miihelos umfassender Ausdrucksweise und dem voll- 
standigen Ruckfall in die friiheren Silbenreihen. Es kann alles in allem 
betont werden, daB zu keiner Zeit der klinischen Beobachtung der 
Verdacht einer Worttaubheit auftauchte, so daB die Auseinandersetzung 
mit dieser Moglichkeit nur durch die t)bereinstimmung der sprach- 
lichen Neubildungen erfordert wird. 

3. Werden wir, 'nachdem eine Zuriickfiihrung der eigenartigen 
Sprachstorung auf eine Erkrankung der Rindenzentren expressiver 
wie perzeptiver Art m. E. ausgeschlossen werden konnte, auf einen 
noch hoher gelegenen Schadigungsort hingewiesen, so betreten wir 
sogleich ein Gebiet, in das bisher unter hirnpathologischen Gesichts- 
punkten kaum die ersten Ftihler vorzustrecken moglich ist, das vielen 
schon als eine Domane der Psychopathologie gilt. Ich sehe dabei ab 
von den sogenannten transcorticalen Aphasien des Lichtheim-Wernicke- 
schen Schemas, die wohl nur Intensitatsstufen oder Verlaufsstadien 
der corticalen Formen darstellen. Ihre Symptomatologie bietet mit der 
hier vorhandenen ebensoviel oder wenig Ubereinstimraendes wie die 
bereits besprochenen Formen. Die Frage ist, ob in lokalisatoriseher 
Bedeutung des Wortes, ,,jenseits“ der sogenannten, allerdings in ihrer 
Umgrenzung unsicheren Sprachzentren noch weitere Etappen im Ab- 
lauf der zur Sprache fiihrenden Erregungen vom hirnpathologischen 
Gesichtspunkt aus der Forschung zuganglich werden konnen. Zweifellos 
miiBten diese Etappen im Bereich der psychomotorischen Bahn der 
Sprache ( Wernicke) liegen, d. h. des Substrates, dessen Erregung die 
Ubersetzung gedanklicher Vorgange in ihren sprachlichen Ausdruck 
entspricht. Haben wir im bisher Ausgefiihrten hauptsachlich einen die 
anderen Moglichkeiten ausschlieBenden Weg beschritten, so sollen 
hier die positiven Merkmale erortert werden, die fiir den Sitz der Sprach¬ 
storung imPsychomotoriumsprechen. Das sindfolgende: die sprachlichen 
AuBerungen sind besonders in den ersten Abschnitten des Krankheits- 
verlaufes offensichtlich Begleiterscheinung einer allgemeinen psycho¬ 
motorischen Erregung. Form und Inhalt des Vorgebrachten spricht 
in seinem iiberwiegenden Anted fur den selbstandigen, von jedem 
zweckvollen Mitteilungsbedurfnis losgelosten Charakter. Hinsichtlich 
der Ausdrucksform ist auch das unmotivierte Heben und Senken der 
Stimmstarke, das Verfallen in Singen und schrilles Schreien, die lang- 
same pathetische Sprechweise. die sich jeweils besonders mit der sinn- 
losen Silbenneubildung verkniipft, die gleichmaBige Zwischenschaltung 
tiefer Atemziige, woraus sich spater eine Art Rhythmus entwickelt, 
das gelegentliche Vorbringen von Worten in einer prustenden und fau- 
chenden Art, kurz auf die Begleiterscheinungen zu verweisen, die wir 
in ihrer Gesamtheit in die Gruppe der Spreehmanieren [25] einreihen 
diirfen. Und mit den Zeichen selbstandiger sprachlicher Erregung 

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sehcn wir solche dor Hemmung in Form von Mutismus abwechseln, 
die wicder Teilerscheinung allgcmeiner Hemmung darstellen. In glei- 
cher Weise tragt der Inhalt des Vorgebrachten das Geprage jener 
Dissoziation, die wir — ohne dab es moglich ist, den Anteil rein gedank- 
licher Inkoharenz und sogenannter Sprachverwirrheit zu unterschei- 
den — auf der Hcihe der psychomotorischen Erregungen antreffen. 
Von vornherein und spater immer deutlicher und ausschlieblicher 
wurde das Aneinanderreihen silbeniihnlicher Gebilde beobachtet, die 
weniger den Charakter erkennbarer Wortbestandteile als den von freien 
Neubildungen trugen. Gerade an ihnen haftet, wie schon bemerkt, 
die rhythmisch-skandierende Sprechweise auch dann noch, als die 
Spontanerregung aufgehort hat und die Sprache lediglieh der Mittei- 
lungsabsicht dient. Es mag dahingestellt bleiben, inwieweit das eigen- 
artige Abwandeln gleiehbleibender Kernbestandteile, in denen ein 
perscveratorisches Moment verkorpert ist, urspriinglieh als eine reine 
Wirkung der Eigenerregung des Sprachgebiets oder ahnlich den Ab- 
wandlungen der Pseudospontanbewegungen durch willkiirliche Impulse, 
entsprechend den sogenannten Ersatzbewegungen Wernicke s, aufzu- 
fassen ist. Jedenfalls ergibt sich spater aus der Einkleidung der Neu¬ 
bildungen in die Tonfarbe eines verstandlichen Affektes ebenso wie 
aus ihrer grammatikalischen Ordnung die Mitwirkung einer iiberge- 
ordneten, aber zu volliger Entgleisung verurteilten Mitteilungsabsicht, 
womit eigentbch erst die Voraussetzung einer aphasischen Stoning, 
welcher Art sie auch sein mag, erfiillt ist. 

In kurzer Zusammenfassung des Gesagten lassen aus unserem 
Krankheitsfall sich die folgenden Merkmale der psychomotorischen 
Aphasie ableiten: 

1. Bei erhaltener Sprechfahigkeit und intaktem Wortverstandnis 
und trotz vorhandener Verstandigungsabsicht ist der sprachliche Aus- 
druck schwer beeintriichtigt oder ganz vereitelt. 

2. Die Storung wird in erster Linie durch eigenartige sinnlose Neu¬ 
bildungen hervorgerufen, zu denen sich noch an sich richtig gebildete, 
aber im Zusammenhang vollig unvcrstandliche Entgleisungen vom 
Charakter der Sprachverwirrtheit gesellen. 

3. Das Entgleisen vollzieht sich zwangsmaBig, d. h. gegen den Wider- 
stand und unter erhaltener Selbstwahrnehmung des Patienten. An 
sich richtig begonnene Worte werden zuweilen durch das Dazwischen- 
kommen der Neubildungen entstellt. 

4. Die Storung in ihrer Gesamtheit: die Neubildungen und die u. U. 
daran gebundene auffallende Sprechweise ist Bestandteil bzw. Rest 
eines selbstandigen, im Gefolge einer allgemeinen psychomotorischen 
Erregung aufgetretenen Sprechdranges. 

5. Die Rdckbildung vollzieht sich Hand in Hand mit dem Abklingen 


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t)ber psychomotorische Aphasie und Apraxie. 


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der (ibrigen psychomotorischen Storungen, wobei gewisse Konstella- 
tionen (Ermiidung, Affekte) die Gelegenheit zu Riickfallen geben. 

Obgleich das innere Wort im Prinzip intakt ist, tritt auch das Reihen- 
und Nachsprechen, wenn es auch eine Erleichterung bietet [60], unter 
den EinfluB der Entgleisungen [32]. Lesen wie Schreiben wird auf der 
Hohe der Storung wie alle schwierigeren Leistungen iiberhaupt abge- 
lehnt. Das selbsttatige, d. h. ohne scharfe Aufmerksamkeitseinstellung 
erfolgende Lesen bildet zuweilen eine eigenartige, das Aussprechen 
selbst schwieriger Wortverbindungen ermoglichende Erleichterung. 
Eine weitgehende Aufmerksamkeitsstorung gab auch spater bei fehler- 
losem Lautlesen zu einer scheinbaren Storung im Erfassen des Sinnes 
des Gelesenen Veranlassung. Wir finden hier diesel ben Grenzen wie 
fur das Sprachverstandnis, das mit dem Ausfall psychischer Gesamt- 
leistung gleichlaufend erschien. 

Ein Teil der genannten Kennzeichen ist uns von den bekannten 
Formen der Aphasie gelaufig: die Paraphasien haben Beziehungen 
zur sensorischen, den Eindruck des ZwangsmaBigen der Entgleisungen 
und die erhaltene Einsicht finden wir bei raotorischer Aphasie, die 
Schwankungen der Leistung, die Haftneigung sind alien Formen ge- 
meinsam. Hierin driickt sich ein gemeinsamer hirnpathologischer 
Grundzug aus, ohne daB die Sonderstellung der ,,psychomotorischen 
Aphasie“, die sich durch positive und negative Merkmale aus jeder 
der bekannten Formen heraushebt, dadurch beriihrt wird. Man wird 
natiirlich nicht behaupten konnen, daB die an einem einzelnen Fall 
festgestellten Kennzeichen fiir die „psychomotorische Aphasie" iiber- 
haupt maBgebend seien. Es ist wahrscheinlich, daB diese Bezeichnung 
fiir eine Gruppe von Storungen zutrifft, die in sich die Moglichkeit 
mannigfacher Variationen triigt. 

Im groBen und ganzen ahnlichen Erwagungen unterliegen die iibrigen 
motorischen Symptome unserer Patientin. 

1. Der extrapyramidale Anleil. Wenn auch vielleicht nicht jede 
einzelne Bew r egung hinsichtlich ihrer Zugehorigkeit sichergestellt wer- 
den konnte, so heben sich doch die choreatischen an den in der Kran- 
kengeschichte hervorgehobenen Merkmalen einschlieBlich der Hypo- 
tonie und Neigung zu Mitbewegungen zumeist eindeutig genug heraus. 
Nochmals sei hier betont, daB die Durchfleehtung willkiirlieher und 
psychomotorischer Impulse mit den choreatischen, die in den Ence- 
phalitisfallen jener Epidemie nicht selten vorkam, zu sehr eigenartigen, 
eben nur unter diesem Gesichtspunkt verstandlichen Bewegungsformen 
[22], wie sonderbare Verbeugungen, tanzelnde Schritte, groteske Aus- 
drucksbewegungen fiihrten. Auf die hierin liegenden Verwicklungen 
mochte ich an dieser Stelle nicht niiher eingehen. Das von vornherein 
beobachtete auBerst lebhafte Grimassieren, Gestikulieren, Zungen- 


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G. Stertz: 


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walzen, Kopfwackeln konnte, rein als Erscheinungsform genommen, 
auch in die choreatische Gruppe gehoren, die weitere Entwicklung 
wies aber diesen Symptomen in der Hauptsache eine andere Bedeutung 
zu. Zu einer Zeit namlich, als die choreatische Unruhe bereits ganz 
in den Hintergrund getreten war, sehen wir die gleichen Zwangsbe- 
wegungen dieses Muskelgebiets in Form kurzer Paroxysmen aus be- 
sonderen Anlassen auftreten. 

Dem choreatischen Bestandteil des Gesamtzustandes in der ersten 
Zeit steht in der zweiten Halfte die Entwicklung des hypertonisch- 
akinetischen Syndroms gegeniiber, entsprechend einer auch sonst bei 
der Encephalitis epidemica vorkommenden Aufeinanderfolge. Aber 
hier findet sich wieder eine unentwirrbare Durchflechtung mit der 
psychomotorischen Akinese. Der maskenhafte Gesichtsausdruck, die 
allgemeine Bewegungsarmut, die gebundene Haltung, die gelegentliche 
Verspatung und Nachdauer der Innervationen finden wir bei beiden 
Formen der Akinese in gleicher Weise, und das kann selbst fiir die 
Pulsionserscheinungen, wenigstens in der anfanglich abortiven Form 
[59] und fiir die gesteigerte Absonderung der Talg- und SchweiBdriisen 
gelten. Sie sind haufig beim Parkinsonismus, aber auch dem schweren 
katatonischen Stupor nicht fremd. Jedoch finden wir in der ersten Phase 
des akinetischen Verhaltens Symptome, die siclier auf ihre psycho- 
motorische Entstehungsweise hindeuten: das mindestens zeitweise 
stuporose Gesamtverhalten, die Echopraxie und Echolalie, die Kata- 
lepsie im eigentlichen Sinne, manche Manieren [54, 56], sowie gewisse 
triebhafte Handlungen (die Art des Essens, die kleinen Tatlichkeiten). 
Auf der anderen Seite fehlt zu jener Zeit noch jede Andeutung von eigent- 
licher Rigiditat [58]; so wird man nicht fehlgehen, wenn man dieses 
Stadium der Bewegungshemmung in der Hauptsache als psychomo- 
torisch bedingt auffaBt. Von Anfang September an aber werden deut- 
liche Merkmale striarcr Rigiditat in der iiblichen Verteilung bemerkt. 
Patientin erinnert in ihrer Haltung nun ganz an Paralysis agitans und 
auch die Pulsionserscheinungen sind nunmehr eindeutig. Fiir Unter- 
scheidung der beiden Erscheinungsreihen spricht nicht zum wenigsten 
der Umstand, daB in einem gewissen t)bergangsstadium [68] kurze 
Riickfalle stuporoser Versunkenheit auch das ganze, vorher dauernd 
vorhandene katatonische Bild voriibergehend wieder aufleben lassen, 
natiirlich in unloslicher Durchflechtung mit dem striaren, wahrend am 
Ende die striaren Symptome alles iibrige iiberdauern. Daraus geht 
hervor: nicht die augenblickliche Erscheinungsform, sondern erst die 
Beriicksichtigung von Entwicklung und Verlauf gestattet haufig eine 
Trennung der beiden Symptomreihen, eine diagnostische Schwierig- 
keit, die wohl nicht zufiillig ist, sondern in dem Wesen der Dinge ihren 
Grund hat (s. u.). 


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Cber psychomotorische Aphasie und Apraxie. 


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2. Psychomotorische Phanomene beherrschen, auch abgesehen von 
den schon erwahnten, im Wechsel hyperkinetischer Erregung und 
stupordser Hemmung das Bild. Hier sei noch auf die zahlreichen Para- 
kinesen (Wernicke) hingewiesen, z. B. die Art, wie Patientin die vorher 
kataleptisch hochgehaltene Hand mit gespreizten Fingern auf den Tisch 
legt, iiberhaupt die Xeigung zu atheoiden Fingerbewegungen geschraub- 
ter, fremdartig aussehender, rhythmisch wiederholter Art, in welche 
die das Sprechen begleitenden Gestikulationen hineingleiten, Bewegun- 
gen, die sich ahnlich wie die Silbenneubildungen fixieren und damit 
zu Stereotypien bzw. Manieren werden. In diese Gruppe miissen auch 
die oben erwahnten Paroxysmen der Gesichts-, Zungen- und Hals- 
rauskulatur eingereiht werden. Kann also iiber den Ursprung aller 
dieser Bewegungserscheinungen kein Zweifel sein, so sind sie doch zum 
Teil, sobald wir ihren EinfluB auf das zweckvoile Handeln ins Auge 
fassen, noch unter einem besonderen Gesichtspunkt zu betrachten. 

3. Die psychomotorische Apraxie. Die Differentialdiagnose der Ent- 
gleisungen wird namlich auf die Spur der Apraxie geleitet, wenn die 
Patientin in dem bereits erwahnten Zustand [13] beim Versuch zu 
sprechen in die wildesten und vertraktesten Bewegungen der regio- 
naren Muskulatur gerat, so daB die Absicht zu ihrer Verzweiflung vollig 
vereitelt wird, oder wenn sie nach langeren qualvollen Spreehversuchen, 
die fast ausschlieBlich zur Erzeugung der Silbenneubildungen fiihren, 
endlich unter Backenaufblasen, krampfhaftem AugenschlieBen ganz 
verstummt. Desgleichen kommt es auf eine apraktische Stoning hinaus, 
wenn durch das Dazwischentreten von sog. Pseudospontanbewegungen 
oder Parakinesen eine zunachst richtig angelegte Zweckbewegung 
entstellt wird. Unsere Patientin bringt auf diese Weise gelegentlich 
das Einfachste nicht fertig, spreizt bei der Aufforderung, die Hand 
zu driicken, die Finger und spannt zwecklos die Oberarmmuskeln an, 
bis nach muhsaraer Uberwindung dieser zwangsmaBigen Fehlinner- 
vationen die Bewegungsabsicht endlich erreicht wird. Sie mbchte 
sichtlich einen Nadelstich abwehren und ist doch aktiv wie passiv im 
Augenblick unfahig dazu. Derartige Storungen fallen insofern unter 
den allgemeinen Begriff der Apraxie, als hier, ohne daB eine Lahmung 
oder eigentliche (tiefere) Koordinationsstorung vorliegt, die Ausfiihrung 
von Zweckbewegungen vereitelt wird. Man konnte nur in manchen 
Einzelfalien die Frage erheben, ob die Bedingungen der Entgleisungen 
bei der Patientin nicht schon innerhalb der gedanklichen Sphare liegen, 
der Inkoharenz zur Last fallen oder von Willensdurchkreuzungen im 
Sinne Kraepelins bedingt sein konnten, und in der Tat ware bei bloBer 
Betrachtung der Phanomene selbst diese Moglichkeit nicht auszu- 
schlieBen. Aber das Gesamtverhalten der Patientin, ihre Verzweiflung 
angesichts der zunachst vergeblichen Bemiihungen, laBt doch die Sto- 


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G. Stertz: 


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rung in einer peripheren (auBerbewuBten) Region der Willensiibertra- 
gung vermuten. Allerdings finden, wie alle psychischen Leistungen, 
auch die Willenshandlungen an der Inkoharenz ihre Grenze, das zeigt 
z. B. das Verhalten beim An- und Ausziehen [64]. Die Ausfuhrung der 
einzelnen, ziemlich verwickelten Teilstrecken der Handlung ist dabei 
durchweg fehlerfrei — was iibrigens ebenso im Widerspruch zur Liep- 
mannschen Apraxie steht —, aber die Art der Entgleisungen spricht 
auch gegen die ideatorische Form, bei der sie sich aus assoziativer Ver- 
wandtschaft der gewollten und tatsachlichen Handlungen, aus Haften- 
bleiben und Aufmerksamkeitsstorungen (Plick) oder aber aus einem 
Durcheinanderwerfen der Teilakte einer zusammengesetzten Handlung 
(Liepmann) erklaren, wahrend sich hier grundsatzlich neue Elemente: 
das Wegwerfen der Jacke, die Einstellung auf eine defekte Stelle usw., 
in die Handlungsfolge einschieben, ein Verhalten, das eben nur aus der 
Inkoharenz sich ergeben kann. Die sonderbaren, im Geleit der vergeb- 
lichen Bemiihungen auftretenden sprachliehen AuBerungen bestatigen 
diese Deutung. 

Gelangen wdr nun dazu, die oben bezeichneten Storungen des Han- 
delns unter dent allgemeinen Gesichtspunkte der Apraxie aufzufassen, 
mit der sie, auBerlich betrachtet, die oft bizarren Teilbewegungen, die 
Entgleisung des Impulses im benachbarten Muskelgebiete, das gelegent- 
liche Unterbleiben der beabsichtigten Innervation gemeinsam haben, 
so diirfen doch auch wieder die Unterschiede gegeniiber den bekannten 
Formen der motorischen Apraxie nicht auBer acht gelassen werden. 
Die letztere ist, wo sie als Herd symptom auftritt, eine im groBen und 
ganzen konstante, den Aufbau der Zweckbewegungen mehr oder minder 
zerstorende Erscheinung, hier aber finden wir, ahnlich wie bei der 
Sprachstorung, die Herrschaft von Konstellationen, die bald das Ver- 
sagen der einfachsten Leistungen bedingen, bald das Zustandekommen 
viel schwierigerer ermoglichen, soweit, daB Potentia wieder jede Hand¬ 
lung ausfiihrbar ist. Somit ist der kinetische Erinnerungsbesitz hier 
im Grunde erhalten, was weder mit der Liepmannschen noch mit der 
gliedkinetischen Form Kleists vereinbar ist, die iibrigens im Prinzip 
einseitig ist, wahrend wir hier eine durchaus verallgemeinerte Storung 
vor uns haben. Wiederum kliiren die Begleiterscheinungen und die 
Entstehungsgeschichte diesen Unterschied auf und notigen uns, die 
aprakti8che Storung unseres Falles im Psychomotorium zu suchen. 
Denn auch hier ist erkennbar, daB sie sich im Geleit einer allgemeinen 
psychomotorischen Storung entwickelt. Dieselben Parakinesen, die 
als Bestandteile bzw. Reste selbstandiger motorischer Erregung auf- 
treten, finden sich in den Bewegungsfiguren der apraktischen Ent¬ 
gleisungen wieder und beide bilden sich Hand in Hand mit den 
Storungen des geamten Psychomotoriums zurtick. 


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tlber psychomotorische Aphasie und Apraxie. 


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Zusammenfassend kann somit der Symptomenkomplex der ,,psy- 
chombtorischen Apraxie“ — soweit seine Ableitung wieder aus einem 
Einzelfall moglich ist — folgendermaBen umgrenzt werden: 

1. Bei Vorhandensein einer bestimmten Bewegungsabsicht und Un- 
versehrtheit des ausfuhrenden motorisehen Apparates, einschlieB- 
lieh des kinetischen Erinnerungsbesitzes, sind die Zweckbewegungen 
allgemein gewissen Storungen unterworfen. 

2. Es handelt sich um ein Entgleisen der Impulse in krampfhafte, 
parakinetische Innervationen der zugehorigen Muskulatur, das zwangs- 
maBig, d. h. gegen den Widerstand der Personlichkeit erfolgt. 

3. Die abnormen, in die Zweckbewegung sich einschiebenden oder 
sie ersetzenden Bewegungen stimmen in ihrer Form mit Bestandtcilen 
bestehender oder Resten vorangegangener psychomotorischer Erregung 
uberein, deren Innervationseigentiimlichkeiten (Verzogerung, tonische 
Beschaffenheit, Nachdauer) sie teilen. 

4. Die Entstehung der p. A. ist daher an den p. m. Symptomen¬ 
komplex als ganzes gebunden, die erstere bildet eine Erscheinungsform, 
u. U. auch einen Restzustand des letzteren. 

5. Sie ist in hohem MaBe von Konstellationen abhangig, kann die 
einfachsten Bewegungen vereiteln und komplizierte fehlerlos ablaufen 
lassen. Sie kann gelegentlich als kurzer Anfall auftreten. 

Die Ergebnisse decken sicli zum Teil mit denjenigen, zu denen Kleist 
bei seinen ,,Untersuchungen an Geisteskranken“ gelangt ist, und zwar 
bezieht sich die Ubereinstimmung besonders auf die aus der psycho- 
motorischen Hyperkinese hervorgegangenen, durch ,,Mitbewegungen“ 
gekennzeichneten Formen, denen Kleist die aus der Akinese entstan- 
denen, durch ,,Mitspannungen“ der regionaren Muskulatur bedingten 
gegenuberstellt. Jedoch wirkt m. E. seine Beweisfiihrung nicht durch- 
weg iiberzeugend. Kleist bezeichnet die p. m. Apraxie als eine Stoning 
der ,,Beweglichkeit“, d. h. der Innervation schlechthin, wahrend bei 
der gliedkinetischen Apraxie, die seiner Meinung nach der p. m. Apraxie 
am nachsten steht, nur die Innervation kinetisch schwieriger Leistungen 
gestort sei, und er meint ferner, daB die p. m. Apraxie auf der Grenze 
zu den Koordinationsstorungen stehe und besonders zur Ataxie der 
Kleinhirnkranken und zur Apraxie der choreatischen Beziehungen habe, 
was er aus der Stbrung im Zusammenspiel von Agonisten und Ant- 
agonisten, Ausbleiben und Schwache der Innervation u. dgl. schlieBt. 
M. E. sind aber gerade diese Vorgange an sich nicht geeignet, die him- 
pathologische Bedingtheit der p. m. Vorgange zu beweisen, eben weil 
sie a priori auch als Willensstorungen im Kraepelinschen Sinne gedeutet 
werden konnten. Auch finden w r ir die Storungen im Zusammen¬ 
spiel von Agonisten und Antagonisten als ,,paradoxe Innervation 4 * 
bei Hysterischen. Kleist will ferner eine obligate innere Beziehung 


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der tonisch-kataleptischen Symptome zur p. m. Apraxie nicht gelten 
lassen. Der Umstand, daB p. m. Akinese und Hyperkinese ohne Apraxie 
vorkommen, sprieht nach seiner Ansicht gegen so nahe Beziehungen, 
und er faBt die p. m. Apraxie als einen hoheren Grad der p. m. Gesamt- 
storung auf, der eben bereits zu den Koordinationsstbrungen t)ber- 
gange aufweise. Das ist aber schon darum nicht stichhaltig, als ein und 
derselbe p. m. Apraktische seine Storung nicht in jedern Augenblick 
hat, sondern zwischendurch komplizierte Bewegungen anstandslos aus- 
fiihrt. Ich habe dem gegeniiber zu zeigen versucht, daB die p. m. Apraxie 
ihr Material an Entgleisungsfiguren aus den Bahnungen und Innerva- 
tionsbesonderheiten der allgemeinen Motilitatsstorung bezieht, daB die 
erstere mithin nur eine Erscheinungsform der letzteren ist, gewisser- 
maBen eine dynamische Proportion zwischen den peripher (d. h. in 
der Peripherie des Psychomotoriums) entstandenen pathologischen 
Bahnungen und einem bestimmt gerichteten Willensimpuls. Eine 
Verschiebung dieser Proportion offnet einmal dem Willensimpuls den 
normalen Weg und laBt ihn ein andermal in die vorgebildeten krank- 
haften Bahnungen einmiinden. Im letzteren Falle tritt also die Apraxie 
(oder Aphasie) in Erscheinung. Es kommt nur, will man eine solche 
Annahme beweiskraftig gestalten, auf den Nachweis an, daB die Be- 
wegungsabsicht — die Voraussetzung einer praktischen Funktion — 
nicht nur tiberhaupt bestand, sondern auch dauemd wahrend des Vor- 
ganges bestehen bleibt und somit der Kranke mit Enttauschung seine 
Fehllei8tung bemerkt. Dieser Nachweis ist aber bei den eigentlichen 
Geisteskranken schwer zu erbringen. Er laBt sich, wie eingangs be- 
tont, eben nur in seltenen Krankheitsfallen durchsichtiger hirnpatho- 
logischer Struktur fiihren. Kann nun in meinem Falle der Nachweis 
als gelungen gelten, daB die aphasisch-apraktischen Entgleisungen und 
die psychomotorischen Spontanbewegungen bzw. -auBerungen iden- 
tisch sind und kann 2. aus dem ganzen Zusammenhang auf die hirnpatho- 
logische, psychologisch nicht erfaBbare Natur der aphasischen und 
apraktischen Storung geschlossen werden, so ergibt sich notwendig 
die weitere SchluBfolgerung, daB auch die p. m. Symptome selbst 
mindestens zu einem Teil hirnpathologischen Charakter haben und sich 
in dieser Beziehung nicht grundsatzlich von den bisher bekannten 
aphasischen und apraktischen Symptomen unterscheiden. 

Wir werden nun weiter fragen miissen, inwieweit sich diese Unter- 
suchungsergebnisse verallgemeinern lassen, so daB sie zur Erklarung der 
motorischen Phanomene und Sprachstbrungen der Schizophrenen bei- 
tragen konnen. An der formalen Ahnhchkeit wird ja in vielen Fallen 
kein Zweifel bestehen konnen. Die ausgezeichneten Krankenbeobach- 
tungen Kleists bringen eine Fiille von Material dafiir bei. Ist nun der 
Einwand der Psychologen gerechtfertigt, daB es sich dabei nur um 


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t)ber psychomotorische Aphasie und Apraxie. 


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Analogien der Erscheinungsform handelt? Zur Erlauterung sei hier 
ein Beispiel schizophrener Sprachstorung, das dem Blenlerschen Lehr- 
buch entnommen ist, derjenigen meiner Patientin gegeniibergestellt. 
Es lautet: guvesim ellsi baschi was wie emschi wiisel diimte rischi 
giiwe scharae brisell engwit riihsel schame barsel giiwe emschi rahsil 
biigin raschwi emso gluwi riillsill tiigsee biihsee ralit schiigen write 
biiser. 

Die Ubereinstimmung der beiden Sprachproben ist bis in die meisten 
Einzelheiten so groB, daB die oben gegebene symptomatologische 
Darstellung auch hier gelten konnte. Es ist allerdings nicht ersicht- 
lich, wie sich die Sprachstorung dieses Hebephrenen entwickelt hafr, 
ob auch er die Silbenreihen in einer ahnlichen Sprechmanier und, was 
an sich nicht wahrscheinlich ist, gegen einen inneren Widerstand vor- 
zubringen pflegte. Aber selbst der letztgenannte Unterschied konnte, 
wenn er in diesem Falle vorhanden ware, in anderen, allerdings seltenen 
Fallen sich verwischen, in denen die Patienten uns von dem Unwill- 
kiirlichen und sogar peinlich Empfundenen der motorischen Entglei- 
sungen berichten. Es sei hier nur an die Schilderungen Kandinsky8 
erinnert. Das Vorhandensein oder Fehlen solcher reaktiver Begleiter- 
scheinungen ist von dem Grade der psychischen Gesamtstorung abhangig, 
Art und Ort der Entstehung der p. m. Symptome wird dadurch gar 
nicht beriihrt. Nun kommt noch ein zweites Moment hinzu: in unserem 
Falle besaB die Sprachstorung wenigstens auf ihrer Hohe einen nicht 
nur zw'ingenden, sondern auch ziemlich konstanten Charakter, sie wurde 
nur ausnahmsweise von verstandlichen AuBerungen durchbrochen, bei 
den Schizophrenen aber iiberrascht gerade ein launischer Wechsel, 
der ganz den Eindruck willkiirlicher EinfluBnahme des Patienten 
macht. Vergleichen wir allerdings Riickbildungsstadien unseres Falles 
mit den wechselvollen Erzeugnissen Schizophrener, so wird dieser 
Unterschied schon weniger scharf. Wir sehen dann auch in dem ersteren 
einen raschen Wechsel zwischen verstandlichen Satzen und sinnlosen 
Silbenreihen, wobei allerdings vielfach erkennbare Konstellationen: 
Affekte, Ermiidung u. dgl. eine Rolle spielen, die wir bei den Schizo¬ 
phrenen meist vermissen. Andererseits ist in unserem Falle wiederum 
eine Beeinflussung der Storung durch den Willen in dem Sinne vorhan¬ 
den, daB es der Patientin gelingt, in diesem Riickbildungsstadium den 
Zwang zur paraphasischen Entgleisung zu iiberwinden. Es ware aber 
bei den Schizophrenen die Annahme, daB das Unberechenbare ihrer 
Symptome immer oder auch nur vorwiegend die Folge eines irgendwie 
gearteten Willensvorganges sei, unbeweisbar. Von den Kranken selbst 
erfahren wir jedenfalls dariiber meist nichts. Manche Beispiele schizo¬ 
phrener Sprachverwirrtheit deuten sogar darauf hin, daB auch dabei 
gewisse immer wicderkehrende Konstellationen fiir den Eintritt der 


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Entgleisungen maBgebend sind 1 ), und selbst dort, wo sie uns verborgen 
bleiben, ist ihr Vorhandensein nicht ausgesehlossen. Stehen also der 
hirnphysiologischen Deutung der Sprachstorung z. B. im Bleulerschen 
Falle keine Widerspriiche entgegen, so ergibt andrerseits ihre psycho- 
logische Auslegung gar keinen Sinn, und wollte man selbst eine Art 
spielerisclier EinfluBnahme des Widens darauf annehmen, so wurde auch 
das nicht gegen die Moglichkeit sprechen, daB Ort und Art der Ent- 
stehung der paraphasischen Erzeugnisse in meinem und im Bleuler¬ 
schen Falle dieselben oder nahe verwandt sind. 

Was hier an der Hand eines Beispiels von Sprachstorung ausgefuhrt 
wurde, gilt in gleicher Weise auch von anderen BewegungsauBerungen 
Schizophrener, namentlich solcher, deren Form weit von jeder psycho- 
logischen Erklarungsmoglichkeit entfernt ist, der Parakinesen krampf- 
hafter, der ausfahrenden Bewegungen choreaahnlicher, der Zwangs- 
bewegungen jaktatorischer Art u. a. m. Jedoch gilt das nicht fiir alle 
Falle. Man gewinnt bei der Betrachtung dieser Bewegungsformen 
den Eindruck, daB sie sich in verschiedenen Etappen auf dem Wege 
zwischen Motorium und bewuBter Willensleistung abspielen bis hinauf 
zu den absichtsgemaBen oder komplexbedingten Bewegungen, und da 
sichtlich flieBende Ubergange dabei vorkommen, so kann im einzelnen 
Falle die psychologische Deutung ebensoviel fur sich haben, wie die 
hirnpathologisehe. Eine Manier des Ganges oder eine Wortneubildung 
kann an sich ebenso Begleiterscheinung oder Rest einer p. m. para- 
kinetischen Erregung sein, wie beispielsweise in unserem Falle, in einem 
anderen der Ausdruck eines psychischen Komplexes. Die eine oder 
andere Entstehungsart liiBt sich nicht immer erkennen. Und was fiir 
die Bewegungsformen gilt, ist auch fiir die besonderen Innervations- 
eigentiimlichkeiten maBgebend. Das Abortive oder Verzogerte der 
Innervation, die Unterbrechung oder krampfhafte Verlangerung, die 
paradoxe Innervation kann an sich, wie bereits gesagt, ebensogut 
Willensstorung Kraepelins wie Begleiterscheinung p. m. Apraxie im 
Sinne Kleists sein. Welche von beiden Moglichkeiten zutrifft, kann 
manchmal aus den Gesamtumstanden wahrscheinhch gemacht, seltener 
wohl sicher gestellt werden. Mir kam es darauf an, zu zeigen, daB beides 
an sich moglich ist, ja, daB Kombinationen in dem Sinne vorkommen 
konnen, daB in der Peripherie des Psychomotoriums, also auBerbewuBt 
entstehende Bewegungsformen durch Willenseinfliisse abgeiindert werden 
konnen (entsprechend den ,,Ersatzbewegungen“ Wernickes). 

Wenn wir uns nun dem Versuch einer Lokalisation derartiger Sto- 
rungen zuwenden, so geraten wir alsbald auf unsicheren Boden. Wenn 
es auch zutreffen mag, daB Schadigungen umschriebener Rindenzentren 


i ) Otto: Ein seltener Fall von Sprachverwirrtheit. Dissertation, Munchen 1889. 


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tJber psychomotorische Aphaaie und Apraxic. 


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Ausfalle bewirken, die nur vom physiologischen Standpunkt gewiirdigt 
werden konnen, so ist umgekehrt die Tatsache, daB eine Funktions- 
storung einen ausgesprochen hirnpathologischen Charakter tragt, 
nicht beweisend fiir ihre Lokalisierbarkeit in einem eng begrenzten 
Rindengebiet. Wir konnten in unserem Falle iiber die p. m. aphasischen 
und apraktischen Storungen hinaus auch auf den hirnpathologischen 
Wesenszug der iibrigen motorischen, ja selbst eines Teiles der gedank- 
lichen Entgleisungen hinweisen. Selbstverstandlich kann da von einer 
Lokalisation keine Rede mehr sein. DaB von den Aufbauelementen 
der Sprache und Bewegungen nur vielleicht die periphersten eine schar- 
fere Lokalisierung vertragen, das eigentliche Funktionsgebiet aber 
dariiber hinausreicht, wird dadurch nicht beriihrt, daB die Lasion der 
„Zentren“ den ganzen Mechanismus weitgehend in Unordnung bringen 
kann. Noch weniger kann aber fiir das an die phasischen und prak- 
tischen Regionen im weiteren Sinne sich anschlieBende Psychomo- 
toriuin — auch wenn man annimmt, daB ein Teil der Bestandteile 
beider sogar identisch sein mag —, eine scharfe Lokalisation erwartet 
werden, denn das ,,Engramm“ einer Zweckbewegung (wie die Umsetzung 
eines Begriffes in das zugehorige Wort), dessen peripheres Ende in das 
Motorium einmiindet, wurzelt ja mit seinem zentralen in dem Substrat 
des PersonlichkeitsbewuBtseins. Mit Wernicke konnen wir annehmen, 
daB jenseits derjenigen Abschnitte der Engrammkomplexe, die die 
Verbindung mit dem Motorium vermitteln, alsbald ihre Ausstrahlung 
in weite Hirngebiete beginnt, die jede lokalisatorische Moglichkeit 
ausschlieBt. Das entsprechende Substrat kann daher dureh herdfor- 
mige Erkrankungen in wirksamem Umfange nicht betroffen werden. 
Organische Erkrankungen diffuser Art waren dazu imstande, aber die 
,,Zentren“ selbst und ausgedehnte andere Partien wiirden bei der zwei- 
fellos innigen Durchflechtung der verschiedensten Erregungsvorgange 
in der Rinde in Mitleidenschaft gezogen werden, und somit wiirde 
ein Bild entstehen, das keine scharfe Unterscheidung der einzelnen 
Bestandteile mehr zulieBe. Nur unter dem Gesichtspunkte mehr 
systeraatischer Erkrankungen ist das Hervortreten von Funktions- 
storungen im Bereich der Engrammkomplexe vorstellbar. Ware es 
denkbar, daB auf diese Weise — etwa im Verlaufe einer sogenannten 
Motilitatspsychose — wirklich alle Verbindungen zwischen den hoch- 
sten Etappen der Willensvorgange und dem Motorium unterbrochen 
wiirden, so konnte sich das IFermcAresche Postulat eines Dberganges 
von Geisteskrankheit in Aphasie bzw r . Lahmung erfiillen, das Wernicke 
bekanntlich in einem Falle auch verwirklicht geglaubt hat. Tatsach- 
lich sind die funktionellen Storungen eines so weit verbreiteten Sub¬ 
strates niemals unbeschrankt und vollkommen, und dementsprechend 
sehen wir, daB neben den pathologischen Bewegungen bzw. Ausfallen 


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G. Stertz: 


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die Bewegungsvorgange auch normal ablaufen konnen. Je nach der 
gerade herrschenden Konstellation, d. h. je nachdem die normalen 
oder pathologischen Engramme sich im Augenblick durch leichtere 
Ansprechbarkeit auszeichnen, wird der richtige oder falsche Weg be- 
schritten. Es scheint, daB bei der Schizophrenie Erregbarkeitsver- 
schiebungen innerhalb des p. m. Substrata auBerordentlich leicht vor 
sich gehen — vielleicht ein Rest vorangegangener selbstandiger Erre- 
gungen auf diesem Gebiet —, was sich klinisch in dem Wechselvollen 
und Unbercchenbaren der Erscheinungen zu erkennen gibt. Die starke 
Bahnung derartiger pathologischer Engramme liiBt u. U. einmal alle 
Impulse in sie einmiinden, wodurch sie klinisch den Charakter der 
Perseveration bzw. Stereotypie annehmen. Es wird begreiflich, daB, 
je naher die Stoning dem lokalisatorisch fafibaren Gebiete ist, um so 
mehr, wie in unserem Falle, ihr hirnpathologischer Charakter in Form 
und Begleitumstanden hervortritt, ja daB hier eine t)berlagerung mit 
den eigentlichen apraktischen und aphasischen Symptomen, wenigstens 
in der auBeren Erscheinungsform, stattfindet. 

Kann diese Auffassung mit so weitgehenden Bestrebungen einer 
Lokalisation des Psychomotoriums, wie sie Kleist versucht hat, nicht 
in Einklang gebracht werden, so schlieBt sie doch nicht aus, daB die 
periphersten Abschnitte der p. m. Engramme dort, tvo sie sich dem 
Motorium bzw. dem Sprachgebiet nahern, auch durch Herderkrankung 
dieser Gegenden mit betroffen werden konnen. Ob es sich hier bei immer 
um das Ubergreifen des Prozesses auf weitere Stirnhirngebiete handeln 
muB, wie es nach der Kleistschen Lokalisationslehre zu erwarten ware, 
ist schwer zu entscheiden. Klinisch wird, wie gesagt, die Beteiligung 
der psychomotorischen Sphare bei den aphasischen und apraktischen 
Symptomenkomplexen durch die Uberlagerung der letzteren mit Sym¬ 
ptomen der ersteren w 7 ahrscheinlich gemacht. Die tonisehen und akine- 
tischen Innervationseigentumlichkeiten, die grotesken (parakinetischen) 
Entgleisungen und Mitbewegungen mancher Falle gehoren in dieses 
Gebiet. Kleist# Fall von gliedkinetischer Apraxie war durch eigenartige 
Pseudospontanbewegungen ausgezeichnet. Nach meiner Meinung konnte 
auch der Sprechdrang vieler sensorisch Aphasischer auf diese Weise 
eine Erklarung finden. Ein naheres Eingehen auf diese Fragen wiirde 
hier zu weit fiihren. 

Um noch die Beziehungen der psychomotorischen Symptome 
zu den Bewegungsstorungen der subcorticalen Ganglien und ihrer 
Verbindungen zu streifen, so mochte ich an eine gegenseitige reflek- 
torische Beeinflussung dieser Funktionsgebiete denken. Es kann 
kein Zufall sein, daB in unserem Falle, wie auch sonst nicht selten 
bei der Encephalitis, die Symptome p. m. Stupors mit dem Parkin- 
sonsvndrom, the p. m. Hyperkinese mit der Chorea zeitlich un- 


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Uber psychomotorische Aphasie und Apraxie. 


567 


gefahr zusammenfielen. Handelte es sich hier um zwei voneinander 
unabhangige Vorgange, so miiBten sie in verschiedenen Kombinatio- 
nen auftreten konnen, was in Wirklichkeit nicht vorkommt. Charakteri- 
stisch sind fur einen solchen Zusammenhang die chronisch amyosta- 
tischen Bilder der Encephalitis, die fast regelmaBig auch Zeichen 
einer p. m. Hemmung darbieten. Pflegen doch diese Kranken, von dem 
Rigor ihrer Muskeln durch Scopolamingaben befreit, alsbald ein viel 
lebhafteres Gesamtverhalten an den Tag zu legen. 1st hier der primare 
Krankheitssitz im extrapyramidalen System zu suchen, so kann man 
umgekehrt auch die sekundare Beeinflussung des letzteren bei Fallen 
beobachten, deren primares Erkrankungsgebiet das Psychomotorium 
ist, namlich bei den Motilitatpsychosen. Allerdings ist das ein seltenes 
Ereignis. Nur ausnahmsweise drangt sich etwa bei einem schizophrenen 
Stupor die Beteiligung tieferer Hirngebiete zwingend auf, und noch 
seltener besteht die Schwierigkeit, die Bewegungen der katatonischen 
Erregung von choreatischen zu trennen. Falle wie der unsere weisen 
aber vielleicht darauf hin, daB, je mehr der ProzeB in die peripheren, 
den „Rindenzentren“ benachbarten Teile der p. m. Engrammkomplexe 
eingreift, um so eher das extrapyramidale System gleichsinnig mit 
beeinfluBt wird, und das mag auch fur einen Teil der katatonischen 
Psychosen seine Giiltigkeit haben. Eine innige Verbindung dieser beiden 
Gebiete ist auch vom physiologischen Standpunkt zu erwarten, wenn 
anders, wie ich annehme, das extrapyramidale System ein Organ zur 
Regulierung des Muskeltonus im Sinne der Herstellung einer Bewegungs- 
bereitschaft fur die WiUkiirbewegungen ist. Auf welchem Wege diese 
gegenseitige Beeinflussung geschieht — man kann dabei an eine Ver- 
mittlung durch den Thalamus denken —, ist allerdings noch eine offene 
Frage. 


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Vergleichende psyehiatrische Kritik lieuzeitlicher in- und 
auslandischer Entwurfe zu einem Strafgesetzbuch. 

Von 

Ernst Schultze. 

(Eingegangen am 16. April 1923.) 

Einleitung. 

I. Bestimmungen iiber Zurechnungsf&higkeit: S. 571. 

A. Geistige Mangel: S. 571. 

1. Zureclmungsunfahigkeit: S. 571. 

Bevorzugung der gemischten Methode mit Ausnahme Schwedens. 
— Biologisclie Merkmale. — Psychologische Merkmale. — Sprach- 
liche Bemerkimgen. — Saehverstandigenzwang. S. 579. 

2. Verminderte Zurechnungsfiihigkeit: S. 579. 

Regelung der vm. Z.r.f.k. und der Z.r.u.f.k. — Psychologische 
Kriterien. 

B. Trunkenheit: S. 582. 

Selbstverschuldung: bei vm. Z.r.f.k., — bei Z.r.u.f.k. 

II. Bestimmungen iiber Mafiregeln der Besserung und Sicherung. S. 587. 

A. Geistige Mangel: 

cc) Verwahrung in einer Heilanstalt. 

1. Zureclmungsunfahigkeit: S. 587. 

Anorchiung der Verwahrung durch den Richter. — Psyehiatrische 
Voraussetzungen. — Rechtlich-soziale Voraussetzungen. — 
Abweichimg des schwz. E. — Saehverstandigenzwang. — Ort 
der Verwahrung. — Ausfiihrung der Verwahrung. — Dauer der 
Verwahrung. — Entlassung. 

2. Verminderte Zurechnungsfahigkeit: S. 599. 

Rechtliche Voraussetzungen. — Verhiiltnis zur Strafe: Verwahrung 
nach Strafe, Strafe nach Verwahrung, Verwahrung statt Strafe. 
— Ort der Verwahrung. [Sonderstcllung des schwedischen Ent- 
wurfs. S. 604]. 

P) Schutzaufsicht. S. 607. 

B. Trunkenheit und Trunksucht: S. 609. 

cc) Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt: S. 610. 

Arztliche Voraussetzungen. — Zweck der Verwahrung. — Ort der 
Verwahrung. — Saehverstandigenzwang. — Verwahrung und 
Strafe. — Hochstdauer der Verwahrung. — Entlassung. 

P) Wirtshausverbot: S. 618. 

Voraussetzungen. — Inhalt. 

y) Schutzaufsicht. S. 622. 

SchluB. 


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Ernst Schultze: Vergleichende psychiatrische Kritik neuzeitlicher usw. 569 

Wohl selten 1st es vorgekommen, daB gleichzeitig in so vielen 
Landern ein Entwurf zu einem Strafgesetzbuch vorlag. Wenn es sich 
hierbei nm neue Staaten handelt, wie jetzt Polen oder die Tschecho- 
slowakei, so kann das nicht im mindesten auffallen; denn dab in ihnen 
ein Strafgesetzbuch, und zwar moglichst bald, geschaffen werden muB, 
erfordert schon die Riicksicht auf die Sicherheit des einzelnen wie der 
Gesaratheit. Man kann es auch verstehen, daB in einem schon be- 
stehenden Staate mit der Anderung der Staatsverfassung sich das 
Bediirfnis nach der Schaffung eines neuen Strafgesetzbuchs geltend 
macht, vor allem dann, wenn das bisherige schon lange besteht und 
vielleicht veraltet ist. Jene Erwagung trifft aber fur Deutschland, nicht 
zu, da, wenn auch der letzte Entwurf 1919 erschienen ist, die Vor- 
arbeiten und die Veroffentlichung des Vorentwurfs und des Kora- 
missionsentwurfs schon geraume Zeit zuriickliegen. Selbstverstandlich 
muBte der neueste Entwurf von 1919 nicht nur den veranderten poli- 
tischen und sozialen Verhaltnissen, sondern vor allem auch der Neu- 
ordnung der staatlichen Verhaltnisse im Reich und in den Landern 
Rechnung tragen (Denkschrift S. 7); aber hiervon sind die Bestim- 
mungen, die uns hier interessieren, kaum betroffen. 

Ebenso befaBt sich Osterreich sowie die Schweiz schon seit vielen 
Jahren mit den V 7 orarbeiten zu einem Strafgesetz; der letzte Entwurf 
ist in Osterreich 1913, in der Schweiz 1918 erschienen. 

Die Erklarung dafiir, daB zu derselben Zeit auch in Staaten, deren 
Verfassung sich nicht geandert hat oder noch nicht hatte, das Verlangen 
nach einem neuen Strafgesetzbuch sich so gebieterisch geltend macht, 
kann, wenn naturgemaB auch hier die Beobachtung zutrifft, daB alles 
in einer stetigen Entwicklung begriffen ist, im wesentlichen auf die 
schlechten Erfahrungen mit dem bisherigen Vorgehen gegen die Kri- 
minalitat zuriickgefiihrt werden. Diese Erscheinung kann aber mehr 
noch als ein Erfolg — von einem Sieg darf man hier nicht reden, eher 
von einem Verstandigungsfrieden — der modernen Schule angesehen 
werden, die uns dank ihrer naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise 
neue und aussichtsvollere Wege zur Bekiimpfung des Verbrechens weist. 

Fiir den Psychiater, der an diesen Vorarbeiten — war es doch 
ein Irrenarzt, von dem die neue Lehre in Italien ihren Ausgang nahm 
— und vor allem an der praktischen Durchfiihrung der gesetzlichen 
Bestimmungen ungemein beteiligt ist, ist es auBerordentlich ver- 
lockend, die einschliigigen Bestimmungen miteinander zu vergleichen. 
Nicht nur des rein wissenschaftlichen Interesses halber, sondern mehr 
noch aus praktischen Grunden. Bietet sich doch jetzt die seltene 
Gelegenheit, die gesetzgeberischen Arbeiten anderer Lander nutzbrin- 
gend zu verwerten. DaB das Bediirfnis nach einer derartigen verglei- 
chenden und gemeinsamen Arbeit besteht, beweist nichts deutlicher 
Archiv fUr Fgychiatrie. Bd. 68. 37 


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570 Ernst Schultze: Vergleichende psychiatrische Kritik neuzeitlicher 


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als die Tatsache, daB die Osterreicher vor kurzem einen ,,Gegenentwurf 
zu dem Allgemeinen Teil des Ersten Buches des Deutschen Straf- 
gesetzentwurfs vom Jahre 1919“ schufen; freilich ist bisher nur der 
allgemeine Teil erschienen. Ich darf auch darauf hinweisen, daB man 
sich in Polen, wo iiber die strafrechtliche Behandlung der jugend- 
lichen Rechtsbrecher sehr groBe Meinungsverschiedenheiten bestanden, 
entschlossen hat, auslandische Autoritaten um Rat zu fragen; Garmon 
in Paris hat dann mit einer Anzahl von Mitarbeitern einen eigenen 
Entwurf eines Gesetzes fiir die Behandlung Unmundiger fur Polen 
im AnschluB an das franzosische Gesetz von 1913 verfaBt, der freilich 
von zwei, ebenfalls von Polen befragten belgischen Sachverstandigen 
(Wetz und Maus) einer ziemlich vernichtenden Kritik unterworfen wurde. 

Vor kurzem hat Ferri einen Entwurf erscheinen lassen. Ich habe 
geglaubt, ihn, so interessant er an sich auch ist, fiir diese vergleichende 
Kritik nicht heranziehen zu sollen; steht er doch auf einem ganz an- 
deren Standpunkt, wie die bisher erwahnten Entwiirfe, so daB ein 
Vergleich kaum durchfiihrbar erscheint; die ohnehin schon erschwerte 
Ubersicht der Arbeit w'iirde dadurch noch mehr leiden. Kann man 
doch eher von inkommensurablen GroBen sprechen. 

Ich habe aber geglaubt, den Entwurf von Johan C. W. Thyren 
verwerten zu sollen. Zwar stellt er die Arbeit eines einzelnen dar. 
Aber selbst. der letzthin in Deutschland erschienene E. von 1919 ist 
gleich seinen beiden Vorgangern, dem Vorentwurf von 1909 und dem 
Kommissionsentwurf von 1913, von seinen Verfassem ausdriicklich 
as eine nur private — friiher wiirde man vielleicht gesagt haben, of- 
iziose — Arbeit bezeichnet worden. Und dann ist Thyren, das beweist 
Ichon ein fliichtiger Blick in die Verhandlungen der Internationalen 
kriminalistischen Vereinigung, einer der Fuhrer im Streit, so daB auch 
um deswillen eine AuBerachtlassung seiner Arbeit nicht berechtigt 
erscheint. 

Freilich muB hervorgehoben werden, daB auch von dem schwed. 
E. 1 ) bisher nur der allgemeine Teil und zudem nicht vollstandig er¬ 
schienen ist; noch nicht beriicksichtigt ist beispielsweise die Kriminalitat 
der Alkoholisten, der EinfluB mildernder oder erschwerender Umstande 
auf das StrafmaB. 

*) Der Regierungsentwurf eines osterreichischen Strafgesetzbuches 1912 wird 
mit ost. E. abgekiirzt, der Entwurf eines schweizerischen Strafgesetzbuches 1918 
mit schwz. E., der Vorentwurf zu einem schwedischen Strafgesetzbuch von Johan 
C. W. Thyren 1918 mit schwed.E., der Entwurf zu einem Deutschen Strafgesetz¬ 
buch von 1919 mit E., der Vorentwurf des allgemeinen Teils des Strafgesetzes, 
herausgegeben vom Justizministerium der tschecho-slowakischen Republik 1921 
mit tsch.-sl. E., der 1922 veroffentlichte osterreichische Gegenentwurf zu dem 
allgemeinen Teil des 1. Buchs des Deutschen Strafgesetzentwurfes vom Jahre 
1919 mit G.E., der polnische Strafgesetzentwurf (1922) mit pol. E. 


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in- und auslandischer Entwiirfe zu einem Strafgesetzbuch. 


571 


Ich werde den Stoff so anordnen, daB ich einmal erortere, wie in 
den verschiedenen Entwurfen die Frage der Zurechnungsfahigkeit und 
die der verminderten Zurechnungsfahigkeit geregelt wird, und dann 
bespreche, welche SicherungsmaBnahmen vorgesehen sind. Bei beiden 
Fragen sind zwei Gruppen von Individuen zu unterscheiden, je nach- 
dem es sich urn Geistesgestorte handelt, oder um Personen, die ein 
Opfer des AlkoholmiBbrauchs geworden sind, seien es nun Trunkene 
oder Trunksiichtige 1 ). 


I. Bestiimiiungen fiber Zurechnungsfahigkeit. 

A. Geistige Mangel. 

1. Zurechnungsunfahigkei t. 

Alle Entwiirfe wenden die gemischte Methode an, um die Zustando 
zu kennzeichnen, bei deren Vorliegen die Verantwortlichkeit des Taters 
ausgeschlossen ist. Das kann nicht im mindesten auffallen. Denn ab- 
gesehen davon, daB schon viele altere Gesetze denselben Weg ein- 
schlagen, liegt es auf der Hand, daB es nicht genugt, wenn ein, kurz 
gesagt, psychopathologischer Zustand vorliegt; dieser Zustand muB 
vielmehr auch eine gewisse Starke haben, wenn ihm das Strafrecht 
eine erhebliche Bedeutung einraumen soil. Es ist erforderlich, daB 
,,diese Rrankheit oder Stbrung in den geistigen AuBerungen des Taters 
in einer fur seine Fahigkeit zu strafbarem Handeln bedeutsamen Weise 
zum Ausdruck kommt“, sagt die Begriindung des tsch.-sl. E. (S. 53). 

Eine alleinige Ausnahme macht der schwed. E. ,,Eine Hand- 
lung, die von einem Geisteskranken oder Blodsinnigen begangen wird, 
ist straffrei“, sagt § 1 des 4. Abschn. Natiirlich verlangt auch Thyren 
eine erhebliche Abweichung von der Norm, wenn dem Tater Straf- 
freiheit zugebilligt werden soil. Das beweist schon der Ausdruck ,,blod- 
sinnig“. Aber gerade deshalb wird dieser nicht alien Bediirfnissen der 
Praxis gerecht. Denn sicher wiirde mancher Richter Bedenken haben, 
Zustande geistiger Schwache, die nach Ansicht des Psychiaters zweifel- 
lo8 Z.r.u.f.k. nach sich ziehen, als Blodsinn zu bezeichnen, ein Ausdruck, 
unter welchem sich der Nichtpsychiater etwas ganz anderes vorstellt. 


*) Die romischen Ziffern der angefiihrten Paragraphen geben an, der wievielte 
Abschnitt, die arabischen Ziffern, der wievielte Satz in dem betreffenden Absatz 
der Gesetzesbestimmung in Betracht kommt. 

Zurechnungsfahigkeit wird mit Z.r.f.k., Zurechnungsunfahigkeit mit Z.r.u.f.k., 
verminderte Zurechnungsfahigkeit mit vm. Z.r.f.k., zurechnungsfiihig mit z.r.f., 
vermindert zureehnungsfahig mit vm. z.r.f., zurechnungsunfahig mit z.r.n.f. ab- 
gekiirzt. 

37* 


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572 Ernst Schultze: Vergleichende psychiatrische Kritik neuzeitlicher 


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Ebenso mull auch der Ausdruck ,,geisteskrank“ abgelehnt werden, da 
er zu eng gefaBt ist, enger, als vielleicht in der Absicht des Gesetz- 
gebers gelegen hat. Wenn zweifellos auch in Schweden der Grundsatz 
der freien Beweiswiirdigung besteht, die den Richter nicht zwingt, 
dem Gutachten des Sachverstandigen unbedingt zu folgen, so besteht 
doch die Gefahr, daB, wenn es bei dem von Thyren gemachten Vor- 
schlage verbleibt, dem Irrenarzt von dem Strafgesetzbuch ein EinfluB 
eingeraumt wird oder unwillkiirlich zufallt, der ihra nicht zukommt. 
Eben deshalb mochte ich annehmen, daB auch Schweden bei der end- 
giiltigen Eassung die gegen die alleinige Anwendung der biologischen 
Methode bestehenden Bedenken beachten und in Ubereinstimmung 
mit den andern Entwiirfen die allein richtige gemischte Methode an- 
wenden wird. Um so mehr, als auch in dem schwed. E. die Bestim- 
mung iiber die vm. Z.r.f.k. psychologische Merkmale beriicksichtigt. 

DaB aber Thyren auch Z.r.u.f.k. nur bei Psychosen einer bestimmten 
Starke annehmen will, ergibt sich aus dem 2. Satz des § 1. Danach 
ist auch die Handlung straff rei, ,,die von jemandem begangen ist, der 
ohne eigene Schuld in einen solchen Geisteszustand geraten ist, daB 
er auBer sich war oder unfahig. nach seinem Willen zu handeln.“ Of- - 
fen bar sollten hiermit die Storungen des BewuBtseins erfaBt werden. 
Die Bezugnahme auf die Verschuldung laBt natiirlich daran denken, 
daB Thyren in erster Linie einer derartigen Trunkenheit, die an sich 
die Z.r.u.f.k. bedingt hatte, diese dami nicht zubilligen will, wenn 
der Tiiter durch eigene Schuld in diesen Zustand der Trunkenheit 
geraten ist (s. S. 583ff). Der Wortlaut der Bestimmung gestattet aber 
zwanglos eine weitere Ausdehnung. WeiB z. B. ein Epileptiker, daB 
er durch einen selbst geringen AlkoholgenuB in einen Dammerzustand 
geraten kann, so kann er sich danach, wenn er in einem solchen Zu- 
stande eine strafbare Handlung begangen hat. zu seiner Entlastung 
nicht darauf berufen, er sei zur kritischen Zeit bewuBtlos gewesen. 
Vor allem dann nicht, wenn er schon friiher in einem solchen Aus- 
nahmezustand eine Neigung zu unerlaubten Handlungen bekundet 
hat. Eine Bestimmung der genannten Art konnte zweifellos in der¬ 
artigen Fallen Gutes stiffen. Um so erfreulicher. als wir Psychiater 
wissen. daB gerade die Epileptiker in solchen Zustanden zu den schwer- 
sten Straftaten neigen. Aber ich habe doch Bedenken, das Verschul- 
dungsprinzip aufzugeben, wenn ich auch unbedenklich bei der sog. 
sinnlosen Trunkenheit eine und zudem nicht zu gering bemessene 
Strafe fiir das Sichbetrinken zulasse (s. S.586). Warum Thyren als der 
einzige unter den voiiiegenden Entwiirfen die akuten Storungen ge- 
trennt von den chronischen Psychosen beriicksichtigt. ist nicht recht 
ersichtlich. Freilich konnte bei diesen letzteren auf eine Anfiihrung 
der psychologisehen Rriterien nicht verzichtet werden. Ich betone, 


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in- und auslandischer Entwurfe zu einem Strafgesetzbuch. 573 

dab ich der von Thyren fiir die psychologischen Kriterien der voriiber- 
gehenden Storungen gewahlten Fassung nicht zustimmen kann. 

Das Vorgehen der andern Entwiirfe, die die verschiedenen biolo- 
gischen Merkmale, gleichgiiltig, ob es sich um akute oder chronische 
Zustande handelt, gleichwertig nebeneinander aufzahlen und die ihnen 
gerueinsamen psychologischen Merkmale anschlieben, verdient wegen 
der Kiirze, f)bersichtlichkeit und wegen der darait gegebenen Moglich- 
keit einer geschlossenen Fassung den Vorzug. 

Was die biologische Seite des Problems angeht, so spricht der 
schwz. E. Art. 10 von Geisteskrankheit, Blodsinn und schwerer Storung 
des Bewubtseins. Diese Ausdrucksweise scheint mir in keiner Be- 
ziehung gliicklich. Alle 3 Bezeichnungen sind zu wuchtig, so dab sie auf 
eine Befiirchtung des Gesetzgebers schlieben lassen, der Richter sei gar 
zu leicht geneigt, dem Tater Straffreiheit zu gewahren; eine Bcfiirch- 
tung, die wegen der ebenfalls geforderten psychologischen Voraus- 
setzung nicht berechtigt erscheint. Daher ist es schon richtiger, eine 
Bewubtseinsstorung schlechtweg, ohne das Beiwort schwer, oder Gei- 
stesschwache zu verlangen, wie es der E., der ost. E., der G.E. und 
der tsch.-sl. E. tut. Ebenso stimme ich dem E. und G.E. zu, der den 
zu engen Ausdruck Geisteskrankheit durch die glucklichere Bezeich- 
nung ,,krankhafte Storung der Geistestatigkeit 44 ersetzt; eine Bezeich- 
nung, die den Forderungen des praktischen Lebens gerecht wird, ohne 
jedoch unberechtigte Straffreiheit zu ermoglichen. Der G.E. hat den 
Ausdruck Geistesschwiiche aus dem E. ubernommen, wie ihn auch der 
ost. E. anwendet. Ich halte ihre ausdriickhche Erwahnung nicht fiir 
notwendig, wenn der Gesetzgeber den weit umfassenden Ausdruck 
,,krankhafte Storung der Geistestatigkeit“ anwendet. Indes kann ich 
meine Bedenken zuriickstellen, da die Gefahr einer irrtiimlichen Deu- 
tung durch die Beseitigung des Ausdrucks ..Geisteskrankheit 4 ' aus- 
geschlossen ist. Ich verstehe durchaus, wenn Voche bei der Dresdener 
Tagung des Deutsehen Vereins fiir Psychiatric die ausdriickliche Er¬ 
wahnung der Geistesschwiiche fiir angebracht halt „wegen der beson- 
deren Stellung. die sie nicht nur in der Auffassung des Richters und 
in der Meinung des Volkes, sondern auch nach medizinischem Sprach- 
gebrauch gegeniiber der Geisteskrankheit dort einnimmt, wo sie als 
Geistesgebrechen an sich bei Mibbildungen und Entwicklungshem- 
mungen, nach Verletzungen und abgelaufenen Erkrankungen besteht 
und sich ahnlich wie die korperliche Kriippelhaftigkeit von der Krank- 
heit unterscheidet“. 

Eine abweichende Ausdrucksweise wendet der pol. E. an, der 
Art. 10 § 1 von ..psychischer Krankheit oder anderer Storung psy- 
chischer Funktion" spricht. Ich kann Bedenken gegen diese Fassung 
nicht unterdriicken. Nicht nur, dab ..psychische Krankheit 44 eine un- 


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574 Ernst Schultze: Vergleichende psychiatrische Kritik neuzeitlicher 


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berechtigte Einengung der biologischen Voraussetzung bedingen konnte, 
besteht die noch groBere Gefahr, daB die Worte ,,andere Stoning psy- 
chischer Funktion“ den Kxeis der Storungen, die eine Z.r.u.f.k. be¬ 
dingen, gar zu weit ausdehnen konnten, wenn auch der Gesetzgeber 
ihn durch den Himveis auf die psychologischen Kriterien einengt. Ich 
lasse es dahingestellt, inwieweit Riicksichten auf den polnischen Volks- 
charakter, wenn auch unbewuBt. den Gesetzgeber veranlaBt haben, 
eine so unbestiinmte, um nicht zu sagen, verschwommene Ausdrucks- 
weise vorzuschlagen. Vielleicht tragt dem eben angedeuteten Gedanken 
auch die Bestimmung Rechnung. daB nach Art. 11 der keine Straftat 
begeht, ,,wer die Tat unter dera EinlluB psychischer Gewalt begeht, 
welcher er nicht widerstehen konnte“, zumal sich in andern Entwiirfen 
eine entsprechende ausdrvickliche Bestimmung mit so erheblicher 
Rechtswirkung kaum findet. 

Was die psychologischen Voraussetzungen angeht, so besteht hier 
in grundsatzlicher Beziehung, mit Ausnahme Schwedens (s.S.573), eine 
erfreuliche Gbereinstimmung. Alle Entwiirfe stellen sich auf den zuerst 
vom osterreichischen Gesetzgeber eingenommenen Standpunkt und 
verlangen, daB der Tater durch die geistige Storung verhindert 
war, die Bedeutung der Tat einzusehen oder dementsprechend zu 
handeln. 

Es bestehen, freilich nicht sehr erhebliche, Unterschiede in der 
Bezeichnung der Einzelheiten. 

Wahrend der E. abzielt auf das Fehlen der Einsicht in das Un- 
gesetzliche der Tat, verlangen die andern Entwiirfe, daB der Tater, 
der Straffreiheit beansprucht, nicht das Unrecht (G.E.) der Tat ein- 
sehen kann. Mir ist bekannt, daB auch in der Literatur dariiber ge- 
stritten wird, welche der beiden Fassungen, ob ,,Ungesetzliche“ oder 
,,Unrecht“, vorzuziehen ist. Ich vermag a her dieser Frage keine allzu 
groBe Bedeutung beizumessen und kann nur v. Hippel beipflichten. 
nach dem praktisch beide Fassungen im wesentlichen zu demselben 
Ergebnis fiihren. (S. diese Zeitschr. 66, 175. 1922.) Immerhin wird die 
Bevorzugung des Wortes ,,Unrecht“ mit Sicherheit die Ansicht aus- 
schlieBen, als sei fiir die Frage der Z.r.f.k. die Kenntnis der einschla- 
gigen strafrechtlichen Bestimmung von maBgebender Bedeutung. Der 
Vollstandigkeit halber will ich hervorheben, daB der pol. E. — ob mit 
bewuBter Absicht, sei dahingestellt — die Losung dieser Aufgabe darin 
findet, daB er die nichts vorwegnehmende Ausdrucksweise ,,Bedeu¬ 
tung der Tat“ wahlt, wie das iibrigens auch der schwed. E. bei der 
Definition der vm. Z.r.f.k. tut (4. Abschn. §2). Damit kann man sich 
durchaus einverstanden erklaren; denn was in einem Strafgesetzbuch 
unter Bedeutung einer Handlung zu verstehen ist, dariiber diirften 
keine Zweifel bestehen. 


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in- und auslandischer Entwiirfe zu einem Strafgesetzbuch. 


575 


So viel iiber die intellektuelle Seite des Problems. 

Was die Bestimmbarkeit des Taters angeht, so ist erfreulicherweise 
kein einziger der spateren Entwiirfe dem E. 1919 gefolgt, der den fiir 
z.r.u.f. halt, der unfahig ist, ,,seinen Willen dieser Einsicht gemaB zu 
bestimmen". Abgesehen davon, daB diese Fassung an die hochst un- 
gliickliche, in dem heute noch geltenden Strafgesetzbuch angefiihrte 
freie Willensbestimmung erinnert, ist sie unpsychologisch und sprach- 
lich recht umstandlich. Das Vorgehen des E. ist um so schwerer 
zu verstehen, als schon vorher 1913 Osterreich schlechtweg nur von 
,,handeln“ spricht. Denselben Weg schlagen alle andern Entwiirfe 
ein. Nur der tsch.-sl. E. maclit insofern eine Ausnahme, als er ver- 
langt, der Z.r.f. miisse ,,sein Handeln der richtigen Einsicht gemaB“ 
,,richten“. Bei der Kritik des Vorentwurfs ist von juristischer Seite, 
von Frank und van Calker, hervorgehoben worden, daB es nicht sowohl 
darauf ankommt, ob jemand gemaB seiner Erkenntnis handelt, als 
vielmehr darauf, daB er ihr zufolge das Handeln unterlassen kann. 
Eben deshalb hatte Frank die Worte, ,,sein Verhalten nach dieser 
Einsicht zu richten“, vorgeschlagen. Diesen Bedenken, die ich nicht 
fiir so gewichtig hielt, daB ich sie in meiner friiheren Arbeit glaubte 
beriicksichtigen zu miissen, ist offenbar der tsch.-sl. E. mit seiner 
Fassung gerecht geworden. 

Alle Entwiirfe sprechen von einer Einsicht in die Tat und erfiillen 
damit die, man kann wohl sagen, selbstverstandliche Forderung, daB 
die Z.r.f.k. des Taters fiir die einzelne, jeweils zur Beurteilung stehende 
Tat gepriift werden soil; kann doch dasselbe Individuum, wiewohl es 
krank ist, fiir die eine Straftat zur Verantwortung gezogen werden, 
wahrend ihm fiir eine andere Zurechnungsunfahigkeit zugebilligt werden 
muB. In noch scharferer und ganz unzweideutiger Weise tritt das in 
den Entwiirfen zutagc, die nicht von der, sondern von seiner Tat sprechen. 
Und wenn der Gesetzgeber dann Z.r.u.f.k. annimmt, wenn der Tater 
nicht entsprechend seiner Einsicht in das Unrecht seiner Tat zu han¬ 
deln vermag, bedarf es wirklich nicht noch der von dem tsch.-sl. E. 
gewahlten Bezugnahme auf die ,,richtige“ Einsicht; doppelt iiber- 
fliissig, weil einmal Einsicht iiberhaupt eine richtige Beurteilung, 
eine, wenigstens theoretisch. zutreffende Stellungnahme bedeutet, 
und weil natiirlich ein von einer Einsicht geleitetes Handeln nur 
dann strafrechtlich gewertet werden kann, wenn diese Einsicht 
richtig war. 

MaBgebend kann natiirlich nur der Geisteszustand des Angeklagten 
zur Zeit der Begehung der strafbaren Handlung sein. Alle Entwiirfe 
verlangen dementsprechend ausdriicklich, daB zur ,,Zeit der Tat“ die 
Einsicht oder die normale Bestimmbarkeit aufgehoben sein muB, wenn 
der Tater straffrei ausgehen darf. 


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576 Ernst Schultze: Vergleichende psychiatrische Kritik neuzeitlicher 


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Der E. 1919 § 18 I sagt, der ist nicht zurechnungsfahig, der be- 
stimmte Voraussetzungen erfullt, und greift damit zuriick auf den Wort- 
laut des § 10, nach dessen erstem Abschnitt nur der strafbar ist, wer 
schuldhaft handelt, und nach dessen zweitem Abschnitt der ,,schuldhaft 
handelt, wer den Tatbestand einer strafbaren Handlung vorsatzlich 
oder fahrlassig verwirklicht und zur Zeit der Tat zurechnungsfahig ist“. 
Mir ist bekannt, dab diese Ausdrucksweise von juristischer Seite viel- 
fach angegriffen ist. Dementsprechend bestimmt der G.E. neben § 10, 
der die Frage der Z.r.f.k. in der bisher erorterten Weise regelt, in § 13: 
,.Strafbar ist nur, wer schuldhaft handelt. Schuldhaft handelt, wer 
den Tatbestand einer strafbaren Handlung mit bosem Vorsatz oder 
fahrlassig verwirklicht". Ich will hierauf nicht naher eingehen. Handelt 
es sich doch um Fragen, fur die den Juristen eine grobere Sachkunde 
und vielleicht auch die alleinige Zustandigkeit zuzubilligen ist. Ich 
will nur hervorheben, dab die andern Entwiirfe mit ihren Bestim- 
mungen iiber die Z.r.f.k. ebenfalls auf den Tater Bezug nehmen, also 
vorschreiben, dab er unter bestimmten Voraussetzungen nicht zu¬ 
rechnungsfahig, nicht strafbar ist oder keine Straftat begeht (pol. E. 
Art. 10 § 1). Nur der schwed. E. weicht ab und nimmt Bezug auf 
die Tat, leugnet aber nicht, wie §51 St.G.B., das Vorliegen einer straf¬ 
baren Handlung oder einer Handlung schlechtweg, sondern bestimmt, 
dab die Handlung straffrei ist. Auch diese Ausdrucksweise gestattet, 
den Anstifter oder Gehilfen des z.r.u.f. Taters zu strafen. Sieht doch 
der schwed. E. (5. Abschnitt, § 4, Z. 4) geradezu darin einen erschwe- 
renden Umstand, dab ,,jemand als Mittel zur Ausfiihrung des Ver- 
brechens eine Person gebraucht hat, die wegen jugendlichen Alters 
oder sonstiger Unzurechnungsfahigkeit nicht bestraft werden kann"; 
ebenso bestimmt derselbe Entwurf (8. Abschnitt, § 1 I), dab jemand, der 
„ vorsatzlich verursacht, dab eine im Gesetz mit Strafe bedrohte Hand¬ 
lung" von einem Z.r.u.f. begangen wird. ,,als Tater angesehen werden" 
soil. Dennoch verdient die von den andern Entwiirfen gewahlte Aus¬ 
drucksweise den Vorzug. 

Alle Bestimmungen gebrauchen im Gegensatz zu § 51 St.G.B. das 
Zeitwort in der Gegenwart. Begriindet man dieses Vorgehen mit deni 
Hinweis darauf, dab es sich um eine Legalitatsdefinition handelt, so 
stimme ich dem durchaus zu. Um so eher bedarf es dann einer ent- 
sprechenden Anderung des § 18 II E. und § 10 II 1 G.E., der dem 
eien mildere Strafe zubilligt, dessen Fahigkeit vermindert war. Und 
noch eine Bemerkung rein sprachlichen Charakters sei angeschlossen. 
Wahrend der E. und G.E. nur von Z.r.f.k. oder fehlender Z.r.f.k. spricht, 
wendet der schwz. E. den Ausdruck Unzurechnungsfahigkeit an. Die 
etymologisch allein richtige Bezeichnung ,,Zurechnungsunfahigkeit" 
verwendet nur der ost. E. (§§36 und 47). 


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in- und auslandischer Entwiirfe zu einein Strafgesetzbuch. 


577 


Keiner der Entwiirfe definiert die Z.r.f.k., ,,sondern fiihrt lediglich 
die Umstande an, welche die Zurechnungsfiihigkeit ausschlielien" (Be- 
griindung des tsch.-sl. E. S. 53). 

Wenngleich der E. keine prozessualen Fragen regeit — und das 
ist ja auch nicht seine Aufgabe —, so mogen doch solche besproehen 
werden, soweit sie der schwz. und schwed. E. beriicksichtigen. 

Nach § 12 I des schwz. E. laBt der Untersuchungsbeamte oder der 
urteilende Richter, der Zweifel iiber die Z.r.f.k. des Beschuldigten hat. 
dessen Geisteszustand durch Sachverstandige untersuchen. Nach iiblen 
Erfahrungen, die ich letzthin gemaeht habe, bedarf es noch des Beiworts 
,, arztlich “ (diese Zeitschr. 66,225. 1922). Aber ist denn wirklich eine be- 
sondere gesetzliche Vorschrift notig, da eine andere Regelung der Frage in 
einem solchen Falle kaum denkbar ist? Wer sollte denn Zweifel, die dem 
Richter iiber den Geisteszustand des Angeklagten aufstoBen, beheben 
konnen, wenn nicht der arztliche Sachverstandige? Fiir den Richter, der 
glaubt, auf ihn im Einzelfall oder gar stets verzichten zu konnen, gibt es 
keinen Zweifel. Etwas bestimmter lautet eine entsprechende Vorschrift 
§ 134 aus der vorgeschlagenen Anderung der osterreichischen StrafprozeB- 
ordnung. nach der. abgesehen von den auch hier angefiihrten Zweifeln 
iiber die Z.r.f.k., beim Vorliegen von Anzeichen, ,,dalJ diese Fahigkeit 
infolge eines andauernd krankhaften Zustandes wesentlich vermindert 
war“, ,,die Untersuchung seines Geisteszustandes durch zwei psychia- 
trisch gebildete Arzte zu veranlassen" ist. Entschieden insofern ein 
Fortschritt, als psychiatrisch gebildete Arzte verlangt werden, wenn 
man sich auch die Frage vorlegen muB, ob es denn wirklich in jedem 
Falle zweier Sachverstandiger bedarf. Aber ob sie um ein Gutachten 
angegangen werden, ist, da auch sie nur bei Vorliegen von Zweifeln 
oder bei bestimmten Anzeichen herangezogen werden sollen, doch 
mehr oder weniger in das Ermessen des Richters gestellt. Was soli 
geschehen, w'enn der Verdacht besteht, daB die Z.r.f.k. nicht infolge 
eines andauernd krankhaften Zustandes wesentlich vermindert war? 
Die Abanderung der StrafprozeBordnung laBt sich noch genauer iiber 
die Tatigkeit des Sachverstandigen aus, ohne daB ich freilich einer 
allzusehr in Einzelheiten gehenden Beschreibung und Abgrenzung 
seiner Aufgabe das Wort reden kann. So haben die Sachverstandigen 
,,die Erhebungen, die sie fiir notig erachten, dem Untersuchungsrichter 
mitzuteilen und anzugeben, bei welchen Erhebungen ihre personliche 
Mitwirkung wiinschenswert ist”. 

,,Die Sachverstandigen haben iiber das Ergebnis ihrer Beboachtung 
Bericht zu erstatten, alle fiir die Beurteilung des Geisteszustandes des 
Beschuldigten einfluBreichen Tatsachen zusammenzustellen. sie nach 
ihrer Bedeutung sowohl einzeln als im Zusammenhange zu priifen und. 
falls sie eine Geistesstorung, Geistesschwiiche oder sonst einen krank- 


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578 Ernst Schultze: Vergleiohende psychiatrische Kritik neuzeitlicher 


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haften Geisteszustand oder eine BewuBtseinsstorung als vorhanden 
betrachten, die Natur der Rrankheit, die Art und den Grad zu be- 
stimmen und sich sowohl nach den Akten, als nach ihrer eigenen Be- 
obachtung iiber den EinfiuB auszusprechen, welchen die Krankheit auf 
die Vorstellungen, Triebe und Handlungen des Beschuldigten geauBert 
habe imd noch auBere, und ob und in welchem MaBe dieser Geistes¬ 
zustand zur Zeit der Tat bestanden habe“. 

Der 3. Abs. von § 134 betr. Abanderung der StrafprozeBordnung 
regelt die Anstaltsbeobachtung des in Haft befindlichen Beschuldigten. 
Zu diesem Zweck kann er ,,an das Gefangenhaus eines anderen Ge- 
richtshofes desselben Oberlandesgerichtssprengels abgegeben oder in 
einer Anstalt fiir verbrecherische Irre oder in einer offentlichen Irren- 
anstalt oder Beobachtungsabteilung verwahrt“ werden. Eine Hochst- 
dauer der Beobachtung ist nicht festgelegt. Diese betragt fiir die auf 
freiem FuBe befindlichen Beschuldigten sechs Wochen. Ihre An- 
staltsunterbringung, die in einer offentlichen Irrenanstalt oder Be¬ 
obachtungsabteilung stattfinden rauB, ist anzuordnen, wenn die Be¬ 
obachtung ihres Geisteszustandes ,,sich auf andere Weise nicht mit 
Sicherheit vornehmen laBt“. In keinem der beiden Falle ist die Unter- 
bringung von der vorherigen Anhorung des arztlichen Sachverstan- 
digen abhangig. 

Auch ich wiirde Bedenken haben, eine Bestimmung aufzunehmen, 
die etwa vorschlagt, die richterliche Annahrae von Z.r.u.f.k. sei ohne 
Anhorung eines arztlichen Sachverstandigen nicht angangig, wenngleich 
es ahnliche Bestimmungen im Biirgerlichen Gesetzbuch — ich meine 
den Zwang, Sachverstandige zu horen vor der Entmiindigung wegen 
Geisteskrankheit oder Geistesschwache oder vor der Ehescheidung 
wegen Geisteskrankheit — gibt. 

Die Hinzuziehung von Sachverstandigen kann vorn Gesetz aber 
auch fiir Sonderfalle geregelt werden; sei es, daB bestimmte Krankheits- 
zustande, sei es, daB bestimmte strafrechtliche Tatbestande vorliegen. 

So verlangt § 12 II des schwz. E. unbedingt eine psychiatrische 
Untersuchung des Beschuldigten, wenn er taubstumm oder epileptisch 
ist; dann ,,findet diese Untersuchung in jedem Falle statt“. Freilich 
kbnnen dariiber, wer epileptisch ist, Meinungsverschiedenheiten be- 
stehen, nicht so sehr hinsichtlich der Taubstummheit. Soweit meine 
Kenntnis reicht, haben sich aus dem Fehlen einer derartigen Bestim¬ 
mung erhebliche MiBstande nicht ergeben. 

Der schwed. E. (Abschnitt IV § 3 I) schreibt eine arztliche Unter¬ 
suchung des Geisteszustandes vor Urteilsfallung vor, wenn ein Ver- 
brechen zur Aburteilung steht, ,,das gesetzhch mit lebenslanglicher 
Zuchthausstrafe bedroht ist“ — also vermutlich (der besondere Teil 
des schwed. E. ist noch nicht erschienen) beim Mord. Man kann wohl 


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in- und auslandischer Entwiirfe zu einem Strafgesetzbuch. 


579 


annehmen, daB einmal die Hohe der Strafe Thyren zu der ungewohn. 
lichen Bestimmung veranlaBt hat, fiir jeden Fall einer derartigen 
Straftat eine psychiatrische Beurteilung vorzuschreiben; dann aber 
auch vielleicht der Umstand, daB es sich hierbei vielfach um Affekt- 
handlungen handelt, bei denen der Psychiater gehort zu werden bean- 
spruchen kann. Weiterhin verlangt Thyren eine psychiatrische Be- 
obachtung. ,,wenn jemand, der Freiheitsstrafe wahrend zehn Jahre 
oder langere Zeit erlitten hat, ein Verbrechen begeht, das gesetzlich 
rait Zuchthausstrafe bedroht ist“ (§ 3 VI). Also ein Zugestandnis an die 
gewiB berechtigte Anschauung, daB sich unter den schweren Gewohn- 
hcitsverbrechern viele pathologische Elemente finden. Welches die im 
Entwurf auBerdem noch(§3III) vorgesehenenbesondersbestimmtenFalle 
sind, in denen eine psychiatrische Untersuchung stattfinden soli, ent- 
zieht sich meiner Kenntnis. da der Entwurf noch nicht vollstandig 
erschienen ist. 

Wenn man in einem Strafgesetzbuch fiir bestimmte Fade eine 
psychiatrische Untersuchung des Angeklagten vor Fallung des Urteils 
vorschreiben will, konnte dazu die Tatsache AnlaB geben, daB Sitt- 
lichkeitsverbrecheji nicht vorbestrafter Greise vielfach die Handlungen 
z.r.u.f. Personen sind. Dem Psychiater ist diese Tatsache durchaus 
bekannt, und ihre Kenntnis geradezu selbstverstandlich, wahrend der 
Richter nur selten mit ihr rechnet. Soil aber ein Strafgesetzbuch eine 
so weitgehende Kasuistik treiben? und konnte nicht dasselbe Ziel 
durch Verordnungen der Aufsichtsbehorden erreicht werden? 

2. Verminderte Zurechnungsf ahigkeit. 

Alle vorliegenden Entwiirfe beriicksichtigen den Geisteszustand, 
dem man strafrechtlich eine vm. Z.r.f.k. zuschreibt. An der Berechti- 
gung, eine verminderte Z.r.f.k. beizubehalten oder einzufiihren. wird 
nicht gezweifelt. 

Der E., der G.E. und der schwz. E. erortern die Voraussetzungen 
der vm. Z.r.f.k. unter den Bestimmungen iiber die Straftat, die andern 
Entwiirfe unter den Bestimmungen iiber das StrafmaB. 

Uber die Fassung der Voraussetzungen der vm. Z.r.f.k. besteht- 
keine Einigkeit, und auch nicht iiber die Abmessung der Strafe, wenn 
auch dariiber keine Meinungsverschiedenheit zwischen den Entwiirfen 
l>esteht, daB der vm. Z.r.f. Strafe verdient. 

Von vornherein liegt es nahe, die Zustande der vm. Z.r.f.k. im 
AnschluB an die Bestimmungen iiber Z.r.u.f.k. zu umgrenzen. Wenn fiir 
diese letzteren eine Fassung gefunden ist, die nach unseren bisherigen 
Erfahrungen den verschiedenen Moglichkeiten des Lebens ausreichend 
Rechnung tragt. konnen gewichtige Bedenken dagegen ernstlich nicht 
geltend gemacht werden. 


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580 Ernst Schultze: Vergleichende psychiatrische Kritik neuzeitlicher 


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So geht der E. vor. Ihm folgt der G.E. Der ost., schwz. und 
tsch.-sl. E. weichen insofern ab, als sie zwar ahnliche psychologische 
Voraussetzungen fiir die Z.r.u.f.k. und die vm. Z.r.f.k. verlangen; 
sie schreiben aber andere biologische Merkraale vor. 

Der ost. E. spricht in §47 von ,,einer an Z.r.u.f.k. grenzenden Herab¬ 
setzung oder Schwache der Fahigkeit, das Unrecht seiner Tat einzusehen 
oderdieser Einsicht gemaB zuhandeln“, laBt sich also genauer iiber die 
biologischen Voraussetzungen iiberhaupt nicht aus. Und im § 48 
spricht er von einer wesentlichen Verminderung dieser Fahigkeit, die 
auf Rechnung ,,eines andauernden krankhaften Zustandes" zu setzen 
ist. Also eine recht neutrale Ausdrucksweise, die, worauf ich hin- 
weisen mochte, im AnschluB an das Kahl sche Referat iiber vm. Z.r.f.k. 
auf der Innsbrucker Tagung des Deutschen Juristentages (1904) er- 
innert. nach dem der Zustand, der vm. Z.r.f.k. bedingt, kein voriiber- 
gehender sein soil. 

Der schwz. E. lehnt sich, was die psychologische Seite angeht, 
an die Bestimmung iiber die Z.r.u.f.k. an, aber die Fassung iiber die 
biologischen Vorbedingungen ist sehr viel umfassender. Es geniigt, 
daB ,,der Tiiter zur Zeit der Tat in seiner geistigen Gesundheit oder 
in seinem BewuBtsein beeintrachtigt oder geistig mangelhaft ent- 
wickelt“ war (Art. 11). 

Der tsch.-sl. E. verlangt eine wesentliche Herabsetzung der Fahig¬ 
keit, und zwar ,,infolge Geisteskrankheit, Schwachsinns oder einer 
anderen geistigen Abnormitat oder infolge vorgeschrittenen Alters" 
(§70 Z. 1). Die Ansicht, der Gesetzgeber habe die Geistesschwache 
der Z.r.u.f.k. (§ 19) irrtiimlich durch Schwachsinn bei der vm. Z.r.f.k. 
ersetzt, trifft nicht zu; (lenn er weicht auch tveiterhin ab, wenn er von 
einer anderen geistigen Abnormitat spricht und ausdriicklich als Son- 
derfall vorgeschrittenes Alter hinzufiigt! Ubrigens soil auch nach 
dem schwed. E. ausdriicklich als mildernder Umstand gelten, daB der 
Tater ,,ein hohes Alter erreicht hat“ (Abschnitt 4, §13, Z. 1). 

Dariiber hinaus sieht aber der tsch.-sl. E. in § 70 Z. 2 die Zulassig- 
keit einer Herabsetzung des Strafsatzes auch dann vor, ,,wenn der 
Schuldige die Straftat" ,,in einem v r oriibergehenden entschuldbaren 
auBergewohnlichen Geisteszustand" begangen hat. Wahrend es sich 
dort um die vm. Z.r.f.k. handelt, sind mit der letzterwahnten Bestim¬ 
mung die notstandsahnlichen Zustande (Begriindung S. 87) getroffen; 
das ergibt sich auch daraus, daB gleichzeitig der Fall erwahnt wird, 
daB der Schuldige .,einer auBergewohnlichen Versuchung oder einem 
auBergewohnlichen Drucke unterlag". Ich erwahne diese Bestimmun- 
gen deshalb, weil auch der E. — freilich nur bei der Bestimmung iiber 
das StrafmaB — den Zustand der vm. Z.r.f.k. neben Ubersehreitung 
von Notwehr, Notstand oder Xothilfe erwahnt (§ 111). 


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in- und auslfindischer Entwiirfe zu einem Strafgesetzbuch. 


581 


Der pol. E. (Art. 54 § 2) sieht. ohne sich iiberhaupt iil>er die biolo- 
gischen Vorbedingungen auszulassen, einen obligatorischen (wird — 
beriicksichtigt) Milderungsgrund darin. daB die Fiihigkeit. die Bedeu- 
tung der Tat einzusehen oder dieser Einsicht gemaB zu handeln, ver- 
mindert' 1 war. Der pol. E. spricht auBerdem noch von dem Ausnahme- 
fall einer ,,auBerordentlichen Strafmilderung'" ,.bei verminderter Ver- 
antwortungsfjihigkeit des Taters“ (Art. 59 § 1. § 2), aber nur fakultativ 
(darf). Wahrend bei der Strafminderung nur die vm. Z.r.f.k. allein 
und naraentlich aufgefiihrt wird, wird bei der auBerordentlichen Straf- 
milderung neben ihr und mit ihr gleichwertig „Uberschreitung von 
Notwehr oder der zulassigen Grenze bei Abwendung einer Gefahr" 
erwahnt. Aus dem mir vorliegenden Text des pol. E. vermag ich freilicli 
nicht zu entnehmen, welche Gesichtspunkte fiir eine so verschiedene 
Beurteilung der strafbaren Handlungen des vm. z.r.f. Taters maB- 
gebend sein sollen. Vielleicht soil das alleinige Ermessen des Richters 
entscheiden, da der Entwurf, wie Makarewicz ausdriicklich hervorhebt, 
die Strafzumsesung vertrauensvoll in die Hande des Richters legen 
will und ihm mit Absicht deshalb nur ganz allgemeine Weisungen gibt 
(vgl. Art. 54 § 1). Ahnlich geht der schwed. E. vor. der schlechtweg 
von einem ,,Zustand“ (,,Befand sich jemand" „ohne eigene Schuld 
zufalligerweise in einem solchen Zustand, daB seine Einsicht von der 
Bedeutung seiner Handlung oder sein Vermogen nach seinem Willen 
zu handeln, in erhebliehem Grade herabgesetzt war, ohne daB er jedoch 
dem § 1 gemaB fiir straflos erachtet werden kann“ 4. Abschnitt, § 2) 
spricht, und unmittelbar nachher erwahnt er etwas bestimmter ein 
biologisehes Merkmal, namlich dauernde Minderwertigkeit. 

Die psychologischen Voraussetzungen fiir die Z.r.u.f.k. und vm. 
Z.r.f.k. sind wesensahnlich, wenn auch quantitativ versehieden. Die¬ 
sel ben Merkmale lassen sich also fiir beide Falle verwerten. Mir will 
die im E. gewahlte Ausdrucksweise, daB die Fiihigkeit ,.nur in hohem 
Grade vermindert" sein muB, eine Ausdrucksweise, die auch der G.E. 
beibehalten hat, nicht sonderlich zusagen. Ich halte es auf der andern 
Seite aber auch nicht fiir ausreichend, daB diese Fiihigkeit, wie der 
schwz. und pol. E. fordert, nur vermindert ist. Richtiger erscheint es 
mil* schon, eine wesentliche oder erhebliche Herabsetzung zu verlangen. 
Und wenn Vocke in seinem Dresdener Referat auf Grund seiner Riick- 
sprache mit Juristen glaubt. die Ausdrucksweise ,.erheblich“ l>evor- 
zugen zu sollen, um nicht Z.r.u.f. der Gefahr auszusetzen. als nur ver¬ 
mindert z.r.f. angesprochen zu werden, so stimme ich dem zu. 

Meines Erachtens bestehen ebensowenig Bedenken, sich auch hin- 
sichtlich der biologischen Merkmale fiir die vm. Z.r.f.k. an die Voraus¬ 
setzungen der Z.r.u.f.k. zu halten. Die Bezeichnungen ,.Sturung des 
BewuBtseins“ (oder BewuBtseinsstorung) und ,.krankhafte Storung 


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582 Ernst Schultze: Vergleichende psychiatrische Kritik neuzeitlicher 


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der Geistesfahigkeit“ reichen durchaus fur alle Falle aus. So berechtigt 
es ist, gerade bei vorgeschrittenem Alter mit der Moglichkeit einer 
vm. Z.r.f.k. zu rechnen, so halte ich es nicht fiir notwendig, dab der 
Gesetzgeber auf Sonderfalle Bezug nimmt (s. S. 579). Sieht er doch 
auch sonst mit guten Griinden von einem derartigen Vorgehen ab. 

Wenn auch die Entwiirfe die Voraussetzungen der vm. Z.r.f.k. 
verschieden formulieren, so groB ist der Unterschied nicht, daB nicht 
eine Einheitlichkeit zu erzielen ware. Um so eher, als grundsatzlich 
und ausdriicklich von alien Entwiirfen die Zulassigkeit der Verhan- 
gung von Strafen betont wird. Freilich in erster Linie mildere Strafen. 
Wahrend aber der E. den Richter hierzu zwingt, will ihm der G.E. 
(kann) nur die Befugnis geben, ebenso der schwed. E. (darf) und der 
tsch.-sl. E. (kann) und der schwz. E., der dem Richter freies Ermessen 
einraumt. 

Ich habe mich friiher (s. diese Ztschr. 66, 184, 1922) der von dem 
E. vertretenen Auffassung angeschlossen und konnte zur Stiitze meiner 
Ansicht darauf hinweisen, daB ohnehin der Strafrahmen, innerhalb 
dessen der Richter wahlen darf, ein recht weiter ist. Beriicksichtigt 
man aber, daB gerade unter den vm. z.r.f. Verbrechern sich die ,,aller- 
gefahrlichsten Elemente der Gesellschaft“ finden, so kann ich es schon 
verstehen, daB Bedenken gegen einen gesetzlich verbiirgten Anspruch 
auf Strafmilderung, auch wenn sie noch so unerheblich ist, bestehen; 
und eben mit Riicksicht auf das Gefiihl der Rechtsunsicherheit, das 
hierdurch auftauchen konnte, erscheint es mir heute richtiger, die Straf¬ 
milderung in das Ermessen des Richters zu stellen. Ich muB hinzu- 
fiigen, daB sich die Stimmen derer, die, sei es grundsatzlich, sei es 
auch nur bei bestimmten Verbrechen, die Verhangung vrm Zuchthaus- 
strafen bei vm. Z.r.f. ausgeschlossen wissen wollen, mehren. 

Ich halte es nicht fur notwendig, an dieser Stelle auf die Bestim- 
mungen einzugehen, die fiir das MaB der Strafmilderung in Betracht 
kommen. Das gilt auch hinsichtlich der Vorschriften iiber den Straf- 
vollzug an den vm. Z.r.f. Hierzu iiuBert sich, abgesehen vom E. (§52), 
dem sich der G.E. mit seinem § 47 wortlich anschlieBt, § 48 
des ost. E., der verlangt, ,,daB die Strafe nach den der Eigenart solcher 
Personen angepaBten Vorschriften vollzogen“ werden soli. ,,Der Vollzug 
solcher Strafen findet in einer besonderen Strafanstalt oder in einer 
besonderen Abteilung einer Strafanstalt oder eines Gefangenhauses 
statt.“ 


B. Trunkenheit. 

Unter den krankhaften Geisteszustanden, die fiir die Frage der 
Z.r.f.k. in Betracht kommen, nchrnen die durch AlkoholmiBbrauch 
bedingten eine Sonderstellung ein. Das gilt insbesondere fiir die Trun• 


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in- und auslftndischer Entwiirfe zu einem Strafgesetzbuck. 583 

kenhe.it. Wenn der Gesetzgeber fiir solche Falle eine eigene Regelung 
vorsieht, so war der Gesichtspunkt maBgebend, daB einmal heute jeder 
die Gefahren kennt, die der AlkoholgenuB mit sich bringen kann, und 
dann der Umstand, daB die Alkoholzufuhr fast immer vermeidbar ist. 
DaB kriminalpolitische Erwagungen ein gewichtiges Wort mitsprechen, 
ist um so berechtigter, als gerade im Zustand der Trunkenheit viele 
Straftaten begangen werden, und vor allem solche, die sich durch 
besondere Schwere auszeichnen. 

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, in die Bestimmungen iiber 
Z.r.u.f.k. und vm. Z.r.f.k. einen neuen Begriff einzufiihren, den der 
Selbstverschuldung, soweit die Alkoholzufuhr in Betracht kommt. Wenn 
iiberhaupt, kann nur dann, wenn Selbstverschuldung oder, um die 
Ausdrucksweise anderer Entwiirfe zu gebrauchen, eigene Schuld sicher 
nachgewiesen werden kann, eine Ausnahme von den sonst fiir die An- 
nahme einer Z.r.u.f.k. oder vm. Z.r.f.k. giiltigen Vorschriften gemacht 
werden. 

In der Tat nehmen alle neuzeitlichen Entwiirfe diesen Stand- 
punkt ein. 

Die Schwierigkeit, im Einzelfall zu entscheiden, ob Selbstverschul¬ 
dung vorliegt oder nicht, wird aber, soviel ich sehe, von juristischer 
Seite und damit auch vom Gesetzgeber vielfach unterschatzt. Der 
Jurist unterscheidet im allgemeinen ein vorsatzliches und fahrlassiges 
Handeln. Soweit Vorsatz in Betracht kommt — ein in der Praxis 
verhaltnismaBig seltener und nicht immer sicher nachweisbarer Fall —, 
kann der Arzt dem Juristen ohne weiteres folgen. Nicht aber, was die 
Fahrlassigkeit angeht, d. h. die AuBerachtlassung der allgemein iib- 
lichen und im Verkehr gebotenen Sorgfalt. Nach § 14 E. handelt fahr- 
lassig, wer die Sorgfalt auBer acht laBt, zu der er nach den Umstanden 
und nach seinen personlichen Verhaltnissen verpflichtet und imstande 
ist, und infolgedessen nicht voraussieht, daB sich der Tatbestand der 
strafbaren Handlung verwirklichen konne, oder, obwohl er dies fiir 
moglich halt, darauf vertraut, daB es nicht geschehen werde. 

Die Toleranz gegen Alkohol ist ungemein verschieden, und auch 
bei demselben Individuum kann sie zu den verschiedenen Zeit die groBten 
Schwankungen aufweisen, ohne daB sie der Einzelne im voraus sicher 
zu iibersehen vermag. Wer freilich sagt, jeder, der trinkt, muB damit 
rechnen, daB er eine strafbare Handlung begeht, fiir den ist die Frage 
in demselben Zeitpunkt gelost, in dem sie aufgeworfen wird. Aber 
praktisch ware dieser theoretisch vielleicht berechtigte Standpunkt 
doch nur dann zu verwerten oder durchzufiihren, wenn iiberhaupt 
jeder AlkoholgenuB verboten ware, und dann bediirfte es vielleicht gar 
nicht besonderer strafrechtlicher Bestimmungen, da ja dann schon das 
Gesetz iiber den AlkoholgenuB ohnehin entsprechende Verbote enthalten 


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584 Ernst Schultze: Vergleichende peychiatrische Kritik neuzeitlicher 


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wurde. Solange aber ein allgemeines Alkoholverbot nicht besteht, 
muB der Strafrichter mit dem Begriff der Selbstverschuldung weiter 
rechnen, so schr auch der Sachverstandige, und insbesondere der peych¬ 
iatrische Sachverstandige, der auf Grund der klinischen Beobachtung 
einschlagiger Fiille liber eigene Erfahrungen auf diesem Gebiete verfiigt, 
die Schwierigkeit seiner Anwendbarkeit fiir den Einzelfall betonen mu(i. 
Der Verzicht auf die Verwertung der Selbstverschuldung wiirde aber 
einen Kampf gegen den AlkoholraiBbrauch vom Standpunkt der Kri- 
minalpolitik unmoglich machen und ist deshalb nicht zu befiirworten. 

Somit muB sich der Arzt mit der Forderung abfinden, daB bei 
Trunkenheit, sofern ihr ein EinfluB auf die Verantwortlichkeit einzu- 
raumeii ist, in jedem Einzelfall zu untersuchen ist, ob der Tater schuld- 
haft handelte, indent er trank. 

Kommtnureine vm.Z.r.f.k. in Betracht.dann kannder Tater natiirlich 
tticht beanspruchen. daB ihra bei deren Bedingtheit durch selbstverschul- 
dete Trunkenheit eine mildere Strafe bewilligt werden muB, wie der E. be- 
stimmt, oder darf, wie alle anderen Entwiirfe vorschreiben. Derschwed. E. 
(4. Absc-hnitt § 2) erwahnt zwar nicht grundsatzlich den Fall der Trunken¬ 
heit, doch vertritterdieselbe Auffassung. wenn er bestimmt, daB dieStrafe 
nach freiem Ermessen herabgesetzt werden darf, wenn der Tater ,,ohne 
eigene Schuld“ sich in einem Zustand verntinderter Zurechnungsfahig- 
keit befand. Auch der pol. E. (Art. 54 § 2) sieht vott einer Strafmilde- 
rung allgemein ab, wenn der Zustand ,,auf eigenes Verschulden" zuriick- 
zufiihren ist, und fiihrt hierzu als besonderen Fall die Berauschung an. 

Ebenso beurteilt der schwed. E. aber auch die Trunkenheit, die 
an sich geeignet ware, die Z.r.f.k. aufzuheben: denn nur die Handlung 
des Taters ist straffrei, ,.der ohne eigene Schuld in einen solchen Geistes- 
zustand geraten ist, daB er auBer sich war oder unfahig. nach seinem 
Willen zu handeln'* (4. Abschnitt, § 1, S. 2). Soniit raumt Thyren den 
bus zur BewuBtlosigkeit Trunkenen keine Straffreiheit ein. Freilich 
setze ich hierbei voraus, daB Thyren , wenngleich er in der Einleitung 
sagt. er habe die Besprechung ,,der Kriminalitat der Alkoholisten" 
hinausgeschoben. mir in der Deutung dieser Bestimmung zustimmt. 
Dann allerdings ein Bruch mit dem Verschuldungsprinzip, zu dem 
der E. sich, vor allem nach dem einhelligen Widerspruch gegen § 64 
des Vorentwurfs, nicht entschlieBen konnte. 

Der E. § 274 straft die selbstverschuldete sinnlose Trunkenheit, 
sofern in ihr eine Straftat begangen ist; freilich siitd die Worte ,.sinn¬ 
lose Trunkenheit* 4 eine schlechte Ausdrucksweise, die man vielleicht 
zweckmaBiger mit dem vom tsch.-sl. E. gewahlten Ausdruck ,,Voll- 
trunkenheif* vertauscht. Der G.E. steht auf demselben Standpunkt 
wie der E. Zwar ist der hesondere Teil des G.E. noch nicht erschienen. 
in den naturgemaB die Bestimmung iiber dieses dem bisherigen Straf- 


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in- und ausl&ndischer Entwiirfe zu einem Strafgesetzbuck. 


585 


gesetzbuch fremde Delikt gehort. Aber § 81 G.E. liiBt vermuten, dab 
keine wesentliche Anderung geplant ist. Vora tsch.-sl. E. fehlt ebenfalls 
noch der besondere Teil, der sicher einschlagige Bestimmungen ent- 
halten wird. Denn der allgemeine Teil (S. 54) halt es, wie die Begriin- 
dung ausfiihrt, nicht fiir notig, ,,den praktisch haufigsten Fall 
der Unzurechnungsfahigkeit“ eingehender zu beriicksichtigen. Die 
Begriindung fiihrt aus: ,,Der Fall der Volltrunkenheit gehort in die 
Gruppe der BewuBtseinsstbrungen und es ist nicht zweifelhaft, dab 
auch hier, falls die iibrigen Voraussetzungen gegeben sind, Unzurech- 
nungsfahigkeit eintritt. Falls der Tater sich in der Absicht betrunken 
hat, eine Straftat zu begehen, kann allerdings nicht von Unzurechnungs- 
fahigkeit gesprochen werden, weil da die verbrecherische Tatigkeit dem 
Zustand der Unzurechnungsfahigkeit vorangegangen ist, der lediglich das 
Mittel war zurVerwirklichung des im Zustande der Zurechnungsfahigkeit 
gefaBten verbreeherischen Vorsatzes“. Also andert die vorsatzlicli zur 
Begehung der strafbaren Tat herbeigefiihrte Volltrunkenheit nichts an 
der Strafbarkeit, hebt also die Z.r.f.k. nicht auf. Auf demselben Stand- 
punkt steht der pol. E. (Art. 10 §2). ,,Konnte der Tater“, um dem 
tsch.-sl. E. noch weiter das Wort zu geben, ,,voraussehen, daB er im 
Zustand der Trunkenheit eine Straftat begehen wird, so ist gleichfalls 
kein Grund vorhanden, ihn anders als einen anderen Tater zu behan- 
deln, der aus Fahrlassigkeit eine Tat begangen hat“. Die Begriindung 
schlieBt mit den Worten, daB es Sache des besonderen Toils des Straf- 
gesetzes sei, inwiefern Trunkenheit und Trunksucht an und fiir sich 
strafbar sein soil. 

Eine ahnliche Stellung nimmt der schwz. E. ein (S. 18). Zwar 
bctont er, daB Trunksucht unter Umstanden die Z.r.u.f.k. oder vm. 
Z.r.f.k. herbeifiihren kann, und daB auf solche Tater die allgemeinen 
Bestimmungen Anwendung finden. fiihrt dann aber fort: ,,DaB iiberall 
da, wo der Tiiter im niichternen Zustande die Tat iiberlegt und be- 
schlossen und sich hernach, um sich die Veriibung zu erleiehtern, in 
den Zustand der Trunkenheit versetzt hat, die voile Strafbarkeit der 
Tat bleibt, gilt auch unter der Herrschaft dieses Gesetzes. Ahnliches 
ist von der Verantwortlichkeit fiir fahrlassige Handlungen und Unter- 
lassungen zu sagen. Mag auch die Trunkenheit im entscheidenden 
Augenblick die Moglichkeit der Vorsicht oder Umsieht aufgehoben 
oder vermindert haben, so kann eine strafbare Fahrlassigkeit darin 
gefunden werden, daB derjenige, der wuBte, es werde der niichste Mo¬ 
ment von ihra die Anspannung der Aufmerksamkeit erfordern, sich 
betrunken hat“. 

Auch der schwz. E. sieht in dem Sichbetrinken an sich keine straf¬ 
bare Handlung. Abgesehen von den eben erwahnten Fallen bestraft 
Art. 331 den mit BuBe, der ,,im Zustand der Betrunkenheit bffentlich 

Archiv fUr Psychintrie. Bd. 68. 38 


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586 Ernst Schultze: Vergleichende psvchiatrische Kritik neuzeitlicher 


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Sitte und Anstand in grober Weise verletzt“, und sieht darin eine 
Obertretung. Eine Bestimmung, ahnlich dem § 309 Z. 6 des Y r or- 
entwurfs, nur gliickiicher in der Fassung. 

Der ost. E. hat in § 2421 Gefangnis oder Haft fiir denjenigen vor- 
gesehen, der ,,sich vorsatzlich oder fahrlassig in den Zustand einer die Zu- 
rechnung ausschlieBenden Trunkenheit versetzt". Wie die erlauternden 
Bemerkungen (S. 226) ausfiihren, fallt der nieht unter diese Bestimmung, 
der ohne sein Verschulden von einem Dritten trunken gemacht wurde, 
aber auch der nieht, der infolge von Trunksucht an Geistesstorung 
leidet und darait wegen seiner Z.r.u.f.k. nieht mehr deliktsfahig ist. 
Freilich wird die Betrunkenheit nur unter bestimraten Voraussetzungen 
bestraft, namlich dann, wenn in ihr eine Tat veriibt wird, die dera 
Tater ,,sonst als strafbar zuzurechnen ware und die stronger als mit 
6 Monaten Freiheitsstrafe bedroht ist“. Nur bei einer erheblichen Tat 
liegt nach der Ansicht des Gesetzgebers das Bediirfnis nach einer straf- 
rechtlichen Reaktion vor. Trifft das wirklich immer zu? Ware es 
nieht folgerichtiger, eine Bestrafung der Trunkenheit unabhangig von 
der strafrechtliohen Bedeutung der in ihr begangenen Tat zuzulassen? 
Wer sich betrinkt, um die Tat zu begehen, kann sich nieht auf § 242 
berufen; die Trunkenheit war dann eben nur das von ihm vorsatzlich 
gewahlte Mittel, die strafbare Handlung auszufiihren. 

Nach wie vor trage ieh Bedenken, fur in selbstverschuldeter Voll- 
trunkenheit begangene Straftaten Z.r.f.k. anzunehmen. Richtiger ist 
der Standpunkt des E.. der diese bestimmt geartete Volltrunkenheit 
ahndet. Freilich ist das in ihm vorgesehene StrafmaB, 6 Monate (oder 
2 Jahre) Hochststrafe, viel zu gering. 

Keiner der Entwiirfe beriicksiehtigt, daB auBer dem Alkohol auch 
andere narkotische Mittel, wie Morphium, Kokain, Pantopon, die 
Z.r.f.k. beeintrachtigen konnen, wenigstens nieht ausdriicklich. Auch 
nieht der tsch.-sl. E., wiewohl dieser bei den sichernden MaBnahmen 
neben dem ungeziigelten Hang zu geistigen Getranken auch den zu 
andern berauschenden Mitteln und Giften beriicksiehtigt. Aber der 
schwed. E. spricht, wie schon mehrfach hervorgehoben, davon, daB 
der Tater ohne eigene Schuld in einen Zustand geraten kann, der 
strafrechtliche Wiirdigung erheischt. Ahnlich geht der pol. E. vor. Ieh 
iiberlasse es einem zukiinftigen Gesetzgeber, zu entscheiden, ob mit 
dieser allgemeinen Fassung auch noch alle weiteren Moglichkeiten er- 
faBt werden konnen. Dariiber besteht kein Zweifel, daB die Zukunft 
sich nieht mit der alleinigen Beriicksichtigung des AlkoholmiBbrauchs 
begniigen darf. 


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in- und auslftndischer Entwiirfe zu einem Strnfgesetzbuch. 587 

II. Bestiininungen iiber MaBregeln der Besserung und Sicherung. 

Die grundsatzlich wichtigste Neuerung bilden in alien Entwiirfen 
die Vorschriften iiber die MaBregeln der Besserung und Sicherung. 
Dementsprechend gilt z. B. in Polen die Ubergangsbestimmung, nach 
der, auch nach Inkrafttreten des neuen Strafgesetzbuches, noch das alte 
gilt, sofern es fur den Beschuldigten giinstiger ist, nicht hinsichtlich der 
SicherungsmaBregeln (vgl. §211. G.E.). Makarewicz( S. 179) betont gerade- 
zu: ,,Der Schwerpunkt des Gesetzes soil bei den MaBregeln der Sicherung 
liegen. Die Falle, wo dieselben anzuwenden sind, sind bekanntlich 
zahlreicher, als gewohnlich angenoranien wird; die Falle, wo wir mit 
einem iiber siebzehn Jahre alten Tater zu tun haben, wo weder ver- 
minderte Zurechnungsfahigkeit, noch Alkoholismus, noch Arbeitsscheu, 
noch Riickfall, Berufs- oder Gewohnheitsverbrechertum vorliegen, bilden 
keine Regel, eher eine Ausnahme. Je tieferen Einblick man in das Geistes- 
und Vorleben des Taters erhalt, desto mehr kommt man zur Uberzeu- 
gung, daB ein Rechtsbrecher im idealen Sinn, dessen Tat ausschlieBlich 
die Vergeltung erheischt, nicht so oft vorkommt, wie man es glaubt“. 

Welche Bedeutung die Gesetzgeber den SicherungsmaBnahmen bei- 
messen, lehrt schon ein fliichtiger Blick in den Text der Entwiirfe. Es 
wird ihnen fast iiberall ein besonderer Abschnitt eingeraumt. Im 
schwz. E. werden die SicherungsmaBnahmen, soweit es sich um 
Geistesgestdrte handelt, unter den Bestimmungen iiber ,,das Ver- 
gehen“ erortert. Ubersichtlicher und einheitlicher ist freilich die Zu- 
sammenfassung aller sichernden MaBnahmen, gleichgiiltig, gegen wen 
sie sich richten, oder welcher Art sie sind, in einem besonderen Ab¬ 
schnitt. So gehen die anderen Entwiirfe vor. 

Fiir die psychisch abnormen Personen kommen in den Entwiirfen 
drei verschiedene MaBnahmen in Betracht: 1. Schutzaufsicht, 2. Wirts- 
hausverbot, 3. Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt oder in 
einer Trinkerheilanstalt. DaB das Wirtshausverbot und die Unter¬ 
bringung in einer Trinkerheilanstalt nur fiir solche, die dem Alkohol- 
miBbrauch ergeben sind, in Betracht kommen, liegt auf der Hand. Die 
Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt ist nur gegeniiber 
Geistesgestorten anwendbar, wahrend die Schutzaufsicht bei alien 
Gruppen Anwendung finden kann. 

A. Geistige Mangel. 

u) Venvahrung in einer Heilanstalt. 

1. Zurechnungsunfahigkeit. 

,,Mit der Freisprechung oder dem AuBer-Verfolgung-Setzen des un- 
zurechnungsfahigen Urhebers einer Schadigung oder einer Gefahrdung 
ist noch recht wenig erreicht“, sagt zutreffend die Begriindung des 

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588 Ernst iSchultze: Vergleichende psychiatrische Kritik neuzeitlicher 

schwz. E. (S. 9) und betont mit vollem Recht. dab die GeseUschaft in 
den raeisten Fallen einen starken Schutz des Staates verlangen mub. 
So ausfiihrlich die Begriindung des schwz. E. sich zur Frage der Ver- 
wahrung auslabt, so verhaltnismabig kurz ist die Stellungnahme der 
Erlauterungen zum tsch.-sl. E.; um so auffallender, als gerade sie die 
Frage der Z.r.u.f.k. sehr eingehend und durchaus zutreffend besprechen. 
1st die Verwahrung deshalb so kurz abgehandelt, weil deni Urheber des 
Entwurfs das Recht des Staates so selbstverstandlich erscheint, dab 
man dariiber kein Wort zu verlieren braucht? Oder deshalb, weil es sich 
nach seiner Oberzeugung (S. 83) nur um eine verhaltnismabig kleine 
Zahl von Personen handelt? Eine so kleine Zahl, dab nach seiner 
Meinung fiir die Cbergangszeit wahrscheinlich eine besondere Abtei- 
lung irgendeiner Strafanstalt oder einer Anstalt fiir Schwachsinnige oder 
einer Trinkerheilanstalt ausreicht — und dabei sieht der tsch.-sl. E. eine 
Verwahrung pathologischer Elemente in einem sehr viel weiteren Um- 
fange vor als jeder andere Entwurf. 

Nur der pol. E. (Art. 10 § 3) halt es fiir notwendig, ausdriicklich 
hervorzuheben, dab die Freisprechung wegen Fehlens der Z.r.f.k. der 
Anwendung von Sicherungsmabregeln nicht im Wege steht. 

Alle Entwiirfe stimmen, so grundsatzlich verschieden auch Strafen 
und sichernde Mabnahmen sind, darin iiberein, dab das Gerichi oder der 
Richter , aber nicht andere staatliche Organe, iiber die Internierung ent- 
scheiden soli. An der Richtigkeit dieses Standpunktes kann mich auch der 
Hinweis von Waschow nicht stutzig machen, dab das Gericht sich nur 
mit denjenigen Fallen befassen kann, in denen eine objektiv strafbare 
Handlung begangen worden ist und das Fehlen der Z.r.f.k. im Vor- 
verfahren unbekannt blieb. Alle iibrigen Falle — und das ist sicher die 
Mehrzahl — miissen nach wie vor allein von der Verwaltungsbehorde er- 
ledigt werden. ,,Es ware daher wiinschenswert, dab iiber die Not- 
wendigkeit und Dauer der Verwahrung bei fehlender oder verminderter 
Zurechnungsfiihigkeit nur in einem Rechtszuge, und zwar durch 
Verwaltungsbehorden, entschieden wird. Den Strafgerichten konnte 
aber das Recht zugesprochen werden, Unzurechnungsfahige oder ver- 
mindert Zurechnungsfahige nach erfolgter Freisprechung (auch bei 
vm. Z.r.f.k. ? Ref.) vorlaufig in Verwahrung zu halten, bis sie von 
der Verwaltungsbehorde iibernommen werden 11 . Ich kann mich 
dieser Auffassung nicht anschlieben und kann nur auf meine friihere 
Beweisfiihrung (s. diese Zeitschr. 66, 221. 1922) verweisen. 

Durchaus zutreffend hebt der schwz. E. (8. 9) hervor, dab eine so 
folgenschwere Verfiigung richtiger in die Hand des Richters als in die 
der Verwaltungsbehorde gelegt wird. ,,Nur der Befehl des Richters 
sichert die Durchfiihrung der Mabnahme; lassen wir sie abhangig sein 
void Antrag der Armengemeinde oder von ihrem guten Willen, die 


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in- und auslandischer Entwurfe zu einem Strafgesetzbucb. 


589 


Kosten zu bestreiten oder wenigstens vorzuschieBen, so ist diese Sicher- 
heit nicht gegeben.“ ,,Die Strafbehorden haben sich rait der Person des 
Angeschuldigten eingehend beschaftigt und alle Erhebungen gemacht; 
es ist nicht nur ein Gebot der Krafteersparnis, wenn man ihnen 
gleich auch noch die Verfiigung iiber das Weitere zuweisen mochte“. 

Ganz ahnlich begriindet der tsch.-sl. E. (S. 76) die Berechtigung. 
nicht den Verwaltungsbehorden, sondern den Gerichten die Anordnung 
der sichernden MaBnahmen zu iibertragen, und hebt noch hervor, daB 
,,e8 sich da stets um einen sehr wesentlichen Eingriff in die biirgerliche 
Freiheit handelt, so daB es zweckmaBig erscheint, seine Anordnung 
einem Organe vorzubehalten, welches die groBte Gewahr hietet fiir die 
Unabhangigkeit und Unparteilichkeit“. Auf einen recht wichtigen 
praktischen Gesichtspunkt weist ubrigens noch der schwz. E. hin, wenn 
er in der Begriindung (S. 9/10) sagt: ,,Ganz besonders ist aber von einer 
solchen Vereinigung der Strafe und der sichernden MaBnahme ein 
gunstiger EinfluB auf den Ernst und Wert der Verhandlungen zu er- 
warten, weil der Richter nicht mehr zu befiirchten braucht, die Sicher- 
heit der Gesellschaft zu gefahrden, wenn er einem Gutachten folgt, das 
auf Unzurechnungsfahigkeit lautet, und weil anderseits weder der An- 
geschuldigte noch der Verteidiger sich leichtsinnig hinter die Einrede der 
Unzurechnungsfahigkeit verschanzen werdcn“. 

Die Entwurfe beriicksichtigen in ihrem Wortlaut mit keinem Wort 
das zeitliche Verhalten der Psychose. Vielleicht deshalb nicht, weil 
ohnehin anzunehmen ist, daB das Gericht nur bei chronischen Psychosen 
der Frage der Verwahrung ernstlich naher tritt. Eine Ausnahme macht 
nur der pol.E., der in Art. 75 von einem dauernd unzurechnungsfiihigen 
Tater spricht. Dieser Wortlaut befriedigt aber nicht. Denn es ist 
durchaus nicht erforderlich, daB die chronische Psychose standig so er- 
heblich ist, daB sie ihren Trager z.r.u.f. macht; die Verwahrung kann 
vielmehr auch dann nicht nur berechtigt, sondern sogar geboten sein. 
wenn die chronische Psychose nur zeitweilig eine solche Verschlimme- ' 
rung erfahrt, daB die Annahme einer Zurechnungsunfahigkeit gerecht- 
fertigt erscheint. Die Stellungnahme des pol. E. gegeniiber den Z.r.u.f. 
ist um so auffalliger, als er eine Anstaltsverwahrung l>ei den vm. Z.r.f. 
zulaBt, ohne bestimmte Forderungen in zeitlicher Bestimmung zu 
stellen; um so bemerkenswerter, als man doch vielfach gerade nur 
chronischen Zustanden gegeniiber die Annahme einer vm. Z.r.f.k. gelten 
lassen wollte und will. 

Die Regelung der V : erwall rung der wegen Geistesstdrung Frei- 
gesprochenen kann sich an die Bestimmung ansehlieBen, die fiir die 
Annahme ihrer Straffreiheit maBgebend ist. So gehen der E. und G.E. 
vor. Das ist sicher der einfachste, auch der gegebene Weg. Der tsch.-sl. 

E. (§57, Z. 1) geht da von aus, daB Geisteskrankheit oder Schwachsinn 


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590 Ernst Schultze: Vergleichende peychiatrische Kritik neuzeitlicher 


zur Verwahrung berechtigt.wie auch der schwed.E.(3.Abschn.§ l)auf einen 
Geisteskranken oder Blddsinnigen Bezug nimmt. Wenn aber die beiden 
Entwiirfe in ihren Bestimmungen iiber die Zurechnungsunfahigkeit neben 
Geisteskrankheit und Blodsinn auch noch ausdriicklich, wie der tsch.-sl. 
E., oder andeutungsweise BewuUtseinsstbrungen erwahnen, dicse 
letzteren aber bei der Verwahrung nicht beriicksichtigen, so gcschieht 
das sicher deshalb, weil von vornherein nur bei chronischen Psychosen 
eine Verwahrung in Betracht komrnt, 

Wenn iiberhaupt das Strafgesetzbuch eine Bestimmung iiber das 
zeitliche Verhalten der zur Verwahrung berechtigenden Psychose fiir 
notwendig erachtet, geniigt der alleinige Hinweis darauf, daB die 
Psychose, die zur Annahme der Zurechnungsunfahigkeit und zur An- 
ordnung der Verwahrung berechtigt, eine chronische sein muB, oder, uin 
alien MiBverstandnissen vorzubeugcn, zur Zeit der Verhandlung jeden- 
falls noch nicht abgeheilt sein darf. Eine derartige Bestimmung reicht 
um so mehr aus, als in jedem Falle noch eine weitere, auf sozialem Ge- 
biet liegende Vorbedingung erfiillt sein muB. Namlich die, daB von dem 
psychisch Kranken auch in Zukunft eine Schiidigung zu befiirehten ist, 
die nur durch die Anstaltsverwahrung. nicht etwa allein durch die 
Schutzaufsicht, abgewandt werden kann. 

Wie aber soli, wenn die fiir die Verwahrung maBgebende Be- 
stimmung nicht auf BewuBtseinsstdrungen Bezug nimmt, die Gcsell- 
schaft vor Epileptikern geschiitzt werden, die in ihren Dammerzu- 
standen sich eine Straftat zuschulden kommen lassen ? Es bleibt dann, 
um nicht eine Liieke eintreten zu lassen, nichts iibrig. als in der patho- 
logischen Grundlage, die die Vorbedingung fiir das Auftreten von 
Damracrzustanden ist, eine krankhafte Storung der Geistestatigkeit zu 
erblicken, um w^enigstens so, bei einer gar zu engen Fassung der gesetz- 
lichen Bestimmungen, den Schutz der Gesellschaft zu sichern. Ein 
Ausweg.dera gerade der Laie nicht nachriihmen wird,er sei ungezwungen. 
Um so eher ist es geboten, bei der Bestimmung iiber die Verw r ahrung 
auf die Paragraphen, die die Z.r.u.f.k. regeln, Bezug zu nehmen. 

l)cr E. und mit ihm der G.E. nehmen Riicksicht auf die offcntliche 
Sicherheit. Besser spriiche man, um auch private Rcchtsgiiter oder die 
einzelne Person zu schiitzen, von Rechtssicherheit. Eher kann man sich 
schon der Fassung des schwz. E. (Art. 1.3 I) anschlieBen, der die Ver¬ 
wahrung verhiingt, wenn der zurechnungsunfahige Tater ,,die offent- 
liche Sicherheit oder Ordnung" gefahrdet. Ich bevorzuge aber doch die 
Fassung des pol. E. (Art. 75), der eine Verwahrung vorsieht, wenn die 
..Freilassung mit einer Gefahr fiir die Rechtsordnung verbunden ist“. 
Es bedarf jedenfalls nicht einer so umstandlichen Ausdrucksweise, wie 
sic der ost. E. (§ 30) anwendet (,,wenn er wegen seines Geisteszustandes 
und mit Riicksicht auf seinen Lebenswandel und die Eigenart seiner 


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in- und ausl&ndischer Entwiirfe zu einem Strafgesetzbuch. 591 

Tat als besonders gefahrfich fur die Sittlichkeit oder fur die Sicherheit 
der Person oder des Vermogens [gemeingefahrlich] anzusehen ist“). Dali 
ich mich rait einer alleinigen Bezugnahme auf die Gemeingefahrlich- 
keit nicht einverstanden erklaren kann, einem Weg, den der tsch.-sl. 
E. (§57 Z. 1) einschlagt, brauche ich hier nicht nochmals zu erortern, 
nachdem ich mich wiederholt gegen diese nur irrefiihrende, miBver- 
standliche Ausdrucksweise gewandt habe. Ich halte den Ausdruck 
gemeingefahrlich fiir schlecht, geradezu fiir so gefiihrlich, dali ich ihn 
selber gemeingefahrlich genannt habe. 

Der ost. E. sieht eine ,,Abgabe“ des Geisteskranken iibrigens nur 
dann vor, wenn er „eine strenger als mit 6 Monaten Ereiheitsstrafe be- 
drohteTat begangen hat' 1 . Ich bin der Letzte, der nicht zugibt, daB die 
Verwahrung einen erheblichen Eingriff in die Freiheit des Einzelnen 
bedeutet. Aber ich kann doch nicht billigen, daB die Anordnung der 
Verwahrung von der strafrechtlichen Qualitat der jeweils begangenen 
Tat abhangig gemacht wird. Nicht nur, dali fiir deren Beurteilung 
geradezu Zufalligkeiten von entscheidender Bedeutung sein konnen, ist 
doch nicht sowohl die Straftat wie die Eigenart des Taters fiir die Wahl 
der sozialen Gegenwehr ausschlaggebend. 

Eine Ausnahmestellung nimrat der schwz. E. ein. Er gestattet 
ein Einschreiten des Strafrichters auch dann, wenn der zureehnungs- 
unfahige Tiiter nur der Behandlung oder Versorgung in einer Heil- oder 
Pflegeanstalt bedarf (Art. 14). Ich kann diesen Standpunkt nicht billigen, 
so gut auch seine Absichten sind. GewiB wiirde auch in einem solchen 
Falle die Anstaltsunterbringung berechtigt sein, und ebenso bezweifele 
ich nicht, daB das mit dieser Aufgabe betraute Gericht schneller — und 
doch mit voller Berechtigung — die Anstaltsunterbringung herbei- 
fiihren wird, als die Verwaltungsbehbrde, die sich nunmehr erst unter- 
richten miiBte. Aber es handelt sich hier um eine fiirsorgerische Tatig- 
keit, die nicht zu den Aufgaben des Gerichts gehort. auch nicht, wenn 
,.raehr die Hiilflosigkeit des Taters zutage tritt, der sich in der Wirklich- 
keit des Lebens nicht zurechtzufinden vermag und daher iiberall an- 
stoBt“ (S. 9). Bedarf der zurechnungsunfahige Tiiter der Krankenhaus- 
pflege, aber nicht aus Griinden der Rechtssicherheit, so muB das Gericht 
hiermit die Verwaltungsbehordc betrauen. Anders natiirlich. sofern er 
,,anstoBt li und hierdurch die Bestimmungen des Strafgesetzbuches 
verletzt. 

Wenn ich es auch nicht fiir notwendig halte, daB das Gericht nur 
auf Grand fachmiinnischer Begutachtung sich fiir die Annahme von 
Z.r.u.f.k. ausspricht, erscheint es mir doch dringend geboten, daB auf 
Verwahrung nicht erkannt werden darf, wenn nicht der Tiiter vorher 
psyehiatrisch untersucht ist. Hiermit iibercinstimmend schreibt Art. 12 III 
des schwz. E. vor, daB die Sachverstandigen. die bei Zweifeln der Richter. 


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592 Ernst Schultze: Vergleichende psychiatrische Kritik neuzeitlicher 


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an der Z.r.f.k. herangezogen werden konnen, bei Taubstummheit oder 
Epilepsie des Beschuldigten aber gehort werden raiissen, sich auch 
dariiber auBern, ob der Beschuldigte ,,in eine Heil- oder Pflegeanstalt 
gehore und ob sein Zustand die offentliche Sicherheit oder Ordnung 
gefahrde“. Die beiden Fragen, die der Sachverstandige zu beantworten 
hat, wiirden besser anders anzuordnen oder, richtiger gesagt, zu fassen 
sein. Der zurechnungsunfahige oder vermindert zurechnungsfahige 
Tater wird in eine Heil- oder Pflegeanstalt verwiesen, weil er entweder 
die offentliche Sicherheit oder Ordnung gefahrdet, oder weil sein Zu¬ 
stand seine Behandlung oder Versorgung in einer Heilanstalt erfordert. 
Daher wiirde es sich eher empfehlen, den Sachverstandigen zu fragen, 
ob der Verurteilte aus dem einen oder dem andern Grunde der Anstalts- 
pflege bedarf, sofern man wirklich die richterliche Einweisung der 
Kranken, die nur aus gesundheitlichen Griinden der Anstaltspflege 
bediirfen, beibehalten will. Vorher aber miiBten die Sachverstandigen 
naturlich zwei Fragen bejahen; einmal namlich die nach dem Vorliegen 
von Geistesstorung schlechtweg und dann die Frage nach der durch sie 
bedingten Beeinflussung der Fahigkeit, das Unrecht der Tat einzu- 
sehen oder dieser Einsicht gemiiB zu handeln. 

Die Abanderung der osterreichischen StrafprozeBordnung laBt er- 
warten, daB die friiher von mir aufgestellte Forderung erfiillt wird, 
namlich die, daB das Gericht sich vor Anordnung der Verwahrung 
zweifelsfrei dariiber auslaBt, ob der Beschuldigte eine nach dem Gesetz 
strafbare Handlung begangen hat, aber wegen fehlender Zurechnungs- 
fahigkeit freigesprochen werden muB. Schon jetzt sieht- § 496 Abs. 2 
der abgeanderten StrafprozeBordnung die Einholung des Gutachtens 
zweier Irrenarzte vor, ..bevor das Gericht iiber die Verwahrung eines 
Geisteskranken oder die Zulassigkeit der Verwahrung eines geistig 
Minderwertigen entscheidet“. Die StrafprozeBordnung gibt iibrigens 
genaue Vorschriften fur das Vcrfahren, das auf die Verwahrung Geistes- 
kranker hinzielt, und zwar verschieden, je nachdem, ob das Straf- 
verfahren wegen Z.r.u.f.k. des Taters eingestellt ist oder ob es zum 
Freispruch gekommen ist. Ich kann auf eine Stellungnahme zu diesen 
Vorschriften bei dem Plan der vorliegenden Arbeit verzichten. weil 
keiner der anderen bisher vorliegenden Entwiirfe hierzu Stellung ge- 
nommen hat. 

Der E. wie der G.E. sprechen von einer offentlichen Heil- oder 
Pflegeanstalt , verlangen also eine Irrenanstalt und schlieBen eine Privat- 
irrenanstalt aus. Der schwz. E. spricht schlechtweg von Heil- oder Pflege- 
anstalten, meint aber, wie aus den weiteren Bestimmungen zu ent- 
nehmen ist, auch wohl nur eine offentliche Anstalt. Der ost. E. schreibt 
,,eine staatliche Anstalt fur verbrecherische Irre“ vor. Der pol. E. 
nimmt Bezug auf eine besondere Abteilung des Irrenhauses oder 


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in- und ausl&ndischer Entwiirfe zu einem Strafgesetzbuch. 


593 


eine Anstalt fur Irre mit verbrecherischen Neigungen oder eine 
andere Heilanstalt, bindet also das Gericht in keiner Weise, was 
gerade mit Riicksicht auf die allgemeine Finanznot durchaus ange- 
bracht ist. 

Einen eigenartigen und neuen Weg schlagt der tsch.-sl. E. (§57) 
ein, der auf eine Anstalt fur leranke Gefangene verweist. Offenbar ein 
Sammelbegriff oder Sammelkrankenhaus, wenn man diesen Ausdruck 
gebrauchen darf. Denn die Anstalt fur kranke Gefangene soli nicht nur 
fur die wegen Zurechnungsunfahigkeit Freigesprochenen. sondern auch 
fur kranke Verurteilte in Betracht kommen. Zur ersten Gruppe gehoren 
„einerseits gemeingefahrliche geisteskranke oder geistesschwache Per¬ 
sonen, andererseits Personen, we'che ziigellosem GenuB von Alkohol er- 
geben sind“. Die zw r eite Gruppe der Anstaltsinsassen sind Personen, 
,,welche wegen eines Verbrechens oder eines Vergehens verurteilt wurden. 
und zwar Trinker ohne Riicksicht- auf die Hohe der Strafe, sonst nur 
Personen, welche fur wenigstens ein Jahr oder unter Bedingungen ver¬ 
urteilt wurden, unter denen die Abgabe in eine Zwangsarbeitsanstalt 
zulassig ist, falls sie wegen allzu hohen Alters oder wegen korperlicher 
oder geistiger Gebrechen nicht der Zucht unterworfen werden konnen, 
wie sie im Zuchthaus, im Gefangnis oder in der Zwangsarbeitsanstalt 
eingehalten werden muB“ (S. 82). Ob auch fur die vm. Z.r.f., von 
denen eine Gefahrdung der Rechtssicherheit zu erwarten steht. die aher 
doch der Zucht einer Strafanstalt unterworfen werden konnen, eine 
Einweisung vorgesehen ist, steht noch dahin (s. S. 601). 

Es mag gewili zweckmaBig sein, alle kranken kriminellen Ele- 
mente an einem Ort zu vereinen. Kami doch damit eine wesent- 
lich sicherere Verwahrung gewahrleistet werden, besonders weim auf 
sozial einwandfreie Individuen keine Riicksicht genommen zu werden 
braucht. Es erscheint mir aber doch fraglich. ob es praktisch 
gelingt, den so verschiedenen Anforderungen, die die mannigfachen 
Krankheitszustande nicht nur an den Anstaltsarzt, sondern mehr noch 
an den Betrieb der Anstalt und ihre Einrichtung stellen, gerecht zu 
werden. Eher wiirde schon der Vorschlag eine Erwagung verdienen, 
die nur psychisoh abnormen Kriminellen an einem Ort unterzubringen. 
gleichgiiltig, ob es sich, allgemein gesagt. um Geisteskranke. Geistes¬ 
schwache oder Siichtige handelt. Dabei verkenne ich keineswegs die 
Schwierigkeiten, die sich schon der Losung dieser sehr viel enger um- 
grenzten Aufgabe entgegenstellen. Und wiirde man etwa eine der- 
artige Losung des Problems ernstlich ins Auge fassen, so wiirde ich mich 
nur zu einem vorsichtigen Versuch mit einem bereits vorhandenen Ge- 
baude. etwa einer leer stehenden Korrektionsanstalt, einverstanden 
erklaren. Fehlt es uns doch zurzeit durchaus an Geldmitteln fiir der- 
artige kostspielige Experimente. 


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594 Ernst Schultze: Vergleichende psychiatrische Kritik neuzeitlicher 


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Osterreich hat sich genauer dariiber ausgelassen, wie es sich die 
staatlichen Irrenanstalten denkt, die nach § 583 I Gesetz betr. Ab- 
anderung der StrafprozeBordnung berufen sind, ,,die ihnen vom Gerichte 
iiberwiesenen Personen fur die Dauer ihrer Gemeingefahrlichkeit zu 
verwahren“. Es raoge geniigen, hervorzuheben, daB die Verwahrten 
natiirlich auch einer Behandlung zu unterziehen sind, ,.um ihren krank- 
haften Zustand zu beheben oder zu bessern“ (§583 11). ,,Zum Vor- 
. steher ist ein psychiatrisch gebildeter und erlahrener Arzt zu bestellen“ 

(§ 584 II). Was die Einrichtung der Anstalt und die Behandlung der 
Kranken angeht, so sind (§ 587) ,,die MaBregeln zulassig, die zur sicheren 
Verwahrung und zur voraussichtlichen Heilung des Kranken geboten 
sind“. 

Es wiirde zu weit fiihren, wollte ich auf die recht eingehenden Be- 
stimmungen des tsch.-sl. E. iiber den Vollzug der sichernden MaB- 
nahmen in den Anstalten fiir kranke Gefangene eingehen. Als Zweck 
der Anstalten t)ezeichnet § 123 einmal den Schutz ,,vor gemeingefahr- 
lichen Geisteskranken und schwachsinnigen Personen 11 , dann die Ent- 
wbhnung ,,vom ungeziigelten Hang zu geistigen Getranken (Trunk- 
sucht) und vom GenuB anderer berauschenden Mittel und Gifte"‘. 

Von besonderem Interesse ist die gemeinsam ftir die Straf- und 
Sicherungsanstalten erlassene Bestimmung iiber ihre Leiter. ,,Leiter 
der Anstalt kann lediglich eine Person sein, welche durch ihren Charakter, 
ihre Erfahrungen und Fachkenntnisse Gewahr daftir bietet, daB sie die 
Anstalt so leiten wird, wie es deren Zweck erfordert' 1 (§ 96 II). Im Be- 
sonderen nimmt § 123 II Bezug auf die Anstalt fiir kranke Gefangene: 
..Die Beschiiftigung der Verwahrten leitet ein Arzt, dem hierbei die 
Heilung oder wenigstens die Besserung der Gesundheit des Verwahrten 
als Richtlinie dienen soll“. 

Daraus ergibt sich meines Erachtens ungezwungen die Forderung. 
daB an der Spitze der Anstalt fiir kranke Geiangene ein Arzt stehen muB. 
Sagt doch die Begriindung (S. 94) ausdriicklich : ,,Die Anstalt fiir kranke 
Gefangene wird eher (d. h. im Vergleich zu den Zwangsarbeitsanstalten 
und Verwahrungsanstalten) den Charakter einer Heilanstalt oder eines 
Siechenhauses haben, obzwar allerdings auch hier fiir eine angemessene 
Beschaftigung der Insassen wird gesorgt werden miissen“. Ich gehe 
noch weiter und halte es fiir notwendig, daB der Leiter Psychiater 
sein soil. GewiB ist das Material der Anstalt fiir kranke Gefangene 
recht bunt und mannigfaltig. Aber die psychisch Abnormen werden 
sicher iiberwiegen: jedenfalls erfordert ihre sachgemiiBe Behandlung 
eine ganz besondere Fachausbildung. Nur die Leitung der Anstalt fiir 
kranke Gefangene durch einen Psychiater gewahrleistet, daB sie die 
Aufgabe orfiillt, die ihr der Gesetzgeber zuweist; einmal die Sicherung 
der Gesellschaft und dann die sachgemiiBe Behandlung ihrer Insassen, 


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in- und auslftndischer Entwiirfe zu eineni Strafgesetzbuch. 


595 


bei der die Arheitstherapie die groBte Rolle spielt. Die Erfahrungen 
hinsichtlich des Betriebes der offentlichen Irrenanstalten haben satt- 
sam gelehrt, daB sie nur dann, wenn der Arzt der alleinige und selb- 
standige Leiter ist, ihren Aufgaben gerecht werden konnen. Eine 
zweikopfige Leitung, ich meine eine Leitung durch einen Arzt und einen 
Verwaltungsbeamten in gleichwertiger Stellung, oder gar die alleinige 
Leitung durch einen Verwaltungsbeamten, halte ich fur ein Unding. 
Es laBt sich dock nicht verkennen, daB der Betrieb einer Anstalt fiir 
kranke Gefangene, in der die psychisch Abnormen vielleicht nicht an 
Zalil iiberwiegen, in der sich aber die psychiatrisch gefarbten An- 
forderungen am nachdriicklichsten geltend machen und vielleicht auch 
am schwersten durchzufiihren sind, ungemein dem einer Irrenanstalt 
iihnelt. Um so weniger Bedenken bestehen gegen die arztliche Leitung, 
als man schon heute Strafanstalten, denen ein Heilzweck im arztlichen 
Sinne nicht zukommt, unter die Leitung von Arzten gestellt hat; 
meines Wissens hat man mit diesem Vorgehen nur die besten Er¬ 
fahrungen gemacht. Dann, aber auch nur dann. laBt sich die Forderung 
des § 123 III des tsch.-sl. E. durchfiihren, daB Disziplinarstrafen in der 
Anstalt fiir kranke Gefangene der Gesundheit der Verwahrten angepaBt 
sein miissen. 

Wenn der G.E. (§ 77 I) die vom Gericht angeordnete Unterbringung 
des zu Verwahrenden, die nach dem E. (§ 89 I) die Polizeibehorde be- 
wirkt, der Sicherheitsbehorde zuweist, so handelt es sich wohl um die- 
selbe Behorde. Der schwz. E. beauftragt hiermit die kantonale Ver- 
waltungsbehorde. Der ost. E. nimmt zu dieser Frage keine Stellung. 
indem er nur sagt, der Geisteskranke wird abgegeben; und wenn § 583 I 
der abgeanderten StrafprozeBordnung auch nur von den den Anstalten 
vom Gerichte ,,iiberwiescnen Personen“ spricht, besteht die Miiglich- 
keit, daB der ost. E. dem Richter nicht nur die Anordnung, sondern auch 
die Ausfiihrung der Verwahrung iibertragen 'will. 

Keiner der Entwiirfe stellt die Einweisung der Z.r.u.f. in das Er- 
messen des Gerichts. Das Gericht ist vielmehr zu der Verhangung der 
MaBnahme verpflichtet, sofern alle vom Gesetz vorgeschriebenen arzt¬ 
lichen und rechtlichen Voraussetzungen erfiillt sind. Das gilt nach dem 
schwz. E. sogar dann, wenn der Zustand des z.r.u.t. Taters eine Be- 
handlung in einer Anstalt erfordert. 

Der E. enthalt keine Bestimmung iiber die Dauer der Verwahrung. 
NaturgemaB soli die Verwahrung nicht langer dauern, als sie nach den 
ira Gesetz festgelegten biologisch-psychiatrischen und rechtlich-sozialen 
Voraussetzungen geboten ist. Somit geht der G.E. (§ 78 I, l) richtig vor, 
wenn er zweifelsfrei bestimmt: ,,Der Verwahrte wird entlassen, sobald 
die offentliche Sicherheit seine V'erwahrung nicht mehr fordert.*' 
Bedenken, die ich in dieser Beziehung gegen denE. (§901: ,,Uber die 


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596 Ernst Schultze: Vergleiehende psychiatrische Kritik neuzeitlicher 


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Entlassung bestimmt die Landespolizeibehorde“) friiher geauBert habe, 
wird auch der ost. E. gerecht, nach dem der Kranke in der Anstalt 
bleiben soli, solange seine Gemeingefahrlichkeit dauert (§36 11, 1). 

Die Gefahrdung der Rechtssicherheit muB, das darf auch hierbei 
nicht iibersehen werden, immer psychiatrisch bedingt sein. 1st der zu 
Verwahrende genesen, so muB er unter alien Umstanden aus der Heil- 
oder Pflegeanstalt entlassen werden. Sollte seine Entlassung auch dann 
noch eine Gefahr fiir die Umwelt bedeuten, so muB man eben andere 
MaBnahmen ergreifen: gegebenenfalls muB iiber den jetzt Z.r.f. eine 
Strafe verhangt werden. Auch dem Ausdruck nach richtiger ist im 
Vergleich zu dem Vorgehen des G.E. und des ost. E. die von dem 
schwz. E. (Art. 15 Z. 2) gewahlte Fassung, nach der die Verwahrung 
aufgehoben wird, sobald der Grund der MaBnahme — entweder die 
Gefahrdung der offentlichen Sicherheit oder Ordnung durch den Tater 
oder die Notwendigkeit seiner Behandlung oder Versorgung in einer 
Heil- oder Pflegeanstalt — weggefallen ist, ihm entspricht § 60 I des 
tsch.-sl. E., daB der Strafling in der Anstalt fiir kranke Gefangene so 
lange bleibt, ,.als es der Grund dieser MaBnahmen erfordert' 1 . 

Es bedarf keines Wortes, daB die Dauer des Anstaltsaufenthaltes 
bei dieser grundsatzlichen Stellungnahme und der so verschiedenen 
Prognose der einzelnen Psychosen im voraus gar nicht zu bemessen ist. 
Um so mehr fiillt es auf, daB der tsch.-sl. E. eine Mindestjrist. und zwar 
von einem Jahr (§ 60 I), vorschreibt. Ich muB eine solche Bestimmung 
auf das entschiedenste ablehnen. Auch die Begriindung (S. 82) vermag 
rnich nicht ^ines besseren zu belehren. Nach ihr soil diese Vorschrift, 
die einem MiBbrauch der ,,Einweisung in die Anstalt fiir kranke Ge¬ 
fangene zu unangemessener Erleichterung der Strafe' 1 vorbeugen soil, 
verhiiten, ,,daB wegen Schwachsinns freigesprochene Personen nicht 
schon nach kurzer Zeit aus der Heilanstalt als geheilt entlassen werden, 
da hierdurch, insbesondere bei Geisteskrankheiten, welche den Laien 
weniger bekannt sind, in der Offentlichkeit leicht der Verdacht erregt 
wird, als ob diese Personen bevorzugt wiirden“. Wenn es sich hierbei 
nur um schwachsinnige Personen handeln wiirde — auf Schwachsinn 
nimmt ja die Begriindung ausdriicklich Bezug, wenn sie auch nachher 
von Geisteskrankheit redet —, so konnte man sich mit einer solchen 
Vorschrift allenfalls einverstanden erklaren, da der Schwachsinn immer 
eine ungiinstige Vorhersage gibt. Aber es handelt sich doch bei den 
Zurechnungsunfahigen oft genug auch um andere Geistesstorungen, 
die schon in kiirzerer Zeit ausheilen konnen; dann aber triigt die von 
mir gerugte Bestimmung den tatsachlichen Verhaltnissen nicht im 
mindesten Rechnung. Ist es denn billig, den Vorurteilen ungebildeter 
Laien zuliebe Geisteskranke unnotig lange zu verwahren? Wiirden 
sie doch unter Umstanden geradezu schlechter behandelt werden, 


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in- und auslandischer Entwiirfe zu einem Strafgeeetzbuch. 597 

aLs Zurechnungsfahige, die eine kurze Freiheitsstrafe abzubiiBen 
haben! 

Von der Bestimmung einer Hochstdauer spricht kein Entwurf. 
Es muB aber betont werden, daB der G.E. (§78 III) wie auch der E. 
(§ 90 II, 1) ausdriicklich dem Gericht die Anordnung zuweist, die Ver¬ 
wahrung iiber zwei Jahre hinaus dauern zu lassen und gleichzeitig 
bejahendenfalls zu bestimraen, wann seine Entscheidung von neuem 
einzuholen ist; freilich gibt weder der G.E. noch der E. an. welches 
Gericht mit dieser Aufgabe betraut werden soil. Mit einer solchen 
Bestimmung wird das Interesse des Verwahrten durchaus geschiitzt. 
Soil doch keiner langer in der Anstalt zuriickgehalten werden, als es 
mit Rucksicht auf andere geboten ist. Keiner der anderen Entwiirfe 
enthalt eine derartige Bestimmung, die von einer besonderen Riiek- 
sichtnahme auf die Person des Verwahrten zeugt. 

Nach dem E. (§90 1) soil iiber die Enthimumj die Polizeibehorde 
entscheiden. Eine hochst bedauerliche, um nicht zu sagen, gefahrliche 
Bestimmung. Gabe sie doch der Polizeibehorde das Recht wieder. das ihr 
mit guten Griinden der E. damit, daB das Gericht und nur das Gericht 
iiber die Frage der Verwahrung entscheiden soli, genommen hat. Wohl 
kaum eine Bestimmung des E. ist so einmiitig von juristischer und 
psychiatrischer Seite angegriffen worden, wie diese. Nach dem schwz. E. 
(Art. 15 Z. 2 I) «hebt der Richter die Verwahrung auf. Ebenso ent- 
scheidet auch nach dem pol. E. (Art. 77' iiber die Entlassung das 
Gericht. 

Freilich lassen sich die Entwiirfe nicht dariiber aus. welches Ge¬ 
richt die Entscheidung treffen soli. In dieser Beziehung enthalt nur der 
G.E. eine bestimmte Anweisung, indem er diese Aufgabe (§ 78 II) einer 
Kommission iibertragt, die aus einem Richter, einem Vertreter der 
Sicherheitsbehorde, einem Anstaltsbeamten und einem Laien besteht. 
die also eine Zusammensetzung aufweist, wie sie in ahnlieher Weise 
Liepmann vorgeschlagen hat. So erfreulich die damit vollzogene Aus- 
schaltung der Poizeibehorde ist, so halte ich doch die von mir vor- 
geschlagene Sickerujigsbehvrde aus den friiher (s. ds. Zeitschr. 66, 232. 
1922) angegebenen Griinden fiir zweckmaBiger. 

Ich stimme durchaus dem Vorschlag des schwz. E. (Art. 15 Z. 2 III) 
zu, nach dem (wie iibrigens auch nach dem oster.Gesetz betr. Abanderung 
der StrafprozeBordnung § 519 III) der Richter in jedem Falle (gemeint 
ist dieAufhebung der Verwahrung. ebenso die Entscheidung der Frage, 
ob und inwieweit die Strafe gegen den vm. Z.r.f. zu vollstrecken seii 
Sachverstandige hinzuzieht, wie denn iiberhaupt der schwz. E. von alien 
jetzt. vorliegenden Entwiirfen die Hinzuziehung Sachverstandiger am 
ausgiebigsten verlangt. Zweifellos ein Erfolg der intensiven und lang- 
jahrigen, geradezu vorbildlichen gemeinsamen Arbeit von Juristen und 


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598 Ernst Schultze: Vergleichende psjchiatrische Kritik neuzeitlicher 


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Psych iatern bei den Vorarbeiten fiir ein Strafgesetzhuch. Ich halte es 
naturlich fiir notwendig, dab auch die Vollzugskommission des E., falls 
dieser Vorschlag Gesetz wird, angehalten ist, Sachverstandige zu horen. 

Der tsch.-sl. E. beriicksichtigt in § 60 I 2 ausdriicklich die Mog- 
lichkeit einer bedingten Entlassung. Freilich erst nach mindestens ein- 
jahriger Dauer der Verwahrung. Wahrend der Probezeit soil der Ent- 
lassene unter Schutzaufsicht stehen, und es kann ihm eine Beschrankung 
des Aufenthaltsorts und der Lebensweise (§130,2) auferlegt werden. 
Der ost. E. (§ 36 II 2) sieht eine endgiiltige und eine widerrufliche Ent¬ 
lassung vor; diese letztere dann. ,,wenn eine langere Beobachtung seines 
Verhaltens in der Freiheit zweckmabig erseheint“ (§518112 des Ge- 
setzes betr. Abanderung der Strafprozebordnung). ,,In diesem Falle 
kann die Entlassung an die Bedingung gekniipft werden, dab der Ent 
lassene durch eine vertrauenswiirdige Person iiberwacht werde. Bei der 
Entlassung oder spater konnen bestimmte Vorschriften iiber die t)ber- 
wachung gegeben werden' 1 . 

Ich personlich raochte am liebsten jede Entlassung nur bedingt 
gelten lassen. Mag auch daraus den Fiirsorgern eine sehr grobe Arbeit 
erwachsen, so wird sie sich doch auch geldlich lohnen, da bei zweck- 
mabiger Gestaltung und Ausbildung der Schutzaufsicht Verwahrte 
sicher friiher denn sonst entlassen werden konnen, sofern das Gericht, 
naturlich erst nach Anhorung der zustandigen iirztlichen Sachver- 
standigen, auf Grund reiflicher Priifung entscheidet, und dabei vor 
alien Dingen auf die Verhiiltnisse, in die der Verwahrte entlassen werden 
soli, Riicksicht nimmt. 

Der E. sieht nicht ausdriicklich eine bedingte Entlassung aus der 
Heil- oder Pflegeanstalt vor. Diese Liicke fiillt der G.E. mit dem vdllig 
neuen § 79 aus. Danach kann die Vollzugskommission, deren Zusammen- 
setzung ich soeben erwahnte, dem Verwahrten, sofern er ,,vor der Zeit 
(§78111) entlassen 4 * wird, besondere Pflichten auferlegen, deren Be¬ 
obachtung (wir wiirden sagen Beachtung) geeignet ist, ihn vor dem 
Riickfall zu bewahren; sie kann ihn auch unter Schutzaufsicht stellen. 
Verstehe ich die Bezugnahme des G.E. auf den § 78 III richtig, so kann 
die bedingte Entlassung nur dann erfolgen, wenn das Gericht die Fort- 
dauer der Verwahrung angeordnet hat; mit anderen Worten, die Ver¬ 
wahrung mub schon mindestens 2 Jahre gcdauert haben. Ist das aber 
wirklich notwendig? Ware es nicht oft genug wiinschenswert, dab 
schon friiher, vor einer erneuten Inanspruchnahme des Gerichts, die 
bedingte Entlassung zulassig ware? Um so weniger konnen gegen ein 
derartiges Vorgehen Bedenken geltend gemacht werden, als nach § 79 II 
die Vollzugskommission die Entlassung widerruft (erfreulicherweise also 
obligatorisch!), wenn sich in den nachsten zwei Jahren herausstellt, 
,,dab die Freiheit des Entlassenen die offentliche Sicherheit gefahrdet**. 


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in- und auslandischer Entwiirfe zu einern Strafgeaetzbuch. 


599 


Ich begriiBe den § 79 als einen groBen Fortschritt. Seine Ein- 
fiigung erfiillt viele der friiher von mir geauBerten Forderungen, wenn 
auch noch nicht restlos. Vor allem wird hiermit auch der Schutzaufsicht 
die Bedeutung zuerkannt, die ihr wirklich zukoinmt. 

2. Verminderte Zurechnungsfahigkeit. 

DaB alle Entwiirfe mit dem Begriff einer vm. Z.r.f.k. rechnen, so- 
weit es sich um eine quantitative oder qualitative Einwirkung auf die 
Strafe handelt, habe ich schon (S. 579) betont. Diese Einmiitigkeit be- 
steht raehr oder weniger auch hinsichtlich der Verwahrung, deren grund- 
satzliche Zulassigkeit von alien Entwiirfen anerkannt wird. 

Aber nur in dem E., im G.E. und dem schwz. E.stehen die beiden 
Begritfe der Z.r.u.f.k. und der vm. Z.r.f.k., auch in der vom Gesetzgeber 
fiir sie gepragten Fassung, einander so nahe, daB ein und dieselbe Be- 
stimmung auch fiir die Verwahrung gilt. Einen andern Weg schlagt 
der ost. E. ein (§ 37 I). Einmal verlangt dieser Entwurf in Abweichung 
von der fiir die Verwahrung Z.r.u.f. maBgebenden Bestimmung be- 
sondere rechtliche Voraussetzungen. ntimlich die Verurteilung zu einer 
Freiheitsstrafe und die Begehung eines Verbrechens oder eines mit 
einer sechs Monate iibersteigenden Freiheitsstrafe bedrohten Ver- 
gehens; ferner, daB der Tater ,.wegen seines Zustandes und mit Riick- 
sicht auf seinen Lebenswandel und die Eigenart seiner Tat als gemein- 
gefahrlich anzusehen ist“; in psych iatrischer Hinsicht muB, wie ich 
schon oben hervorhob, ein andauernder krankhafter Zustand vorliegen, 
durch den seine Fahigkeit, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder dieser 
Einsicht gemiiB zu handeln, wesentlich vermindert war. 

Ich finde, daB unsere Fassung entschieden den Vorzug verdient, 
sofern man nur statt offentliche Sicherheit das Wort Rechtssicherheit 
setzt. Der Ausdruck gemeingefahrlich des ost. E. muB unbedingt fallen. 
DaB bei der Abschatzung der sozialen Gefahr, die von dem Tater aus- 
geht, alle Umstande verwertet werden miissen, ergibt sich eigentlich 
von selbst. Eben deshalb halte ich eine Einschrankung der Zulassigkeit 
der Verwahrung auf die Falle, in denen ein Verbrechen oder ein mit 
einer 6 Monate iibersteigenden Freiheitsstrafe bedrohtes Vergehen be- 
gangen wird, fiir iiberfliissig, ja fiir bedenklich, wenn ich auch noch so 
sehr beriicksichtige, daB die Verwahrung einen erheblichen Eingriff in 
die Freiheit des einzelnen bedeutet. Denn sehr wohl kann die Straftat 
eines vm. Z.r.f. an sich verhaltnismaBig harmlos sein, durch Zufall keine 
erheblichen Folgen gesetzt haben, und doch kann sie, besonders bei 
eingehender Untersuchung des Taters, eine erschreckend geftihrliche 
Personlichkeit erkennen lassen. Soli man nun aus rein formalen Griinden 
von der an und fiir sich gebotenen Verwahrung absehen? Rich tiger ist 
es doch, dem Richter moelichste Entscheidungsfreiheit einzuraumen, 


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GOO Ernst Schultze: Vergleichende psychiatrische Kritik neuzeitlicher 


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die auch den Vorzug mit sich bringt, daB sie das Verantwortlichkeits- 
gefiihl und damit seine Arbeitsfreudigkeit und sein Interesse an einer 
moglichst individuellen Gestaltung des Einzelfalls hebt. 

Warum sollen in psychiatrischer Beziehung so ganz verschiedene 
Vorbedingungen bei den Z.r.u.f. und den vm. Z.r.f. verlangt werden? 
Handelt es sich doch in der Tat sowohl bei dieser wie bei jener Gruppe 
um Zustande, fiir die man eine zusammenfassende Begriffsbestimmung. 
sowohl lnnsichtlich der Beurteilung ihrer Verantwortlichkeit wie der 
Notwendigkeit ihrer Verwahrung, anwenden kann, sofern man nur eine 
geschickte Fassung wahlt! Darum ein einheitliches Vorgehen in dem 
Strafgesetz. 

Ziemlich verwickelt ist die Bestimmung des tsch.-sl. E. (§ 587 Z. I). 
Einmal muB die Freiheitsstrafe auf wenigstens'ein Jahr lauten oder die 
Bedingungen fiir die Einweisung in eine Zwangsarbeitsanstalt (d. h. 
Verurteilung wegen eines Verbrechens oder Vergehens, das ,,aus Unlust 
zu standiger Arbeit, aus Liederlichkeit, aus Habgier oder aus Trunk- 
sucht“ begangen ist, nach vorheriger VerbuBung von mindestens zwei 
Freiheitsstrafen ,.wegen eines aus einem solchen Beweggrunde be- 
gangenen Verbrechens oder Vergehens 4 ' bei Vorhandensein von Arbeits- 
fahigkeit) miissen vorliegen. und der Verurteilte muB ,,wegen allzu 
vorgeriickten Alters oder wegen korperlicher oder geistiger Mangel 
(§76 Z. 1) nicht mit Erfolg der Zucht unterworfen werden“ konnen, 
..deren Einhaltung im Zuchthaus, im Gefiingnis oder in der Zwangs¬ 
arbeitsanstalt erforderlich ist". 

Also eigentlich keine Beziehung des Geisteszustandes zur Frage 
der Verantwortlichkeit, sondern zur Frage der Straff ah igkeit, oder 
richtiger der BeeinfluBbarkeit durch die Strafe. Da sich ein derartiger 
Mangel oder. um die Worte des Gesetzgebers zu gebrauchen, krank- 
hafter Zustand naturgemaB unter Umstanden auch erst wahrend der 
Vollstreckung der Strafe, also nach der Verurteilung herausstellen kann, 
ist es nicht mehr als sinngemiiB. daB der tsch.-sl. E. diese Moglichkeit 
vorsieht. Dann (§59) kann auf Antrag des Gefangenengerichts das 
Gericht, das das Urteil erster Instanz gefallt hat, nachtraglich die Ein- 
weisung in die Anstalt fiir kranke Gefangene aussprechen. 

Es muB ohne weiteres auffallen. daB der tsch.-sl. E. bei der Ver¬ 
wahrung auf die Z.r.u.f. Bezug nimmt, nicht aber auf die vm. Z.r.f., 
wenigstens nicht ausdriicklich, wenn auch der Gesetzgeber bei den 
geistigen Mangeln im § 58 auf § 76 Z. 1 verweist. Um so auffallender. 
als er den Zustand der vm. Z.r.f.k. (§76) hinsichtlich des StrafmaBes 
uneingeschrankt anerkennt und der fiir sie mallgebenden Bestimmung 
eine Fassung gibt, die der Stellungnahme des E. und G.E. sehr ahnelt. 

GewiB wird oft genug anzunehmen sein, daB jemand, der als vm. 
z.r.f. anzusprechen ist, nicht mit Erfolg der Zucht einer Freiheitsstrafe 


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in- und auslandischer Entwiirfe zu einem Strafgesetzbuch. 


601 


unterworfen werden kann. Und eben deshalb treffen manche Entwiirfe, 
nicht zuletzt auf das Betreiben der Irrenarzte, besondere Bestimmungen 
iiber die Art der Strafvollstreckung bei den vm. Z.r.f. Aber das ist durch- 
aus nicht stets der Fall. Viele fiigen sich willig der Strafzucht, bekleiden 
in der Strafanstalt sogar einen Vertrauensposten und eignen sich doch 
durchaus nicht, eben wegen ilires krankhaften Zustandes, der sie immer 
wieder riickfallig werden laBt, fur die Freiheit. Abgesehen von diesen 
rein sachlichen Griinden erscheint mir auch aus theoretischen Er- 
wagungen eine Verwahrung in dem sonst iiblichen Sinno nur im Hinblick 
auf die soziale Gefahr, die von dem Tater ausgeht, gerechtfertigt. 
Es mag aber doch hervorgehoben werden, dab die hier besprochene 
Bestimmung sich in dem tsch.-sl. E. unmittelbar an die Bestimmung 
iiber die Einweisung Z.r.u.f. in die Anstalt fur kranke Gefangene (§57) 
anschlieBt, und mit ihr gemeinsam in demselben mit der Randnotiz: 
,,Einweisung in eine Anstalt fur kranke Gefangene" gekennzeichneten 
Abschnitt behandelt wird. Somit besteht eine Liicke. An der Hand des 
Entwurfs ist es, soviel ich sehe, nicht moglich, vm. z.r.f. Tater, die der 
Zucht einer Strafanstalt mit Erfolg unterworfen werden konnen, iiber 
das Strafende hinaus — und dann naturlich in einer Sicherungsanstalt — 
zu verwahren, sofern von ihnen eine weitere Gefahrdung der Rechts- 
sicherheit zu erwarten steht. 

Es braucht kaum betont zu werden, daB in alien Entwiirfen das 
Gericht die Verwahrung anordnet. Nach dem E., G.E. und schwz. E. 
mull, nach dem pol., ost., tsch.-sl. E. kann das Gericht diese Bestimmung 
treffen. 

Wenn grundsatzlich bei den vm. Z.r.f. Strafe und Verwahrung zu- 
lassig ist, so mull naturlich sehr genau das gegenseitige zeitliche Ver- 
haltnis bestimmt werden. Die Strafe kann der Verwahrung voraus- 
gehen oder ihr folgen, oder die beiden MaBnahmen konnen einander 
ersetzen. 

Der E., dem sich der G.E. angeschlossen hat, wie auch der ost. E. 
schlagen den zuerst erwahnten Weg ein. Also zuerst Slrafe, dann Ver¬ 
wahrung. Freilich kann schon die Strafvollstreckung das erreichen, w r as 
mit der Verwahrung bezweckt wird. Ist mit anderen YVorten, um die 
Ausdrucksw'eise des E. und G.E. anzuwenden, die Verwahrung durcli 
den Strafvollzug uberfliissig geworden, so unterbleibt die Verwahrung. 
Der E. sagt aber nicht, wer diese Entscheidung treffen soli. Nach seiner 
Begriindung zweifellos die Polizeibehorde. Im hochsten Grade bedenk- 
lich! 1st es denn sonst iiblieh, daB die Polizei dariiber befindet, ob ein 
richterlicher BeschluB, den sie ausfiihren muB, widcrrufen werden soli? 
Nlit vollem Recht uberweist der G.E. diese Aufgabe dem Gericht und 
formuliert richtig, daB es die Anordnung der Verwahrung widerruft 
{§ 77 II 3). Ich gebe aber doch anheim, zu erwagen, ob es nicht richtiger 
Archiv fUr Psychiatrie. Bd. 08 . 39 



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002 Ernst Schultze: Vergleichende psychiatrische Kritik neuzeitliclier 


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ist, diesen Widerruf nur widerruflich, also bedingt mit Einschiebung 
einer nicht zu kurz bemessenen Bewahrungsfrist, auszusprechen. 

Formell etwas anders geht der ost. E. (§ 37 II) vor. Das erkennende 
Gericht spricht. grundsatzlich die Zulassigkeit der Verwahrung im An- 
schluB an das Urteil aus, ordnet dann aber auf Grund des Ergebnisses 
ties Strafvollzugs — und nicht erst nach dessen Ende, sonst entstande 
ja ein freier Zwischenraum, in dem der Kriminelle sich selber iiber- 
lassen ware —, an, daB der Verurteilte verwahrt wird, ,,wenn seine 
Gemeingefahrlichkeit nicht behoben ist“. Also bedarf es in jedem Falle 
nach Strafende einer besonderen richterlichen Entscheidung dariiber, 
ob die von dem erkennenden Gericht ausgesprochene Zulassigkeit der 
Verwahrung in die Tat umgesetzt werden darf. 

Der E. hat noch zwei Moglichkeiten erortert; den Fall der vor- 
laufigen Entlassung aus der Strafhaft. (§ 89 II 2) und den der bedingten 
Strafaussetzung (§89111). Ich hatte seinerzeit bemangelt, daB iiber 
die vorlaufigc Entlassung allgemein und grundsatzlich die oberste 
Justizaufsichtsbehorde eine Entscheidung treffen solle. Uber sie wie 
auch iiber den Widerruf der Entlassung soli nach dem G.E. (§77 II 2) 
..in einem solchen Falle“. d. h. bei einem vm. Z.r.f., dessen Verwahrung 
angeordnet ist, nicht wie sonst die Strafvollzugsbchorde, sondern er- 
freulicherweise das Gericht entscheiden; dieses widerruft auch die An- 
ordnung der Verwahrung (vgl. hierzu S.615). 

Bei bedingter Strafaussetzung soil nach dem E. der Verurteilte mit 
dem Zeitpunkt dcr Rechtskraft des Urtcils in der Anstalt untergebracht 
und die hier zugebrachte Zeit auf die Probezeit angerechnet werden. 
Hoehst bedenklich ! Sich innerhalb des geordneten Betriebes einer Heil- 
anstalt zu bewahren, ist wahrhaftig nicht schwer! Und nun soil noch 
aus Billigkeitsgriinden die in der Anstalt zugebrachte Zeit angerechnet 
werden! Der G.E. sieht diesen Fall iiberhaupt nicht vor, — vielleicht 
deshalb, weil er dcr Ansicht ist, daB ein Gericht Bedenken tragen muB, 
gleichzeitig bedingte Strafaussetzung und Verwahrung auszusprechen, 
eine MaBnahme, die mit Riicksicht auf ,,die bffentliche Sicherheit“ 
erforderlich ist. 

Die Verwahrung kann der Strafe rorausgehen. Auf diesem Stand- 
punkt steht der pol. E. (Art. 76 § 2), der bestimmt, daB das Gericht, 
und zwar das erkennende Strafgericht, nach der Entlassung aus der Heil- 
anstalt entscheidet, ob die Strafe zu vollstrecken ist. Die vorliegenden 
Bestimmungen lassen nicht einwandfrei erkennen, wie im Einzelfall 
vorgegangen werden soli. Soli fur die Entlassung aus der Heilanstalt 
der Wegfall der Voraussctzung der Verwahrung — namlich des Um- 
standes, daB die Freilassung mit einer Gefahr fur die Rechtsordnung 
verbunden ist (Art. 76 § 1) — maBgebend sein, so wird oft genug die 
Vollstreekung der Strafe gar nicht in Betraeht kommen konnen, namlich 


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in- und auslandiseher Entwiirfe zu eineni Xtrafgesetzbuch. 603 

dann, wenn dcr Verurteilte zeitlebens in der Heilanstalt verwahrt werden 

muB. 

Denselben Standpunkt nimmt iibrigens der schwz. E. (Art. 15 
Z. 2 II) ein. Aueh hier entscheidet der Richter, ob und inwieweit gegen 
den verurteilten vm. Z.r.f. die Strafe noch zu vollstrecken ist; noch, d. h. 
nach Aufhebung der Verwahrung — das geht unzweideutig aueh daraus 
hervor, daB nach Art. 13 II und Art. 14 II der Richter den Strafvollzug 
gegen den verurteilten vm. Z.r.f. einstellt —, und diese erfolgt, ,,sobald 
der Grund der MaBnahme weggefallen ist“. Der Grund der MaBnahme 
ist aber entweder die Gefahrdung der offentlichen Sicherheit oder 
Ordnung, oder die Notwendigkeit der Behandlung oder Versorgung des 
Taters. ,,Der Aufenthalt in der Anstalt wird aber nicht ohne weiteres 
an der Daucr der Freiheitsstrafe angerechnet, sondern der Richter hat 
bei der Aufhebung der Einweisung neuerdings zu erkennen, ob und in¬ 
wieweit die Strafe noch zu vollstrecken sei“ (S. 10). 

Der G.E. nimmt zwischen dem E. auf der einen und dem pol. und 
schwz. E. auf der andern Seite in einer Beziehung eine vermittelnde 
Stellung ein. Denn das Gerieht kann (§ 77 III) anordnen, daB die ]'er- 
ivahrunrj an die Stelle einer sechs Monate nicht iibersteigenden FreihciLs- 
strafe treten kann. Dann aber wird natiirlich, aueh wenn die psychia- 
trisch bedingte Gefahrdung triiher beseitigt ist, die Verwahrung min- 
destens so lange dauern miissen wie die Strafe (§ 78 I 2). Sonst wiirde 
die Bestimmung zu einer doppelten Bevorzugung des vm. Z.r.f.fiihren. 
Einmal eine Unterbringung in einer Heilanstalt anstatt in einer Straf- 
anstalt; und dann eine friihere Entlassung in die Freiheit! Vor allem 
unangebracht gegeniiber Personen,die der E. als vermindert zurechnungs- 
ffihig ansprieht. 

Am weitesten geht in dem Ersatz der Strafe durch die Verwahrung 
der tsch.-sl. E. (§58), der grundsiitzlich ohne jede zeitliche Einengung 
die Personen, die nicht mit Erfolg einer Zucht unterworfen werden 
konnen, die Strafe in der Anstalt fiir kranke Gefangene abbiiBen laBt. 
Freilich muB aueh hier, wenn der Zweck der MaBnahme vor Strafende 
erreicht wird und der Verurteilte nicht drei Viertel der Kerkerstrafe 
oder zwei Drittel der Gefiingnisstrafe, mindestens jedoch ein Jahr, ver- 
buBt hat (§ 128 IT), der Rest der Strafe, die die Dauer von 6 Monaten 
nicht iibersteigen darf (§60 11), in der Anstalt fiir kranke Gefangene 
vollzogen werden. 

Der G.E. sieht gleich dem E. die Heil- oder Pflegeamtalt fiir die 
Verwahrung der vm. Z.r.f. vor, ebenso der schwz. E. Meine ernsten 
Bedenken, die ieh schon friiher gegen ein derartiges Vorgehen geauBert 
habe, halte ieh aueh heute noch in vollem Umfange aufrecht. Aueh die 
Dresdcner Tagung (1922) des Deutschen Vereins fiir Psychiatrie hat mich 
nicht eines andern belehren konnen, wenn aueh der Verein, vielleicht 

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(j(J4 Ernst Schultze: Vergleichende psychiatrische Kritik neuzeitlicher 


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niehr aus auBeren Griinden, sich im AnschluB an die Referate nicht zu 
einer, wie ich gewiinscht hatte. einmiitigcn und zum wenigsten grund- 
satzlichen Ablehnung des Vorsehlags des E. hatte entschlieBen konnen. 
Gelegentlich dieser Versammlung wurde darauf hingewiesen, die grund- 
satzliche Ablehnung der Verwahrung vm. Z.r.f. in den Heil- oder Pflege- 
anstalten konne das Zustandekommen eines neuen Strafgesetzbuches 
in Frage stellen. Einen so weitgehenden EinfluB hat man unserem 
Votum bisher wohl kaum beigemessen; freilich sind wir Irrenarzte in der 
Beziehung nicht sehr verwohnt. Es ist mir aber doch mehr als fraglich. 
ob diese eine Angelegenheit, wenn sie eine den Vorschlagen des E. ent- 
sprechende Erledigung nicht finden sollte, die iiberragende Bedeutung 
l>eanspruchen kann, daB dariiber die ganze Strafrechtsreform ge- 
scheitert ware. Mit dieser Gefahr ware um so weniger zu rechnen, als 
die groBe Finanznot ja auch uns Psychiater ohnehin zu KompromiB- 
vorschlagen.so sehr wir ihnen grundsatzlich widerstreben,gezwungen hat. 

Der ost. E. (§37 II) will die vm. Z.r.f. geraeinsam mit den Z.r.u.f. 
in einer staatlichen Anstalt fiir verbrecherische Irre oder in einer beson- 
derenAbteilung der staatlichenAnstalt fiir verbrecherische Irre, die fur die 
Z.r.u.f. vorgesehen ist, unterbringen. Diesem Plan stimme ich schon 
eher zu. Zutreffend auBcrt § 590 I des Gesetzes betr. Abanderung der 
StrafprozeBordnung, daB ,,die Anstalten fiir geistig Minderwertige' 1 
dazu dienen sollen, ,,die ihnen vom Gericht iiberwiesenen Personen fur 
die Dauer der Gemeingeftihrlichkeit zu verwahren -1 . Den Hauptwert 
legt die ProzeBordnung (§59011) darauf, daB die Verwahrten einer 
Behandlung unterzogen werden, ,,um ihren krankhaften Zustand zu be- 
heben oder zu bessern“. Dementsprechend bestimmt §591 I, daB die 
Verwahrten ,,zu einer ihrem Gesundheitszustande und ihren Fahig- 
keiten entsprechenden und ihrem Fortkommen in der Freiheit dien- 
lichen Arbeit 11 anzuhalten sind, ,,bei der auf die Eigenart des einzelnen 
Riicksicht zu nehmen ist“. 

Der Vollstaruligkeit halber sei noch darauf hingewiesen, daB der 
schwz. E. auch hinsichtlich der vm. Z.r.f. die Heranziehung von Sach- 
verstandigen fordert, und zwar bei der Anordnung und Aufhebung der 
Verwahrung und der Vollstreekung der Strafe. 

Getrennt mochte ich kurz die Vorschlage Thyren-s erwahnen. Ge- 
trennt, weil seine Vorschlage in vieler Hinsicht von der Stellung- 
nahme der anderen Entwiirfe abweichen, so daB eine gemeinsame Be- 
sprechung fast unmoglich ist, jedenfalls die ITbersicht unnotig erschwert. 
Um so eher glaube ich so vorgehen zu konnen, weil der schwed. E. 
vielfach zin- Kritik herausfordert. 

Thyren, der iibrigiuis als einziger den Bestimmungen liber die 
sichernden MaBnahmen die Bestimmungen iiber die StrafausschlieBungs- 


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in- und ausliindischer Entwiirfe zu einem Strafgesetzbuch. 


605 


und -milderungsgriinde und darnit iiber die Z.r.u.f.k. und vm. Z.r.f.k. 
folgen laBt, wahrend alle anderen Entwiirfe die beiden Gruppen von 
Bestimmungen umgekehrt anordnen, unterscheidet zwei Moglichkeiten, 
je nachdem ob die strafbare Handlung mit Zuchthaus bedroht ist oder 
nicht. Aber wie schon oben (S. 591, 599) betont ist, erscheint es 
bedenklich, die MaBregeln der Verwahrung in eine solehe Abhangig- 
keit von der strafrechtlichen Bewertung der jeweiligen kriminellen 
Handlung zu bringen. 

Wie regelt der schwed. E. die Verwahrungsfrage nun weiter? Der 
Geisteskranke oder Blbdsinnige, der eine im Gesetz mit Zuchthausstrafe 
bedrohte Handlung begangen hat, muB auf Anordnung des Gerichts in 
einer allgemeinen Pflegeanstalt untergebracht. werden (3. Abschn. § 11); 
unter welchen weiteren Voraussetzungen, sagt Tliyren nicht. Diese 
lassen sich auch, wenngleich die Verwahrung des von seiner Psychose 
bereits Genesenen ausgeschlosscn erscheint, kaum aus der weiteren Be- 
stimmung entnehmen (§1,2), daB er nicht entlassen werden darf, 
,,solange seine Geistesbeschaffenheit fortdauert oder eine Gefahr vor- 
handen ist, daB sie zuriickkehrt“. Die sichernde MaBnahme muB in 
diesem Falle nicht nur psychiatrisch, sondern mehr noch kriminal- 
politisch geboten und berechtigt sein. Der Standpunkt Thy rev.s erinnert 
gar zu sehr an die allgeinein verbreitete Auffassung, daB Geisteskrank- 
heit und ,,Gemeingefahrlichkeit“ identisch seien, und es ware ebenso 
bedauerlich wie bedenklich, wollte man einem so falschen Vorurteil 
auch nur den Schein der Berechtigung durch eine solehe Bestimmung 
geben. Verblodet beispielweise ein Paralytiker, der im Beginn seiner 
Psychose ein Verbrechen begangen hat, so bedarf er oft genug nicht 
mehr aus Sicherheitsgriinden einer Verwahrung, mag auch seine rein 
arztliche Behandlung und Versorgung in einer Irrenanstalt, fiber die 
dem Strafrichter keine Verfugung zusteht, noch so sehr angebracht oder 
notwendig sein. Die Gefahr einer ungerechfertigt langen Verwahrung, 
der doch immer der Charakter einer vom Strafrichter verhangten MaB¬ 
nahme anhaftet, ist deshalb besonders groB, weil sie so lange dauern soil, 
als ,,eine Gefahr vorhanden ist, daB sie zuriickkehrt“. Geraeint ist die 
Geistesbeschaffenheit. Wenn damit, und das muB man wohl annehmen, 
auf die Psychose Bezug genommen wird, die zur Z.r.u.f.k. gefiihrt 
hat, so muB die Moglichkeit der Riickkehr einer gleichartigen Psychose 
ins Auge gefaBt sein. Fallt beispielsweise die strafbare Handlung in die 
manische Phase des manisch-depressiven Irreseins, bei dem stets mit 
der Gefahr eines neuen Anfalles zu rechnen ist, — ob und wann dieser 
eintritt, kann freilich niemand auch nur annahernd im voraus an- 
geben —, so wiirde sich daraus die Gefahr einer lebenslanglichen Inter- 
nierung ergeben. Besonders dann, wenn der maBgebende Gutachter 
den Formenkreis des manisch-depressiven Irreseins sehr weit ausdehnt. 


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60b Ernst Schultze: Vergleichende psychiatrische Kritik neuzeitlicher 


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Oar nicht zu reden von den Schwierigkeiten, die etwa dann entstehen, 
wenn es sich um einen sonst geistig gesunden Epileptiker handelt, der 
in einern Dammerzustand gegen das Strafgesetzbuch verstoBt. Dabei 
verkenne ich durchaus nicht, daB es sich hierbei um Falle handelt, deren 
befriedigende Regelung jedem Strafgesetzbuch groBe Schwierigkeiten 
bereitet. 

Dann fiihrt Thyren (3. Abschn. § 2) die Moglichkeit an, daB jemand 
eine im Gesetz mit Zuchthaus bedrohte Handlung begangen hat, der 
aber, ,,ohne geisteskrank oder blodsinnig zu sein, doch wegen daucrnder 
geistiger Minderwertigkeit nur in geringem MaB fiir die mit der Strafe 
beabsichtigte Wirkung empfanglich erscheint“. In dem Falle ,,kann das 
Gericht anordnen, daB der Tater, anstatt gestraft zu werden, in eine 
allgemeine Anstalt untergebracht werden soil, solange sein gemein- 
gefahrlicher Zustand fortdauert, doch mindestens 3 Jahre“. Also Ersatz 
der Strafe durch Unterbringung in einer Heilanstalt und somit zeitlich 
nicht begrcnzt. MaBgebend ist nicht sowohl die Beziehung des doch 
immerhin krankhaften Geisteszustandes zur kritischen Handlung, als 
vielmehr zur Moglichkeit, mitErfolg in derStrafhaft behandelt zu werden, 
iihnlich wie im tsch.-sl. E. (§58 Z. 1). Bemerkenswert ist, daB fiir die 
Verwahrung der Z.r.u.f. dasVorliegen einer Psychose schlechtweg geniigt, 
fiir die vin. Z.r.f. aber ein ,,gemeingefahrlicher Zustand“ als Voraus- 
setzung gefordert wird. Richtiger ist doch eine Beriicksichtigung beider 
Umstande in jedem Falle; also die Anwendung der gemischten Methode. 
DaB die Mindestdauer der Unterbringung der vm. Z.r.f. 3 Jahre wahren 
soil, halte ich ebenfalls fur bedenldich. Und nicht vorgesehen ist der 
Fall. daB der vm. Z.r.f., der eine mit Zuchthaus bedrohte Straftat be¬ 
gangen hat, bestraft wird und wegen seiner Empfanglichkeit fiir die 
Wirkung der Strafe auch mit Erfolg bestraft werden kann, aber mit 
Rucksicht auf die Rechtssicherheit nach Strafende nicht entlassen 
werden kann. Und schlieBlich darf auch nicht nur eine dauernde geistige 
Mindenvertigkeit beriicksichtigt werden. 

Gemeinsam wird der Fall der Geisteskrankheit und des Blodsinns 
auf dcr einen, der der geistigen Minderwertigkeit auf der anderen Seite 
erortert, wenn die Handlung zwar mit Strafe, doch nicht mit Zuchthaus 
bedroht ist (3. Abschn. § 3). Dann entscheidet iiber das weitere Schick- 
sal des Titters die Frage. ob ,,ihn die Handlung in Verbindung mit seiner 
Geistesbeschaffenheit als gemeingefahrlich“ erscheinen laBt. Das Vor- 
gehen ist dasselbe, wie in den bisher erorterten Fallen — also ware eine 
einheitliche Zusammenfassung der Bestimmungen durchaus moglich 
gewesen —, mit dem alleinigen Unterschied, daB die Mindestdauer der 
Verwahrung bei den Minderwertigen nicht 3 Jahre zu dauern braucht. 
Also maBgebend fiir die Mindestdauer ist bei Minderwertigen nur, ob 
nach dem Strafgesetzbuch die Straftat mit Zuchthaus bedroht ist oder 


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in- und auslandischer Entwiirfe zu einein Strufgesetzbuch. 


607 


nicht. Unter Umstanden entscheidet also wieder ein bloBer Zufall! 
Von groBerer, vielleicht entscheidender Bedeutung ist aber doch die 
ganze Personlichkeit; die jeweilige Straftat hat nur symptomatischen 
Wert. 


/?) Schutzaufsicht. 

Cber die Schutzaufsicht, die mildeste der sichernden MaBnahmen, 
brauche ich nur wenige Worte zu verlieren. Die Entwiirfe stimmen 
darin iiberein, daB sie urspriinglich fiir den Fall der bedingten Straf- 
aussetzung und den in dieser Beziehung ebenso behandelten Fall der 
vorlaufigen Entlassung gelten soli. Natiirlich in der Absicht, den Be- 
straften vor eincm Riickfall zu bewahren (vgl. G.E. § 59), und im Falle 
der vorlaufigen Entlassung auch zur Erleichterung der Riickkehr in 
die Freiheit. 

Es laBt sich nicht leugnen, daB die Bestimmungen des E. iiber die 
Schutzaufsicht mehr als diirftig sind. Die Schutzaufsicht wird auch 
in dem E. (§ 65) zuerst bei der bedingten Strafaussetzung erw&hnt. Das 
Gericht kann einen Verurteilten, dessen Strafe ausgesetzt ist, unter 
Schutzaufsicht stellen und ihm auch besondere Pflichten auferlegen; 
weiter aber sagt der E. nichts. Immerhin kann man daraus (§66 II), 
daB das Gericht die Vollstreckung der Strafe bei schlechter Fiilirung 
anordnen kann, entnehmen, daB der Gesetzgeber unter schlechter 
Fiihrung auch den Ungehorsam gegen den Fiirsorger. dem die Schutz¬ 
aufsicht anvertraut ist, verstanden wissen will. Der Gesetzgeber des 
E. hat es vielleicht einer Strafvollzugsordnung iiberlassen wollen, 
genauere Ausfiihrungsbestimmungen zu erlassen. Da solche noch 
fehlen, ist es mehr als erklarlich, wenn in der juristisch-psychiatrischen 
Vereinigung in Hamburg imAnschluB an einen Vortrag, den ich jiingst 
dort iiber die sichernden MaBnahmen des E. hielt, angeregt wurde, 
eine gemischte Kommission zu wahlen, die sich mit dem Wesen der 
Schutzaufsicht und Vorschliigen fiir ihre zweckmaBige Durchfiihrung 
befassen sollte. Ich konnte diesem Vorschlag nur zustimmen. Kami 
es doch auch dem Gesetzgeber nur erwunscht sein, aus den Kreisen 
von Praktikern und Theoretikcrn, die den verschiedensten Berufskreisen 
angehoren, Anregungen zu erhalten! Sind doch bei der Verwirklichung 
der Aufgaben eines modernen Strafgesetzbuchs nicht nur Juristen und 
Arzte beteiligt, sondern vor allem auch die, die auf dem Gebiete der 
sozialen Wohlfahrtsfiirsorge, z. B. der Trinkerfiirsorge, der Jugend- 
pflege, der Irrenfiirsorge, tiitig sind. 

Der schwz. E. lieB sich im Gegensatz zu andern Entwiirfen erfreu- 
licherweise etwas ausfiihrlichcr iiber den Inhalt der Schutzaufsicht aus. 
Er begniigt sich nicht mit der gar zu allgemein gehaltenen Fassung des E. 
Der Art. 36 Z. 2 des schwz. E. sagt vielmehr, die zustandige Behorde 


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608 Ernst Schultze: Vergleichendc psychiatrische Kritik neuzeitlicher 


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stellt den bedingt Entlassenen unter Schutzaufsicht. ,,Sie kann ihm 
Weisungen erteilen iiber sein Verhalten wahrend der Probezeit, z. B. 
tiie Weisung, sich geistiger Getranke zu enthalten, sich an einem be- 
stimmten Orte oder in einer bestimmten Anstalt (Arbeiterheim oder 
Arbeiterkolonie) oder bei einem bestimmten Arbeitgeber aufzuhalten.“ 
Diese Ausfiihrungen beriicksichtigen, soweit hierbei der Psychiater 
beteiligt ist, vielleicht in erster Linie den Trinker. Und daraus konnte 
man entnehmen, dab der schwz. E. der Schutzaufsicht gerade im Kampf 
gegen den Alkoholmibbrauch Bedeutung beimibt. Dab das Alkohol- 
verbot mit der Schutzaufsicht vereint werden kann, ist selbstverstand- 
lich. Ich halte aber auch die weitere Vorschrift fiir sehr zweckmabig, 
nach der einem Trinker der Aufenthalt an einem bestimmten Ort, wo 
cr besonders leicht verfiihrt werden wird, verboten werden kann. ohne 
dab es dabei zu einem Aufenthaltsverbot mit der so wenig erfreulichen 
und praktisch hochst bedenklichen polizeilichen Farbung kommt. 
Und wenn ich friiher betonte, dem Fiirsorger, dem die Schutzaufsicht 
obliege, miibten auch Rechte eingeraumt werden, wenn er arbeitsfreudig 
und erfolgreich seine Aufgaben erfullen soil, so wird auch dieser Forde- 
rung der schwz. E. ausdriicklich gerecht. Denn es wird bestimmt, dab 
der bedingt Entlassene, der die Freiheit dadurch mibbraucht, ..dab er 
den ihm erteilten Weisungen trotz formlicher Mahnung der Schutz- 
aufsichtsbehorde nicht nachlebt oder sich der Schutzaufsicht beharrlich 
entzieht", in das Zuchthaus oder in das Gefangnis zuriickversetzt wird 
(Art. 36 Z. 3). 

Natiirlich mub das Entsprechende auch dann gelten, wenn ein 
psychisch Abnormer unter Schutzaufsicht gestellt wird. Bestjinde iiber 
diese Absicht des Gesetzgebers ein Zweifel, so wird er beseitigt dlirch 
Art. 42, der sich auf die Behandlung der Gewohnheitstrinker (s. S. 617) 
bezieht. 

Derselben Auffassung ist auch der G.E. § 60II. Der Verurteilte, dem 
„bedingter Strafnachlab“ (im E. bedingte Strafaussetzung genannt) 
gewiihrt ist und der sich schlecht fiihrt, wird der weiteren Vollstreckung 
der Strafe unterzogen. Der G.E. erortert aber im Gegensatz zum E. 
genauer, was er unter schleehter Fuhrung versteht. ,.Als schlechte 
Fiihrung ist es namentlich anzusehen, wenn sich der Verurteilte der 
Schutzaufsicht zu entziehen sucht, wenn er die ihm auferlegten Pflich- 
ten nicht erfiillt, sich dem Trunk, Spiel, Miibiggang oder einem unsitt- 
lichen Ix;bensw r andel ergibt oder seinen Lebensunterhalt auf andere 
Weise als durch rechtschaffene Arbeit zu erwerhen sucht“. Auch der 
pol. E. gestattet ausdriicklich den Widerruf der vorlaufigen Entlassung, 
wie auch der bedingten Strafaussetzung, wenn der Bestrafte sich wah¬ 
rend der Probezeit der iiber ihn verhangten Schutzaufsicht entzieht 
(Art. 67. 63). 


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in- und ausl&ndi sober Entwiirfe zu einem Strafgesetzbuch. 


609 


Ahnlieh geht iibrigens der tsch.-sl. E. (§84 I 3) vor, der, freilich 
auch unter den Bestimmungen iiber die bedingte Verurteilung, jedoch 
ebenialls mit nicht zu verkennender Bezugnahme auf den Trinker. 
betont, daB das Gericht, das den bedingt Verurteilten in der Regel 
wahrend der Probezeit unter Schutzaufsicht stellt, ,,ihm den Aufenthalt 
an bestimmten Orten vorschreiben oder untersagen, ihm bestimmte 
Beschaftigungen, den Aufenthalt in Wirtshausern, den GenuB geistiger 
Getranke und die Beteiligung an bestimmten Unterhaltungen verbieten, 
ihm auftragen, sich in einer Heilanstalt fur Trinker behandeln zu 
lassen und ihm andere Beschrankungen seiner Lebensweise auferlegen“ 
kann. Ausdriicklich wird (§84 II) hervorgehoben, daB das Gericht, 
das den bedingt Verurteilten unter Schutzaufsicht stellt. auch die 
eben erwahnten besonderen MaBnahmen treffen, aufheben oder ab- 
andern kann. Ergibt sich der bedingt Verurteilte wahrend der Probe¬ 
zeit ungeziigeltem Trunke oder Spiele, MiiBiggang oder unsittlichem 
Leben, oder trachtet er den V T ollzug der Schutzaufsicht zu vereiteln, 
so ordnet das Gericht den Vollzug der Strafe an (§87 Z. 2, Z. 3). 

Mit dem E. hat der G.E. die Schutzaufsicht ausdriicklich und als 
alleinige MaBnahme, sofern sie ausrcicht, bei den Z.r.u.f. und den vm. 
Z.r.f. vorgeschrieben, wenn es die offentliche Sicherheit erfordert. 

t)ber die Austvahl der Personen, denen die Schutzaufsicht iibcr- 
tragen wcrden soil, auBert sich, soweit ich sehe, nur der pol. E. (Art. 62 
66). Das Gericht iiberliLBt die Durchfiihrung der Schutzaufsicht ver- 
trauenswiirdigen Personen oder Vercinen, sieht also offenbar geflissent- 
lich von der Heranziehung von Behorden oder offiziellen Sicherheits- 
organcn ab. An sich gewiB crfreulich, da so nicht die Gefahr besteht, 
daB engherziger Bureaukratismus eine groBzugige Arbeit unmbglich 
macht. Freilich ist zu befiirchten, daB cs an geeigneten Personen fehlt. 
Eine Gefahr. auf die iibrigens auch ausdriicklich Makarewicz in seiner 
Besprechung des pol. E. (S. 175) hinweist; gcrade mit Rucksicht 
hierauf ist bei der bedingten Strafaussetzung und der vorliiufigen Ent- 
lassung eine nur fakultative Schutzaufsicht vorgesehen. 

Alle Entwiirfe machen von der Schutzaufsicht meines Erachtens 
nicht den ausgiebigen Gebrauch. der moglich ware. Andcrnorks habe 
ich erortert, wie dieses Institut noch weiter auszubauen ist. 


B. Trunkenhcit und Trunksucht. 

Der schwed. E. ist der einzige der zur Erorterung stehenden Ent¬ 
wiirfe, der hinsichtlieh der SichemngsmaBnahmen noch keine besondere 
Riicksicht auf die Rechtsbrecher nimmt, die unter dem EinfluB von 
Alkohol das Gesetz iibertreten haben: Thyren hat diesc Arbeit fur spater 
in Aussicht gestellt (S. 3). 


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610 Ernst Schultze: Vergleichende psychiatrische Kritik neuzeitlicher 


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a) Unterbringun? in einer Trinkcrheilanstalt. 

Von vornherein ist zu betonen, daB einmiitig alle andern Entwiirfe 
die Einweisung des Trinkers in eine Anstalt als sichernde MaBnahme 
ansehen. Freilich bestehen hinsichtlich der Einzelheiten hinreichende 
Verschiedenheiten, die eine genauere Erorterung rechtfertigen. 

Mit dem E. (§92) spricht der G.E. (§81) von Trunksuchtigen. 
Der ost. E. § 243 I sogar von einem Hange zur Trunksucht! 
Welche Bedenken gegen die Anwendung dieses Ausdrucks bestehen, 
habe ich friiher unter Bezugnahme auf die unerfreulichen Erfahrungen 
mit derselben Ausdrucksweise im § 6 Z. 3 B.G.B. (Entmiindigung 
wegen Trunksucht) hervorgehoben (s. diese Ztschr. 66, 245, 1922). 
Eine ablehnende Haltung ist dem ost. E. gegenuber noch mehr be- 
rechtigt, weil § 589 betreffend Abanderung der StrafprozeBordnung 
gar von gemeingefahrlichen Trunksuchtigen redet. 

Ich freue mich, daB der schwz. E. (Art. 42, Z 1) den auch dem 
Laien ohne weiteres verstandlichen Ausdruck Gewohnheitstrinker an- 
wendet, ohne daB er glaubt, von einer solchen Fassung eine unberech- 
tigte Einweisung in eine Trinkerheilanstalt befiirchten zu mussen. 

In iihnlicher Weise nimmt der tsch.-sl. E. (§57 Z. 2, §58 Z. 2) Beztig 
auf einen ,,ungeziigelten Hang zu geistigen Getranken“ und fiigt zur 
Erklarung noch das Wort ,,Trunksucht“ hinzu. Wenn er aber auf einer 
Stufe mit den geistigen Getranken auch ,,andere berauschende Mittel 
und Gifte“ erwahnt, so ist er in dieser medizinischen Voraussetzung alien 
anderen Entwiirfen weit iiberlegen. Jeder Psychiater wird diesem 
Vorgehen freudig zustimmen. Auch der Fassung kann ich nur bei- 
pflichten, die sich voraussichtlich nicht gar so bald als veraltet heraus- 
stellen wird. Freilich in die Zukunft kann man nicht schauen. Aber 
man beriicksichtige, daB der tsch.-sl. E. nicht nur von berauschenden 
Mitteln spricht, also eine bestimmte Wirkung des Mittels auf das Gehirn 
verlangt, sondern dariiber hinaus Gifte schlechtweg anfiihrt. Es kommt 
somit nicht darauf an. welche Wirkung das Mittel auf den Korper, 
und etwa insbesondere auf das Zentralnervensystem, hat, und wie diese 
Wirkung zu deuten oder zu bezeichnen ist; es geniigt, daB der ungeziigelte 
Hang zu Giften kriminelle Handlungen herbeifiihrt, gleiehgiiltig, welcher 
Art das Gift ist, welche sonstige, also sagen wir, pharmokologische 
Wirkung es hat, gleiehgiiltig, wie es dem Korper einverleibt wird. Ich 
mochte glauben, daB damit alle Moglichkeiten beriicksichtigt werden. 

Der E. (§92 I) verlangt weiter die Bcstrnfung wegen einer in derTrun- 
kenheit begangenen Straftat oder wegen sinnloser Trunkenheit. Dasselbe 
fordert der G.E. (§81 I). Nach dem ost. E. (§§242, 243, 510) kommt 
auch der in Betracht, der in dem Zustande der vorsiitzlichen oder fahr- 
lassig herbeigefuhrten, die Zurechnung ausschlieBenden Trunkenheit eine 
Tat veriibt hat, die strenger als mit 6 Monaten Freiheitsstrafe bedroht ist. 


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in- und auslandischer Entwiirfe zu einem Strafgcsetzbuch. 


611 


Die Fassung des schwz. E. (Art. 42 Z. 1 I) bedeutet insofern 
zweifellos einen Fortschritt, als sie nicht ausdriicklich das Vorliegen 
von Trunkenheit zur kritischen Zeit verlangt; es braucht vielmehr 
das Vergehen nur ,,damit in Zusammenhang“ zu stehen, d. h. damit, 
dab der Tater ein Gewohnheitstrinker ist. Es werden also auch die 
Falle getroffen, in denen die strafbare Handlung ein Ausflub der durch 
den chronischen Alkoholmibbrauch bedingten sittlichen Verkummerung 
oder einer anderen, durch ihn bedingten psychischen Storung ist. 
Immerhin wird noch als Strafe eine Gefangnisstrafe verlangt. Der 
schwz. E. sieht in der Einweisung in eine Trinkerheilanstalt ,,eine 
recht einschneidende Mabnahme“ (S. 19), ,,die nur in Verbindung mit 
der Verhangung einer Gefangnisstrafe verbunden werden soll“. ,,An- 
dererseits scheint sie da, wo die Strafe in Zuchthaus besteht, also stets 
von langerer Dauer ist, nicht mehr notwendig“. Ob dieser Optimisruus 
gerechtfertigt erscheint, ist mir nach den Erfahrungen, die wir hier 
geraacht haben, mehr als fraglich. Nicht nur, dab die Zuchthausstrafe 
(Mindestdauer ein Jahr, Art. 34 Z. 1, 2) auch einmal kiirzer dauern 
kann als eine Gefangnisstrafe (Hochstdauer zwei Jahre, Art. 35 Z. 1), 
ist zu beriicksichtigen, dab, wenn auch im Zuchthaus geistige Getranke 
nicht verabfolgt. werden, der Aufenthalt in ihm doch nicht mit der 
systematischen Behandlung, die dem Gewohnheitstrinker in den Trin- 
kerheilanstalten zuteil wird, zu vergleichen ist. Eher kann ich mich 
schon dem weiteren, vom schwz. E. angefiihrten Gesichtspunkt an- 
schlieben, wenn er sagt: ,,t)brigens bestehen auch Bedenken, schwerere 
Verbrecher in diesen offenen Anstalten, deren Insassen nicht vonein- 
ander isoliert werden konnen, zu halten“. 

Ein weiterer und sehr erheblicher Fortschritt des schwz. E. (Art. 42 
Z. 1 II) liegt darin, dab er den Richter ermachtigt, auch den Gewohn¬ 
heitstrinker in eine Trinkerheilanstalt einzuweisen, den er wegen Z.r.u.f .k. 
freigesproehen oder gegen den aus diesem Grunde das Verfahren ein- 
gestellt worden ist. tjbrigens kann der Richter auch einen Gewohn¬ 
heitstrinker, der ,,im Zustande der Betrunkenheit offentlich Sitte und 
Anstand in grober Weise verletzt“, statt ihn mit Bube zu bestrafen. 
in eine Trinkerheilanstalt einweisen (Art. 331). 

Ganz ahnlich labt sich der pol. E. (Art. 78 § 1) aus, der kurz und 
biindig diese sichernde Mabnahme fiir zulassig erklart, wenn ,,die 
Tat im Zusammenhang mit dem Mibbrauch der geistigen Getranke” 
steht. Er sieht also die Einweisung vor, nicht nur, wenn eine Strafe, 
gleichgiiltig welcher Art, verhangt wird, sondern auch dann, wenn 
der Tater freigesproehen ist oder das Verfahren eingestellt ist, gleich- 
giiltig, ob der Tiiter betrunken war oder nicht. 

Noch groberen Vorzug verdient aber schlieblich der tsch.-sl. E. 
(§ 57 Z. 2, § 58 Z. 2). nach dem es ebenfalls belanglos ist. ob eine 


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612 Ernst Schultze: Vergleichende psychiatrische Kritik neuzeitlicher 


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Verurteilung erfolgt ist oder nicht, der nur verlangt, daB ,,die Ursache 
der Straftat ungeziigelter Hang zu geistigen Getranken (Trunksucht) 
oder zu anderen berauschenden Mitteln und Giften ist“. ,.Der Ent- 
wurf macht absichtlich nicht den Unterschied, ob jener ursachliche 
Zusammenhang zwischen Trunksucht und Verbrechen darin besteht, 
daB der Tater ohne den Zustand der Trunkenheit die Tat nicht be- 
gangen hatte, oder darin, daB die Trunksucht seine sittlichen Fahig- 
keiten geschwacht oder ihn sonst in einen Zustand gebracht hat, der 
dann der unmittelbare AnlaB der Tat wurde, z. B. wenn ein Trinker 
anvertrautes Geld veruntreut aus Not, die durch Trunksucht verur- 
sacht. ist, oder urn sich seiner Leidenschaft hingeben zu konnen“ (S. 82). 

Gerade die Erfahrungen der letzten Zeit haben gelehrt, daB der 
MiBbrauch der narkotischen Mittel immer mehr um sich greift. Ich 
verweise nur auf die geradezu erschreckende Mitteilung von Hans 
W. Maier. DaB Ahnliches auch fiir unser Vaterland gilt, beweisen ver- 
schiedene Berichte aus den GroBstadten. Wird der Sucht zur Ein- 
verleibung narkotischer Mittel nicht energisch Einhalt geboten, so 
besteht die groBe Gefahr, daB dieser ,,Kulturfortschritt“ auch auf die 
kleineren Stadte und auf das Land verpflanzt wird. Jeder weiB, wie 
schwer es heute ist, einen Gewohnheitstrinker gegen seinen Willen in 
einer Anstalt unterzubringen. In noch hoherem MaBe gilt das von 
anderen Siichtigen. denen man mit einer Entmiindigung vielleicht nur 
auf dem fiir den Juristen und Laien schwer verstandlichen Umwege 
der Annahme einer Psychopathic beikommen kann. Um so erfreu- 
licher, wenn ein Strafgesetzbuch diese Handhabe wenigstens gegen- 
iiber den Elementen mit kriminellen Neigungen gibt. Hoffentlich recht 
bald, ehe es zu spat ist. 

Der E. wie der G.E. bestimmen ausdrucklich, welcher Zweck mit 
der Einweisung in die Trinkerheilanstalt erreicht werden soli, namlich 
der, den Trunksiichtigen ,,an ein gesetzmaBiges und geordnetes Leben 
zu gew5hnen“. Dieser Hinweis muB somit ebenfalls unter den Voraus- 
setzungen fur die Anordnung der MaBnahme beriicksichtigt. werden. 

Die andern Entwiirfe sehen von einem derartigen Hinweis ab und ver- 
langen auch nicht das Vorliegen bestimmter sozialer Kriterien, die die Be- 
handlung in einer Trinkerheilanstalt rechtfertigen. Ausgenomraen ist der 
ost. E., der die Anstaltsbehandlung vorsieht, wenn der Tater (§ 243 I) ,.we- 
gen seines Hanges zur Trunksucht und mit Rucksicht auf seinen Lebens- 
wandel und die Eigenart seiner Tat als gemeingefahrlich anzusehen ist". 

Der Verzicht auf die Anfiihrung sozialer Kriterien fallt um so 
mehr auf. als beispielsweise der tseh.-sl. E. (§57 Z. 1) unmittelbar 
vor der Bestimmung iiber die Anstaltsbehandlung Siichtiger ausdriick- 
lieh verlangt, der wegen Geistesstorung Freigesprochene miisse gemein¬ 
gefahrlich sein, wenn seine Verwahrung ausgesprochen werden diirfe. 


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in- und auslandisclier Entwurfe zu einem Strafgesetzbuch. 613 

Freilich wird spater in dem Absehnitt, der den ,,Vollzug der Strafen 
und der sichernden MaBnahmen" erortert, als die Aufgabe der Anstalt 
fiir kranke Gefangene betont, diese ,,vom ungeziigelten Hang zu gei- 
stigen Getranken (Trunksucht) und vom GenuB anderer berauschenden 
Mittel und Gifte“ zu entwohnen (§ 123 I 1). 

Offenbar halt der Gesetzgeber besondere Himveise auf die soziale 
Indikation fiir uberfliissig, weil er der Ansicht ist, daB ohnehin nur 
unter besonderen Voraussetzungen, die von einer Rucksichtnahme auf 
andere zeugen, die Einweisung ausgesprochen werden darf. Immerhin auf- 
fiillig. Nicht allein deshalb, weil es iiberhaupt bedenklich ist. in einem 
Gesetz etwas als selbstverstandlich vorauszusetzen, sondern rnehr noch 
deshalb, weil dieselben Entwurfe gegeniiber Geistesgestorten die ent- 
sprechende MaBnahme nur dann zulassen, wenn eine Gefahrdung der 
Rechtssicherheit zu erwarten steht. Eben deshalb, weil diese Entwurfe 
eine solche Bestimmung nicht ausdriicklich unter den Vorbedingungen 
fiir eine Einweisung erwahnen, miissen sie es dem Ermessen des Rich¬ 
ters (kann) iiberlassen, ob er von dieser Moglichkeit Gebrauch machen 
will oder nicht, wahrend die Vorschriften des E. und des G.E. zwin- 
gende (ordnet — an) sind. 

Der E., G.E., schwz. E. und pol. E. bezeichnen als den Ort der 
Verwahrung nur Trinkerheilanstalten. 

Genauer laBt sich der ost. E. § 589 betreffend Abanderung der 
StrafprozeBordnung aus, der eine besondere Abteilung der Anstalt fiir 
verbrecherische Irre vorsieht. Der schwz. E. gestattet anscheinend. 
ahnlich vorzugehen. Zwar spricht Art. 42 Z. 1 I von einer Trinkerheil- 
anstalt, aber Art. 42 Z. 3 sagt wortlich: ,.Die Behandlung wird in 
einem Gebaude vollzogen, das ausdriicklich diesem Zwecke dient“. 

Der tsch.-sl. E. nimrnt auch fiir die Siichtigen die schon mehrfach 
erwahnte ,.Anstalt fiir kranke Gefangene 11 in Anspruch. Freilich kann 
nach § 561 der zu einer Freiheitsstrafe Verurteilte, dessen Straftat auf 
Trunksucht zuriickzufiihren ist, fiir mindestens 1 bis hochstens 10 Jahre 
auch in eine Zwangsarbeitsanstalt eingewiesen werden, wenn er arbeits- 
fahig ist und schon zweimal wegen eines ebenfalls aus Unlust zu stiin- 
diger Arbeit, aus Liederlichkeit, aus Habgier oder aus Trunksucht 
begangenen Verbrechens oder Vergehens eine Freiheitsstrafe er- 
litten hat. 

Eingehende Vorschriften iiber die Trinkerheilanstalten fehlen na- 
turgemaB noch. Bisher hat allein Osierreich einige Vorschlage gemacht. 
Danach werden die Trunksiichtigen bei Tag in Gemeinschaft, bei Nacht 
abgesondert voneinander verwahrt. Ferner konnen sie zu einer ihrem 
Gesundheitszustand und ihren Fahigkeiten entsprechenden und ihrem 
Fortkommen in der Freiheit dienlichen Arbeit angehalten werden 
(§589 abgeiinderte StrafprozeBordnung). 


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614 Ernst Schultze: Vergleichende psychiatrische Kritik neuzeitlicher 


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Das Vorgehen des schwz. E. (Art. 42 Z. 2) und des bst. E. (§ 496 II), 
das den Richter zwingt, Arzte als Sachverstdndige zuzuziehen, kann nur 
gebilligt werdcn. Eine derartige Vorschrift halte auch ich fiir not- 
wendig, besonders, wenn der Kreis der Einzuweisenden nicht auf Ge- 
wohnheitstrinker beschrankt werden soli. Was weib der Laic von 
Morphinisms, Cocainismus, Pantoponismus? Sind diese Krankheits- 
zustande vielfach doch selbst den Arzten nicht hinreichend bekannt, 
was schon daraus hervorgeht, dab an ihrem Zustandekommen gerade 
Arzte vielfach die Hauptschuld haben. 

Wenn schon eine Frcihcitsstrafe verhangt wird, dann ist es rich- 
tiger, dab die StrafvoUstreckung der Verwahrung in der Trinkerheil- 
anstalt vorausgeht. Denselben Standpunkt nehmen die Entwiirfe ein. 
Auch der schwz. E. ,,trotz entgegenstehender arztlicher Bedenken 11 
(S. 16) und der pol. E. Das verdient um deswillen besonders hervor- 
gehoben zu werden, als bei den infolge einer geistigen Storung vm. 
Z.r.f. — und zwischen diesen und den Gewohnheitstrinkern bestehen 
zum mindesten klinisch doch recht viele Beziehungen — die Strafe der 
Verwahrung folgen soil. Ein anderes Vorgehen dieser beiden Entwiirfe 
gegeniiber den Gewohnheitstrinkern ist wohl darauf zuruckzufuhren, 
dab der Gesetzgeber sich hiervon einen grbberen Erfolg in dem Kampf 
gegen den Alkoholinibbrauch verspricht. Zutreffend fiihrt der schwz. 
E. (S. 15) aus, dab sich unter den Personen, gegen die sichernde Mab- 
nahmen vorgesehen sind — und das sind Gewohnheitsverbrecher. 
Liederliche und Arbeitsscheuc, sowie Gewohnheitstrinker —, ,.gewib 
viele befinden, deren Verstandeskrafte und Charakter recht schwach 
sind, aber es handelt sich nicht darum, sie als vermindert Zurech- 
nungsfiihige milder zu bestrafen, sondern darum, im Interes.se des 
Gesellschaftsschutzes, die Wirkung der gewohnlichen Strafe, gegen die 
sie sich unempfindlich erweisen, durch bcsondere Mabnahmen zu er 
ganzen und zu verstarken“. 

Ob durch die StrafvoUstreckung die Verwahrung iiberfliissig ge- 
worden ist, soil nach dem G.E., ahnlich wie bei den vm. Z.r.f., nicht 
mehr die Polizeibehorde, wie der E. wollte, sondern das Gericht ent- 
scheiden. Der pol. E. beabsichtigt vielleicht gegeniiber den Gewohn¬ 
heitstrinkern ahnlich vorzugehen, wie bei den vm. Z.r.f.; nach Voll- 
ziehung der Strafe entscheidet das Gericht, ob von der Zulassig- 
keit der Unterbringung in eine Trinkerheilanstalt, die das er- 
kennende Gericbt ausgesprochen hat. Gebrauch gemacht werden soli 
oder nicht. 

Ich hebe hervor, dab nach alien diesen Entwiirfen das Gericht 
entscheiden mub. Natiirlich! Kann man doch billigerweise keiner 
andern Behbrde die Bcfugnis zuerteilen, iiber die Ausfiihrung einer 
vom Gericht verhangten Mabnahme zu beschlieben. 


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in- und ausltindischer Entwiirfe zu cineni Strafgesetzbuch. 


615 


Fiir den tsch.-sl. E. ist das Problem der Beziehung zwischen Strafe 
nnd Trinkerheilanstalt bereits damit gelost, daB auch die etwaige 
Strafe in der Anstalt fiir kranke Gefangene vollstreckt werden kann. 

Es mag geniigen, darauf hinzmveisen, da!3 der G.E. wie der E. 
gemeinsame Vorschriften iiber die vorlaufig aus der Strafe entlassenen 
vm. Z.r.f. und Trunksiichtigen trifft. 

Auf einem andern Standpunkt steht der pol. E. (Art. 65 § 3, vgl. 
Makarewicz S. 180), der bestimmt, daB bei vorlaufiger Entlassung aus 
der Strafanstalt die Probezeit in der Sicherungsanstalt, also auch der 
Trinkerheilanstalt, verbracht werden soli, sofern iiberhaupt das erken- 
nende Gericht auf diese SicherungsmaBnahme erkannt hat. Wenn der 
Aufenthalt in der Anstalt auf die Probezeit angerechnet werden soil, so 
darf nicht iibersehen werden, daB es, soweit wenigstens der Alkohol- 
miBbrauch in Betracht kommt, dem Y T erurteilten schwer oder un- 
moglich sein wiirde, sich in der Trinkerheilanstalt nicht zu bewahren 
(s. diese Ztschr. 66, 252, 1922). Die andern Entwiirfe sehen diese Mog- 
lichkeit nicht vor. Offenbar deshalb nicht, weil eine vorlaufige Ent¬ 
lassung aus der Strafanstalt dann kaum angebracht sein diirfte, wenn 
noch die Ausftihrung von SicherungsmaBnahmen gerechtfertigt er- 
scheint. 

Nach dem G.E. (§77 III, §82 II) kann bei Gewohnheitstrinkern 
wie auch bei vm. Z.r.f. auf Anordnung des Gerichts eine hochstens 
Gmonatige Freiheitsstrafe in der Trinkerheilanstalt vollzogen werden. 
Ich nehme an, daB das Gericht von dieser Befugnis nur unter besonderen 
Umstanden Gebrauch macht, und daB diese vor allem durch den doch 
immerhin krankhaften Geisteszustand des Tiiters bedingt sind. 

Was die Entlassung angeht, so ruuB sie natiirlich erfolgen, wenn 
der Zweck der MaBnahme erreicht ist. Ob das der Fall ist, darf natiir 
lich nicht die Polizeibehorde entscheiden: der E. (§94 l 1) raumt mit 
einer solchen Vorschriit der Polizeibehorde eine gar zu groBe und 
sachlich unberechtigte Befugnis ein. Richtiger geht schon der G.E. 
(§ 83 II, § 78 II) vor, der mit dieser Aufgabe die Vollzugskommission 
betraut. Ich personlich stimrne eher dem Standpunkt des pol. E. 
(Art. 78 § 2) zu, der dem Gericht die Befugnis zuspricht, sofern man 
nicht die von mir vorgeschlagene Sicherungsbehorde heranzieht. 

Ich habe mich sehr gewundert, daB nach dem Vorentwurf (§ 43 I 2) 
auch der E. (§ 94 III) wie der Kommissionsentwurf (§ 99 I 1) und ihm 
sich anschlieBend der G.E. (§83 V), wie friiher der schwz. E. (Art. 42 
Z. 4, 2) und pol. E. (Art. 78 § 1) die Unterbringung in einer Trinker¬ 
heilanstalt fiir hochstens zieei Jahre zulassen. 

Ich kann mir nur denken, daB fiir diese ungewohnliche Einmiitigkeit 
der verschiedenen Gesetzgeber die in der Begriindung zum V.E. ange- 
fiihrte Erfahrung maBgebend war, nach der die Behandlung eines Trunk- 


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(316 Ernst Schultze: V'ergleicliende psychiatrische Kritik neuzeitlicher 


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siichtigen nach zweijahrigem vergeblichen Anstaltsauienthalt keinen 
Erfolg mehr verspricht. Mir fehlt es an eigenen Erfahrungen, mit 
Sicherheit zu entscheiden, ob wirklich diese Annahme den Tatsachen 
entspricht, und vor allem, ob man das so verallgemeinern und in einem 
Gesetz fiir Bestimmungen verwerten darf, deren Folgen im voraus 
nicht zu iibersehen sind. Dabei habe ich noch gar nicht die Schwierig- 
keiten beriicksichtigt, die darin liegen, dad zuweilen der ungeziigelte 
Hang zum Trinken auf eine anderweitige Geistesstorung zuruckzufuhren 
ist, ohne dad ich dabei der von manchen Psychiatern vertretenen An- 
sicht bin, dad oft, wenn auch durchaus nicht immer, die Trunksucht, 
kurz gesagt, eine sekundiire Psychose ist. 

Aber auch zugegeben, es sei richtig, ein Trunksiichtiger werde, 
wenn iiberhaupt, im allgemeinen in zweijahriger Anstaltsbehandlung 
geheilt, so geht es doch nicht an, diese klinischen Erfahrungen ohne 
weiteres in das Strafgesetzbuch zu iibertragen. Wer so vorgeht, ver- 
kennt, fiirchte ich, das Wesen des Strafrechts, indem er dem Straf- 
richter eine Aufgabe zuweist, die ihm nicht zufallt. So erwiinscht es 
ist, wenn auch das Strafgesetzbuch zu seinem Teil die Besserung oder 
gar Heilung der Kriminellen ermoglicht und herbeifiihrt, das erste 
Ziel, der eigentliche Zweck der Strafgesetzgebung ist doch meines 
Erachtens die Sicherung der Gesellschaft. Wenn durch die dem Straf- 
richter zur Verfiigung gestellten Mittel gleichzeitig auch die Besserung 
oder gar Heilung des Taters herbeigefiihrt werden kann, ware es na- 
tiirlich engherzig, wollte man aus prinzipiellen Erwagungen sich dieses 
Vorteils begeben. Im Gegenteil, es wiirde daraus hervorgehen, dad 
der vom Gesetzgeber vorgeschlagene Weg der richtige, unter Umstanden 
der einzig richtige ist. Immerhin handelt es sich aber bei einer erfolg- 
reichen Behandlung doch nur um einen, schon aus gelcllichen Riick- 
sichten nicht zu unterschatzenden Nebenerfolg. t)ber dieses Ergebnis 
wiirde ich mich um so mehr freuen, als ja gerade in solchen Fallen 
die andern uns zur Verfiigung stehenden Heilmittel vielfach versagen, 
wie ich wiederholt betont habe. 

Aber wozu es fiihrt, wenn die Nebenabsicht gar zu sehr in den 
Vordergrund geschoben wird, lehrt die von mir bemangelte Festsetzung 
der Hochstfrist. Keiner der Entwiirfe lalit sich dariiber aus, was ge- 
schehen soil, wenn die zweijahrige Anstaltsbehandlung erfolglos war. 
Soil dann aus rein formalen Griinden. nach nicht einmal medizinisch 
hinreichend bcgriindeten Anschauungen, der Tater auf die Menschheit 
wieder losgelassen werden? DerVorentwurf war sich der Fehlerhaftigkeit 
seiner Stellungnahme wohl bewuBt. Aber dafi seine Vorschlage, wie 
die fernere Untcrbringung des Trunksiichtigen zu ermoglichen sei, sich 
praktisch, wenn uberhaupt, nur schwer verwirklichen lassen, habe ich 
friiher (s. diese Ztschr. 6(3, 255, 1922) eingehend begriindet. 


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in- und ausl&ndischer Entwiirfe zu eineni Strafgesetzbuch. 


617 


Mit ist ein so zaghaftes Vorgehen gegeniiber den Gewohnheits 
trinkern um so schwerer verstandlich, als die Entwiirfe bei den Ge- 
wohnheitsverbrechern nicht davor zuriickschrecken, eine sehr viel 
langere, vielleicht sogar lebenslangliche Verwahrung durchzufiihren. 
Rechnet doch die Begriindung des tsch.-sl. E. (S. 83) mit der Moglich- 
keit, daB ,,verbrecherisehe Schwachsinnige und schwachsinnige Ver- 
brecher“, ,,sofern sie gemeingefahrlich sind“, ,,im Interesse der offent- 
lichen Sicherheit“ Jebenslanglich in der Anstalt fur kranke Gefangene 
anzuhalten sind. Vielleicht findet die unangebracht milde Behandlung 
der Gewohnheitstrinker darin ihre Erklarung, daB die Urheber des 
Entwurfs gar zu sehr auf die im Rausche begangenen Verbrechen der 
Gewohnheitstrinker Riicksicht nehmen, ohne zu beachten, daB auch 
der chronisehe Alkoholismus an sich und, wie der Irrenarzt weiB, in 
gar nicht wenigen Fallen zu verbrecherischen Handlungen fiihren kann. 

Alle diese aus der Festlegung einer Hochstfrist sich ergebenden 
Schwierigkeiten, die, wie ich zugeben muB, sich vielleicht nur in we¬ 
nigen Fallen ernstlich bemerkbar machen, lassen sich dadurch vermeiden, 
daB auf eine Festsetzung der Hochstgrenze verzichtet wird. Dann auch, 
und nur dann, kann die Vorschrift, die in vorbildlicher Weise der 
schwz. E. (Art. 42 Z. 5) iiber die Entlassung trifft, Nutzen schaffen. 
„Die zustiindige Behorde stellt den Entlassenen unter Schutzaufsicht. Sie 
gibt ihm auf, sich wahrend einer bestimmten Zeit der geistigen Getranke 
zu enthalten. Sie kann ihm noch weitere Weisungen erteilen. Handelt 
er trotz formlicher Mahnung der Schutzaufsichtsbehorde den erteilten 
Weisungen zuwider, oder entzieht er sich beharrlich der Schutzaufsicht, 
so kann die zustandige Behorde ihn in die Anstalt zuriickverweisen“. 
Fur richtiger wiirde ich es halten, wenn in diesem Falle der zustan- 
digen Behorde die Verpflichtung der Zuriickverweisung auferlegt wird. 

Ahnliche Bestimmungen hatte auch der E. (§94) getroffen. Frei- 
lich befriedigen sie nicht. Vor allem deshalb, weil auch sie den Widerruf 
der Entlassung, wenn „der Zweck der MaBregel noch nicht erreicht 
war“, nicht vorschrieben, sondern nur gestatteten (§ 94 II). Nach dem 
G.E. (§ 83 IV) muB in diesem Falle der Widerruf erfolgen, und 
zwar durch die Vollzugskommission, die die Entlassung verfiigt, die 
auch dem Entlassenen besondere Pflichten auferlegen, ihn auch unter 
Schutzaufsicht stellen kann (§83 III). 

Ich gehe noch weiter und mochte die Entlassung aus der Trinker- 
heilanstalt grundsatzlich in jedem Falle nur bedingt aussprechen und 
dem Entlassenen die Bewahrung wahrend einer nicht zu kurz be- 
messenen Probezeit, etwa 2—3 Jahre, auferlegen. Ausdriicklich wiirde 
ich, um alien MiBverstandnissen vorzubeugen, eine nochmalige oder 
wiederholte, aber immer wieder nur bedingte Entlassung zulassen, 
sofern ein friiherer Versuch fehlgeschlagen ist. Der schwz. E. sieht 

Archlv fllr Psychlatrie. Bd. 68. 40 


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618 Ernst Schultze: Vergleichende psychiatrische Kritik neuzeitlicher 


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eine Bewahrungsfrist von 5 Jahren vor (Art. 42 Z. 6). Ich bin der 
Ansicht, daB ein kiirzerer Zeitraum von 2—3 Jahren ausreicht. 
Denn die weitere Sicherung fiir einen langeren Zeitraum, die mit der 
Festsetzung der Bewahrungsfrist auf hochstens 5 Jahre gegeben ist, 
verliert meines Erachtens doch dadurch erheblich an Wert, daB nach 
demselben Entwurf der Eingewiesene in jedem Falle nach 2 Jahren 
entlassen werden muB (Art. 42 Z. 4, 2). Ich nehme an, der Gesetz- 
geber hat damit den Gesamtaufenthalt in der Trinkerheilanstalt auf 
hochstens 2 Jahre bemessen wollen. Ist rueine Annahme richtig, dann 
wiirde es in praxi, um alle mit einer bedingten Entlassung verbundenen 
Vorteile voll ausnutzen zu konnen, leicht dahin fiihren konnen, daB die 
versuchsweise Entlassung aus der Trinkerheilanstalt zu friih, vor Ab- 
schluB der Behandlung, bewilligt wird. 

Nach deni schwz. E. wird der Verurteilte entlassen, sobald er 
geheilt ist (Art. 42 Z. 4, 1). Die Anhorung eines Sachverstandigen ist 
aber nicht vorgeschrieben, wahrend der Einweisung in eine Trinker¬ 
heilanstalt eine arztliche Begutachtung vorhergehen soil. DaB dieselbe 
Vorschrift nicht auch fiir die Entlassung getroffen ist, fallt um so 
raehr auf, als fiir die Entlassung der Z.r.u.f. und vm. Z.r.f. aus der 
Heilanstalt ebenfalls ein Sachverstandigenzwang besteht. 

ft) Wirtshausverbot. 

• 

Es ist erstaunlich, daB alle Entwiirfe ein Wirtshausverbot, wenn 
auch nicht ausdriicklich als solches, so doch eingeschlossen in andere 
Bestimmungen, insbesondere in denen iiber die Schutzaufsicht, vor- 
sehen. Ich sage erstaunlich, weil von vornherein doch keiner aus Griin- 
den, die ich andernorts (s. diese Ztschr. 66,259ff., 1922) angefiihrt habe, 
und die ich um so weniger zu wiederholen brauche, als sie auf der 
Hand liegen, sich von dem Wirtshausverbot allzu viel Erfolg verspricht. 

Der E. wie der G.E. verlangen eine Neigung zu Ausschreitungen 
in der Trunkenheit; nur bei deren Vorliegen soli ein Wirtshausverbot 
zulassig sein. Diese Voraussetzung ist selbstverstandlich, so daB viel- 
leicht deshalb der schwz. E. (Art. 53) und der tsch.-sl. E. (§62) sie 
nicht besonders hervorheben zu miissen glauben. 

Nach dem E., G.E. und schwz. E. muB der Verhangung des Wirts- 
hausverbots eine Bestrafung des Taters vorhergehen; und zwar ver- 
langt der schwz. E. eine Bestrafung schlechtweg, wahrend der E. und 
G.E. noch bestimmte Vorschriften iiber Art und Hohe der Strafe er- 
lassen. Der G.E. behalt in dieser Beziehung grundsatzlich denselben 
Standpunkt bei wie der E. 

Ich halte es nach wie vor fiir unrichtig, das Wirtshausverbot nur 
bei bestimmten Strafarten oder bei einem bestimmten StrafmaB zu- 
zulassen. Wenn der G.E. das Wirtshausverbot untersagt, sofern auf 


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in- und auslandischer Entwiirfe zu einem Strafgesetzbuch. 


619 


Verwahrung oder Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt erkannt 
ist, so stimme ich dem insoweit zu, als das Verbot wahrend des Aufent- 
halts in der Trinkerheilanstalt nutzlos ist (vgl. § 80 III 2). 1st aber 
daraus zu entnehmen, daB der G.E. der Anordnung des Wirtshaus- 
verbots bei Entlassung aus der Trinkerheilanstalt widersprechen will? 
Das wiirde ich lebhaft bedauern, zumal ich grundsatzlich nur eine 
bedingte Entlassung aus der Trinkerheilanstalt zulassen und den Ent- 
lassenen stets unter Schutzaufsicht stellen, gleichzeitig aber auch ein 
Alkoholverbot gegen ihn erlassen mochte. 

Nicht nur, daB ich eine Bezugnahme auf Strafe hinsichtlich ihrer 
Art und Hohe fur bedenklich halte, schlage ich, wie auch friiher, vor, 
das Wirtshausverbot bei jeder auf Trunkenheit zuriickzufuhrenden 
Straftat zuzulassen, gleichgiiltig, ob sie selbstverschuldet ist oder 
nicht, ob sie Strafe nach sich zieht oder nicht, sofern nur die andern 
Voraussetzungen — in erster Linie eine Neigung des Taters zu Aus- 
schreitungen im Trunke — vorliegen. Um so erfreulicher ist es, daB 
der tscli.-sl. E. (§62 I) nur fordert, daB unmaBiger GenuB geistiger 
Getranke die Ursache eines Verbrechens oder eines Vergehens oder 
einer Ubertretung (dann allerdings nur, wenn der Schuldige vorher 
zweimal einer ebenso bedingten Straftat schuldig erkannt oder wegen 
Z.r.u.f.k. freigesprochen wurde) ist. Mit besonderem Nachdruck sei 
noch betont, daB der tsch.-sl. E. (§62 I, II) im Gegensatz zum G.E. 
ausdriicklich die Verhangung eines Wirtshausverbots zulaBt, auch 
wenn auf Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt erkannt ist; denn 
die Frist des Wirtshausverbots lauft nicht wahrend des Aufenthalts 
in einer Sicherungsanstalt. Bei der Regelung der bedingten Verurtei- 
lung wird (§85 I) ebenfalls bestimmt, daB der Aufschub des Vollzugs 
des Urteils sich auch auf die sichernden MaBnahmen erstreckt; das 
Wirtshausverbot wird aber ausdriicklich ausgenommen. 

Was den Inhalt des Verbots angeht, so verbietet der E., ,,sich in 
Wirtshausern geistige Getranke verabreichen zu lassen.“ Der G.E. geht 
dariiber hinaus und verbietet schlechtweg den Besuch von Wirtshausern, 
in denen geistige Getranke verabreicht werden, wie es ahnlich auch der 
Vorentwurf getan hat. Die Fassung des schwz. E. (Art. 53 Z. 1) ist noch 
vorsichtiger, insofern sie von ,,Wirtschaftsraumen“, in denen ,,alkohol- 
haltige“ Getranke verabreicht werden, spricht, und der tsch.-sl. E. stellt 
mit den Gasthausern Schankraume und andere offentliche Lokale auf eine 
Stufe. Derselbe Entwurf erklart als der einzige, was unter geistigen 
Getranken zu verstehen ist, namlich „Branntwein, Wein, Bier und 
andere alkoholhaltige Getranke“ (§13Z. 16); einer derartigen Begriffs- 
bestimmung bedarf natiirlich der schwz. E. bei seiner Fassung des 
Verbots nicht. Man muB schon zugeben, daB die Durchfiihrung des 
Wirtshausverbots leichter gepriift werden kann, wenn iiberhaupt der 

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620 Ernst Schultze: Vergleichende psychiatrische Kritik neuzeitlicher 


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Besuch von Wirtshausern, in denen geistige Getranke ausgeschenkt 
werden, verboten wird. Man stelle sich nur vor, welche Mafinahmen 
notwendig sind, um im Einzelfall festzustellen, dab der unter Wirts- 
hausverbot Gestellte sich nicht geistige Getranke in einer Wirtschaft 
verabreichen labt; und ich sehe da von ab, dab auch die Fassung der 
Bestimmung durchaus nicht eindeutig ist. Auf der andern Seite be- 
deutet aber das Verbot des Besuchs von Wirtshausern, in denen geistige 
Getranke verabreicht werden, eine unerhorte Harte, solange es bei 
uns nur ganz vereinzelte Wirtschaften gibt, in denen geistige Getranke 
grundsatzlich nicht verabfolgt werden. In der Schweiz mag ein der- 
artiges Verbot praktisch durchfiihrbar sein. Bei uns nicht! Wo soil 
der so Bestrafte auf Reisen sein Unterkommen finden, wo seine Mahl- 
zeiten einnehmen, wo die Zeit bis zur Abfahrt des nachsten Zuges 
zubringen? Der V.E., der auch grundsatzlich den Besuch der Wirts- 
hauser verbietet, verschlob sich nicht den Folgen seines Vorgehens, 
wenn er sagt (S. 160): ,,Was unter Wirtshausverbot zu verstehen ist, 
ergibt sich aus dem Zwecke der Vorschrift, die das Aufsuchen der Ge- 
legenheit zu iibermabigem Alkoholgenub verhindern will“, und dann 
sofort fortfahrt: ,,Danach ist zu beurteilen, inwieweit auch das Be- 
treten einer Bahnhofswirtschaft, einer in einem Wirtshause stattfin- 
denden Versammlung und dergleichen eine Verletzung des Verbots 
darstellt". Gerade aus diesen Ausfiihrungen erhellt aufs deutlichste, 
dali das Verbot in dem vom V.E. vorgeschlagenen Umfang sich gar 
nicht verwirklichen labt. Man kann sich nur dariiber wundern, dab der 
Verfasser des V.E. sich dieses offensichtlichen Widerspruchs zwischen 
Gesetzestext und Begriindung nicht bewubt wird. 

Wird ein Gastwirt unter Wirtshausverbot im eigentlichen Sinne 
des Wortes gestellt, so wiirde es kaum geniigen, dab ein anderer an 
seiner Stelle den Betrieb ubernimmt; es wiirde schon richtiger sein. 
dab er den Beruf wechselt. 

Alle Entwiirfe setzen eine Mindest- und Hochstdauer feat. Jene 
schwankt zwischen 3 und 6 Monaten, diese zwischen 1 und 
3 Jahren. Der tsch.-sl. E. verlangt die hochsten Grenzen. Ich 
stimme seinem Vorgehen zu. Alle Entwiirfe stimmen darin iiber- 
ein, dab die Frist nicht laufen soli, wenn dem Tater seine Freiheit 
entzogen wird. Mag es sich nun um die Abbiibung einer Freiheits- 
strafe oder den Aufenthalt in einer Sicherungsanstalt (Tschecho- 
slowakei) handeln. 

Nur der schwz. E. hat den erfreulichen Mut (Art. 53 Z. 2), die 
Veroffentlichung des Wirtshausverbots in einem amtlichen Blatt nicht 
nur zu gestatten, sondern ausdriicklich anzuordnen (friiher wurde das 
Verbot auch noch in Wirtshausern angeschlagen). Gewib kann dadurch 
das Wirtshausverbot zu einer Ehrenstrafe gestempelt werden. Aber 


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in- und ausl&ndischer Entwiirfe zu einem Strafgesetzbuch. 621 

was schadet das? 1st es denn etwas Ehrenhaftes, sich zu betrinken 
und in der Trunkenheit eine Handlung zu begehen, mit der sich der 
Strafrichter beschaftigen muB? Und wie soil auf der andern Seite dem 
Wirt die Kenntnis des Wirtshausverbots xibermittelt werden, dessen 
AuBerachtlassung ihn der Gefahr der Bestrafung aussetzt? Der tsch.-sl. 
E. (S. 94) denkt sich die Durehfiihnxng des Wirtshausverbots so, daB 
,,das Bezirksgericht des Ortes des standigen Aufenthalts des Verur- 
teilten“ auf dem Wege der Verordnung etwa ,,die Schankwirte 
seines Sprengels und die Sicherheitsorgane von dem Verbote ver- 
standigt“. 

Der E. erlaBt in § 201 eine Bestimmung iiber den VerstoB gegen 
das Wirtshausverbot. Ahnlich laBt sich der schwz. E. (Art. 345) aus. 
Bestraft wird natiirlich der, der gegen das iiber ihn verhangte Wirts- 
hausverbot verstoBt, dann auch der, der ,,als Wirt jemandem geistige 
Getranke verabreicht oder verabreichen laBt, dem, wie er weiU, der 
Besuch der Wirtschaften gerichtlich verboten ist“. Der E. sieht Ge- 
fangnis oder Geldstrafe, der schwz. E. Haft oder BuBe vor. DaB 
derartige Bestimmungen nicht ausreichen, die Durchfxihrung des 
Wirtshausverbots in praxi zu sichern, habe ich iriiher betont. Wie 
und unter welchen Voraussetzungen der pol. und tsch.-sl. E. einen 
VerstoB gegen das gerichtliche Wirtshausverbot geahndet wissen 
wollen, steht noch nicht fest, da bisher nur ihr allgemeiner Teil 
erschienen ist. 

Wenn auch die neueren Entwiirle in der xiberwiegenden Mehrzahl 
ein Wirtshausverbot vorsehen, ich muB meine friiher geauBerten Be- 
denken gegen eine solche Bestimmung aufrechterhalten. Das gilt um so 
mehr, als sowohl der Vorentwurf in der Begriindung wie der E. in der 
Denkschrift mit allern Naehdruck und voller Deutlichkeit auf die 
Schwierigkeiten seiner Durchfxihrung hingewiesen haben. Und auch 
die Bedenken, die sich daraus ergeben, daB mit der Einfiihrxing eines 
Verbots, das sicher sehr oft iiberschritten wird, ohne daB es auch nur 
in einer groBeren Zahl von Fallen zu einer Bestrafung kommt, dem 
Ansehen der staatlichen Autoritat geschadet werden muB, sind wahr- 
lich nicht ohne Bedeutung. 

Die von mir geforderte Veroffentlichung des Wirtshausverbots 
gestattet der schwz. E. Wenn man iiberhaupt das Wirtshausverbot 
beibehalten oder einfiihren will, so soli man die Moglichkeit seiner 
Anwendung sehr viel weiter ausdehnen. Der G.E. beginnt schon, 
diesen Weg einzuschlagen, wenn er bei denen, denen ein bedingter 
StrafnachlaB zugebilligt ist, die Vollstreckung der Strafe bei 
schlechter Fiihrung wahrend der Probezeit anordnet, eine schlechte 
Fxihrung aber darin erblickt, daB sich der Verurteilte dem Trunke 
ergibt. 


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622 Ernst Schultze: Vergleichendc psychiatrische Kritik neuzei tlicher 


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y) Schutzaufsicht. 

Oben (S. 607) habe ich mich des ausfiihrlicheren iiber die Schutz¬ 
aufsicht ausgelassen. Wenn ich dabei, wiewohl ich nur die sichernden 
MaBnahmen gegeniiber psychischen Miingeln besprach, doch vor allem 
auf die Beziehung der Schutzaufsicht zu denen, die den Alkohol miB- 
brauchen, besondere Riicksicht genommen habe, so war das dadurch 
bedingt, daB man gerade diesen Personen gcgeniiber schon friiher ahn- 
liche MaBregeln getroffen hat, und als man sich gerade bei Gewohnheits- 
trinkem einen besonderen Vorteil versprochen hat. Ich brauche daher 
an dieser Stelle nicht nochmals die Schutzaufsicht zu besprechen, zu- 
mal die Entwiirfe nichts bringen, was bisher nicht schon erortert ware. 

Ich will nur das eine hervorheben, daB keiner der Entwiirfe aus- 
driicklich bestimmt, die Fiirsorger fur Personen, die infolge ihres Al- 
koholmiBbrauchs gegen das Strafgesetz gefehlt haben, miiBten in erster 
Linie aus den Mitgliedern der Abstinenzvereine gewahlt werden. Und 
ebenso vermisse ich die weitere Bestimmung, daB der Ausspruch der 
Schutzaufsicht in diesen Fallen am zweckmaBigsten stets mit der 
Forderung, der Tater miisse in einen Abstinenzverein eintreten, ver- 
kniipft werden soil. 

Wer die zurzeit vorliegenden Entwiirfe fiir ein neues Strafgesetz- 
buch hinsichtlich der Bestimmungen, die den Psychiater angehen, mit- 
einander vergleicht, dem muB sich ohne weiteres der Eindruck auf- 
drangen, daB in den wesentlichsten Punkten eine recht erhebliche 
Ubereinstimmung herrscht. Das gilt also nicht nur hinsichtlich der 
Umschreibung der Zustande, denen eine Z.r.u.f.k. und vm. Z.r.f.k. 
zugebilligt wird -— hierbei verdient vor allem hervorgehoben zu werden. 
daB iibereinstimmend von alien Entwiirfen die Berechtigung, mit 
einer vm. Z.r.f.k. zu rechnen, trotz mancher gegen sie von beachtens- 
werter Seite vorgebrachten Einwande anerkannt wird —, sondern vor 
allem auch hinsichtlich der sichernden MaBnahmen, die gegen die 
pathologischen Reehtsbrecher vorgesehen werden. Insbesondere konnen 
wir Irrenarzte dariiber erfreut sein, daB liiermit Forderungen erfiillt 
werden, die wir schon lange und wiederholt aufgestellt haben; das 
trifft vor allem fiir die Forderung zu. daB das Gericht und nicht die 
Verwaltungsbehorde fiir den notwendigen Schutz der Gesellschaft 
sorgen muB, wenn ein GeLsteskranker gefehlt hat. 

Es eriibrigt sich, hier nochmals auf Einzelheiten einzugehen, da 
in den Grundsatzen eine geradezu erstaunliche Ubereinstimmung 
herrscht. Es kann doch nicht angenommen werden, daB der eine Ent- 
wurf blindlings Bestimmungen aus einein andern Entwurf iibernommen 
hat. NaturgemaB hat jeder einzelne Gesetzgel>er das Bestreben, etwas 
Originelles zu schaffen, soweit das moglieh und durchfiihrbar ist. Jeder 


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in- und auslandischer Entwiirfe zu einem Strafgesetzbuch. 


623 


Entwurf zu einem Strafgesetzbuch verwertet natiirlich nicht nur die 
praktischen Erfahrungen, sondern auch die Ergebnisse wissenschaft - 
licher Forschungen. Besteht aber dann eine solche Einmiitigkeit wie 
hier, so liegt begriindete Hoffnung vor, daB wir uns der Losung des 
Problems nahern. Hierbei darf gewiB nicht iibersehen werden, daB es 
sich bei den von mir verglichenen 7 Entwiirfen vorzugsweise ura Ar- 
beiten stammesverwandter Rassen handelt. Die Verwertung des Ferri- 
schen Entwurfs wiirde die Einheitlichkeit des Bildes wesentlich gestort 
haben. 1st doch schon ohnehin die Stellungnahme des Einzelnen zur 
Frage der Schuld und der Zurechnungsfahigkeit mehr oder weniger 
in diesem oder jenem Falle, wenn auch unbewuBt, Temperamentssache. 

Hierbei darf freilich nicht geleugnet werden, daB in den Ent- 
wiirfen eine tjbereinstimmung auch hinsichtlich solcher Fragen herrscht. 
bei denen wir Irrenarzte, wenigstens in der iiberwiegenden Mehrzahl, 
eine andere Losung gewiinscht oder geradezu erwartet hatten. Ich 
meine vor allern die Verwahrung vm. Z.r.f. in Heil- oder Pflegeanstalten; 
dann auch die Bemessung der Hochstdauer der LTnterbringung Trunk- 
siichtiger in Trinkerheilanstalten auf 2 Jahre. 

Man wird es mir nicht verargen, wenn ich schlieBlich den Entwurf 
zu einem Deutschen Strafgesetzbuch von 1919 allein den andern gegen- 
ilberstelle. Dabei schneidet der Gesetzgeber unseres Entwurfs gut ab. 
Soweit ich mir ein Urteil erlauben kann, finde ich, daB er vor andern 
Entwiirfen insofern einen Vorzug verdient, als er die Regelung der 
Z.r.u.f.k. gleichzeitig mit der der vm. Z.r.f.k. bringt, und zwar in dem die 
Straftat behandelnden Abschnitt, und daB er alle sichernden MaBnah- 
men in einem Abschnitt zusammenfaBt, ohne darauf Riicksicht zu 
nehmen, gegen welche Gruppen von Individuen sie sich richten, welches 
Ziel mit ihrer Anordnung und Durchfiihrung angestrebt wird. Auch 
hinsichtlich der Formulierung der einzelnen Bestimmungen kann der 
Entwurf die Probe bestehen. Dabei bin ich der letzte, der verkennt, 
daB viele, sehr viele, wenn auch nicht alle meine zahlreichen Wtinsche, 
die ich in meinen friiheren Studien iiber den Entwurf geauBert habe. 
von diesem oder jenem Entwurf erfiillt werden. Genauer hierauf ein- 
zugeben, eriibrigt sich, um nicht schon Gesagtes wiederholen zu miissen. 

Ich kann die Arbeit nicht schlieBen, ohne der Befriedigung dariiber 
Ausdruck zu geben, daB die Vergleichung der Entwiirfe lehrt, daB 
wenigstens auf diesem wissenschaftlichen Sondergebiet ein gemeinsames 
Arbeiten sehr wohl moglich ist. 


Regierungsenlwurf eines Osterreichischen Strafgeselzbuches (1912). 

§ 3. Wer zur Zeit der Tat. wegen Geistesstorung, Geistesschwftche oder Be- 
wulitseiiiKstorung nicht die F&higkeit besitzt, das Unrecht seiner Tat einzusehen 
oder dieser Einsicht gemaB zu kandeln, ist nicht strafbar. 


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624 Ernst Schultze: Vergleichende psychiatrische Kritik neuzeitlicher 


§ 38 . Ein Geisteskranker, der eine strf nger als mit seche Monaten Freiheits- 
strafe bedrohte Tat begangen hat und wegen Zurechnungsunffihigkeit zur Zeit der 
Tat nicht verfolgt oder nicht verurteilt werden kann, wird an eine staatliche An- 
stalt fur verbrecherisehe Irre abgegeben, wenn er wegen seines Geisteszustandes 
und mit Riicksicht auf seinen Lebenswandel und die Eigenart. seiner Tat als 
besonders geffihrlich fur die Sittlichkeit oder fur die Sicherheit der Person oder 
des Vermogens (gemeingeffthrlich) anzusehen ist. 

Der Kranke bleibt in der Anstalt, so lange seine Gemeingef&hrlichkeit dauert. 
Die Entlassung kann endgultig oder auf Widerruf erfolgen. 

§ 37 . Der zu Freiheitsstrafe verurteilte Tftter eines Verbrechens oder eines 
mit einer sechs Monate iibersteigenden Freiheitsstrafe bedrohten Vergehens, dessen 
Fahigkeit, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder dieser Einsicht gemftB zu handeln, 
zur Zeit der Tat infolge eines andauemden krankhaften Zustandes wesentlich 
vermindert war, kann nach dem Vollzuge der Strafe weiterhin verwabrt werden 
wenn er wegen seines Zustandes und mit Riicksicht auf seinen Lebenswandel und 
die Eigenart seiner Tat als gemeingeffthrlich anzusehen ist. 

Das Gericht spricht die Zulassigkeit der Verwahrung im AnschluB an das 
Urteil aus und ordnet sodann auf Grund der Ergebnisse des Strafvollzuges an, 
daB der Verurteilte in einer besonderen staatlichen Anstalt oder in einer beson- 
deren Abteilung der im § 36 bezeichneten Anstalt zu verwaliren sei, wenn seine 
Gemeingeffthrlichkeit nicht behoben ist. 

Die Entlassung kann endgultig oder auf Wideriuf erfolgen. 

§ 47 . Wer die Tat begeht 

in einer an Zurechnungsunffihigkeit grenzenden Herabsetzung oder Schwftche 
der Fahigkeit, das Unrecht seiner Tat einzusehen, oder dieser Einsicht gemftB zu 
handeln, soferne dieser Zustand nicht durcli verschuldete Trunkenheit hervorge- 
rufen ist; 


kann anstatt mit der ausschlieBlich angedrohten zeitlichen Kerkerstrafe mit Ge- 
fftngnis bestraft werden; zeitliche Freiheitsstrafen und Geldstrafen konnen bis 
auf die Hfilfte der Unteigrenze herabgesetzt werden. 

§ 48 . War die Fahigkeit des Tftters, das Unrecht seiner Tat einzusehen 
oder dieser Einsicht gemftB zu handeln, zur Zeit der Tat infolge eines andauernden 
krankhaften Zustandes wesentlich vermindert, so ist an Stelle der Todesstrafe auf 
lebenslangen Kerker zu erkennen. Hat der Tftter eine Freiheitsstrafe verwirkt, 
deren Vollzug in ihrer regelmftBigen Art seinen Zustand verschlimmern wiirde, so 
ordnet das Gericht an, daB die >Strafe nach den der Eigenart solcher Personen 
angepaBten Vorschriften vollzogcn werde. Der Vollzug solcher Strafen findet in 
einer besonderen Strafanstalt oder in einer besonderen Abteilung einer Straf- 
anstalt oder eines Gefangenhauses statt. 

§ 242 . Wer sich vorsfttzlich oder fahrlfissig in den Zustand einer die Zu- 
rechnung ausschlieBenden Trunkenheit versetzt, wird mit Gefftngnis oder Haft bis 
zu sechs Monaten bestraft, wenn er in diesem Zustand eine Tat veriibt, die ihm 
sonst als strafbar zuzurechnen wiire und die stronger als mit sechs Monaten Frei¬ 
heitsstrafe bedroht ist. 

Der Tftter wird nur mit Ermftchtigung verfolgt, wenn die in der Trunken¬ 
heit veriibte Tat nur mit Ermftchtigung oder auf Privatanklage zu veifolgen ist. 

§ 243 . Der verurteilte Tftter kann nach Vollzug der Strafe in der fur Trunk- 
siichtige bestimmten Abteilung der im § 36 bezeichneten Anstalten verwabrt 
werden, wenn er wegen seines Hanges zur Trunksucht und mit Riicksicht auf 
seinen Lebenswandel und die Eigenart seiner Tat als gemeingeffthrlich anzusehen ist. 

Die Bestimmungen des zweiten und dritten Absatzes des §36 sind anzuwenden. 


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in- und auslfindischer Entviiife zu eincm Strafgesetzbuch. 


625 


Enivmrf eines Schweizerischen Strafgesetzbuchs (vom 23. Juli 1918). 

Art. 10. Wer wegen Geisteskrankheit, Blodsinns cder schwerer Stoiung dea 
BewuBtseins zur Zeit der Tat nicht ffihig ist, das Unrecht seiner Tat einzusehen 
oder gemaB seiner Einsicht in daa Unrecht der Tat zu handeln, ist nicht atrafbar. 

Art. 11. War der Tftter zur Zeit der Tat in seiner geistigen Gesundheit oder 
in seinem BewuBtsein beeintrachtigt cder geistig mangelhaft entwickelt, so daB 
die Fahigkeit, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gem&B seiner Einsicht in 
das Unrecht der Tat zu handeln, herabgesetzt war, so mildert der Richter die 
Strafe nach freiein Ermessen (Art. 63). 

Art. 12. Hat der Untersuchungsbeamte oder der urteilende Richter Zweifel 
iiber die Zurechnungsffihigkeit des Beschuldigten, so lfiBt er (lessen Geisteszustand 
durch Sachverstandige untersuchen. 

Ist der Beschuldigte taubstumm oder epileptisch, sofindet dieee Untersuchung 
in jedem Falle statt. 

Die Sachverstandigen begutachten den Zustand des Beschuldigten. Sie 
fiuBern sich auch dariiber, ob er in eine Heil- oder Pflegeanstalt gehoie und ob sein 
Zustand die offentliche Sicherheit oder Ordnung geffihide. 

Art. 13. Geffthrdet der unzurechnungsfahige oder veimindeit zurechnungs- 
fahige Tater die offentliche Sicherheit oder Oidnung, und ist es notwendig, ihn in 
einer Heil- oder Pflegeanstalt zu venvahren, so ordnet der Richter diese Ver- 
wahrung an. 

Der Richter stellt den Strafvollzug gegen den verurteilten veimindeit Zu- 
rechnungsfahigen ein. 

Art. 14. Erfordert der Zustand des unzurechnungsfahigen oder veimindeit 
zurechnungsffthigen Taters seine Behandlung oder Versorgung in eimr Heil- oder 
Pflegeanstalt, so ordnet der Richter diese Behandlung oder Versoigung an. 

Der Richter stellt den Strafvollzug gegen den verurteilten veimir.deit Zu- 
rechnungsfahigen ein. 

Art. 15. 1. Die kantonale Verwaltungsbehoide vollzieht den BeschluB des 
Richters auf Verwahrung, Behandlung cder Versoigung des Unzurechnungsfahigen 
oder vermindert Zurechnungsfahigen. 

2. Der Richter hebt die Verwahrung, Behandlung oder Versoigung auf, so- 
bald der Grand der MaBnahme weggefallen ist. 

Der Richter entscheidet, ob und inwieweit die Strafe gegen den verurteilten 
vermindert Zurechnungsfahigen noch zu vollstrecken sei. 

Der Richter zieht in jedem Falle Sachverstandige bei. 

Art. 42. 1. Ist jemand, der wegen eines Vergehens zu Gef8ngnis verurteilt 
wird, ein Gewohnheitstrinker und steht sein Vergehen damit in Zusammenhang, 
so kann der Richter anordnen, daB der Verurteilte nach Vollzug der Strafe in eine 
Trinkerheilanstalt aufgenommen weide. 

Ebenso kann der Richter einen Gewohnheitstrinker, den er wegen Unzurech- 
nungsfahigkeit freigesprochen hat, oder gegen den aus diesem Grunde das Ver- 
fahren eingestellt worden ist, in eine Trinkerheilanstalt einweisen. 

2. Der Richter zieht Arzte als Sachverstandige bei. 

3. Die Behandlung wird in einem Gebaude vollzogen, das ausschlieBlich 
diesem Zwecke dient. 

4. Die zustandige Behoide entlaBt den Verurteilten aus der Heilanstalt, 
sobald er geheilt ist. Nach zwei Jahren wird der Eingewiesene in jedem Fall 
entlassen. 

5. Die zustandige Behorde stellt den Entlassenen unter Schutzaufsicht. 
Sie gibt ihm auf, sich wahrend einer bestimmten Zeit der geistigen Getranke zu 
enthalten. Sie kann ihm auch weitere Weisungen erteilen. Handelt er trotz form- 


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626 Ernst Schultze: Vergleickende psj'chiatrische Kritik neuzeitlicher 


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licher Mahnung der Schutzaufsichtsbekorde den erteilten Weisungen zuwider, 
oder entzieht er sich beharrlich der Schutzaufsicht, so kann die zustandige Be- 
horde ihn in die Anstalt zuruckversetzen. 

6. Wird die MaBnahme binnen fiinf Jahren nicht vollzogen, so kann sie nicht 
mehr vollzogen werden. 

Art. 53. 1.1st ein Vergeken auf iibermSBigen GenuB geistiger Getr&nke zuriick- 
zufiihren, so kann der Richter dem Schuldigen neben der Strafe den Besuch von 
Wirtschaftsr&umen, in denen alkoholhaltige Getranke verabreicht werden, fur 
sechs Monate bis zu zwei Jahren verbieten. 

2. Das Verbot ist in einem amtlichen Blatte zu veroffentlichen. 

3. Das Verbot wird mit der Rechtskraft des Urteils wirksam. Lautet das 
Urteil auf Freiheitsentziehung, so wird die Dauer des Verbots von dem Tage an 
gerechnet, da der Verurteilte endgiiltig entlassen wurde. 

Art. 331. Wer im Zustande der Betrunkenheit offentlich Sitte und An- 
stand in grober Weise verletzt, wird mit BuBe bestraft. 

Der Richter kann einen Gewohnheitstrinker, statt ihn zu bestrafen, in eine 
Trinkerheilanstnlt einweisen. Er kann ihm die elterliche Gewalt entziehen. 

Vorentumrf zu einem achtoediachen Strafgesetzbuche von Johan C. IF. Thyrkn. 

Lund 1918. 

III. Abschnitt. § 1. Hat ein Geisteskranker oder Blodsinniger eine Handlung 
begangen, die im Gesetz mit Zuchthausstrafe bedroht ist, so soil das Gericht an- 
ordnen, daB er in eine allgemeine Pflegeanstalt untergebracht werden soil. Er 
darf nicht aus der Pflegeanstalt entlassen werden, solange seine Geistesbeschaffen- 
heit fortdauert oder eine Gefahr vorhanden ist, daB sie zuriickkehrt. 

§ 2. Wird die im § 1 bezeichnete Handlung von jemandem begangen, der, 
ohne geisteskrank oder blodsinnig zu sein, doch wegen dauernder geistiger Minder- 
wertigkeit nur in geringem MaB fur die mit der Strafe beabsichtigte Wirkung emp- 
filngUch erscheint, so kann das Gericht anordnen, daB er, anstatt gestraft zu werden, 
in eine allgemeine Anstalt untergebracht werden soil, solange sein gemeingefahr- 
licher Zustand fortdauert, doch mindestens drei Jahre. 

§ 3. Begeht ein Geisteskranker oder Blodsinniger oder ein mit der im § 2 
genannten Minderwertigkeit Behafteter eine Handlung, die im Gesetz mit Strafe, 
doch nicht mit Zuchthaus bedroht ist, und laBt ihn die Handlung in Verbindung 
mit seiner Geistesbeschaffenheit als gemeingefahrlich erscheinen, so finden auch 
die beziehungsweise in den §§ 1 und 2 aufgestellten Bestiinmungen Amvendung; 
doch darf der im § 2 bezeichnete Tater aus der Anstalt entlassen werden, obschon 
drei Jahre nicht verflossen sind von der Zeit an, als er eingeliefert wurde. 

IV. Abschnitt. § 1 . Eine Handlung, die von einem Geisteskranken oder 
Blodsinnigen begangen wird, ist straffrei. So auch die Handlung, die von jemandem 
begangen ist, der ohne eigene Schuld in einen solchen Geisteszustand geraten ist, 
daB er auBer sich war, oder unffthig nach seinem Willen zu handeln. 

§ 2. Befand sich jemand, der eine verbrecherische Handlung begangen hat, 
ohne eigene Schuld zufalligerweise in einem solchen Zustand, daB seine Einsicht 
von der Bedeutung seiner Handlung oder sein Vermogen nach seinem Willen 
zu handeln, in erheblichem Grade herabgesetzt war, ohne daB er jedoch dem 
§ 1 gemaB fur straflos erachtet werden kann; oder hat jemand, von dauernder 
Minderwertigkeit dieser Art beeinfluBt, eine verbrecherische Handlung begangen, 
wegen deren er nicht, dem Abschnitt 3 §2 oder 3 gemaB, in eine Verwalirungsanstalt 
untergebracht werden soli, so soli auf Strafe erkannt werden; doch darf die Strafe 
nach freiem Ermessen unter das MaB. das sonst auf die Tat folgen soil, herab¬ 
gesetzt werden. 


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in- und auslandiscker Entwiirfe zu einem Strafgesetzbuck. 


627 


Entwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch 1919. 

§ IS. Nicht zurechnungsfahig ist, wer zur Zeit der Tat wegen BewuBtseins- 
storung, wegen krankhafter Stoning der Geistestfitigkeit oder wegen Geistes- 
schwache unfahig ist, das Ungesetzliche der Tat einzuseken oder seinen Willen 
dieser Einsickt gemfiB zu bestimmen. 

War die Fahigkeit zur Zeit der Tat aus einem dieser Griinde nur in kohem 
Grade vermindert, so ist die Strafe zu mildem (§111). Dies gilt nicht bei BewuBt- 
seinsstorungen, die auf selbstverschuldeter Trunkenheit beruhen. 

§ S8. Wird jemand nach § 18 Abs. 1 wegen fehlender Zurechnungsfahigkeit 
freigesprochen oder auBer Verfolgung gesetzt, oder nach § 18 Abs. 2 als vermindert 
zurechnungsfahig verurteilt, so ordnet das Gerickt seine Verwahrung in einer 
offentlichen Heil- oder Pflegeanstalt an, falls die offentliche Sickerkeit diese MaB- 
regel erfordert. 

Geniigt Schutzaufsicht, so ist diese anzuordnen. 

§ 89. Die Verwahrung bewirkt die Landespolizeibehorde. 

Ist auf die Verwahrung neben einer Freiheitsstrafe erkannt worden, so ver- 
biiBt der Verurteilte zunachst die Strafe. Ist die Verwahrung durcli den Straf- 
vollzug iiberflussig geworden, so wird der Verurteilte nicht mehr in der Heil- oder 
Pflegeanstalt untergebracht; dies gilt auch dann, wenn der Verurteilte aus der 
Strafhaft vorlaufig entlassen und die Entlassung nicht widerrufen wird. 

Hat das Gericht dem Verurteilten bedingte Strafaussetzung bewilligt, so 
wird er in der Heil- oder Pflegeanstalt untergebracht, sobald das Urteil rechts- 
kriiftig geworden ist; die Zeit, die er in der Anstalt zugebracht hat, wird auf die 
Probezeit angerecluiet. 

§ 90. Uber die Entlassung bestimmt die Landespolizeibehorde. 

Eine ForUlauer der Verwahrung iiber zwei Jahre hinaus kann nur das Gericht 
anordnen. Ordnet es die Fortdauer an, so bestiinint es zugleich, waiui seine Ent- 
scheidung von neuem einzuholen ist. 

§ 91. Wird jemand, der zu Ausschreitungen im Trunke neigt, wegen einer 
Straftat, die er in selbstverschuldeter Trunkenheit begangen hat, oder wegen sinn- 
loser Trunkenheit (§ 274) verurteilt, so kann ihm das Gericht fur eine bestimmte 
Frist verbieten, sich in Wirtshausern geistige Getranke verabreichen zu lassen. 

Das Verbot ist nur zulassig, wenn auf eine Freiheitsstrafe von hockstens 
sechs Monaten oder auf Geldstrafe oder auf Verweis erkannt wird. • 

Die Frist ist mindestens auf drei Monate und kochstens auf ein Jahr zu be- 
messen. Sie wird von dem Tage berechnet, an dem das Urteil rechtskr&ftig wird; 
die Zeit, w&hrend welcher der Verurteilte eine Freiheitsstrafe verbiiBt, wird in 
die Frist nicht eingerechnet. 

§ 92. Wird ein Trunksiichtiger wegen einer Straftat, die er in der Trunken¬ 
heit begangen hat, oder wegen sinnloser Trunkenheit (§ 274) zu Strafe verurteilt, so 
ordnet das Gericht seine Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt an, falls diese 
MaBregel erforderlich ist, um ihn an ein gesetzmaBiges und geordnetes Leben 
zu gewohnen. 

Geniigt Schutzaufsicht, so ist diese anzuordnen. 

£ 98. Die Unterbringung in der Trinkerheilanstalt bewirkt die Landes- 
polizeibehorde. 

Die Vorschriften des § 89 Abs. 2, 3 gelten entsprechend. 

§ 94. Die Landespolizeibehorde entlaBt den Verurteilten aus der Trinker¬ 
heilanstalt, sobald der Zweck der MaBregel erreicht ist. Dabei kann sie ihm be- 
sondere Pflichten auferlegen; sie kann ihn auch unter Schutzaufsicht stellen. 

Stellt sich heraus, daB der Zweck der MaBregel noch nicht erreicht war, so 
kann die Landespolizeibehorde die Entlassung widerrufen. 


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628 Ernst Schultze: Vergleichende psychiatrische Kritik neuzeitlicher 


Mit Ablauf einer Frist von zwei Jahren. von der ersten Unterbringung an 
gerechnet, erreichen alle MaBnahmen, die auf Grund der Anordnung des Gerichts 
getroffen worden sind, ihr Ende. 

Yorenlu'urf des allgemeinen Teiles des Strafgeselzes. 

Herausgegeben vom Justizminislerium der Tschechoslcnvakischen Hepublik (1921). 

§ 19. Nicht strafbar ist, wer wegen Geisteskrankheit, Geistesschw&ehe oder 
BewuBtseinsstorung zur Zeit der Tat nicht fahig ist, das Unrecht seiner Tat ein- 
zusehen oder sein Handeln der richtigen Einsicht gem&B zu richten. 

§ 57. Das Gericht, welches einen Beschuldigten wegen Unzurechnungs- 
fahigkeit von der Anklage wegen eines Verbrechens oder eines Vergehens freispricht, 
spricht seine Einweisung in eine Anstalt fur kranke Gefangene aus: 

1. wenn er wegen Geisteskrankheit oder Schwachsinns freigesprochen wurde 
und gemeingefahrlich ist; 

2. wenn die Ursache der Straftat ungezugelter Hang zu geistigen Getriinken 
(Trunksucht) oder zu anderen berauschenden Mitteln und Giften ist. 

§ 58. Das Gericht kann einen Beschuldigten, den es wegen eines Verbrechens 
oder eines Vergehens verurteilt, in eine Anstalt fur kranke Gefangene ein- 
weisen und kann gleichzeitig aussprechen, daB die auferlegte Strafe dort voll- 
zogen wird; 

1. wenn er zu einer Freiheitsstrafe von wenigstens einem Jahre verurteilt 
wurde oder wenn die Bedingungen fiir die Einweisung in eine Zwangsarbeitsanstalt 
(§ 56) vorhanden sind und der Verurteilte wegen allzu vorgeriickten Alters oder 
wegen korperlicher oder geistiger Mfingel (§ 76 Z. 1) nicht mit Erfolg der Zucht 
unterworfen werden kann, deren Einhaltung im Zuchthaus, im Gefiingnis oder in 
der Zwangsarbeitsanstalt erforderlich ist; 

2. wenn die Ursache der Straftat ungezugelter Hang zu geistigen Getriinken 
(Trunksucht) oder zu anderen berauschenden Mitteln und Giften ist. 

§ 59. Zeigt sich der krankhafte Zustand des Straflings (§58 Z. 1) erst im 
Zuchthaus, im Gefangins oder in der Zwangsarbeitsanstalt, so kann das Gericht, 
welches das Urteil erster Instanz geffillt hat, iiber Antrag des Gefangenengerichts 
nachtriiglich aussprechen, daB er in die Anstalt fiir kranke Gefangene eingewiesen 
und daB dort auch der Rest der Strafe vollzogen wild. 

§ 60. In der Anstalt fiir kranke Gefangene wird der Striifling so lange ge- 
halten, als es der Grund dieser MaBnahme erfordert, mindestens aber ein Jahr. 
Xach Ablauf eines Jahres kann er bedingt entlassen werden (§§ 128—132). 

Wurde der Zweck dieser MaBnahme vor Ende der Strafe erreicht, und kann 
der Striifling nicht bedingt entlassen werden (§ 128 Abs. 2), so wird in dieser Au- 
stalt auch der Rest der Strafe vollzogen, wenn er die Dauer von sechs Monaten 
nicht iibersteigt. 

§ 62. Wenn die Ursache eines Verbrechens oder eines Vergehens unmaBiger 
GenuB geistiger Getranke ist, so kann das Gericht dem Verurteilten oder deni 
wegen Unzurechnungsfahigkeit Freigesprochenen den Besuch von Gasthauseru, 
Schankraumen und anderen offentlichen Lokalen, in denen derartige Getrfinke ver- 
abreicht werden, auf die Dauer von sechs Monaten bis zu drei Jahren verbieten. 

Diese Frist beginnt mit der Rechtskraft des Urteiles; hierbei wird die Zeit 
nicht eingerechnet, wiihrend welcher die Strafhaft oder der Aufenthalt in einer 
Sieherungsanstalt gedauert hat. 

^ 76. Das Gericht kann den Strafsatz auBer in den im Gesetz ausdrucklich 
angefiihrten Fallen herabsetzen: 

1. wenn zur Zeit der Tat infolge Geisteskrankheit, Schwachsinns oder einer 
anderen geistigen Abnormitat oder infolge vorgeschrittenen Alters die Fahigkeit 


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in- und ausl&ndischer Entwiirfe zu einern Strafgesetzbuch. 629 

des .Schuldigen wesentlich herabgesetzt war. das Unrecht seiner Tat einzusehen 
oder sein Handeln der richtigen Einsicht gem&B zu rickten; 

2. wenn der Schuldige die Straftat begangen hat, weil er einer auBergewohn- 
lichen Versuchung oder einem auBergewohnlichen Drucke unterlag, oder in einem 
voriibergehenden entschuldbaren auBergewohnlichen Geisteszustand. Diese Be- 
stimmung findet keine Anwendung, wenn dieser auBergewohnliche Geisteszustand 
dureh selbstverschuldete Trunkenheit verursacht wurde. 

Oslerreichischer Gegenentwurf (1922) zu dem Allgemeinen Teil des Ersten Bitches 
des Deutschen Strafgesetzertficurfes vom Jahre 1919. 

§ 10. Nicht strafbar ist, wer zur Zeit der Tat wegen einer Stoning des Be- 
wuBtseins, wegen krankhafter Storung der Geistest&tigkeit oder wegen Geistes- 
schwache unfahig ist, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemaB seiner Einsicht 
in das Unrecht der Tat zu handeln. 

War die Fahigkeit hierzu zur Zeit der Tat aus einem der angefiihrten Griinde 
nur in hohem Grade vermindert, so kann das Gericht die Strafe nach freiem Er- 
messen mildem (§ 108). Das gilt nicht fur Storungen des BewuBtseins, die auf 
selbstverschuldeter Trunkenheit beruhen. 

§ 76. Wird jemand nach § 10, Absatz 1, wegen fehlender Zurechnungs- 
fahigkeit freigesprochen oder auBer Verfolgung gesetzt oder nach § 10 Absatz 2 
als vermindert zurechnungsfahig verurteilt, so ordnet das Gericht seine Ver- 
wahrung in einer offentlichen Heil- oder Pflegeanstalt an, falls die offentliche 
Sicherheit diese MaBregel erfordert. 

Geniigt Schutzaufsicht, so ist diese anzuordnen. 

§ 77. Die Verwahrung bewirkt die Sicherheitsbehorde. 

1st auf Verwahrung neben einer Freiheitsstrafe erkannt worden. so verbiiBt 
der Verurteilte zun&chst die Strafe. Uber die vorlaufige Entlassung aus der Strafe 
und den Widerruf der Entlassung entscheidet in einem solchen Falle das Gericht. 
Hat sich der Entlassene bewahrt oder ist die Verwahrung sonst durch den Straf- 
vollzug uberfliissig geworden, so widerruft das Gericht die Anordnung der Ver¬ 
wahrung. 

Wird auf eine Freiheitsstrafe von nicht mehr als seeks Monaten erkannt, so 
kann das Gericht anordnen, daB die Verwahrung an die Stelle der Strafe tritt. 

§ 78. Der Verwahrte wird entlassen, sobald die offentliche Sicherheit seine 
Verwahrung nicht mehr fordert. Ist die Verwahrung an die Stelle einer Freiheits¬ 
strafe getreten, so dauert sie mindestens so lange, als die Strafe gedauert hatte. 

Dber die Entlassung entscheidet eine aus einem Richter, einem Vertreter der 
Sicherheitsbehorde, einem Anstaltsbeamten und einem Laien zusammengesetzte 
Kommission. 

Eine Fortdauer der Verwahrung iiber zwei Jahre hinaus kann nur das Gericht 
anordnen. Ordnet es die Fortdauer an, so bestimmt es zugleich, wann seine Ent- 
scheidung von neuem einzuholen ist. 

§79. Wird der Verwahrte vor der Zeit (§ 78 Abs. 3) entlassen. so kann ihm 
die Vollzugskommission besondere Pflichten auferlegen, deren Beobachtung 
geeignet ist, ihn vor dem Ruckfall zu bewahren; sie kann ihn auch unter Schutz¬ 
aufsicht stellen. 

Stellt sich in den nfichsten zwei Jahren heraus, daB die Freiheit des Ent- 
lassenen die offentliche Sicherheit gefahrdet, so widerruft die Vollzugskommission 
die Entlassung. 

Wird die Entlassung nicht binnen zwei Jahren widerrufen. so wird sie end- 
giiltig und der Entlassene ist von den ihm auferlegten Pflichten und der Schutz¬ 
aufsicht befreit. 


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630 Ernst Schultze: Vergleichende psj’chiatrische Kritik neuzeitlicher 


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§ 80. Wird jemand, der in der Trunkenheit zu Ausschreitungen neigt, wegen 
einer strafbaren Handlnng, die er in selbstverschuldeter Trunkenheit begangen 
hat, oder wegen sinnloser Trunkenheit (§ Q) verurteilt, so kann ihm das Gericht 
fiir eine bestimmte Frist verbieten, Wirtshftuser zu besuchen, in denen geistige 
Getrfinke verabreicht werden. 

Das Verbot ist unzulassig, wenn auf eine mehr als sechsmonatige Freiheits- 
strafe, auf Verwahrung oder auf Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt oder 
in einem Arbeitshause erkannt wird. 

Die Frist ist mindestens mit drei Monaten und hochstens mit einem Jahre 
zu bemessen. Sie wird von dem Tage berechnet, an dem das Urteil rechtskraftig 
wird; die Zeit, in der der Verurteilte eine Freiheitsstrafe verbiiOt, wird in die Frist 
nicht eingerechnet. 

§ 81. Wird ein Trunksiichtiger wegen einer strafbaren Handlung, die er 
in der Trunkenheit begangen hat, oder wegen sinnloser Trunkenheit (§ |) zu 
einer .Strafe verurteilt, so ordnet das Gericht seine Unterbringung in einer Trinker¬ 
heilanstalt an, wenn diese MaCregel erforderlich ist, um ihn an ein gesetz- 
maBiges und geordnetes Leben zu gewohnen. 

Geniigt Schutzaufsicht, so ist diese anzuordnen. 

§ 82. Die Unterbringung in der Trinkerheilanstalt bewirkt die Sicherheits- 
behorde. 

Die Vorschriften des § 77, Absatz 2 und 3 gelten entsprechend. 

§ 83. Der Verurteilte wird aus der Trinkerheilanstalt entlassen, sobald der 
Zweck der Unterbringung erreicht ist. 1st die Unterbringung an die Stelle einer 
Freiheitsstrafe getreten, so dauert sie mindestens so lange, als die Strafe gedauert 
hfttte. 

Die Vorschrift im § 78 Absatz 2 gilt entsprechend. 

Die Volizugskommission kann dem Entlassenen besondere Pflichten aufer- 
legen, deren Beobachtung geeignet ist, ihn vor dem Riickfall zu bewahren; sie kann 
ihn auch unter Schutzaufsicht stellen. 

Stellt sich heraus, daB der Zweck der MaBregel noch nicht erreicht war, so 
widerruft die Volizugskommission die Entlassung. 

Zwei Jahre nach der ersten Unterbringung erreichen alle MaBnahmen, die 
auf Grund der Anordnung des Gerichtcs getroffen worden sind, ihr Ende. 

Der polnische Strafgesetzentumrf 1 ). 

Art. 10. § 1. Es begeht keine Straftat, wer zur Zeit der Tat wegen psychischer 
Krankheit oder anderer Storung psychischer Funktion sich in einem Zustande 
befindet, der ihm nicht erlaubt, die Bedeutung der Tat einzusehen, oder dieser 
Einsicht gemaB zu handeln. 

§ 2. Obige Vorschrift hat keine Anwendung in dem Falle, wenn der Tater 
vorsfttzlieh diesen Zustand herbeigefiihrt hat, um die Straftat zu begehen. 

§ 3. Die Freisprechung dem § 1 gemaB steht der Anwendung von Sicherungs- 
maBregeln nicht im Wege. 

Art. 11. Es begeht keine Straftat, wer die Tat unter EinfluB psychischer 
Gewalt begeht, welcher er nicht widerstehen konnte. 

Art. 54. § 1. Bei der Strafbemessung nimmt das Gericht in Erwagung: vor 
allem die Beweggriinde des Tftters, den Entwicklungsgrad seines Intellekts und 
seines Widens, sein Vorleben sowie auch dessen Verhalten nach Veriibung der 
Straftat. 


*) Die deutsche Ubersetzung verdanke ich der Liebenswurdigkeit des Herm 
Professor Dr. Makarexcicz in Lemberg. 


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632 Ernst Schultze: Vergleichende psychiatrische Kritik usw. 

recht, im Strafvollzug und in der Irrenpflege. 1921. — Schultze, Ernst: Der Ent¬ 
wurf zu einem deutschen Strafgesetzbuche 1919 vom Standpunkte des Psychiaters. 
Diese Zeitschr. 66, 161. 1922. — Schultze, Ernst: Psychiatrische Kritik der MaB- 
regeln der Besserung und Sicherung im Entwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch 
1919, ebenda S. 218. (Vgl. Zentralbl. f. d. ges. Neurol. 29, 254, 1922). — Thyrin, 
Prinzipien einer Strafgesetzreform. I. Die soziale Aufgabe der Strafe. Berlin 1910. — 
Vallon, Ch.: Une lacune de la loi sur les ali^nes ref. Zentralbl. f. d. ges. Neurol. 
28, 235. 1922. Dtsch. Zeitschr. f. d. ges. gerichtl. Med. 1, 321. 1922. — Veillet, L.: 
A propos de la responsabilit4 att6n£e. Ref. Dtsch. Zeitschr. f. d. ges. gerichtl. 
Med. 2, 259. 1923. — Vocke: Korreferat zu Liepmann. S. bei Liepmann. — Waschow: 
Die MaBregeln der Besserung und Sicherung in dem Entwurf 1919 zu einem 
deutschen Strafgesetzbuch und Zusammenstellung von Gegenvorsclilagen. Volks- 
wohlfahrt. 3, 479, 1922. 


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Bucherbesprechungen. 

L. Binswanger, Einfiihrung in die Probleme der AUgemeinen Psychologie. 

Berlin, Julius Springer, 1922. 384 Seiten. Grundzahl 10. 

Die Psychiatrie befindet sich heute in einem Ubergangszustand. Die einige 
Jahrzehnte wahrende Phase vorwiegend anatomischer und pathologisch-anato- 
raischer Bet&tigung, die stellenweise auch die klinische Arbeit in den Hintergrund 
drangte, ist jetzt abgelost worden von einer Zeit lebhaft drfingender psycholo- 
gischer Bemiihungen, an denen ein groBer Teil der jiingeren Arzte beteiligt ist. 
Die altere Schicht, die sich teils ohne aktives Interesse, teils in bewuBtem Ver- 
zicht lange Zeit hindurch mit ein paar vererbten, imraer wiederholten und er- 
starrten psychologischen Satzen fiir ihren Hausbedarf zufrieden gab, sieht mit 
einer gewissen unsicheren Befremdung auf den regen Eifer, dem Seelischen auf 
neue Arten auf den Leib zu riicken; von einem bestimmten Jahresringe an ist die 
Neigung, vielleicht auch die Fahigkeit zu einer Einstellung auf frische psycho- 
logische Bahnen nur noch gering. Wohin die jetzige Bewegung fiihren wird, 
wissen wir nicht; sie ist mit zahlreichen Ubertreibungen b«lastet, wie sie der Be- 
geisterung optimistischer Kolonisten in neuem Lande anhaften konnen; aber 
selbst der triibe Schaum, den der psychoanalytische Wirbel aufwirft, beweist 
immerhin, daB in der Tiefe etwas arbeitet. 

In der schon heute sehr umfangreichen neueren psychologischen Literatur sich 
zurecht zu finden, ist keine Kleinigkeit; das vorliegende Binswangersche Buch 
ist als ernster und zuverlassiger Fiihrer willkommen. Es gibt mehr als eine „Ein- 
fuhrung“, auch mehr als ein Referat liber Richtungen und Schulen. Die fiihrenden 
Kopfe in der Psychologie seit Leibniz und Kant, namentlich auch die moder- 
neren kommen selber ausfiihrlich zu Worte. Der Verwirklichung des Programmes 
des Buches, iiber die begrifflichen Grundlagen unserer psychologischen Anschau- 
ungen bei Gesunden und Kranken Klarheit zu gewinnen, ist eine bewundems- 
werte Menge von FleiB und kritischem Scharfsinn gewidmet worden. Besonders 
wohltuend wirkt die besonnene sacliliche Selbst&ndigkeit der Darstellung (die 
der Verfasser auch gegeniiber den Lehren Freuds nicht vergiBt, dem — neben 
Bleuler, das Werk gewidmet ist). H. 

Vorberg, Zusammenbruch. II. Teil. Miinchen, Otto Gmelin, 1923. 47 Seiten 
und 3 HeliogravUren. 

Dieses Buch, das in einer Auflage von 600 Stuck erscheint — wovon 20 Vor- 
zugsdrucke auf Pampaspapier abgezogen —, bildet nach Inhalt und Ausstattung 
eine wiirdige Fortsetzung des hier bereits friiher besprochenen 1. Teils. Geschildert 
sind in knapper, klarer, auch dem Laien verstandlicher Form die erschiittemden 
Krankengeschichten von Heinrich Leuthold, dem zu Lebzeiten ungeniigend beach- 
tetenSchweizer Sanger, von Alfred Rethel,dem zugleich groBen und doch schlichten 
Darsteller geschichtlicher Ereignisse, und Van Gogh, dem nach Wahrheit ringenden 
„Vater der modernen Malerei“. Zwei Bilder stammen aus Privatbesitz. 

Raeclce. 

Archiv fflr Psyctiiatrie. Bd. 68. 41 


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634 


Biicherbesprechungen. 


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Wilhelm Bergmann, Die Seelenleidcn der NervOsen. Eine Studie zur ethischen 
Beurtoilung und zur Behandlung kranker Seelen. 2. und 3. verbesserte und 
erweiterte Auflage. Freiburg im Breisgau, Herder & Co., 1922. 

Das Bueh wendet sich an weitere Kreiae, besonders an Seelsorger und Pada- 
gogen. Verfasser bringt eine geschickte Darstellung der psychopathischen Ver- 
anlagung und der in ihrem Gefolge auftretenden nervosen und psychischen Sto- 
rungcn. Den Arzt wird das Kapitel iiber die pastorale Behandlung obsessiver 
Zustande interessieren. Es ist erfreulich zu lesen, daB auf das Zusammenwirken 
des Beichtvaters mit dem Arzt groBer Wert gelegt wird. S. 


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Autorenverzeichnis 


Originalien. 

Bechterew, W. Die Perversitfiten und 
Inversit&ten vom Standpunkt der 
Reflexologie. S. 100. 

Bruchansky, N. Das reaktive psycho- 
tische Syndrom und sein klinisches 
Bild bei Untersuchungshaft. S. 74. 

Creutzfeldt, H. 0. Zur Frage der so- 
genannten akuten multiplen Sklerose. 
S. 485. 

—, siehe Siemerling, E., und H. G. Cre utz- 
feld. 

Hanse, A. Uber Amenorrhoe bei Ner- 
ven- und Geisteskrankheiten und ihre 
Behandlung mit Menolysin. S. 463. 

Hoffmann, E. C. Das Lerische Pha- 
nomen und der Grundgelenkreflex 
von C. Mayer. S. 40. 

Hiibner, A. H. Untersuchungen an 
sexuell Abnormen. S. 278. 

Konig. Erfahrungen uber den EinfluB 
der intravenosen Salvarsanbehand- 
limg auf den Verlauf der progressiven 
Paralyse. S. 350. 

Leyser, E. Klinisfhe Bemerkungen zur 
Frage nach lolle der Leber bei 
Geistes- l Nervenkrankheiten. 
S. 58. 

Lowenstein, 0 ierigere Fragen aus 

dem Gebiet cperimentellen Hor- 
fahigkeitslx ung bei psychoge- 

ner Schweiuun K ».eit und Taubheit. 
S. 363. 

Liickeralh. Uber Psychiatrie und Ju- 
gendfiirsoige. S. 518. 

Meyer, A. Uber das A. Westphalsche 
Pupillenphanomen bei Encephalitis 
epidemica. S. 525. 

Meyer, E. Empfindungst&uschungen im 
Bereiche amputierter Glieder. S. 251. 

Raecke. Psychopathien und Defekt- 
prozesse. S. 303. 

Rosenthal, Curt. Torsionsdystonie und 
Athetose double. S. 1. 

Riilf. Das Problem des UnbewuBten. 
S. 379. 


Range. Psychopathie und chronische 
Encephalitis epidemica mit eigen- 
artiger Symptomatologie. S. 429. 

Schultze, Ernst. Vergleichende psychia- 
trische Kritik neuzeitUcher in- und 
ausl&ndischer Entwiirfe zu einem 
Strafgesetzbuch. S. 568. 

Siemerling, E., und H. G. Creutzfeldt. 
Bronzekrankheit und sklerosierende 
Encephalomyelitis. S. 217. 

Sioli, F. Vier Jahre Paralysebehand- 
lung mit Silbersalvarsan und Sulf- 
oxylat. S. 321. 

Stertz, G. Uber psychomotorische Apha- 
sie und Apraxie. Beziehungen psy- 
chomotorischer, aphasischer, aprak- 
tischer und extrapyramidaler Sto- 
rungen, dargestellt an einem Fall von 
Encephalitis epidemica. S. 539. 

WoUenberg, R. Drucksteigerung in der 
Sch&delriickgratshohle und Sehnen- 
reflexe. S. 245. 


Biicherbes prechungen. 

Bergmann, Wilhelm. Die Seelenleiden der 
Nervosen. S. 634. 

Binswanger, L. Einfiihrung in die Pro- 
bleme der Allgemeinen Psychologie. 
S. 633. 

Die Versorgung asozialer Personen, ge- 
kiirzter Bericht liber die Tagung der 
vorbereitenden Kommission zur Pru- 
fung der Frage der Versorgung aso¬ 
zialer Personen, 7. u. 8. VII. 1922 in 
Bielefeld. S. 215. 

Kirchhoff, Theodor. Der Gesichtsaus- 
druck und seine Bahnen beim Ge- 
sunden und Kranken, besonders beim 
Geisteskranken. S. 214. 

Prinzhorn, Hans. Bildnerei des Geistes¬ 
kranken. Ein Beitrag zur Psycho¬ 
logie und Psychopathologie der Ge- 
staltung. S. 216. 

Vorberg. Zusammenbruch. S. 633. 


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